Höchste
Zeit, die Kulturen zu zivilisieren - Zorn, Globalisierung, Diplomatie: Peter Sloterdijk
im Gespräch mit Ex-Außenminister Joschka Fischer und dem Medienforscher
Iso Camartin (von Harald Harzheim) Seit mehr als zwei Jahrzehnten
beweist der Philosoph Peter Sloterdijk seinen Spürsinn für Zeitgeistthemen,
die er in historischen, aber originell recycelten Denkansätzen spiegelt:
Kyniker, Gnostiker, Heidegger, Nietzsche - sie alle werden in Hinblick auf mögliche
Aktualität abgeklopft. Mit seinem neuesten Buch "Zeit und Zorn"
hat Sloterdijk innerhalb eines Monats die Bestsellerlisten gestürmt. Die
darin aufgestellten Thesen brachte er vergangenes Wochenende als geistiges Gepäck
nach Berlin, wo er auf den Ex-Außenminister Joschka Fischer und den Medienforscher
Iso Camartin traf. Sloterdijks Buch beginnt in der Antike, wo der Mensch
sich noch als göttliches Sprachrohr begriff. Da werden der Achill des Homer
oder die alttestamentarischen Propheten zu Medien zorniger Götter. Ein heiliger
Zorn durchdringt sie, der (zu kultureller Form sublimiert) aus seinen Trägern
Helden macht. Aber mit dem Aufkommen der bürgerlichen Stadtstaaten schwand
das "Charisma des Zorns" und fand nur noch im Dionysostheater seine
Nische. Die christliche Religion schließlich verschob den Tag des Zorns
(Dies irae) auf das Jüngste Gericht bzw. ins Jenseits. Aber mit dem
neuzeitlichen Verblassen des Christentums wuchs wieder die Ungeduld. Die Revolutionen
der letzten 200 Jahre schufen eine neue Ökonomie des Zorns, der hier direkte
Entladung im großen Stil fand. Nach dem Ende des Sozialismus und durch den
Druck des globalen Neoliberalismus übernimmt der politisierte Islam diese
Funktion, wird zur aktuellen "Weltbank des Zorns". Als Therapie empfiehlt
Sloterdijk - auf psychologischer wie politischer Ebene - eine "Balance",
die sich selbst auch mit dem Auge des Anderen zu sehen bemüht. In Abgrenzung
zur Psychoanalyse versucht der Autor den Zorn mit Hilfe von Heideggers Analyse
des Daseins ontologisch zu fundieren. In dessen "Sein und Zeit", worauf
Sloterdijks Titel anspielt, erfährt der Mensch seine "Eigentlichkeit",
seine Befreiung von Fremdbestimmung, als "Sein zum Tod", in Hinblick
auf seine eigene Endlichkeit. Sloterdijk ergänzt, daß diese Eigentlichkeit
auch im Durchlauf von der Kränkung bis zum Augenblick der Rache erfahrbar
werde. Der Zorn wird somit zum Existential. Die Sloterdijk/Fischer-Diskussion
über "Meine Diplomatie" war Bestandteil der Veranstaltungsreihe
"Meine Baustelle" im Haus der Kulturen der Welt. Letzteres ist aktuell
im Umbau, also selbst eine Baustelle. Und eine Baustelle, so Sloterdijk, ist auch
die derzeitige Politik, die autodidaktisch und ohne Vorbild eine globale Weltordnung
errichtet. Kurzum, das Haus bot einen überaus symbolischen Raum für
das Gespräch mit dem Ex-Außenminister. Selbstredend, daß
dabei der politische Aspekt des Zorns im Vordergrund stand. Fischer erklärte,
daß die Diplomatie nicht länger als Verhinderin zorngetriebener Handlungen
verstehbar sei. Dies wäre eine glatte Überforderung. Diplomatie vermittle
zwischen den höchsten weltlichen Instanzen, zwischen souveränen Staaten.
Dränge sich aber die Kultur, die Religion in den Konflikt, müßten
Kulturschaffende, Intellektuelle und Theologen künftig den Dialog führen.
