Vorwort (S. I-X):
Zum Schlusse drängt es mich, noch einmal
die Namen zu nennen, denen ich so gut wie alles verdanke: Goethe und Nietzsche.
Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen, und
wenn ich mein Verhältnis zu diesem in eine Formel bringen soll, so
darf ich sagen: ich habe aus seinem Augenblick einen Überblick gemacht.
Goethe aber war in seiner ganzen Denkweise, ohne es zu wissen, ein Schüler
von Leibniz gewesen. So empfinde ich das, was mir zu meiner eigenen Überraschung
zuletzt unter Händen entstanden ist, als etwas, das ich trotz des
Elends und Ekels dieser Jahre mit Stolz nennen will: als eine deutsche
Philosophie. (Ebd., S. IX).
Dies Buch, das Ergebnis dreier Jahre, war in
der ersten Niederschrift vollendet, als der große Krieg ausbrach.
Es ist bis zum Frühling 1917 noch einmal durchgearbeitet und in Einzelheiten
ergänzt und verdeutlicht worden. Die außerordentlichen Verhältnisse
haben sein Erscheinen weiterhin verzögert. (Ebd., S. X).
Der Titel, seit 1912 feststehend (),
bezeichnet in strengster Wortbedeutung und im Hinblick auf den Untergang
der Antike eine welthistorische Phase vom Umfang mehrerer Jahrhunderte
.... (Ebd., S. X).
Es handelt sich nach meiner Überzeugung nicht um eine neben
andern mögliche und nur logisch gerechtfertigte, sondern um die,
gewissermaßen natürliche, von allen dunkel vorgefühlte
Philosophie der Zeit. Das darf ohne Anmaßung gesagt werden. Ein
Gedanke von historischer Notwendigkeit, ein Gedanke also, der nicht in
eine Epoche fällt, sondern der Epoche macht, ist nur in beschränktem
Sinne das Eigentum dessen, dem seine Urheberschaft zuteil wird. Er gehört
der ganzen Zeit; er ist im Denken aller unbewußt wirksam und allein
die zufällige private Fassung, ohne die es keine Philosophie gibt,
ist mit ihren Schwächen und Vorzügen das Schicksal - und das
Glück - eines Einzelnen. (Ebd., S. X).
Ich habe nur den Wunsch beizufügen, daß dieses Buch
neben den militärischen Leistungen Deutschlands nicht ganz unwürdig
dastehen möge. (Ebd., S. XI).
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München, im Dezember
1917 |
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Oswald Spengler |
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Band I -
Gestalt und Wirklichkeit |
Einleitung |
Vom Sinn der Zahlen |
Das Problem der Weltgeschichte |
Makrokosmos |
Musik und Plastik |
Seelenbild und Lebensgefühl |
Faustische und apollinische Naturerkenntnis
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Einleitung (S. 3-70):
Die Aufgaben [S. 3] Morphologie
der Weltgeschichte eine neue Philosophie [S. 6] Für wen
gibt es Geschichte? [S. 10] Die Antike und Indien unhistorisch
[S. 12] Ägypten: Mumie und Totenverbrennung [S. 17] Die
Form der Weltgeschichte. Altertum Mittelalter Neuzeit [S.
21] Entstehung dieses Schemas [S. 24] Seine Zersetzung [S.
29] Westeuropa kein Schwerpunkt [S. 31] Goethes Methode die
einzig historische [S. 35] Wir und die Römer [S. 36]
Nietzsche und Mommsen [S. 39] Probleme der Zivilisation [S. 43]
Imperialismus als Ausgang [S. 51] Notwendigkeit und Tragweite des
Grundgedankens [S. 54] Verhältnis zur heutigen Philosophie [S.
57] Deren letzte Aufgabe [S. 62] Entstehung des Buches [S.
64].
In diesem Buche wird
zum erstenmal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt
sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute
auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen,
in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen. (Ebd., S. 3).
Gibt es eine Logik der Geschichte?
Gibt es jenseits von allen Zufällen und Unberechenbaren der Einzelereignisse
eine sozusagen metaphysische Struktur der historischen Menschheit, die von den
weithin sichtbaren, populären geistig-politischen Gebilden der Oberfläche
wesentlich unabhängig ist? Die diese Wirklichkeit geringeren Ranges
vielmehr erst hevorruft? Und wenn - wo
liegen die Grenzen derartiger Folgerungen? Ist es möglich,
im Leben selbst - denn menschliche Geschichte ist der Inbegriff von ungeheuren
Lebensläufen, als deren Ich und Person schon der Sprachgebrauch unwillkürlich
Individuen höherer Ordnung wie »die Antike«, »die chinesische
Kultur« oder »die moderne Zivilisation« denkend und handelnd
einführt - die Stufen aufzufinden, die durchschritten werden müssen,
und zwar in einer Ordnung, die keine Ausnahme zuläßt? Haben
die für alles Organische grundlegenden Begriffe, Geburt, Tod, Jugend, Alter,
Lebensdauer, in diesem Kreise vielleicht einen strengen Sinn, den noch niemand
erschlossen hat? Liegen, kurz gesagt, allem Historischen allgemeine biographische
Urformen zugrunde? (Ebd., S. 3).
Der Untergang des Abendlandes, zunächst
ein örtlich und zeitlich beschränktes Phänomen wie das
ihm entsprechende des Untergangs der Antike, ist, wie man sieht, ein philosophisches
Thema, das in seiner ganzen Schwere begriffen alle großen Fragen
des Seins in sich schließt. (Ebd., ebd., S. 4).
Will man erfahren, in welcher
Gestalt sich das Schicksal der abendländischen Kultur erfüllen
wird, so muß man zuvor erkannt haben, was Kultur ist, in
welchem Verhältnis sie zur sichtbaren Geschichte, zum Leben, zur
Seele, zur Natur, zum Geiste steht, unter welchen Formen sie in Erscheinung
tritt und inwiefern diese Formen ... Symbole und als solche zu deuten
sind. (Ebd., ebd., S. 4).
Das
Mittel, tote Formen zu erkennen, ist das mathematische Gesetz. Das Mittel,
lebendige Formen zu verstehen, ist die Analogie. Auf diese Weise unterscheiden
sich Polarität und Periodizität der Welt. (Ebd., S. 4).
Das Bewußtsein
davon, daß die Zahl der weltgeschichtlichen Erscheinungsformen eine
begrenzte ist, daß Zeitalter, Epochen, Lagen, Personen sich dem
Typus nach wiederholen, war immer vorhanden. (Ebd., S. 4).
Die Archäologie ist ja selbst ein Ausdruck des Gefühls,
daß Geschichte sich wiederholt .... (Ebd., S. 4-5).
So sind die Vergleiche Rankes, eines Meisters
der kunstvollen Analogie, ... aus einem plutarchischem, d.h. volkstünlich
romantischen Geschmack gezogen worden, der lediglich die Ähnlichkeit
der Szene auf der Weltbühne ins Auge faßt, nicht mit der Strenge
des Mathematikers, der die innere Verwandtschaft zweier Gruppen von Differentialgleichungen
erkennt, an denen der Laie nichts sieht als die Verschiedenheit der äußeren
Form. (Ebd., S. 5).
Und so erweitert
sich die Aufgabe, die ursprünglich ein begrenztes Problem der heutigen
Zivilisation umfaßte, zu einer neuen Philosophie (sie
ist nicht ganz neu! ),
der Philosophie der Zukunft, soweit aus dem metaphysisch erschöpften
Boden des Abendlandes noch eine solche hervorgehen kann, der einzigen,
die wenigstens zu den Möglichkeiten des westeuropäischen
Geistes in seinen nächsten Stadien gehört: zur Idee einer Morphologie
der Weltgeschichte, der Welt als Geschichte, die im Gegensatz zur
Morphologie der Natur, bisher fast dem einzigen Thema der Philosophie,
alle Gestalten und Bewegungen der Welt in ihrer tiefsten und letzten Bedeutung
noch einmal, aber in einer ganz andern Ordnung, nicht zum Gesamtbilde
alles Erkannten, sondern zu einem Bilde des Lebens, nicht des Gewordenen,
sondern des Werdens zusammenfaßt. - Die Welt als Geschichte,
aus ihrem Gegensatz, der Welt als Natur begriffen, gestaltet -
das ist ein neuer Aspekt des menschlichen Daseins auf dieser Erde, dessen
Herausarbeitung in ihrer ungeheuren praktischen und theoretischen Bedeutung
als Aufgabe ... nie gewagt worden ist. Hier liegen zwei mögliche
Arten vor, wie der Mensch seine Umwelt innerlich besitzen und erleben
kann. Ich trenne der Form, nicht der Substanz nach mit vollster Schärfe
den organischen vom mechanischen Welteindruck, den Inbegriff der Gestalten
von dem der Gesetze, das Bild und Symbol von der Formel und dem System,
das Einmalig-Wirkliche vom Beständig-Möglichen, das Ziel der
planvoll ordnenden Einbildungskraft von dem der zweckmäßig
zergliedernden Erfahrung oder, um einen noch nie bemerkten, sehr bedeutungsvollen
Gegensatz schon hier zu nennen, den Geltungsbereich der shronologischen
von dem der mathematischen Zahl. (Es war ein noch heute nicht überwundener Mißgriff
Kants von ungeheurer Tragweite, daß er den äußern und innern
Menschen zunächst mit den vieldeutigen und vor allem nicht unveränderlichen
Begriffen Raum und Zeit ganz schematisch in Verbindung brachte und weiterhin
damit in vollkommen falscher Weise Geometrie und Arithmetik verband, an deren
Stelle hier der viel tiefere Gegensatz der mathematischen und chronologischen
Zahl wenigstens genannt sein soll. Arithmetik und Geometrie sind beides
Raumrechnungen und in ihren höheren Gebieten überhaupt nicht mehr
unterscheidbar. Eine Zeitrechnung, über deren Begriff der naive
Mensch sich gefühlsmäßig durchaus klar ist, beantwortet die
Frage nach dem Wann, nicht dem Was oder Wieviel.) (Ebd., S. 6-7).
Es kann sich demnach in einer Untersuchung wie der vorliegenden nicht
darum handeln, die an der Oberfläche des Tages sichtbar werdenden Ereignisse
geistig-politischer Art als solche hinzunehmen, nach »Ursache« und
»Wirkung« zu ordnen und in ihrer scheinbaren, verstandesmäßig
faßlichen Tendenz zu verfolgen. Eine derartige »pragmatische«
Behandlung der Geschichte würde nichts als ein Stück verkappter
Naturwissenschaft sein, woraus die Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung
kein Hehl machen, während ihre Gegner sich nur der Gleichheit des beiderseitigen
Verfahrens nicht hinreichend bewußt sind. Es handelt sich nicht um das,
was die greifbaren Tatsachen der Geschichte an und für sich, als Erscheinungen
zu irgendeiner Zeit sind, sondern um das, was sie durch ihre Erscheinung
bedeuten, andeuten. Die Historiker der Gegenwart glauben ein übriges
zu tun, wenn sie religiöse, soziale und allenfalls kunsthistorische Einzelheiten
heranziehen, um den politischen Sinn einer Epoche zu »illustrieren«.
Aber sie vergessen das Entscheidende entscheidend nämlich, insofern
sichtbare Geschichte Ausdruck, Zeichen, formgewordenes Seelentum ist. Ich habe
noch keinen gefunden, der mit dem Studium der morphologischen Verwandtschaft,
welche die Formensprache aller Kulturgebiete innerlich verbindet, Ernst
gemacht hätte, der über den Bereich politischer Tatsachen hinaus die
letzten und tiefsten Gedanken der Mathematik der Hellenen, Araber, Inder, Westeuropäer,
den Sinn ihrer frühen Ornamentik, ihrer architektonischen, metaphysischen,
dramatischen, lyrischen Grundformen, die Auswahl und Richtung ihrer großen
Künste, die Einzelheiten ihrer künstlerischen Technik und Stoffwahl
eingehend gekannt, geschweige denn in ihrer entscheidenden Bedeutung für
die Formprobleme des Historischen erkannt hätte. Wer weiß es, daß
zwischen der Differentialrechnung und dem dynastischen Staatsprinzip der Zeit
Ludwigs XIV., zwischen der antiken Staatsform der Polis und der euklidischen
Geometrie, zwischen der Raumperspektive der abendländischen Ölmalerei
und der Überwindung des Raumes durch Bahnen, Fernsprecher und Fernwaffen,
zwischen der kontrapunktischen Instrumentalmusik und dem wirtschaftlichen Kreditsystem
ein tiefer Zusammenhang der Form besteht? Selbst die nüchternsten Tatsachen
der Politik nehmen, aus dieser Perspektive betrachtet, einen symbolischen und
geradezu metaphysischen Charakter an, und es geschieht hier vielleicht zum ersten
Male, daß Dinge wie das ägyptische Verwaltungssystem, das antike
Münzwesen, die analytische Geometrie, der Scheck, der Suezkanal, der chinesische
Buchdruck, das preußische Heer und die römische Straßenbautechnik
gleichmäßig als Symbole aufgefaßt und als solche gedeutet werden.
(Ebd., S. 7-9).
