Der Wind dreht sich Intellektueller Zeitgeist: Die Realitäten erzwingen eine Korrektur
der linken Deutungshoheit (von Karlheinz Weißmann) Götz
Kubitschek hat im Blick auf den Fall Sarrazin das Gedankenexperiment
vorgeschlagen, zehn Jahre in die Zukunft zu blicken und sich zu fragen, wie die
Äußerungen des Sozialdemokraten und Bundesbankvorstands erscheinen
werden, wenn in der Zwischenzeit eine starke rechte Partei ins Parlament einziehen
und maßgeblich über Einwanderung, Integration und Rücksiedlung
mitbestimmen könnte. Sicher würde Thilo Sarrazin als Wegbereiter betrachtet:
einer der wenigen, die gerade noch rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannten
und den Mut aufbrachten, das Richtige zu sagen, als die ganz große Mehrheit
der Verantwortlichen das nicht tat und sich gegen besseres Wissen an das Falsche
hielt. Soweit die Utopie. Aber wie jede Utopie gewinnt auch diese Plausibilität
daraus, daß man fortspinnt, was sich in der Gegenwart schon andeutet. Und
es gibt tatsächlich Indizien dafür, daß wenn nicht die Äußerungen
Sarrazins, so doch die Reaktionen darauf Anzeichen für eine gesellschaftliche
Klimaänderung sind. Symptomatisch war schon der Strategiewechsel der
Bild-Zeitung. Nachdem die Redaktion anfangs auf Skandalisierung setzte, in der
Meinung, der Leser werde willig wie immer den politisch korrekten Vorgaben folgen,
hat sie nach kurzem Zögern irritiert durch die massenhafte Zustimmung
für Sarrazin beschlossen, den Kurs zu ändern. Da man im Umfeld
Kai Diekmanns sehr genau weiß, daß die Manipulation des kleinen
Mannes Grenzen hat und sich keine Blattlinie gegen kompakte Mehrheiten durchsetzen
läßt, ging man zur Anpassung über. Sarrazin erscheint in Bild
zwar nicht gerade als der Volksheld, den viele Bürger und Leserbriefschreiber
oder Netzkommentatoren in ihm sehen, aber doch als Einzelgänger mit
kantigem Profil und ehrlichen Absichten. Dem Mentalitätswandel an der
Basis korrespondiert im Überbau eine Kräfteverschiebung in der Feuilletondebatte.
Begonnen hatte alles im Juni mit Peter Sloterdijks Vorstoß in der FAZ gegen
die Ausbeutung der produktiven Schichten durch den Steuerstaat und der Forderung,
den Zusammenhang von Betreuung und Unfreiheit namhaft zu machen. Etwas verklausuliert
ging es sogar um die Legitimität des Widerstands gegen die Expropriation
des Mittelstands zugunsten eines nicht zuletzt durch Migration dauernd
wachsenden Lumpenproletariats. Die Reaktion kam verzögert, lustlos,
aber siegesgewiß aus dem Rest der Frankfurter Schule. Axel Honneth, geschäftsführender
Direktor des von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in den 1950er Jahren neubegründeten
Instituts für Sozialforschung, wollte in der Zeit Sloterdijk in gewohnter
Manier erledigen (Kollege Christoph Menke assistierte nur) und warf ihm mangelnde
soziale Verantwortung und Versagen angesichts von universalen Werten und Aufklärung
vor (JF 41/09). Nach dem Muster westdeutscher Debatten hätte die Auseinandersetzung
damit ein Ende gehabt und Sloterdijk als erledigt gegolten. Aber davon ist
keine Rede. Nicht nur, daß Sloterdijk selbst sich mit Bravour zur Wehr setzte,
vergangene Woche nun ergriff Karl Heinz Bohrer ebenfalls in der FAZ die Gelegenheit,
ihn zu unterstützen, auch um mit Auffassungen abzurechnen, die Urteilsvermögen
und Kenntnis für verzichtbar halten und meinen, daß sie durch politischen
