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Auch in: Die Unzeitgemäßen / Unzeitgemäße
Betrachtungen (4 Teile). **
Auch in: Menschliches, Allzumenschliches (2 Teile) |
Als
Nietzsche begann, sich erstmals zur Problematrik unserer Kultur öffentlich
zu äußern, da ging er von der Bildung aus. Gerade als Philologe
war er ja auch bestens dafür geeignet, das Wort Bildung auch
von seiner etymologischen Bedeutung her sehr ernst zu nehmen. Man kann Nietzsche
also allein schon durch die Berücksichtigung des Wortes Bildung
und dessen Geschichte (als einen roten Faden sozusagen) sehr gut verstehen
und beurteilen, was ihn denkerisch und trotz seiner aufsehenerregenden Wandlungen
bewegte.Eine weitere und die eben angesprochene ergänzende Möglichkeit,
Nietzsches Denken näherzukommen, istd die Berücksichtigung seiner drei
großen Lehrstücke:(1.) | Übermensch; | (2.) | ewige
Wiederkunft; | (3.) | Wille
zur Macht. |
Des weiteren ist von großem Vorteil,
Nietzsches Leben in drei Denkstadien zu (abgesehen von seiner Kindheit/Jugend
[**|**|**])
zu unterscheiden:(1.) | Glaube
an die Tradition der Kultur bis zum Zerbrechen dieses Glaubens; | (2.) | Entdeckung
des Nihilismus bis zur Feststellung, daß dieser nicht endgültig ist; | (3.) | Bejahung
des Nihilismus bis zur Schicksalsliebe (Amor
fati). |
1872 hielt Nietzsche in
Basel sechs Vorträge unter dem Titel: Über die Zukunft unserer
Bildungsanstalten (**|**).
Mit diesem Vortrag trat Nietzsche erstmals als Kritiker oder Skeptiker der Bildungspolitik
auf. Strenge Wissenschaft und Spezialisierung verringere die Bildung, die Arbeitsteiligkeit
sprenge das Wissen um Zusammengehöriges auf, der Journalismus werde zur Kommunikationsform
der Industriegesellschaft und verzerre die Bildung zusätzlich oder sogar
vollends. Schon in diesem frühen Werk zeichnet sich Nietzsches Denken als
das aus, was es in seiner hohen Bedeutung schon damals war, bis heute geblieben
ist und zukünftig sein wird: aktuell! 1872 waren meinen Nachforschungen zufolge
aber noch gar keine negativen Folgen in der Bildung zu sehen, sondern im Gegenteil:
die von Nietzsche angesprochene Spezialisierung und Arbeitsteiligkeit in der Wissenschaft
hatten damals und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sehr befruchtende Auswirkungen
- also eher genau umgekehrt zu dem, was Nietzsche befürchtete. Eine der möglichen
Schlußfolgerungen daraus ist, daß Nietzsche ein Genie, ein Hellseher,
zumindest aber ein weitsichtiger, genauer ein von der Herkunft (Vergangenheit)
ausgehender und auf die Zukunft ausgerichteter junger Weiser war, dessen Befürchtungsaussagen
zur Bildung erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wahr wurden, wiel die
Bildungskatastrophe aktuell wurde, heute noch aktueller ist und zukünftig
am aktuellsten sein wird (vorausgesetzt, daß dann überhaupt noch jemand
zum Verstehen dieser Problematik fähig sein wird). Nietzsche sah, dachte
und sagte das also weit voraus!Zwar bezog sich Nietzsche mit seiner Kritik
an den Bildungsanstalten lediglich auf die sprachliche Bildung - insbesondere
an den Gymnasien und folglich auch Universitäten - und vernachlässigte
dabei die mathematische, naturwissenschaftliche und technische Bildung an eben
diesen Bildungsanstalten, die auch noch lange nach Nietzsches Tod große
und größte Erfolge verbuchen konnten. Doch in der Sache selbst lag
Nietzsche trotzdem richtig, weil die sprachliche Bildung neben der mathematischen
Bildung die erste und damit grundlegende Bildung (nicht zufällig spricht
man von Schreiben und Rechnen) ist, wozu Übung benötigt wird,
die sich um so länger hinziehen muß, je qualifizierter das Ergebnis
der Bildung sein soll (Ausnahme: Hochintelligente, Talente, Genies u.ä.,
obwohl auch die nicht ganz ohne Übung auskommen). Was allgemein als Übung
bezeichnet wird, kann man - trotz aller heutigen Zensur - auch und gerade im Bezug
auf Bildung wie Nietzsche be- oder umschreiben, wie Nietzsche es tat: mit den
Wörtern Zucht (**|**|**|**|**|**|**|**|**|**),
Gehorsam (**|**|**|**|**|**|**)
und Gewöhnung (**|**|**|**|**)
sowie Dienstbarkeit (**|**),
und zu all dem ist der Wille zur Leistung eine unbedingte Voraussetzung.»Es
sind Jahrhunderte vergangen, in denen es sich von selbst verstand, daß man
unter einem Gebildeten den Gelehrten und nur den Gelehrten begriff; von den Erfahrungen
unserer Zeit aus würde man sich schwerlich zu einer so naiven Gleichstellung
veranlaßt fühlen. Denn jetzt ist die Ausbeutung eines Menschen zugunsten
der Wissenschaften die ohne Anstand überall angenommene Voraussetzung: wer
fragt sich noch, was eine Wissenschaft wert sein mag, die so vampyrartig ihre
Geschöpfe verbraucht? Die Arbeitsteilung in der Wissenschaft strebt praktisch
nach dem gleichen Ziele, nach dem hier und da die Religionen mit Bewußtsein
streben: nach einer Verringerung der Bildung, ja nach einer Vernichtung derselben.