An diesem Punkte stellt es sich heraus, daß
es eine theoretisch durchleuchtete Kunst der historischen Betrachtung
noch gar nicht gibt. Was man so nennt, zieht seine Methoden fast ausschließlich
aus dem Gebiete des Wissens, auf welchem allein Methoden der Erkenntnis zur
strengen Ausbildung gelangt sind, aus der Physik. Man glaubt Geschichtsforschung
zu treiben, wenn man den gegenständlichen Zusammenhang von Ursache und
Wirkung verfolgt. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Philosophie
alten Stils an eine andere Möglichkeit der Beziehung zwischen dem verstehenden
menschlichen Wachsein und der umgebenden Welt nie gedacht hat. Kant, der in
seinem Hauptwerk die formalen Regeln der Erkenntnis feststellte, zog, ohne daß
er oder irgendein anderer es je bemerkt hätte, allein die Natur
als Objekt der Verstandestätigkeit in Betracht. Wissen ist für ihn
mathematisches Wissen. Wenn er von angeborenen Formen der Anschauung und Kategorien
des Verstandes spricht, so denkt er nie an das ganz anders geartete Begreifen
historischer Eindrücke, und Schopenhauer, der von Kants Kategorien bezeichnenderweise
allein die der Kausalität gelten läßt, redet nur mit Verachtung
von der Geschichte. (Man muß es fühlen können,
wie sehr die Tiefe der formalen Kombination und die Energie des Abstrahierens
auf dem Gebiete etwa der Renaissanceforschung oder der Geschichte der Völkerwanderung
hinter dem zurückbleibt, was für die Funktionentheorie und theoretische
Optik selbstverständlich ist. Neben dem Physiker und Mathematiker wirkt
der Historiker nachlässig, sobald er von der Sammlung und Ordnung
seines Materials zur Deutung übergeht.) Daß außer der
Notwendigkeit von Ursache und Wirkung ich möchte sie die Logik
des Raumes nennen im Leben auch noch die organische Notwendigkeit
des Schicksals die Logik der Zeit eine Tatsache
von tiefster innerer Gewißheit ist, eine Tatsache, welche das gesamte
mythologische, religiöse und künstlerische Denken ausfüllt, die
das Wesen und den Kern aller Geschichte im Gegensatz zur Natur ausmacht, die
aber den Erkenntnisformen, welche die »Kritik der reinen Vernunft«
untersucht, unzugänglich ist, das ist noch nicht in den Bereich theoretischer
Formulierung gedrungen. Die Philosophie ist, wie Galilei an einer berühmten
Stelle seines »Saggiatore« sagt, im großen Buche der Natur
»scritta in lingua matematica«. Aber wir warten heute noch auf die
Antwort eines Philosophen, in welcher Sprache die Geschichte geschrieben und
wie diese zu lesen ist. (Ebd., S. 9-10).
Die Mathematik und das Kausalitätsprinzip führen zu einer
naturhaften, die Chronologie und die Schicksalsidee zu einer historischen Ordnung
der Erscheinung. Beide Ordnungen umfassen, jede für sich, die ganze
Welt. Nur das Auge, in dem und durch das sich diese Welt verwirklicht, ist ein
anderes. (Ebd., S. 10).
Was die antike Geschichtsschreibung
betrifft, so richte man seinen Blick auf Thukydides. Die Meisterschaft
dieses Mannes besteht in der echt antiken Kraft, Ereignisse der Gegenwart
aus sich selbst heraus verstehend zu erleben, und dazu kommt jener
prachtvolle Tatsachenblick des geborenen Staatsmannes, der selbst Feldherr
und Beamter gewesen war. Diese praktische Erfahrung, die man leider
mit historischem Sinn verwechselt, läßt ihn geschichtsschreibenden
bloßen Gelehrten mit Recht als unerreichtes Muster erscheinen. Was
ihm aber vollkommen verschlossen bleibt, ist jener perspektivische Blick
über die Geschichte von Jahrhunderten hin, der für uns mit Selbstverständlichkeit
zum Begriff des Historikers gehört. Alle guten Stücke antiker
Geschichtsdarstellung beschränken sich auf die politische Gegenwart
des Autors, im schärfsten Gegensatz zu uns, deren historische Meisterwerke
ohne Ausnahme die ferne Vergangenheit behandeln. (Ebd., S. 12-13).
Die indische Kultur, deren Idee vom (brahmanischen) Nirwana der
entschiedenste Ausdruck einer vollkommen ahistorischen Seele ist, den
es geben kann, hat nie das geringste Gefühl für das »Wann«
in irgendeinem Sinne besessen. Es gibt keine echte indische Astronomie,
keine indischen Kalender, keine indische Historie also, insofern man darunter
den geistigen Niederschlag einer bewußten Entwicklung versteht.
(Ebd., S. 15).
Die ägyptische Seele, eminent historisch
veranlagt und mit urweltlicher Leidenschaft nach dem Unendlichen drängend,
empfand die Vergangenheit und Zukunft als ihre ganze Welt, und die Gegenwart,
die mit dem wachen Bewußtsein identisch ist, erschien ihr lediglich
als die schmale Grenze zwischen zwei unermeßlichen Fernen. Die ägyptische
Kultur ist eine Inkarnation der Sorge - dem seelischen Gegenwert
der Ferne -, der Sorge um das Künftige, wie sie sich in der Wahl
von Granit und Basalt als künstlerischem Material (),
in den gemeißelten Urkunden, in der Ausbildung eines peinlichen
Verwaltungssystems und dem Netz von Bewässerungsanlagen ausspricht
(),
und der notwendig damit verknüpften Sorge um das Vergangene.
Die ägyptische Mumie ist ein Symbol vom höchsten Range. Man
verewigte den Leib des Toten, wie man seiner Persönlichkeit,
dem »Ka«, durch die oft in vielen Exemplaren ausgeführten
Bildnisstatuen, an deren in einem sehr hohen Sinne aufgefaßte Ähnlichkeit
sie gebunden war, ewige Dauer verlieh. (Ebd., S. 16).
Unter den Völkern des Abendlandes
waren es die Deutschen, welche die mechanischen Uhren erfanden, schauerliche
Symbole der rinnenden Zeit, deren Tag und Nacht von zahllosen Türmen
über Westeuropa hin hallende Schläge vielleicht der ungeheuerste
Ausdruck sind, dessen ein historisches Weltgefühl überhaupt
fähig ist. Abt Gerbert (als Papst Sylvester II.),
der Freund Kaisers Ottos III., hat um 1000, also mit Beginn des romanischen
Stils und der Kreuzzugsbewegung ..., die Konstruktion der Schlag- und
Räderuhren erfunden. In Deutschland entstanden auch um 1200 die ersten
Turmuhren und etwas später die Taschenuhren. Man bemerke die bedeutsame
Verbindung der Zeitmessung mit dem Gebäude des religiösen Kultus.
(Ebd., S. 19).
Altertum - Mittelalter - Neuzeit ():
das ist das unglaubwürdig dürftige und sinnlose Schema,
dessen unbedingte Herrschaft über unser geschichtliches Denken uns
immer wieder gehindert hat, die eigentliche Stellung der kleinen Teilwelt,
wie sie sich seit der deutschen Kaiserzeit auf dem Boden des westlichen
Europa entfaltet, in ihrem Verhältnis zur Gesamtgeschichte des höheren
Menschentums nach ihrem Range, ihrer Gestalt, ihrer Lebensdauer vor allen
aufzufassen. Es wird künftigen Kulturen kaum glaublich erscheinen,
daß dieser Grundriß mit seinem einfältigen geradlinigen
Ablauf, seinen unsinnigen Proportionen, der von Jahrhundert zu Jahrhundert
unmöglicher wird und eine natürliche Eingliederung der neu in
das Licht unseres historischen Bewußtseins tretenden Gebiete gar
nicht zuläßt .... (Ebd., S. 21).
Es (das Schema: Altertum-Mittelalter-Neuzeit)
beschränkt den Umfang der Geschichte, aber schlimmer ist, daß
es auch ihren Schauplatz begrenzt. Hier bildet die Landschaft des westlichen
Europa den ruhenden Pol (mathematisch gesprochen, einen singulären
Punkt auf einer Kugeloberfläche) - man weiß nicht warum, wenn
nicht dies der Grund ist, daß wir, die Urheber dieses Geschichtsbildes,
gerade hier zu Hause sind -, um den sich Jahrtausende gewaltigster Geschichte
und fernab gelagerte ungeheure Kulturen in aller Bescheidenheit drehen.
(Ebd., S. 22).
Hier steht der Historiker auch unter
dem verhängnisvollen Vorurteil der Geographie (um nicht zu sagen
unter der Suggestion eines Landkartenbildes), die einen Erdteil
Europa annimmt, worauf er sich verpflichtet fühlt, auch eine entsprechende
ideelle Abgrenzug gegen »Asien« vorzunehmen. Das Wort
Europa sollte aus der Geschichte gestrichen werden. Es gibt keinen »Europäer«
als historischen Typus. Es ist töricht, im Falle der Hellenen vom
»europäischen Altertum« (Homer, Heraklit, Pythagoras
waren also »Asiaten« ?) und von ihrer »Mission«
zu reden, Asien und Europa kulturell anzunähern. Das sind Worte,
die aus einer oberflächlichen Interpretation der Landkarte stammen
und denen nichts Wirkliches entspricht. (Ebd., S. 22).
Orient und Okzident sind Begriffe von echtem historischem Gehalt.
»Europa« ist leerer Schall. Alles, was die Antike an großen
Schöpfungen hervorbrachte, entstand unter Negation jeder kontinentalen
Grenzen zwischen Rom und Cypern, Byzanz und Alexandria. Alles, was europäische
Kultur heißt, entstand zwischen Weichsel, Adria und Guadalquivir.
Und gesetzt, daß Griechenland zur Zeit des Perikles »in Europa
lag«, so liegt es heute nicht mehr dort. (Ebd., S. 22).
Daß für die Kultur des Abendlandes
das Dasein von Athen, Florenz, Paris wichtiger ist als das von Lo-yang
und Pataliputra, versteht sich von selbst. Aber darf man solche Wertschätzungen
zur Grundlage eines Schemas der Weltgeschichte machen? Dann hätte
der chinesische Historiker das Recht, eine Weltgeschichte zu entwerfen,
in der die Kreuzzüge und die Renaissance, Cäsar und Friedrich
der Große als belanglos mit Stillschweigen übergangen werden.
Warum soll, morphologisch betrachtet, das 18. Jahrhundert wichtiger
sein als eins der sechzig voraufgehenden? Ist es nicht lächerlich,
eine »Neuzeit« vom Umfang einiger Jahrhunderte, noch dazu
wesentlich in Westeuropa lokalisiert, einem »Altertum« gegenüberzustellen,
das ebensoviel Jahrtausende umfaßt und dem die Masse aller vorgriechischen
Kulturen ohne den Versuch einer tieferen Gliederung einfach als Anhang
zugerechnet wird? (Ebd., S. 23).
Ich nenne dies dem heutigen
Westeuropäer geläufige Schema (Altertum-Mittelalter-Neuzeit
),
in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen um uns als den vermeintlichen
Mittelpunkt alles Weltgeschehens ziehen, das ptolemäische System
der Geschichte und ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung
im Bereich der Historie, daß in diesem Buche ein System an seine
Stelle tritt (),
in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon (Mesopotamien/Sumer),
China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen (Maya/Inka)
Kultur - Einzelwelten des Werdens (),
die im Gesamtbilde der Geschichte ebenso schwer wiegen, die an Großzügigkeit
der seelischen Konzeption, an Gewalt des Aufstiegs die Antike vielfach
übertreffen - eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen.
(Ebd., S. 24).
Man war, ohne es auszusprechen, der Meinung,
daß hier jenseits von Altertum und Mittelalter etwas Endgültiges
beginne, ein drittes Reich, in dem irgendwie eine Erfüllung lag,
ein Höhepunkt, ein Ziel, das erkannt zu haben von den Scholastikern
an bis zu den Sozialisten unserer Tage jeder sich allein zuschrieb.
(Ebd., S. 26).
Von jedem Organismus wissen wir, daß Tempo, Gestalt und
Dauer seines Lebens und jeder einzelnen Lebensäußerung durch
die Eigenschaften der Art, zu welcher er gehört, bestimmt sind.
Niemand wird von einer tausendjährigen Eiche vermuten, daß
sie eben jetzt im Begriff ist, mit dem eigentlichen Lauf ihrer Entwicklung
zu beginnen. Niemand erwartet von einer Raupe, die er täglich wachsen
sieht, daß sie möglicherweise ein paar Jahre damit fortfährt.
Hier hat jeder mit unbedingter Gewißheit das Gefühl einer Grenze,
das mit einem Gefühl für die innere Form identisch ist. Der
Geschichte des höhern Menschentums gegenüber aber herrscht ein
zügelloser, alle historische und also organische Erfahrung
verachtender Optimismus in bezug auf den Gang der Zukunft, so daß
jedermann im zufällig Gegenwärtigen die »Ansätze«
zu einer ganz besonders hervorragenden linienhaften »Weiterentwicklung«
feststellt, nicht weil sie wissenschaftlich bewiesen ist, sondern weil
er sie wünscht. Hier wird mit schrankenlosen Möglichkeiten
nie mit einem natürlichen Ende gerechnet und aus der Lage
jedes Augenblicks heraus eine völlig naive Konstruktion der Fortsetzung
entworfen. (Ebd., S. 28).