Die politische Diplomatie spiele dabei nur noch eine marginale Rolle. Um so mehr,
als globale (Kultur-)Konflikte nicht mehr zwischen souveränen Staaten, sondern
via Terrorismus auf allen Ebenen ausgetragen werden. Sloterdijk definierte
den Diplomaten als Therapeuten, als Artisten, der dem zornig Aufgeregten zunächst
recht geben müsse, um Entspannung einzuleiten. Zudem sollten die verschiedenen
Kulturen zuerst einmal "zivilisiert" werden, da sie immer noch zu sehr
von panischen Überlebensprogrammen geprägt seien. Diese heiße
es jetzt für die Schaffung künftiger, großer Kooperativen aufzugeben. Den
berühmten Satz Carl Schmitts - "Souverän ist, wer über den
Ausnahmezustand entscheidet" - interpretiert Sloterdijk auf sprachkritischer
Ebene so: "Souverän ist, wen man nicht zwingen kann, etwas zu sagen."
Der sich nicht zu rechtfertigen braucht - so wie die USA oder Großbritannien
beim Irak-Krieg. Solches Handeln ignoriert jedoch, daß im Zeitalter der
Beschleunigung, jede Handlung innerhalb kürzester Zeit globale Auswirkung
zeigt - und auch auf den Akteur zurückfällt. In welcher früheren
Epoche beispielsweise mußten sich Diktatoren schon zu Lebzeiten vor Gericht
rechtfertigen? Deshalb warnte Sloterdijk vor der Aktionsromantik der Teroristen,
US-Neocons und Liberalen, die damit unvorhersehbare Wirkungen auslösten. Ein
stolzes Geschöpf reagiert zornig auf Demütigungen Szenenwechsel:
Am darauffolgenden Tag in der Repräsentanz des Suhrkamp-Verlages, einem frisch
renovierten Haus der Gründerzeit. Kein Platz für Baustellenpolitik,
wohl aber Seelenanalyse. Und tatsächlich stand im Dialog zwischen Sloterdijk
und Iso Camartin die psychologische Seite des Zorns im Vordergrund. Worin versammelt
sich im Zeitalter der Globalisierung der Zorn der Entrechteten? fragt sich Sloterdijk.
Antwort: Über ein solches Sammelbecken verfüge die westliche Welt nicht
mehr. Deshalb befinden sich ihre Unzufriedenheiten in einem "nichtsammelbaren
Aggregatzustand". Hier scheint sie gegenüber dem politisierten Islam
im Nachteil. Wie aber sollen Gruppen von Benachteiligten oder Gedemütigten
künftig in die "Balance" finden? Und was für Therapiemittel
braucht die westliche Gesellschaft, wenn sie kein Sammelbecken des Zorns mehr
bieten kann? Was, so fragt Iso Camartin, bedeutet das aktuell für Deutschland? Leider
zieht sich Sloterdijk in seiner Antwort wieder auf das Individuum zurück:
Die Psychoanalyse habe den Menschen nur als "Marionette des Eros" verstanden,
aber nie als "stolzes" Geschöpf, das auf Demütigung mit Zorn
reagiere. Die Psychoanalyse wäre also gut beraten, den Stolz (nicht zu verwechseln
mit Narzißmus!) in ihre künftigen Wörterbücher zu integrieren.
Als ob den Gruppen von Gedemütigten - man denke bloß an unverschuldete
Hartz-IV-Empfänger! - mit Erweiterung der Psychoanalyse geholfen wäre. Sloterdijk
verweist noch auf die griechische "Psychopolitik des Ehrgeizes", mit
der die Antike den Zorn domestiziert habe. Aber auch dieses Modell dürfte
heute passé sein. Nein, die Frage, welche künftigen globalen Strukturen
Benachteiligung und Demütigung sozialer Gruppen maximal verhindern und -
wo vorhanden - kompensieren könnten, das ist die Frage, die Sloterdijk bislang
nicht beantwortet hat. Ein politisches Denken, das auf seinem Modell aufbauen
will, müßte genau da anfangen.
Junge Freiheit vom 27. Oktober 2006 |