Was aber für einige Religionen, gemäß ihrer Entstehung und Geschichte,
ein durchaus berechtigtes Verlangen ist, dürfte für die Wissenschaft
irgendwann einmal eine Selbstverbrennung herbeiführen. Jetzt sind wir bereits
auf dem Punkte, daß in allen allgemeinen Fragen ernsthafter Natur, vor allem
in den höchsten philosophischen Problemen der wissenschaftliche Mensch als
solcher gar nicht mehr zu Worte kommt: wohingegen jene klebrige verbindende Schicht,
die sich jetzt zwischen die Wissenschaften gelegt hat, die Journalistik, hier
ihre Aufgabe zu erfüllen glaubt und sie nun ihrem Wesen gemäß
ausführt, das heißt wie der Name sagt, als eine Tagelöhnerei.«
**
Seit
dem Ende der Klassik bzw. des Klassizismus mit seinem Idealismus und seiner Romantik
wird laut Nietzsche jeder ohne weiteres als ein literaturfähiges Wesen
betrachtet, das über die ernstesten Dinge und Personen eigne Meinungen haben
dürfte, während eine rechte Erziehung gerade nur daraufhin mit allem
Eifer streben wird, den lächerlichen Anspruch auf Selbständigkeit des
Urteils zu unterdrücken und den jungen Menschen an einen strengen Gehorsam
unter dem Zepter des Genius zu gewöhnen. (**).
Hier erkennen wir die verhängnisvollen Konsequenzen unseres jetzigen
Gymnasiums: dadurch, daß es nicht imstande ist, die rechte und strenge Bildung,
die vor allem Gehorsam und Gewöhnung ist, einzupflanzen, dadurch, daß
es vielmehr bestenfalls in der Erregung und Befruchtung der wissenschaftlichen
Triebe überhaupt zu einem Ziele kommt, erklärt sich jenes so häufig
anzutreffende Bündnis der Gelehrsamkeit mit der Barbarei des Geschmacks,
der Wissenschaft mit der Journalistik. (**).
In der Journalistik nämlich fließen die beiden Richtungen zusammen:
Erweiterung und Verminderung der Bildung reichen sich hier die Hand; das Journal
tritt geradezu an die Stelle der Bildung, und wer, auch als Gelehrter, jetzt noch
Bildungsansprüche macht, pflegt sich an jene klebrige Vermittlungsschicht
anzulehnen, die zwischen allen Lebensformen, allen Ständen, allen Künsten,
allen Wissenschaften die Fugen verkittet und die so fest und zuverlässig
ist wie eben Journalpapier zu sein pflegt. (**).
Für den kulturell (neo)klass(zist)isch und herrschaftspolitisch
aristoktatisch argumentierenden Nietzsche durfte nicht Bildung
der Masse ... unser Ziel sein, sondern Bildung der einzelnen ausgelesenen,
für große und bleibende Werke ausgerüsteten Menschen ...
(**).