Aber »die Menschheit« hat kein
Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge
oder der Orchideen ein Ziel hat. »Die Menschheit« ist ein
zoologischer Begriff oder ein leeres Wort. (»Die
Menschheit? Das ist ein Abstraktum. Es hat von jeher nur Menschen gegeben
und wird nur Menschen geben« [Goethe zu Luden].) Man lasse
dies Phantom aus dem Umkreis der historischen Formprobleme schwinden und
man wird einen überraschenden Reichtum wirklicher Formen auftauchen
sehen. Hier ist eine unermeßliche Fülle, Tiefe und Bewegtheit
des Lebendigen, die bis jetzt durch ein Schlagwort, durch ein dürres
Schema, durch persönliche »Ideale« verdeckt wurde.
(Ebd., S. 28-29).
Ich sehe statt jenes öden Bildes
einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält,
wenn man vor der überwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schließt,
das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher
Kraft aus dem Schoße einer mütterlichen Landschaft, an die
jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden bleibt,
aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschentum, ihre eigne
Form aufprägt, von denen jede ihre eigne Idee, ihre eignen
Leidenschaften, ihr eignes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eignen
Tod hat. Hier gibt es Farben, Lichter, Bewegungen, die noch kein geistiges
Auge entdeckt hat. Es gibt aufblühende und alternde Kulturen, Völker,
Sprachen, Wahrheiten, Götter, Landschaften, wie es junge und alte
Eichen und Pinien, Blüten, Zweige und Blätter gibt, aber es
gibt keine alternde »Menschheit«. Jede Kultur hat ihre neuen
Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und
nie wiederkehren. Es gibt viele, im tiefsten Wesen völlig voneinander
verschiedene Plastiken, Malereien, Mathematiken, Physiken, jede von begrenzter
Lebensdauer, jede in sich selbst geschlossen, wie jede Pflanzenart ihre
eigenen Blüten und Früchte, ihren eigenen Typus von Wachstum
und Niedergang hat. Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen
in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf wie die Blumen auf dem Felde. Sie
gehören, wie Pflanzen und Tiere der lebendigen Natur Goethes, nicht
der toten Natur Newtons an. Ich sehe in der Weltgeschichte das Bild einer
ewigen Gestaltung und Umgestaltung, eines wunderbaren Werdens und Vergehens
organischer Formen. Der zünftige Historiker aber sieht sie in der
Gestalt eines Bandwurms, der unermüdlich Epochen »ansetzt«.
(Ebd., S. 29).
Vor allem läßt sich der Umstand
nicht länger verhehlen, daß diese angebliche Geschichte der
Welt sich anfangs tatsächlich auf die Region des östlichen Mittelmeeres
und später, seit der Völkerwanderung (),
einem nur für uns wichtigen und deshalb stark überschätzten
Ereignis, das eine rein abendländische Bedeutung besitzt und schon
die arabische Kultur nichts angeht, mit einem plötzlichen Wechsel
des Schauplatzes auf das mittlere Westeuropa beschränkt. Hegel hatte
in aller Naivität erklärt, daß er die Völker, die
in sein System der Geschichte nicht paßten, ignorieren werde. Aber
das war nur ein ehrliches Eingeständnis von methodischen Voraussetzungen,
ohne die kein Historiker zum Ziele kam. Man kann die Disposition sämtlicher
Geschichtswerke daraufhin prüfen. Es ist heute in der Tat eine Frage
des wissenschaftlichen Taktes, welche der historischen Entwicklungen man
ernsthaft mitzählt und welche nicht. Ranke ist ein gutes Beispiel
dafür. (Ebd., S. 30).
Wir denken heute in Erdteilen. Nur unsere Philosophen und Historiker
haben das noch nicht gelernt. Was können uns da Begriffe und Perspektiven
bedeuten, die mit dem Anspruch auf universale Gültigkeit hervortreten
und deren Horizont doch über die geistige Atmosphäre des westeuropäischen
Menschen nicht hinausreicht? Man sehe sich daraufhin unsre besten
Bücher an. Wenn Plato von der Menschheit redet, so meint er den Hellenen
im Gegensatz zum Barbaren. Das entspricht durchaus dem ahistorischen Stil
des antiken Lebens und Denkens und führt unter dieser Voraussetzung
zu Ergebnissen, welche für Griechen richtig und bedeutsam
sind. Wenn aber Kant philosophiert, über ethische Ideale zum Beispiel,
so behauptet er die Gültigkeit seiner Sätze für die Menschen
aller Arten und Zeiten. Er spricht das nur nicht aus, weil es für
ihn und seine Leser selbstverständlich ist. Er formuliert in seiner
Ästhetik nicht das Prinzip der Kunst des Phidias oder der Kunst Rembrandts,
sondern gleich das der Kunst überhaupt. Aber was er an notwendigen
Formen des Denkens feststellt, sind doch nur die notwendigen Formen des
abendländischen Denkens. Ein Blick auf Aristoteles und dessen wesentlich
andere Resultate hätte lehren sollen, daß hier nicht ein weniger
klarer, sondern ein anders angelegter Geist über sich reflektiert.
Dem russischen Denken sind die Kategorien des abendländischen ebenso
fremd wie diesem die des chinesischen oder griechischen. Ein wirkliches
und restloses Begreifen der antiken Urworte ist uns ebenso unmöglich
wie das der russischen und indischen, und für den modernen Chinesen
und Araber mit ihren ganz anders gearteten lntellekten hat die Philosophie
von Bacon bis Kant lediglich den Wert einer Kuriosität. (Ebd.,
S. 31).
Das ist es, was dem abendländischen
Denker fehlt und gerade ihm nicht fehlen sollte: die Einsicht in den historisch-relativen
Charakter seiner Ergebnisse, die selbst Ausdruck eines einzelnen und
nur dieses einen Daseins sind, das Wissen um die notwendigen Grenzen
ihrer Gültigkeit, die Überzeugung, daß seine »unumstößlichen
Wahrheiten« und »ewigen Einsichten« eben nur für
ihn wahr und in seinem Weltaspekt ewig sind und daß es Pflicht ist,
darüber hinaus nach denen zu suchen, die der Mensch anderer Kulturen
mit derselben Gewißheit aus sich selbst heraus entwickelt hat. Das
gehört zur Vollständigkeit einer Philosophie der Zukunft.
Das erst heißt die Formensprache der Geschichte, der lebendigen
Welt verstehen. Es gibt hier nichts Bleibendes und Allgemeines. Man rede
nicht mehr von den Formen des Denkens, dem Prinzip des Tragischen, der
Aufgabe des Staates. Allgemeingültigkeit ist immer der Fehlschluß
von sich auf andere. (Ebd., S. 31-32).
Sehr viel bedenklicher wird das Bild,
wenn wir uns den Denkern der westeuropäischen Modernität von
Schopenhauer an zuwenden, dort, wo der Schwerpunkt des Philosophierens
aus dem Abstrakt-Systematischen ins Praktisch-Ethische rückt und
an Stelle des Problems der Erkenntnis das Problem des Lebens (des Willens
zum Leben, zur Macht, zur Tat) tritt. Hier wird nicht mehr das ideale
Abstraktum »Mensch« wie bei Kant, sondern der wirkliche Mensch,
wie er in historischer Zeit, als primitiver oder als Kulturmensch völkerhaft
gruppiert die Erdoberfläche bewohnt, der Betrachtung unterworfen,
und es ist sinnlos, wenn auch da noch die Struktur der höchsten Begriffe
durch das Schema Altertum-Mittelalter-Neuzeit ()
und die damit verbundene örtliche Beschränkung bestimmt wird.
Aber das ist der Fall. (Ebd., S. 32).
Betrachten wir den geschichtlichen
Horizont Nietzsches. Seine Begriffe der Dekadenz, des Nihilismus, der
Umwertung aller Werte, des Willens zur Macht, die tief im Wesen der abendländischen
Zivilisation begründet liegen und für ihre Analyse schlechthin
entscheidend sind - welches war die Grundlage ihrer Schöpfung ?
Römer und Griechen, Renaissance und europäische Gegenwart, einen
flüchtigen Seitenblick auf die indische Philosophie eingerechnet,
kurz: Altertum-Mittelalter-Neuzeit. ().
Darüber ist er, streng genommen, nie hinausgegangen und die andern
Denker seiner Zeit so wenig wie er. Aber in welcher Beziehung steht denn
sein Begriff des Dionysischen zum Innenleben der hochzivilisierten Chinesen
aus der Zeit des Konfuzius oder eines modernen Amerikaners? Was
bedeutet der Typus des Übermenschen für die Welt des Islam?
Oder was sollen die Begriffe Natur und Geist, heidnisch und christlich,
antik und modern als gestaltende Antithese im Seelentum des Inders und
Russen bedeuten? Was hat Tolstoi, der aus seiner tiefen Menschlichkeit
heraus die ganze Ideenwelt des Westens als etwas Fremdes und Fernes ablehnte,
mit dem »Mittelalter«, mit Dante, mit Luther, was hat ein
Japaner mit dem Parsifal und dem Zarathustra, was ein Inder mit Sophokles
zu schaffen ? Und ist die Gedankenwelt Schopenhauers, Comtes, Feuerbachs,
Hebbels, Strindbergs etwa weiträumiger? Ist ihre gesamte Psychologie
trotz aller Absichten auf Weltgeltung nicht von rein abendländischer
Bedeutung? ().
Wie komisch wirken Ibsens Frauenprobleme, die ebenfalls mit dem Anspruch
auf die Aufmerksamkeit der ganzen »Menschheit« auftreten,
wenn man an die Stelle der berühmten Nora, einer nordwesteuropäischen
Großstadtdame, deren Gesichtskreis etwa einer Mietwohnung von 2000
bis 6000 Mark und einer protestantischen Erziehung entspricht, Cäsars
Frau, Madame de Sévigné, eine Japanerin oder eine Tiroler
Bäurin setzt? Aber Ibsen selbst besitzt den Gesichtskreis
der großstädtischen Mittelklasse von gestern und heute. Seine
Konflikte, deren seelische Voraussetzungen etwa seit 1850 vorhanden sind
und 1950 kaum überdauern werden, sind weder die der großen
Welt noch die der unteren Masse, geschweige denn die von Städten
mit nichteuropäischer Bevölkerung. Alles das sind episodische
und örtliche, meist sogar auf die augenblickliche Intelligenz der
Großstädte von westeuropäischem Typus beschränkte,
nichts weniger als welthistorische und »ewige« Werte, und
wenn sie der Genereation Ibsens und Nietzsches noch so wesentlich sind,
so heißt es eben doch dem Sinn des Wortes Weltgeschichte - die keine
Auswahl, sondern eine Totalität darstellt - mißverstehen, wenn
man die außerhalb des modernen Interesses liegenden Faktoren ihnen
unterordnet, sie unterschätzt oder übersieht. Und das ist in
einem ungewöhnlicheh hohem Grade der Fall. Was im Abendlande bisher
über die Probleme des Raumes, der Zeit, der Bewegung, der Zahl, des
Willens, der Ehe, des Eigentums, des Tragischen, der Wissenschaft gesagt
und gedacht worden ist, blieb eng und zweifelhaft, weil man immer darauf
aus war, die Lösung der Frage zu finden, statt einzusehen,
daß zu vielen Fragenden viele Antworten gehören, daß
jede philosophische Frage nur der verhüllte Wunsch ist, eine bestimmte
Antwort zu erhalten, die in der Frage schon beschlossen liegt, daß
man die großen Fragen einer Zeit gar nicht vergänglich genug
fassen kann und daß demnach eine Gruppe historisch bedingter
Lösungen angenommen werden muß, deren Übersicht
erst - unter Ausschaltung aller eigenen Wertmaßstäbe - die
letzten Geheimnisse aufschließt. Für den echten Menschenkenner
gibt es keine absolut richtigen oder falschen Standpunkte. Es genügt
nicht, angesichts so schwerer Probleme wie dem der Zeit oder der Ehe die
persönliche Erfahrung, die innere Stimme, die Vernunft, die Meinung
der Vorgänger oder Zeitgenossen zu befragen. So erfährt man,
was für den Frager selbst und seine Zeit wahr ist, aber das ist nicht
alles. Die Erscheinung andrer Kulturen redet eine andre Sprache. Für
andere Menschen gibt es andere Wahrheiten. Für den Denker sind sie
alle gültig oder keine. (Ebd., S. 32-34).
Man begreift, welcher Erweiterung und Vertiefung
die abendländische Weltkritik fähig ist und was alles über
den harmlosen Relativismus Nietzsches und seiner Generation hinaus in
den Kreis der Betrachtung gezogen, welche Feinheit des Formgefühls,
welcher Grad von Psychologie, welche Entsagung und Unabhängigkeit
von praktischen Interessen, welche Unumschränktheit des Horizonts
erreicht werden muß, bevor man sagen darf, man habe die Weltgeschichte,
die Welt als Geschichte, verstanden. (Ebd., S. 34).
Diesem allem, den willkürlichen,
engen, von außen gekommenen, von eigenen Wünschen diktierten,
der Historie aufgezwungenen Formen, stelle ich die natürliche, die
»kopernikanische« Gestalt des Weltgeschehens entgegen, die
ihm in der Tiefe innewohnt und sich nur dem nicht voreingenommenen Blick
offenbart. ().
(Ebd., S. 34).
Ich erinnere an Goethe. ().