Kitsch und plebsfreundliche Entrüstung bei schierer Verblendung
ersetzt werden könnten. Diese Abläufe sind deshalb so bemerkenswert,
weil sich an ihnen zweierlei ablesen läßt: der Zerfall des maßgeblichen,
seit den siebziger Jahren etablierten Konsenses in der Klasse der Sinnvermittler
und eine Erwartungsenttäuschung, die weltanschauliche Konsequenzen nach sich
ziehen muß. Denn Sloterdijk und Bohrer galten einmal als Leitfiguren
der intellektuellen Linken. Wie ihre Kontrahenten haben sie ihre akademische und
öffentliche Karriere im Gefolge von 68 begonnen und sich den Zeitgeist
zunutze gemacht. Es gab zwar früh dissidente Neigungen, aber an der prinzipiellen
Zurechnung änderte das nichts. Was letztlich den Bruch bewirkte, ist schwer
zu sagen, für unseren Zusammenhang aber auch ohne Belang. Wichtig erscheint
nur, daß die Abwendung zu tun hat mit der Frustration über den geringen
Wirklichkeitsbezug der vorherrschenden Ideologeme. Bei Sloterdijk wie bei
Bohrer ist seit längerem erkennbar, daß sich ihre Interessen und Interpretationen
immer weiter von dem entfernen, was im weitesten Sinn noch als links faßbar
ist, weil sie den Eindruck haben, daß die Realitäten selbst eine solche
Korrektur erzwingen (frappierend die Bezugnahme Bohrers auf Arnold Gehlen, der
ohne Anleihen an theoretische Nomenklaturen Wirklichkeit in Worte zu fassen
imstande war). Sollte es tatsächlich zum offenen Bruch kommen,
wäre das ein Grund für vorsichtigen Optimismus. Denn anders als die
schon seit längerem beobachtbare Drift der Mitte ins Neubürgerlich-Pseudokonservative
könnte sich hier ein echter Konflikt abzeichnen, das heißt es ginge
nicht mehr ums Dekor und vorschnelle Versöhnung mit dem arrivierten Gegner,
sondern um dessen Bekämpfung. Sloterdijk hat die neue Antithese
umrissen in einem Manifest, das die Zeitschrift Cicero in ihrer jüngsten
Ausgabe veröffentlichte. Es geht ihm dabei zuerst um die Begründung
der These, daß die politische und soziale Gesamtentwicklung neben der kommentierenden
Klasse auch die etablierten Parteien zu einer Umorientierung zwingen werde,
die die lange Herrschaft des linken Konformismus beenden müsse. Sollte
diese Erwartung zutreffen und es nicht bei der von Sloterdijk erhofften Revolte
der Leistungsträger bleiben, muß die intellektuelle Rechte die strategischen
Möglichkeiten dieses Vorgangs richtig einschätzen und das heißt
auch, sich damit abfinden, daß nun von anderen mit größerer Aussicht
auf Resonanz viele Analysen und Warnungen vorgetragen werden, die man selbst in
der Vergangenheit immer wiederholt hat, ohne auf Gehör zu stoßen. Man
darf das als bitter empfinden, sollte aber getröstet sein durch die Regelmäßigkeit,
mit der sich dieser Vorgang wiederholt. Der Anfang dieses Jahres verstorbene Caspar
von Schrenck-Notzing hat einmal geäußert, daß es ein Mißverständnis
sei, in den Konservativen jene zu sehen, die immer nur auf schon eingetretene
Ereignisse reagierten. Tatsächlich lasse sich die konservative Haltung besser
daraus erklären, daß der Konservative die Dinge in statu nascendi beobachte,
daß er vor den anderen absehe, was eintreten werde. Das erkläre die
Anziehungskraft, die die konservative Position auf verantwortungsbewußte
Menschen ausübe, aber auch die mangelnde Wirksamkeit. Propheten können
eben keine Partei bilden.
Junge
Freiheit vom 30. Oktober 2009
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