Der immer dominanter werdende Egalitarismus - Kommunismus, Sozialismus,
Sozialdemokratismus u.ä. -, machte, weil er Bestandteil des Nihilismus
ist, Nietzsches Argumente immer mehr zunichte. Es ist nur teilweise richtig,
in Nietzsche den letzten Verteidiger des Klassizismus, den letzten kassischen
Idealisten, den letzten Romantiker (**|**)
zu sehen, denn er war Lebensphiolosph, gemäß meiner Deutung
der Begründer der Mittleren Schule der modernen Lebensphilosophie
(**),
aber dennoch war und blieb er ersteres teilweise doch, zumindest in seiner
frühen Zeit, und als Schüler eines Lehrers namens Schopenhauer,
des Begründers der Alten Schule der modernen abendländisch
Lebensphilosophie (**)
war das für ihn vielleicht selbstverständlich, obwohl oder weil
gerade das auch für Schopenhauer nur in relativem Maß gilt.
Man kann sogar fast so weit gehen und sagen, daß Nietzsche
in seinen frühen Schriften (**|**|**|**)
bereits das Wesentliche seines Gesamtwerkes zu Papier gebracht hatte und
danach dieses zur Reife brachte, später mit großen Tönen
spuckte, sich dabei auf einer immer beschmückteren Bühne präsentierend.
(Vgl. dazu auch: Peter Sloterdijk,
Der Denker auf der Bühne, 1986 **).
Es ging ihm um den Erhalt und die eventuell sogar noch steigerbare Qualität
der Kultur und also auch der Bildung. Anfangs (a)
und während seiner frühen Schriften (b)
glaubte Nietzsche an den Erhalt und die Steigerbarkeit dieser Qualität,
dann (c)
erkannte er immer mehr, daß nicht nur ihre Steigerbarkeit, sondern
sogar auch ihr Erhalt nicht mehr möglich war, und schließlich
(d)
bejahte er sogar deren Untergang als Schicksal, weil er glaubte, daß
in dem Chaos des Untergangs eine neue Qualität entstehen würde.
Sein größter Fehler war, daß er deshalb immer mehr darauf
vertraute, aus seiner subjektiven Gegenwart heraus die Geschichte
so analysieren zu können, daß sie in seine subjektiven
Befindlichkeiten paßte. Er war enttäuscht von den musikalischen
Leistungen seiner Vaterfigur Richard Wagner und nicht zufällig
besonders seitdem auch von den geschichlichen Leistungen seines
Christentums, seiner Kirche, aber auch seines demokratischen
Staates, seiner demokratischen Nation, seiner Kultur überhaupt
und projizierte alle diese, seine eigenen - subjektiven
- Enttäuschungen auf die, die er dafür verantwortlich zu machen
glaubte, um dadurch sich selbst schonen und heilen zu können,
ohne dabei objektiv sein zu müssen. Es ist nicht objektiv,
wenn man subjektiv über die Geschichte urteilt. Das Subjektive ist
zwar nie ganz herauszuhalten aus dem Urteil - soviel ist klar -, jedoch
darf jedenfalls ein Geschichtswissenschaftler nicht subjektiv urteilen,
sondern muß neutral, der Wissenschaft und also der Objektivität
unbedingt treu bleiben. Nietzsche war kein Geschichtswissenschaftler
- soviel ist klar -, aber er erweckte den Eindruck, mit seiner Philosophie
die Geschichte so behandeln zu können, als sei sie nur abhängig
von seiner eigenen, subjektiven Gesundheit - und die
war ja, wie wir eindeutig wissen, oft und ab einem bestimmten Zeitpunkt
sogar sehr oft und wiederum ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch sehr
schlecht.
Wenn man absieht von Nietzsches historischen Fehlanalysen, die zu bestimmten
falschen Urteilen geführt haben, ist Nietzsches allgemeine
Diagnose dennoch nicht ganz falsch. Denn: Was er sieht, ist
die unaufhaltsam fortschreitende »Verkleinerung« des Menschen,
eine Verhäßlichung der Welt. Er treibt nicht Ursachenforschung,
sondern er beschreibt und wertet. (Baeumler).
Das ist der Punkt, und zwar mein Kritikpunkt, daß Nietzsche
eben keine Ursachenforschung betrieben und deswegen einige falsche
Schlüsse gezogen hat. Seine Gesamtdiagnose müßte deswegen
ein wenig geändert werden.
Dieser Friedrich Wilhelm - benannt nach seinem König
Friedrich Wilhelm IV., dem Romantiker auf dem Thron
- hatte einen anderen Thron:
die philosophische Bühne eines letzten Romantikers (Spengler).
Nietzsche war der letzte Romantiker auf der Bühne
des Denktheaters.
Zum Abschluß ein Bild als nachträgliches Geschenk zu Nietzsches
100. Todestag:
Das Nietzscheentchen bei Harald Schmidt im August 2000.
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