Was er die lebendige Natur genannt hat, ist genau das, was hier
Weltgeschichte im weitesten Umfange, die Welt als Geschichte genannt
wird. Goethe, der als Künstler wieder und immer wieder das Leben,
die Entwicklung seiner Gestalten, das Werden, nicht das Gewordne, herausbildete,
wie es der »Wilhelm Meister« und »Wahrheit und Dichtung«
zeigen, haßte die Mathematik. Hier stand die Welt des Mechanismus
der Welt als Organismus, die tote der lebendigen Natur, das Gesetz der
Gestalt gegenüber. Jede Zeile, die er schrieb, sollte die Gestalt
des Werdenden, »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«,
vor Augen stellen. Nachfühlen, Anschauen, vergleichen, die unmittelbare
innere Gewißheit, die exakte sinnliche Phantasie - das waren seine
Mittel, dem Geheimnis der bewegten Erscheinung nahe zu kommen. Und
das sind die Mittel der Geschichtsforschung überhaupt. Es gibt
keine andern. Dieser göttliche Blick ließ ihn am Abend
der Schlacht von Valmy (* 20. September 1792)
am Lagerfeuer jenes Wort aussprechen: »Von hier und heute geht eine
neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid
dabei gewesen.« Kein Heerführer, kein Diplomat, von Philosophen
zu schweigen, hat Geschichte so unmittelbar werden gefühlt. Es ist
das tiefste Urteil, das je über einen großen Akt der Geschichte
in dem Augenblick ausgesprochen wurde, als er sich vollzog. (Ebd.,
S. 35).
Und so wie er die Entwicklung der Pflanzenform aus dem Blatt,
die Entstehung des Wirbeltiertypus, das Werden der geologischen Schichten
verfolgte - das Schicksal der Natur, nicht ihre Kausalität
- soll hier die Formensprache der menschlichen Geschichte, ihre periodische
Struktur, ihre organische Logik aus der Fülle aller sinnfälligen
Einzelheiten entwickelt werden. (Ebd., S. 35).
Kehren wir zur engeren Aufgabe zurück, so ist aus diesem
Weitblick die westeuropäisch-amerikanische Lage zunächst zwischen
1800 und 2000 morphologisch zu bestimmen. Das Wann dieser Zeit innerhalb
der abendländischen Gesamtkultur, ihr Sinn als biographischer Abschnitt,
der in irgend einer Gestalt mit Notwendigkeit in jeder Kultur anzutreffen
ist, die organische und symbolische Bedeutung ihrer politischen, künstlerischen,
geistigen, sozialen Formensprache soll festgestellt werden. (Ebd.,
S. 36).
Eine vergleichende Betrachtung ergibt die »Gleichzeitigkeit«
dieser Periode mit dem Hellenismus, und zwar im besonderen die ihres augenblicklichen
Höhepunktes bezeichnet durch den Weltkrieg mit dem
Übergang der hellenistischen in die Römerzeit. Das Römertum,
von strengstem Tatsachensinn, ungenial, barbarisch, diszipliniert, praktisch,
protestantisch, preußisch, wird uns, die wir auf Vergleiche angewiesen
sind, immer den Schlüssel zum Verständnis der eigenen Zukunft
bieten. Griechen und Römer damit scheidet sich auch das
Schicksal, das sich für uns schon vollzogen hat, von dem, welches
uns bevorsteht. Denn man hätte längst im »Altertum«
eine Entwicklung finden können und sollen, die ein vollkommenes Gegenstück
zur eignen, westeuropäischen, bildet, in jeder Einzelheit der Oberfläche
verschieden, aber völlig gleich in dem inneren Drang, der den großen
Organismus seiner Vollendung entgegentreibt. Wir hätten Zug um Zug
vom »Trojanischen Krieg« und den Kreuzzügen, Homer und
dem Nibelungenlied an über Dorik und Gotik, dionysischer Bewegung
und Renaissance, Polyklet und Sebastian Bach, Athen und Paris, Aristoteles
und Kant, Alexander und Napoleon bis zum Weltstadtstadium und Imperialismus
beider Kulturen hier ein beständiges alter ego der eignen Wirklichkeit
gefunden. (Ebd., S. 36-37).
In der Tat haben sich unsere besten Geister ohne Ausnahme vor
dem Bilde der Antike in Ehrfurcht gebeugt und in diesem einzigen Falle
der schrankenlosen Kritik entsagt. Die Untersuchung des Altertums ist
immer durch eine gewisse, fast religiöse Scheu in ihrer Freiheit
und Stärke gehemmt und in ihren Ergebnissen verdunkelt worden. Es
gibt in der gesamten Geschichte kein zweites Beispiel für einen so
leidenschaftlichen Kultus, den eine Kultur mit dem Gedächtnis einer
andern treibt. Daß wir Altertum und Neuzeit durch ein »Mittelalter«
idealisch verknüpften, über ein Jahrtausend gering gewerteter,
fast verachteter Historie hinweg, ist seit der Renaissance auch ein Ausdruck
dieser Devotion. Wir Westeuropäer haben »den Alten« die
Reinheit und Selbständigkeit unserer Kunst zum Opfer gebracht, indem
wir nur mit einem Seitenblick auf das »hehre Vorbild« zu schaffen
wagten; wir haben in unser Bild von den Griechen und Römern jedesmal
das hineingelegt, hineingefühlt, was wir in der Tiefe der
eigenen Seele entbehrten oder erhofften. (Ebd., S. 40-41).
Was den einzelnen Tatsachen ihren Rang gibt, ist lediglich die
größere oder geringere Reinheit und Kraft ihrer Formensprache,
die Stärke ihrer Symbolik jenseits von gut und böse,
hoch und niedrig, Nutzen und Ideal. (Ebd., S. 43).
Der Untergang des Abendlandes,
so betrachtet, bedeutet nichts Geringeres als das Problem der Zivilisation.
Eine der Grundfragen aller höheren Geschichte liegt hier vor. Was
ist Zivilisation, als organisch-logische Folge (),
als Vollendung und Ausgang einer Kultur begriffen? Denn jede Kultur
hat ihre eigne Zivilisation. (Ebd., S. 43).
Eine der Grundfragen aller höheren Geschichte liegt hier
vor. Was ist Zivilisation, als organisch-logische Folge, als Vollendung
und Ausgang einer Kultur begriffen? (Ebd., S. 43).
Denn jede Kultur hat ihre eigne Zivilisation. Zum ersten Male
werden hier die beiden Worte, die bis jetzt einen unbestimmten Unterschied
ethischer Art zu bezeichnen hatten, in periodischem Sinne, als Ausdrücke
für ein strenges und notwendiges organisches Nacheinander
gefaßt. (Ebd., S. 43).
Die
Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur. Hier
ist der Gipfel erreicht, von dem aus die letzten und schwersten Fragen
der historischen Morphologie lösbar werden. Zivilisationen sind die
äußersten und künstlichsten Zustände,
deren eine höhere Art von Menschen fähig ist. Sie sind ein Abschluß;
sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung
als die Starrheit, dem Lande und der seelischen Kindheit, wie sie Dorik
und Gotik zeigen, als das geistige Greisentum und die steinerne, versteinernde
Weltstadt. Sie sind ein Ende, unwiderruflich, aber sie sind mit
innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht worden. (Ebd., S.
43).
Damit erst wird man den Römer als den Nachfolger des
Hellenen verstehen. Erst so rückt die späte Antike in das Licht,
das ihre tiefsten Geheimnisse preisgibt. Denn was hat es zu bedeuten
was man nur mit leeren Worten bestreiten kann , daß die Römer
Barbaren gewesen sind, Barbaren, die einem großen Aufschwung nicht
vorangehen, sondern ihn beschließen? Seelenlos, unphilosophisch,
ohne Kunst, rassehaft bis zum Brutalen, rücksichtslos auf reale Erfolge
haltend, stehen sie zwischen der hellenischen Kultur und dem Nichts. Ihre
nur auf das Praktische gerichtete Einbildungskraft sie besaßen
ein sakrales Recht, das die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen
wie zwischen Privatpersonen regelte, aber keine einzige echt römische
Göttersage ist ein Zug, den man in Athen überhaupt nicht
antrifft. Griechische Seele und römischer Intellekt das ist
es. So unterscheiden sich Kultur und Zivilisation. Und das gilt nicht
nur von der Antike. Immer wieder taucht dieser Typus starkgeistiger, vollkommen
unmetaphysischer Menschen auf. In ihren Händen liegt das geistige
und materielle Geschick einer jeden Spätzeit. Sie haben den babylonischen,
ägyptischen, indischen, chinesischen, römischen Imperialismus
durchgeführt. In solchen Zeiten sind der Buddhismus, Stoizismus und
Sozialismus zu endgültigen Weltstimmungen herangereift, die ein erlöschendes
Menschentum in seiner ganzen Substanz noch einmal zu ergreifen und umzugestalten
vermögen. Die reine Zivilisation als historischer Vorgang
besteht in einem stufenweisen Abbau anorganisch gewordener, erstorbener
Formen. (Ebd., S. 44).
Der Übergang von der Kultur zur Zivilisation vollzieht sich
in der Antike im 4., im Abendland im 19. Jahrhundert. Von da an fallen
die großen geistigen Entscheidungen nicht mehr wie zur Zeit der
orphischen Bewegung und der Reformation in der »ganzen Welt«,
in der schließlich kein Dorf ganz unwichtig ist, sondern in drei
oder vier Weltstädten, die allen Gehalt der Geschichte in sich aufgesogen
haben und denen gegenüber die gesamte Landschaft einer Kultur zum
Range der Provinz herabsinkt, die ihrerseits nur noch die Weltstädte
mit den Resten ihres höheren Menschentums zu nähren hat. Weltstadt
und Provinz ()
mit diesen Grundbegriffen jeder Zivilisation tritt ein ganz neues
Formproblem der Geschichte hervor, das wir Heutigen gerade durchleben,
ohne es in seiner ganzen Tragweite auch nur entfernt begriffen zu haben.
Statt einer Welt eine Stadt, ein Punkt, in dem sich das
ganze Leben weiter Länder sammelt, während der Rest verdorrt;
statt eines formvollen, mit der Erde verwachsenen Volkes ein neuer Nomade,
ein Parasit, der Großstadtbewohner, der reine, traditionslose, in
formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch, irreligiös,
intelligent, unfruchtbar, mit einer tiefen Abneigung gegen das Bauerntum
(und dessen höchste Form, den Landadel), also ein ungeheurer Schritt
zum Anorganischen, zum Ende was bedeutet das? Frankreich und England
haben diesen Schritt vollzogen und Deutschland ist im Begriff, ihn zu
tun. Auf Syrakus, Athen, Alexandria folgt Rom. Auf Madrid, Paris, London
folgen Berlin und New York. Provinz zu werden ist das Schicksal ganzer
Länder, die nicht im Strahlenkreis einer dieser Städte liegen
wie damals Kreta und Makedonien, heute der skandinavische Norden.
(Ebd., S. 44-45).
Das Geld als anorganische, abstrakte Größe,
von allen Beziehungen zum Sinn des fruchtbaren Bodens, zu den Werten einer
ursprünglichen Lebenshaltung gelöst das haben die Römer
vor den Griechen voraus. Von hier an ist eine vornehme Weltanschauung
auch eine Geldfrage. Nicht der griechische Stoizismus des Chrysipp, aber
der spätrömische des Cato und Seneca setzt als Grundlage ein
Vermögen voraus, (deshalb verfielen dem Christentum zuerst die Römer,
die es sich nicht leisten konnten, Stoiker zu sein) und nicht die
sozialethische Gesinnung des 18. Jahrhunderts, aber die des 20. ist, wenn
sie über eine berufsmäßige einträgliche
Agitation hinaus Tat werden will, eine Sache für Millionäre.
Zur Weltstadt gehört nicht ein Volk, sondern eine Masse. Ihr Unverständnis
für alles Überlieferte, in dem man die Kultur bekämpft
(den Adel, die Kirche, die Privilegien, die Dynastie, in der Kunst die
Konventionen, in der Wissenschaft die Grenzen der Erkenntnismöglichkeit),
ihre der bäuerlichen Klugheit überlegene scharfe und kühle
Intelligenz, ihr Naturalismus in einem ganz neuen Sinne, der über
Sokrates und Rousseau weit zurück in bezug auf alles Sexuelle und
Soziale an urmenschliche Instinkte und Zustände anknüpft, das
panem et circenses, das heute wieder in der Verkleidung von Lohnkampf
und Sportplatz erscheint alles das bezeichnet der endgültig
abgeschlossenen Kultur, der Provinz gegenüber eine ganz neue, späte
und zukunftslose, aber unvermeidliche Form menschlicher Existenz
(Ebd., S. 46).
Ich sehe Symbole ersten Ranges darin, daß
in Rom, wo der Triumvir Crassus der allmächtige Bauplatzspekulant
war, das auf allen Inschriften prangende römische Volk, vor dem Gallier,
Griechen, Parther, Syrer in der Ferne zitterten, in ungeheurem Elend in
den vielstöckigen Mietskasernen lichtloser Vorstädte ()
hauste und die Erfolge der militärischen Expansion mit Gleichgültigkeit
oder einer Art von sportlichem Interesse aufnahm; daß manche der
großen Familien des Uradels, Nachkommen der Sieger über die
Kelten, Samniten und Hannibal, weil sie sich an der wüsten Spekulation
nicht beteiligten, ihre Stammhäuser aufgeben und armselige Mietwohnungen
beziehen mußten; daß, während sich längs der Via
Appia die noch heute bewunderten Grabmäler der Finanzgrößen
Roms erhoben, die Leichen des Volkes zusammen mit Tierkadavern und Großstadtkehricht
in ein grauenhaftes Massengrab geworfen wurden, bis man unter Augustus,
um Seuchen zu verhüten, die Stelle zuschüttete, auf der Mäcenas
dann seinen berühmten Park anlegte; daß in dem entvölkerten
Athen, das von Fremdenbesuch und den Stiftungen reicher Ausländer
(wie des Judenkönigs Herodes) lebte, der Reisepöbel allzu rasch
reich gewordener Römer die Werke der perikleischen Zeit begaffte,
von denen er so wenig verstand wie die amerikanischen Besucher der Sixtinischen
Kapelle von Michelangelo, nachdem man alle beweglichen Kunstwerke fortgeschleppt
oder zu phantastischen Modepreisen angekauft und dafür kolossale
und anmaßende Römerbauten neben die tiefen und bescheidenen
Werke der alten Zeit gesetzt hatte. In diesen Dingen, die der Historiker
nicht zu loben oder tadeln, sondern morphologisch abzuwägen hat,
liegt für den, welcher zu sehen gelernt hat, eine Idee unmittelbar
zutage. (Ebd., S. 47-48).
Denn es wird sich zeigen, daß von diesem Augenblick an alle
großen Konflikte der Weltanschauung, der Politik, der Kunst, des
Wissens, des Gefühls im Zeichen dieses einen Gegensatzes stehen.
Was ist zivilisierte Politik von morgen im Gegensatz zur kultivierten
von gestern? In der Antike Rhetorik, im Abendlande Journalismus, und zwar
im Dienste jenes Abstraktums, das die Macht der Zivilisation repräsentiert,
des Geldes ().
Sein Geist ist es, der unvermerkt die geschichtlichen Formen des Völkerdaseins
durchdringt, oft ohne sie im geringsten zu ändern oder zu zerstören.
Der römische Staat ist der Form nach vom älteren Scipio Africanus
bis auf Augustus in viel höherem Grade stationär geblieben,
als dies in der Regel angenommen wird. Aber die großen Parteien
sind nur noch scheinbar Mittelpunkte der entscheidenden Aktionen. Es ist
eine kleine Anzahl überlegener Köpfe, deren Namen in diesem
Augenblick vielleicht nicht die bekanntesten sind, die alles entscheidet,
während die große Masse der Politiker zweiten Ranges, Rhetoren
und Tribunen, Abgeordnete und Journalisten, eine Auswahl nach Provinzhorizonten,
nach unten die Illusion einer Selbstbestimmung des Volkes aufrecht erhält.
(Ebd., S. 48).
Und die Kunst? Die Philosophie? Die Ideale der platonischen und
der kantischen Zeit galten einem höhern Menschentum überhaupt;
die des Hellenismus und der Gegenwart, vor allem der Sozialismus, der
ihm innerlich ganz nahe verwandte Darwinismus mit seinen so ganz ungoetheschen
Formeln vom Kampf ums Dasein und der Zuchtwahl, die damit wiederum verwandten
Frauen- und Eheprobleme bei Ibsen, Strindberg und Shaw, die impressionistischen
Neigungen einer anarchischen Sinnlichkeit, das ganze Bündel moderner
Sehnsüchte, Reize und Schmerzen, deren Ausdruck die Lyrik Baudelaires
und die Musik Wagners ist, sind nicht für das Weltgefühl des
dörflichen und überhaupt des natürlichen Menschen, sondern
ausschließlich für den weltstädtischen Gehirnmenschen
da. Je kleiner die Stadt, desto sinnloser die
Beschäftigung mit dieser Malerei und Musik. Zur
Kultur gehört die Gymnastik, das Turnier, der Agon, zur Zivilisation
der Sport. Auch das unterscheidet die hellenische Palästra vom römischen
Zirkus. (
Die deutsche Gymnastik ist seit 1813 und den sehr
provinzialen, urwüchsigen Formen, die ihr Jahn damals gab, in rascher
Entwicklung zum Sportmäßigen begriffen. Den Unterschied eines
Berliner Sportplatzes an einem großen Tage von einem römischen
Zirkus war schon 1914 sehr gering. )
Die Kunst selbst wird Sport das bedeutet l'art pour l'art
vor einem hochintelligenten Publikum von Kennern und Käufern,
mag es sich um die Bewältigung absurder instrumentaler Tonmassen
oder harmonischer Hindernisse, mag es sich um das »Nehmen«
eines Farbenproblems handeln. Eine neue Tatsachenphilosophie erscheint,
die für metaphysische Spekulationen nur ein Lächeln übrig
hat, eine neue Literatur, dem Intellekt, dem Geschmack und den Nerven
des Großstädters ein Bedürfnis, dem Provinzialen unverständlich
und verhaßt. Weder die alexandrinische Poesie, noch die Freilichtmalerei
gehen das »Volk« etwas an. Der Übergang wird damals wie
heute durch eine Reihe nur in dieser Epoche anzutreffender Skandale bezeichnet.
Die Entrüstung der Athener über Euripides und die revolutionären
Malweisen z.B. des Apollodor wiederholt sich in der Auflehnung gegen Wagner,
Manet, Ibsen und Nietzsche. (Ebd., S. 48-49).
Man kann die Griechen verstehen, ohne von ihren wirtschaftlichen
Verhältnissen zu reden. Die Römer versteht man nur durch
sie. Bei Chäronea und bei Leipzig wurde zum letzten Male um eine
Idee gekämpft. Im ersten punischen Kriege und bei Sedan sind die
wirtschaftlichen Momente nicht mehr zu übersehen. Erst die Römer
mit ihrer praktischen Energie haben der Sklavenhaltung jenen riesenhaften
Stil gegeben, der für viele den Typus der antiken Wirtschaftsführung,
Rechtsbildung und Lebensweise beherrscht und jedenfalls den Wert und die
innere Würde der daneben stehenden freien Lohnarbeit gewaltig herabgesetzt
hat. Erst die germanischen, nicht die romanischen Völker Westeuropas
und Amerikas haben dementsprechend aus der Dampfmaschine eine das Bild
der Länder verändernde Großindustrie entwickelt. Man wird
die Beziehung beider zum Stoizismus und zum Sozialismus nicht übersehen.
(Ebd., S. 49).
Erst der römische, durch C. Flaminius ( 217 v. Chr.)
angekündigte, in Marius (156-86) zum ersten Mal Gestalt gewordene
Cäsarismus hat innerhalb der antiken Welt die Erhabenheit des
Geldes - in der Hand starkgeistiger, groß angelegter Tatsachenmenschen
- kennen gelehrt. Ohne das ist weder Cäsar noch das Römertum
überhaupt verständllich. (Ebd., S. 49-50).
Jeder Grieche hat einen Zug von Don Quijote,
jeder Römer einen von Sancho Pansa - was sie sonst noch waren, tritt
dahinter zurück. (Ebd., S. 50).
Was die römische Weltherrschaft betrifft, so ist sie ein
negatives Phänomen, nicht das Ergebnis eines Überschusses
an Kraft auf der einen - den hatten die Römer nach Zama (202 v. Chr.)
nicht mehr -, sondern das eines Mangels an Widerstand auf der andern Seite.
Die Römer haben die Welt gar nicht erobert. Sie haben nur in Besitz
genommen, was als Beute für jedemann dalag. Das Imperium Romanum
ist nicht durch die äußerste Anspannung aller militärischen
und finanziellen Hilfsmittel, wie es einst gegenüber Karthago der
Fall gewesen war, sondern durch den Verzicht des alten Ostens auf äußere
Selbstbestimmung entstanden. .... Die Römer haben nach Zama keinen
Krieg gegen eine große Militämacht mehr geführt und hätten
keinen führen können. (Ebd., S. 50).
Die Eroberung Galliens durch Cäsar war ein ausgesprochener
Kolonialkrieg. d.h. von einseitiger Aktivität. Daß er trotzdem
den Höhepunkt der späteren römischen Kriegsgeschichte bildet,
bestätigt nur deren rasch abnehmenden Gehalt an wirklichen Leistungen.
(Ebd., S. 50).
Ich lehre hier den Imperialismus,
als dessen Petrefakt Reiche wie das ägyptische, chinesische, römische,
die indische Welt, die Welt des Islam noch Jahrhunderte und Jahrtausende
stehen bleiben und aus einer Erobererfaust in die andere gehen können
- tote Körper, amorphe, entseelte Menschenmassen, verbrauchter Stoff
einer großen Geschichte -, als das typische Symbol des Ausgangs
begreifen. Imperialismus ist reine Zivilisation. In dieser Erscheinungsform
liegt unwiderruflich das Schicksal des Abendlandes. Der kultivierte Mensch
hat seine Energie nach innen, der zivilisierte nach außen. Deshalb
sehe ich in Cecil Rhodes den ersten Mann einer neuen Zeit. Er repräsentiert
den politischen Stil einer ferneren, abendländischen, germanischen,
insbesondere deutschen Zukunft. Sein Wort »Ausdehnung ist alles«
enthält in dieser napoleonischen Fassung die eigentlichste Tendenz
einer jeden ausgereiften Zivilisation. Das galt von den Römern,
den Arabern, den Chinesen. Hier gibt es keine Wahl. Hier entscheidet nicht
einmal der bewußte Wille des einzelnen oder ganzer Klassen und Völker.
Die expansive Tendenz ist ein Verhängnis, etwas Dämonisches
und Ungeheures, das den späten Menschen des Weltstadiums packt, in
seinen Dienst schwingt und verbraucht, ob er will oder nicht, ob er es
weiß oder nicht. Leben ist die Verwirklichung von Möglichkeiten
(),
und für den Gehirnmenschen gibt es nur extensive Möglichkeiten.
(So war vielleicht das bedeutende Wort Napoleons an Goethe gemeint: »Was
will man heute mit Schicksal? Die Politik ist das Schicksal.«).
So sehr der heutige, noch wenig entwickelte Sozialismus sich gegen die
Expansion auflehnt, er wird eines Tages mit der Vehemenz eines Schicksals
ihr vornehmster Träger sein. Hier rührt die Formensprache der
Politik - als unmittelbarer intellektueller Ausdruck einer Art von Menschentum
- an ein tiefes metaphysisches Problem: an die durch die unbedingte Gültigkeit
des Kausalitätsprinzips bestätigte Tatsache, daß der
Geist das Komplement der Ausdehnung ist. (Ebd., S. 51-52).
Es war völlig aussichtslos, wenn in der dem Imperialismus
zutreibenden chinesischen Staatenwelt zwischen 480 und 230 (antik etwa
30050) das vor allem von dem »Römerstaate« Tsin
(der denn auch dem Imperium endlich seinen Namen gab: Tsin = China) praktisch
und von dem Philosophen Dschang-yi theoretisch vertretene Prinzip des
Imperialismus (lienheng) durch den Gedanken eines Völkerbundes
(hohtsung) bekämpft wurde, der sich auf manche Gedanken des
Wang-hü stützte, eines tiefen Skeptikers und Kenners der Menschen
und der politischen Möglichkeiten dieser Spätzeit. Sie sind
beide Gegner der Ideologie des Laotse und seiner Abschaffung der Politik,
aber der lienheng hatte den natürlichen Gang der expansiven
Zivilisation für sich. (Vgl. Bd. II, S. 1081 f. [],
1099). (Ebd., S. 52).
Rhodes erscheint als der erste Vorläufer
eines abendländischen Cäsarentypus, für den die Zeit noch
lange nicht gekommen ist. Er steht in der Mitte zwischen Napoleon und
den Gewaltmenschen der nächsten Jahrhunderte, wie jener Flaminius,
der seit 232 (v.C.) die Römer zur Unterwerfung
der cisalpinen Gallier und damit zum Beginn ihrer kolonialen Ausdehnungspolitik
drängte, zwischen Alexander und Cäsar. Flaminius war streng
genommen (denn seine wirkliche Macht entsprach nicht mehr dem Sinn irgendeines
Amtes) ein Privatmann von staatsbeherrschendem Einfluß in einer
Zeit, wo der Staatsgedanke der Gewalt wirtschaftlicher Faktoren erliegt,
in Rom sicherlich der erste vom cäsarischen Oppositionstypus. Mit
ihm endet die Idee des Staatsdienstes und es beginnt der nur mit Kräften,
nicht mit Traditionen rechnende Wille zur Macht. Alexander und Napoleon
waren Romantiker, an der Schwelle der Zivilisation und schon von ihrer
kalten und klaren Luft angeweht; aber der eine gefiel sich in der Rolle
des Achilles und der andere las den Werther. Cäsar war lediglich
ein Tatsachenmensch von ungeheurem Verstande. (Ebd., S. 52).
Aber schon Rhodes verstand unter erfolgreicher Politik einzig
den territorialen und finanziellen Erfolg. Das ist das Römische an
ihm, dessen er sich sehr bewußt war. In dieser Energie und Reinheit
hatte sich die westeuropäische Zivilisation noch nicht verkörpert.
Nur vor seinen Landkarten konnte er in eine Art dichterische Ekstase geraten,
er, der als Sohn eines puritanischen Pfarrhauses mittellos nach Südafrika
gekommen war und ein Riesenvermögen als Machtmittel für seine
politischen Ziele erworben hatte. Sein Gedanke einer transafrikanischen
Bahn vom Kap nach Kairo, sein Entwurf eines südafrikanischen Reiches,
seine geistige Gewalt über die Minenmagnaten, eiserne Geldmenschen,
die er zwang, ihr Vermögen in den Dienst seiner Ideen zu stellen,
seine Hauptstadt Buluwayo, die er, der allmächtige Staatsmann ohne
ein definierbares Verhältnis zum Staate, als künftige Residenz
in königlichem Maßstab anlegte, seine Kriege, diplomatischen
Aktionen, Straßensysteme, Syndikate, Heere, sein Begriff von der
»großen Pflicht des Gehirnmenschen gegenüber der Zivilisation«
alles das ist, groß und vornehm, das Vorspiel einer uns noch
vorbehaltenen Zukunft, mit der die Geschichte des westeuropäischen
Menschen endgültig schließen wird. (Ebd., S. 52-53).
Wer nicht begreift, daß sich an diesem Ausgang nichts ändern
läßt, daß man dies wollen muß oder gar nichts,
daß man dies Schicksal lieben oder an der Zukunft, am Leben verzweifeln
muß, wer das Großartige nicht empfindet, das auch in dieser
Wirksamkeit gewaltiger Intelligenzen, dieser Energie und Disziplin metallharter
Naturen, diesem Kampf mit den kältesten, abstraktesten Mitteln liegt,
wer mit dem Idealismus eines Provinzialen herumgeht und den Lebensstil
verflossener Zeiten sucht, der muß es aufgeben, Geschichte verstehen,
Geschichte durchleben, Geschichte schaffen zu wollen. (Ebd., S.
53).
So erscheint das Imperium Romanum nicht mehr als ein einmaliges
Phänomen, sondern als normales Produkt einer strengen und energischen,
weltstädtischen, eminent praktischen Geistigkeit und als typischer
Endzustand, der schon einige Male dagewesen, aber bisher nicht identifiziert
worden ist. Begreifen wir endlich, daß das Geheimnis der historischen
Form nicht an der Oberfläche liegt und nicht durch Ähnlichkeiten
des Kostüms oder der Szene zu fassen ist, daß es in der menschlichen
so gut wie in der Tier- und Pflanzengeschichte Erscheinungen von täuschender
Ähnlichkeit gibt, die innerlich nichts Verwandtes besitzen
Karl der Große und Harun al Raschid, Alexander und Cäsar, die
Germanenkriege gegen Rom und die Mongolenstürme gegen Westeuropa
und andere, die bei größter äußerer Verschiedenheit
Identisches zum Ausdruck bringen wie Trajan und Ramses II., die Bourbonen
und der attische Demos, Mohammed und Pythagoras. Kommen wir zur Einsicht,
daß das 19. und 20. Jahrhundert, vermeintlich der Gipfel einer geradlinig
ansteigenden Weltgeschichte, als Altersstufe tatsächlich in jeder
bis zum Ende gereiften Kultur nachzuweisen ist, nicht mit Sozialisten,
Impressionisten, elektrischen Bahnen, Torpedos und Differentialgleichungen,
die nur zum Körper der Zeit gehören, sondern mit seiner zivilisierten
Geistigkeit, die auch ganz andere Möglichkeiten äußerer
Gestaltung besitzt, daß die Gegenwart also ein Durchgangsstadium
darstellt, das unter gewissen Bedingungen mit Sicherheit eintritt, daß
es mithin auch ganz bestimmte spätere Zustände als die heutigen
westeuropäischen gibt, daß sie in der abgelaufenen Geschichte
schon mehr als einmal dagewesen sind und daß damit die Zukunft des
Abendlandes nicht ein uferloses Hinauf und Vorwärts in der Richtung
unserer augenblicklichen Ideale und mit phantastischen Zeiträumen
ist, sondern ein in Hinsicht auf Form und Dauer streng begrenztes und
unausweichlich bestimmtes Einzelereignis der Historie vom Umfange weniger
Jahrhunderte, das aus den vorliegenden Beispielen übersehen und in
wesentlichen Zügen berechnet werden kann. (Ebd., S. 53-54).
Wer diese Höhe der Betrachtung erreicht hat, dem fallen alle
Früchte von selbst zu. An den einen Gedanken schließen sich,
mit ihm lösen sich zwanglos alle Einzelprobleme, welche auf den Gebieten
der Religionsforschung, der Kunstgeschichte, der Erkenntniskritik, der
Ethik, der Politik, der Nationalökonomie den modernen Geist seit
Jahrzehnten und leidenschaftlich, aber ohne den letzten Erfolg beschäftigt
haben. (Ebd., S. 54).
Dieser Gedanke gehört zu den Wahrheiten, die nicht mehr bestritten
werden, sobald sie einmal in voller Deutlichkeit ausgesprochen sind. Er
gehört zu den innern Notwendigkeiten der Kultur Westeuropas und ihres
Weltgefühls. Er ist geeignet, die Lebensanschauung derjenigen von
Grund aus zu ändern, die ihn völlig begriffen, das heißt
ihn sich innerlich zu eigen gemacht haben. Es bedeutet eine gewaltige
Vertiefung des uns natürlichen und notwendigen Weltbildes, daß
wir die welthistorische Entwicklung, in der wir stehen und die wir bis
jetzt rückwärts als ein organisch Ganzes zu betrachten gelernt
haben, nun auch vorwärts in großen Umrissen verfolgen können.
Dergleichen hat sich bisher nur der Physiker bei seinen Berechnungen träumen
lassen. Es bedeutet, ich wiederhole es noch einmal, auch im Historischen
den Ersatz des ptolemäischen durch einen kopernikanischen Aspekt,
das heißt eine unermeßliche Erweiterung des Lebenshorizontes.
(Ebd., S. 54-55).
Es stand bis jetzt frei, von der Zukunft zu hoffen, was man wollte.
Wo es keine Tatsachen gibt, regiert das Gefühl. Künftig wird
es jedem Pflicht sein, vom Kommenden zu erfahren, was geschehen kann und
also geschehen wird, mit der unabänderlichen Notwendigkeit eines
Schicksals, und was also von persönlichen Idealen, Hoffnungen und
Wünschen ganz unabhängig ist. Gebrauchen wir das bedenkliche
Wort Freiheit, so steht es uns nicht mehr frei, dieses oder jenes zu verwirklichen,
sondern das Notwendige oder nichts. Dies als »gut«
zu empfinden kennzeichnet den Tatsachenmenschen. Es bedauern und tadeln,
heißt aber nicht, es ändern können. Zur Geburt gehört
der Tod, zur Jugend das Alter, zum Leben überhaupt seine Gestalt
und die vorbestimmten Grenzen seiner Dauer. Die Gegenwart ist eine zivilisierte,
keine kultivierte Zeit. Damit scheidet eine ganze Reihe von Lebensinhalten
als unmöglich aus. Man kann das bedauern und dies Bedauern in eine
pessimistische Philosophie und Lyrik kleiden und man wird das künftig
tun , aber man kann es nicht ändern. Es wird nicht mehr erlaubt
sein, im Heute und Morgen mit aller Selbstsicherheit die Geburt oder Blüte
von dem anzunehmen, was man gerade wünscht, wenn auch die historische
Erfahrung laut genug dagegen redet. (Ebd., S. 55).
Ich bin auf den Einwand gefaßt, daß ein solcher Weltaspekt,
der über die Umrisse und die Richtung der Zukunft Gewißheit
gibt und weitgehende Hoffnungen abschneidet, lebensfeindlich und für
viele ein Verhängnis sei, falls er einmal mehr als bloße Theorie,
falls er die praktische Weltanschauung der für die Gestaltung der
Zukunft wirklich in Betracht kommenden Gruppe von Persönlichkeiten
würde. (Ebd., S. 55-56).
Ich bin nicht der Meinung. Wir sind zivilisierte Menschen, nicht
Menschen der Gotik und des Rokoko; wir haben mit den harten und kalten
Tatsachen eines späten Lebens zu rechnen, dessen Parallele nicht
im perikleischen Athen, sondern im cäsarischen Rom liegt. Von einer
großen Malerei und Musik wird für den westeuropäischen
Menschen nicht mehr die Rede sein. Seine architektonischen Möglichkeiten
sind seit hundert Jahren erschöpft. Ihm sind nur extensive Möglichkeiten
geblieben. Aber ich sehe den Nachteil nicht, der entstehen könnte,
wenn eine tüchtige und von unbegrenzten Hoffnungen geschwellte Generation
beizeiten erfährt, daß ein Teil dieser Hoffnungen zu Fehlschlägen
führen muß. Mögen es die teuersten sein; wer etwas wert
ist, wird das überwinden. Es ist wahr, daß es für einzelne
tragisch ausgehen kann, wenn sich ihrer in den entscheidenden Jahren die
Gewißheit bemächtigt, daß im Bereiche der Architektur,
des Dramas, der Malerei, für sie nichts mehr zu erobern ist.
Mögen sie zugrunde gehen. Man war sich bisher einig darüber,
hier keinerlei Schranken anzuerkennen; man glaubte, daß jede Zeit
auf jedem Gebiete auch ihre Aufgabe habe; man fand sie, wenn es sein mußte,
mit Gewalt und schlechtem Gewissen, und jedenfalls stellte es sich erst
nach dem Tode heraus, ob der Glaube einen Grund hatte und ob die Arbeit
eines Lebens notwendig oder überflüssig gewesen war.
Aber jeder, der nicht bloßer Romantiker ist, wird diese Ausflucht
ablehnen. Das ist nicht der Stolz, der die Römer auszeichnete. Was
liegt an denen, die es vorziehen, wenn man vor einer erschöpften
Erzgrube ihnen sagt: Hier wird morgen eine neue Ader angeschlagen werden
wie es die augenblickliche Kunst mit ihren durch und durch unwahren
Stilbildungen tut , statt sie auf das reiche Tonlager zu verweisen,
das unerschlossen daneben liegt? Ich betrachte diese Lehre als
eine Wohltat für die kommenden Generationen, weil sie ihnen zeigt,
was möglich und also notwendig ist und was nicht zu den innern Möglichkeiten
der Zeit gehört. Es ist bisher eine Unsumme von Geist und Kraft auf
falschen Wegen verschwendet worden. Der westeuropäische Mensch, so
historisch er denkt und fühlt, ist in einem gewissen Lebensalter
sich nie seiner eigentlichen Richtung bewußt. Er tastet und sucht
und verirrt sich, wenn die äußeren Anlässe ihm nicht günstig
sind. Hier endlich hat die Arbeit von Jahrhunderten ihm die Möglichkeit
gegeben, die Lage seines Lebens im Zusammenhang mit der Gesamtkultur zu
übersehen und zu prüfen, was er kann und soll. Wenn unter dem
Eindruck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik
statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik
zuwenden, so tun sie, was ich wünsche, und man kann ihnen nichts
Besseres wünschen. (Ebd., S. 56-57).
Es bleibt noch das Verhältnis einer Morphologie der Weltgeschichte
zur Philosophie festzustellen. Jede echte Geschichtsbetrachtung ist echte
Philosophie oder bloße Ameisenarbeit. Aber der systematische
Philosoph bewegt sich, was die Dauer seiner Ergebnisse betrifft, in einem
schweren Irrtum. Er übersieht die Tatsache, daß jeder Gedanke
in einer geschichtlichen Welt lebt und damit das allgemeine Schicksal
der Vergänglichkeit teilt. Er meint, daß das höhere Denken
einen ewigen und unveränderlichen Gegenstand besitze, daß die
großen Fragen zu allen Zeiten dieselben seien und daß sie
endlich einmal beantwortet werden könnten. (Ebd., S. 57).
Aber Frage und Antwort sind hier eins, und jede große Frage,
der das leidenschaftliche Verlangen nach einer ganz bestimmten Antwort
schon zugrunde liegt, hat lediglich die Bedeutung eines Lebenssymbols.
Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Jede Philosophie ist ein Ausdruck ihrer
und nur ihrer Zeit, und es gibt nicht zwei Zeitalter, welche die gleichen
philosophischen Intentionen besäßen, sobald von wirklicher
Philosophie und nicht von irgendwelchen akademischen Belanglosigkeiten
über Urteilsformen oder Gefühlskategorien die Rede sein soll.
Der Unterschied liegt nicht zwischen unsterblichen und vergänglichen
Lehren, sondern zwischen Lehren, welche eine Zeitlang oder niemals lebendig
sind. Unvergänglichkeit gewordner Gedanken ist eine Illusion. Das
Wesentliche ist, was für ein Mensch in ihnen Gestalt gewinnt. Je
größer der Mensch, um so wahrer die Philosophie im Sinne
der inneren Wahrheit eines großen Kunstwerkes nämlich, was
von der Beweisbarkeit und selbst Widerspruchslosigkeit der einzelnen Sätze
unabhängig ist. Im höchsten Falle kann sie den ganzen Gehalt
einer Zeit erschöpfen, in sich verwirklichen und ihn so, in einer
großen Form, in einer großen Persönlichkeit verkörpert,
der ferneren Entwicklung übergeben. Das wissenschaftliche Kostüm,
die gelehrte Maske einer Philosophie entscheidet hier nichts. Nichts ist
einfacher, als an Stelle von Gedanken, die man nicht hat, ein System zu
begründen. Aber selbst ein guter Gedanke ist wenig wert, wenn er
von einem Flachkopf ausgesprochen wird. Allein die Notwendigkeit für
das Leben entscheidet über den Rang einer Lehre. (Ebd., S.
57-58).
Deshalb sehe ich den Prüfstein für den Wert eines Denkers
in seinem Blick für die großen Tatsachen seiner Zeit. Erst
hier entscheidet es sich, ob jemand nur ein geschickter Schmied von Systemen
und Prinzipien ist, ob er sich nur mit Gewandtheit und Belesenheit in
Definition und Analysen bewegt oder ob es die Seele der Zeit selbst
ist, die aus seinen Werken und Intuitionen redet. Ein Philosoph, der nicht
auch die Wirklichkeit ergreift und beherrscht, wird niemals ersten Ranges
sein. Die Vorsokratiker waren Kaufleute und Politiker großen Stils.
Plato kostete es fast das Leben, daß er in Syrakus seine politischen
Gedanken hatte verwirklichen wollen. Derselbe Plato hat jene Reihe geometrischer
Sätze gefunden, die es Euklid erst möglich machten, das System
der antiken Mathematik aufzubauen. Pascal, den Nietzsche nur als den »gebrochenen
Christen« kennt, Descartes, Leibniz waren die ersten Mathematiker
und Techniker ihrer Zeit. (Ebd., S. 58).
Die großen »Vorsokratiker« Chinas von Kuan-tse
(um 670) bis auf Konfuzius (550478) waren Staatsmänner, Regenten,
Gesetzgeber wie Pythagoras und Parmenides, Hobbes und Leibniz. Erst mit
Laotse, dem Gegner aller Staatsgewalt und großen Politik, dem Schwärmer
für kleine friedliche Gemeinschaften, erscheint die Weltfremdheit
und Tatenscheu einer beginnenden Katheder- und Winkelphilosophie. Aber
er war zu seiner Zeit, dem ancien régime Chinas, eine Ausnahme
gegenüber jenem starken Philosophentypus, für den Erkenntnistheorie
Kenntnis der großen Verhältnisse des wirklichen Lebens bedeutete.
(Ebd., S. 58-59).
Und hier finde ich einen starken Einwand gegen alle Philosophen
der jüngsten Vergangenheit. Was ihnen fehlt, ist der entscheidende
Rang im wirklichen Leben. Keiner von ihnen hat in die hohe Politik, in
die Entwicklung der modernen Technik, des Verkehrs, der Volkswirtschaft,
in irgendeine Art von großer Wirklichkeit auch nur mit einer Tat,
einem mächtigen Gedanken entscheidend eingegriffen. Keiner zählt
in der Mathematik, der Physik, der Staatswissenschaft im geringsten mit,
wie es noch bei Kant der Fall war. Was das bedeutet, lehrt ein Blick auf
andere Zeiten. (Ebd., S. 59).
Konfuzius war mehrmals Minister; Pythagoras hat eine bedeutsame,
an den Staat Cromwells erinnernde und von der Altertumsforschung noch
immer weit unterschätzte politische Bewegung organisiert. (Ebd.,
S. 59).
Goethe, dessen ministerielle Amtsführung mustergültig
war und dem leider ein großer Staat als Wirkungskreis gefehlt hat,
wandte sein Interesse dem Bau des Suez- und Panamakanals, den er innerhalb
einer genau eingetroffenen Frist voraussah, und dessen weltwirtschaftlichen
Folgen zu. Das amerikanische Wirtschaftsleben, seine Rückwirkung
auf das alte Europa und die eben im Aufstieg begriffene Maschinenindustrie
haben ihn immer wieder beschäftigt. (Ebd., S. 59).
Hobbes war einer der Väter des großen Planes, Südamerika
für England zu erwerben, und wenn es auch damals bei der Besetzung
von Jamaika blieb, so hat er doch den Ruhm, ein Mitbegründer des
englischen Kolonialreiches zu sein. (Ebd., S. 59).
Leibniz, sicherlich der mächtigste Geist in der westeuropäischen
Philosophie, der Begründer der Differentialrechnung und der analysis
situs, hat neben einer ganzen Reihe von hochpolitischen Plänen,
an denen er mitwirkte, in einer zum Zweck der politischen Entlastung Deutschlands
entworfenen Denkschrift an Ludwig XIV. die Bedeutung Ägyptens für
die französische Weltpolitik dargelegt. Seine Gedanken waren der
Zeit (1672) so weit vorausgeschritten, daß man später überzeugt
war, Napoleon habe sie bei seiner Expedition nach dem Orient benützt.
Leibniz stellte schon damals fest, was Napoleon seit Wagram (1809) immer
deutlicher begriff, daß Erwerbungen am Rhein und in Belgien die
Stellung Frankreichs nicht dauernd verbessern könnten und daß
die Landenge von Suez eine Tages der Schlüssel zur Weltherrschaft
sein werde. Ohen Zweifel war der König den tiefen politischen und
strategischen Ausfürhrungen des Philosophen nicht gewachsen.
(Ebd., S. 59-60).
Ein Blick von Menschen solchen Formats auf heutige Philosophen
ist beschämend. Welche Geringfügigkeit der Person! Welche Alltäglichkeit
des politischen und praktischen Horizontes! Wie kommt es, daß die
bloße Vorstellung, einer von ihnen solle seinen geistigen Rang als
Staatsmann, als Diplomat, als Organisator großen Stils, als Leiter
irgendeines mächtigen kolonialen, kaufmännischen oder Verkehrsunternehmens
beweisen, geradezu Mitleid erregt? Aber das ist kein Zeichen von Innerlichkeit,
sondern von Mangel an Gewicht. Ich sehe mich vergebens um, wo einer von
ihnen auch nur durch ein tiefes und vorauseilendes Urteil in einer entscheidenden
Zeitfrage sich einen Namen gemacht hätte. Ich finde nichts als Provinzmeinungen,
wie sie jeder hat. Ich frage mich, wenn ich das Buch eines modernen Denkers
zur Hand nehme, was er vom Tatsächlichen der Weltpolitik, von den
großen Problemen der Weltstädte, des Kapitalismus, der Zukunft
des Staates, des Verhältnisses der Technik zum Ausgang der Zivilisation,
des Russentums, der Wissenschaft überhaupt ahnt. Goethe hätte
das alles verstanden und geliebt. Von lebenden Philosophen übersieht
es nicht einer. Das ist, ich wiederhole es, nicht Inhalt der Philosophie,
aber ein unzweifelhaftes Symptom ihrer inneren Notwendigkeit, ihrer Fruchtbarkeit
und ihres symbolischen Ranges. (Ebd., S. 60).
Ich liebe die Tiefe und Feinheit mathematischer
und physikalischer Theorien, denen gegenüber der Ästhetiker
und Physiolog ein Stümper ist. (Ebd., S. 61).
Wir können es nicht ändern,
daß wir als Menschen des beginnenden Winters der vollen Zivilisation
und nicht auf der Sonnenhöhe einer reifen Kultur zur Zeit des Phidias
oder Mozart geboren sind. (Ebd., S. 62).
(Phidias oder Mozart lebten kulturell nicht im Hochsommer
[),
sondern im Spätsommer [],
und Spenglers Zeit war die der Herbstmitte [],
aber diese Zeit kann ja schon genug Frost, Eis und Schnee bringen. Wir
erleben seit etwa 1990 oder 2000 den Beginn des Spätherbstes [].
Uns bleibt also immer noch Zeit [etwa 1 bis 2 Jahrhunderte!] bis zum offiziellen
Winter. ().
Son Untergang kann ganz schön lange dauern. HB ).
Die systematische Philosophie war mit
Ausgang des 18. Jahrhunderts vollendet. Kant hatte ihre äußersten
Möglichkeiten in eine große und - für den westeuropäischen
Geist - vielfach endgültige Form gebracht. Ihr folgt eine ... spezifisch
großstädtische, nicht spekulative, sondern praktische, irreligiöse,
ethisch-gesellschaftliche Philosophie. Sie beginnt ... im Abendlande mit
Schopenhauer, der zuerst den Willen zum Leben (»schöpferische
Lebenskraft« )
in den Mittelpunkt stellte, aber, was die tiefere Tendenz seiner Lehre
verschleiert hat, die veralteten Unterscheidungen von der Erscheinung
und dem Ding an sich, von Form und Inhalt der Anschauung, von Verstand
und Vernunft unter dem Eindruck einer großen Tradition noch beibehielt.
Es ist derselbe schöpferische Lebenswille, der im Tristan schopenhauerisch
verneint, im Siegfried darwinistisch bejaht wurde, den Nietzsche im Zarathustra
glänzend und theatralisch formulierte, der durch den Hegelianer Marx
()
der Anlaß einer nationalökonomischen, durch den Malthusianer
Darwin ()
der einer zoologischen Hypothese wurde, die beide gemeinsam und unvermerkt
das Weltgefühl des westeuropäischen Großstädters
verwandelt haben, und der von Hebbels »Judith« bis zu Ibsens
Epilog eine Reihe tragischer Konzeptionen von gleichem Typus hervorrief,
damit aber ebenfalls den Umkreis echter philosophischer Möglichkeiten
erschöpft hat. (Ebd., S. 63).
Die systematische Philosophie liegt
uns heute unendlich fern; die ethische ist abgeschlossen. Es bleibt noch
eine dritte, dem antiken Skeptizismus entsprechende Möglichkeit
innerhalb der abendländischen Geisteswelt, die, welche durch
die bisher unbekannte Methode der vergleichenden historischen Morphologie
bezeichnet wird. Eine Möglichkeit, das heißt eine Notwendigkeit.
Der antike Skeptizismus
ist ahistorisch: er zweifelt, indem er einfach nein sagt. Der des Abendlandes
muß, wenn er innere Notwendigkeit besitzen, wenn er ein Symbol unseres
dem Ende sich zuneigenden Seelentums sein soll, durch und durch historisch
sein. Er hebt auf, indem er alles als relativ, als geschichtliche Erscheinung
versteht. Er verfährt physiognomisch. Die skeptische Philosophie
tritt im Hellenismus als Negation der Philosophie auf - man erklärt
sie für zwecklos. Wir nehmen demgegenüber die Geschichte
der Philosophie als letztes ernsthaftes Thema der Philosophie an.
Das ist Skepsis. Man verzichtet auf absolute Standpunkte, der Grieche,
indem er über die Vergangenheit seines Denkens lächelt, wir,
indem wir sie als Organismus begreifen. (Ebd., S. 63-64).
In diesem Buche liegt der
Versuch vor, diese »unphilosophische Philosophie« der Zukunft
- es würde die letzte Westeuropas sein - zu skizzieren. ().
Der Skeptizismus
ist Ausdruck einer reinen Zivilisation; er zersetzt das Weltbild der voraufgegangenen
Kultur. Hier erfolgt die Auflösung aller älteren Probleme ins
Genetische. Die Überzeugung, daß alles, was ist, auch geworden
ist, daß allem Naturhaften und Erkennbaren ein Historisches zugrunde
liegt, ... auch Ausdruck eines Lebendigen sein muß. Auch
Erkenntnisse und Wertungen sind Akte lebender Menschen. Dem vergangenen
Denken war die äußere Wirklichkeit Erkenntnisprodukt und Anlaß
ethischer Schätzungen; dem künftigen ist sie vor allem Ausdruck
und Symbol. Die Morphologie der Weltgeschichte wird notwendig zu einer
universellen Symbolik. ().
Damit fällt auch der Anspruch des höheren Denkens, allgemeine
und ewige Wahrheiten zu besitzen. Wahrheiten gibt es nur in bezug auf
ein bestimmtes Menschentum. Meine Philosophie selbst würde demnach
Ausdruck und Spiegelung nur der abendländischen Seele, im
Unterschiede etwa von der antiken und indischen, und zwar nur in
deren heutigem zivilisierten Stadium sein, womit ihr Gehalt als Weltanschauung,
ihre praktische Tragweite und ihr Geltungsbereich bestimmt sind.
(Ebd., S. 64).
Damit fällt auch der Anspruch des höheren Denkens, allgemeine
und ewige Wahrheiten zu besitzen. Wahrheiten gibt es nur in bezug auf
ein bestimmtes Menschentum. Meine Philosophie selbst würde demnach
Ausdruck und Spiegelung nur der abendländischen Seele, im
Unterschiede etwa von der antiken und indischen, und zwar nur in deren
heutigem zivilisierten Stadium sein, womit ihr Gehalt als Weltanschauung,
ihre praktische Tragweite und ihr Geltungsbereich bestimmt sind
(Ebd., S. 64).
Endlich sei eine persönliche Bemerkung gestattet. Im Jahre
1911 hatte ich die Absicht, über einige politische Erscheinungen
der Gegenwart und die aus ihnen möglichen Schlüsse für
die Zukunft etwas aus einem weiteren Horizont zusammenzustellen. Der Weltkrieg
als die bereits unvermeidlich gewordene äußere Form
der historischen Krisis stand damals unmittelbar bevor, und es
handelte sich darum, ihn aus dem Geiste der voraufgehenden Jahrhunderte
nicht Jahre zu begreifen. Im Verlauf der ursprünglich
kleinen Arbeit (sie ist jetzt in Band II, S. 1081 f. [],
1122 f. [],
1190 f. []
aufgegangen) drängte sich die Überzeugung auf, daß zu
einem wirklichen Verständnis der Epoche der Umfang der Grundlagen
viel breiter gewählt werden müsse, daß es völlig
unmöglich sei, eine Untersuchung dieser Art auf eine einzelne Zeit
und deren politischen Tatsachenkreis zu beschränken, sie im Rahmen
pragmatischer Erwägungen zu halten und selbst auf rein metaphysische,
höchst transzendente Betrachtungen zu verzichten, wenn man nicht
auch auf jede tiefere Notwendigkeit der Resultate Verzicht leisten wollte.
Es wurde deutlich, daß ein politisches Problem nicht von der Politik
selbst aus begriffen werden kann und daß wesentliche Züge,
die in der Tiefe mitwirken, oft nur auf dem Gebiete der Kunst, oft sogar
nur in Gestalt weit entlegener wissenschaftlicher und rein philosophischer
Gedanken greifbar in Erscheinung treten. Selbst eine politisch-soziale
Analyse der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, eines Stadiums gespannter
Ruhe zwischen zwei mächtigen, weithin sichtbaren Ereignissen, dem
einen, das durch die Revolution und Napoleon das Bild der westeuropäischen
Wirklichkeit für hundert Jahre bestimmt hat, und einem andern von
mindestens der gleichen Tragweite, das sich mit wachsender Geschwindigkeit
näherte, erwies sich als unausführbar, ohne daß zuletzt
alle großen Probleme des Seins in ihrem vollen Umfang einbezogen
wurden. Denn es tritt im historischen wie im naturhaften Weltbilde nicht
das geringste hervor, ohne daß in ihm die ganze Summe aller tiefsten
Tendenzen verkörpert wäre. So erfuhr das ursprüngliche
Thema eine ungeheure Erweiterung. Eine Unzahl überraschender, großenteils
ganz neuer Fragen und Zusammenhänge drängte sich auf. Endlich
war es vollkommen klar, daß kein Fragment der Geschichte wirklich
durchleuchtet werden könne, bevor nicht das Geheimnis der Weltgeschichte
überhaupt, genauer das der Geschichte des höheren Menschentums
als einer organischen Einheit von regelmäßiger Struktur klargestellt
war. Und eben das war bisher nicht entfernt geleistet worden. (Ebd.,
S. 65-66).
Von diesem Augenblick an traten in wachsender Fülle die oft
geahnten, zuweilen berührten, nie begriffenen Beziehungen hervor,
welche die Formen der bildenden Künste mit denen des Krieges und
der Staatsverwaltung verbinden, die tiefe Verwandtschaft zwischen politischen
und mathematischen Gebilden derselben Kultur, zwischen religiösen
und technischen Anschauungen, zwischen Mathematik, Musik und Plastik,
zwischen wirtschaftlichen und Erkenntnis-Formen. Die tiefinnerliche Abhängigkeit
der modernsten physikalischen und chemischen Theorien von den mythologischen
Vorstellungen unsrer germanischen Ahnen, die vollkommene Kongruenz im
Stil der Tragödie, der dynamischen Technik und des heutigen Geldverkehrs,
die zuerst bizarre, dann selbstverständliche Tatsache, daß
die Perspektive der Ölmalerei, der Buchdruck, das Kreditsystem, die
Fernwaffe, die kontrapunktische Musik einerseits, die nackte Statue, die
Polis, die von den Griechen erfundene Geldmünze andrerseits identische
Ausdrücke eines und desselben seelischen Prinzips sind, wurde unzweifelhaft
deutlich, und weit darüber hinaus rückte die Tatsache ins hellste
Licht, daß diese mächtigen Gruppen morphologischer Verwandtschaften,
von denen jede einzelne eine besondere Art Mensch im Gesamtbilde der Weltgeschichte
symbolisch darstellt, von streng symmetrischem Aufbau sind. Erst diese
Perspektive legt den wahren Stil der Geschichte bloß. Sie läßt
sich, da sie selbst wiederum Symptom und Ausdruck einer Zeit, und erst
heute und nur für den westeuropäischen Menschen innerlich möglich
und damit notwendig ist, nur mit gewissen Anschauungen der modernsten
Mathematik auf dem Gebiete der Transformationsgruppen entfernt vergleichen.
Es waren dies Gedanken, die mich seit langen Jahren beschäftigt hatten,
aber dunkel und unbestimmt, bis sie aus diesem Anlaß in greifbarer
Gestalt hervortraten (Ebd., S. 66-67).
Ich sah die Gegenwart den sich nähernden Weltkrieg
in einem ganz andern Licht. Das war nicht mehr eine einmalige Konstellation
zufälliger, von nationalen Stimmungen, persönlichen Einwirkungen
und wirtschaftlichen Tendenzen abhängiger Tatsachen, denen der Historiker
durch irgendein kausales Schema politischer oder sozialer Natur den Anschein
der Einheit und sachlichen Notwendigkeit aufprägt: das war der Typus
einer historischen Zeitwende, die innerhalb eines großen historischen
Organismus von genau abgrenzbarem Umfange einen biographisch seit Jahrhunderten
vorbestimmten Platz hatte. Eine Unsumme leidenschaftlichster Fragen
und Einsichten, die heute in tausend Büchern und Meinungen, aber
zerstreut, vereinzelt, aus dem beschränkten Horizont eines Spezialgebietes
zutage traten und deshalb reizen, bedrücken und verwirren, aber nicht
befreien konnten, bezeichnet die große Krisis. Man kennt sie, aber
man übersieht ihre Identität. Ich nenne die in ihrer letzten
Bedeutung gar nicht begriffenen Kunstprobleme, die dem Streit um Form
und Inhalt, um Linie oder Raum, um das Zeichnerische oder Malerische,
dem Begriff des Stils, dem Sinn des Impressionismus und der Musik Wagners
zugrunde liegen; den Niedergang der Kunst, den wachsenden Zweifel am Werte
der Wissenschaft; die schweren Fragen, welche aus dem Sieg der Weltstadt
über das Bauerntum hervorgehen: die Kinderlosigkeit, die Landflucht;
den sozialen Rang des fluktuierenden vierten Standes; die Krisis im Materialismus,
im Sozialismus, im Parlamentarismus; die Stellung des einzelnen zum Staate;
das Eigentumsproblem, das davon abhängende Eheproblem; auf scheinbar
ganz anderm Gebiete die massenhaften völkerpsychologischen Arbeiten
über Mythen und Kulte, über die Anfänge der Kunst, der
Religion, des Denkens, die mit einem Male nicht mehr ideologisch, sondern
streng morphologisch behandelt wurden Fragen, die alle das eine,
nie mit hinreichender Deutlichkeit ins Bewußtsein tretende Rätsel
der Historie überhaupt zum Ziel hatten. Hier lagen nicht unzählige,
sondern stets ein und dieselbe Aufgabe vor. Hier hatte jeder etwas
geahnt, aber keiner von seinem engen Standpunkte aus die einzige und umfassende
Lösung gefunden, die seit den Tagen Nietzsches in der Luft lag, der
alle entscheidenden Probleme bereits in Händen hielt, ohne daß
er als Romantiker gewagt hätte, der strengen Wirklichkeit ins Gesicht
zu sehen. (Ebd., S. 67-68).
Darin liegt aber auch die tiefe Notwendigkeit der abschließenden
Lehre, die kommen mußte und nur zu dieser Zeit kommen konnte. Sie
ist kein Angriff auf das Vorhandene an Ideen und Werken. Sie bestätigt
vielmehr alles, was seit Generationen gesucht und geleistet wurde. Dieser
Skeptizismus stellt den Inbegriff dessen dar, was auf allen Einzelgebieten,
gleichviel in welcher Absicht, an wirklich lebendigen Tendenzen vorliegt.
(Ebd., S. 68).
Vor allem aber fand sich endlich der Gegensatz,
aus dem allein das Wesen der Geschichte erfaßt werden kann: der
von Geschichte und Natur. Ich wiederhole: der Mensch ist als Element
und Träger der Welt nicht nur Glied der Natur, sondern auch Glied
der Geschichte, eines zweiten Kosmos von andrer Ordnung und andrem
Gehalte, der von der gesamten Metaphysik zugunsten des ersten vernachlässigt
worden ist. Was mich zum ersten Nachdenken über diese Grundfrage
unsres Weltbewußtseins brachte, war die Beobachtung, daß der
heutige Historiker, an den sinnlich greifbaren Ereignissen, dem Gewordenen
herumtastend, die Geschichte, das Geschehen, das Werden selbst
bereits ergriffen zu haben glaubt, ein Vorurteil aller nur verstandesmäßig
Erkennenden, nicht auch Schauenden (),
das schon die großen Eleaten stutzig gemacht hatte, als sie behaupteten,
daß es, für den Erkennenden nämlich, kein Werden, nur
ein Sein (Gewordensein) gebe. Mit anderen Worten: man sah die Geschichte
als Natur, im Objektsinne des Physikers, und behandelte sie danach. Von
hierher schreibt sich der folgenschwere Mißgriff, die Prinzipien
der Kausalität, des Gesetzes, des Systems, also die Struktur des
starren Seins in den Aspekt des Geschehens zu legen. Man verhielt sich,
als gebe es eine menschliche Kultur, etwa wie es Elektrizität oder
Gravitation gibt, mit den im wesentlichen gleichen Möglichkeiten
der Analyse; man hatte den Ehrgeiz, die Gewohnheiten des Naturforschers
zu kopieren, so daß man wohl gelegentlich fragte, was denn die Gotik,
der Islam, die antike Polis sei, nicht aber, warum diese Symbole eines
Lebendigen gerade damals und dort auftauchen mußten,
in dieser Form und für diese Dauer. Man begnügte
sich, sobald eine der zahllosen Ähnlichkeiten räumlich und zeitlich
weit getrennter Geschichtsphänomene zutage trat, sie einfach zu registrieren,
mit einigen geistvollen Bemerkungen über das Wunderbare des Zusammentreffens,
über Rhodos als das »Venedig des Altertums« oder Napoleon
als den neuen Alexander, statt gerade hier, wo das Schicksalsproblem
als das eigentliche Problem der Historie (das Problem der Zeit
nämlich) hervortritt, den höchsten Ernst wissenschaftlich geregelter
Physiognomik einzusetzen und die Antwort auf die Frage zu finden,
welche ganz anders geartete Notwendigkeit, der kausalen ganz und gar fremd,
hier am Werke ist. Daß jede Erscheinung auch dadurch ein metaphysisches
Rätsel aufgibt, daß sie zu einer niemals gleichgültigen
Zeit auftritt, daß man sich auch noch fragen muß, was für
ein lebendiger Zusammenhang neben dem anorganisch-naturgesetzlichen
im Weltbilde besteht das ja die Ausstrahlung des ganzen
Menschen und nicht, wie Kant meinte, nur die des erkennenden ist ,
daß eine Erscheinung nicht nur Tatsache für den Verstand, sondern
auch Ausdruck des Seelischen ist, nicht nur Objekt, sondern auch Symbol,
und zwar von den höchsten religiösen und künstlerischen
Schöpfungen an bis zu den Geringfügigkeiten des Alltagslebens,
das war philosophisch etwas Neues. (Ebd., S. 68-70).
Die
Philosophie dieses Buches verdanke ich der Philosophie Goethes, der
heute noch so gut wie unbekannten, und erst in viel geringerem Grade
der Philosophie Nietzsches. Die Stellung Goethes in der westeuropäischen
Metaphysik ist noch gar nicht verstanden worden. Man nennt ihn nicht
einmal, wenn von Plillosophie die Rede ist. Unglücklicherweise
hat er seine Lehre nicht in einem starren System niedergelegt; deshalb
übersehen ihn die Systematiker. Aber er war Philosoph. Er nimmt
Kant gegenüber dieselbe Stellung ein wie Plato gegenüber
Aristoteles, und es ist ebenfalls eine mißliche Sache, Plato
in ein System bringen zu wollen. Plato und Goethe repräsentieren
die Philosophie des Werdens, Aristoteles und Kant die des Gewordnen.
Hier steht Intuition gegen Analyse. Was verstandesmäßig
kaum mitzuteilen ist, findet sich in einzelnen Vermerken und Gedichten
Goethes wie den Orphischen Urworten, Strophen wie »Wenn im Unendlichen«
()
und »Sagt es niemand«, die man als Ausdruck einer ganz
bestimmten Metaphysik zu betrachten hat. An folgendem Ausspruch möchte
ich nicht ein Wort geändert wissen: »Die Gottheit ist
wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten; sie ist im Werdenden und
sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordnen und Erstarrten. Deshalb
hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur
mit dem Werdenden, Lebendigen zu tun, der Verstand mit dem Gewordenen,
Erstarrten, daß er es nutze« (zu Eckermann). Dieser
Satz enthält meine ganze Philosophie. (Ebd., S. 68-69).
Endlich sah ich die Lösung deutlich vor mir, in ungeheuren
Umrissen, mit voller innerer Notwendigkeit, eine Lösung, die auf
ein einziges Prinzip zurückführt, das zu finden war und bisher
nicht gefunden wurde, etwas, das mich seit meiner Jugend verfolgt und
angezogen hatte und das mich quälte, weil ich es als vorhanden, als
Aufgabe empfand, aber nicht fassen konnte. So ist aus dem etwas zufälligen
Anlaß das vorliegende Buch entstanden, als der vorläufige Ausdruck
eines neuen Weltbildes, mit allen Fehlern eines ersten Versuchs behaftet,
ich weiß es wohl, unvollständig und sicher nicht ohne Widersprüche.
Dennoch enthält es meiner Überzeugung nach die unwiderlegliche
Formulierung eines Gedankens, der, ich sage es noch einmal, nicht bestritten
werden wird, sobald er einmal ausgesprochen ist. (Ebd., S. 70).
Das engere Thema ist also eine Analyse des Unterganges der westeuropäischen,
heute über den ganzen Erdball verbreiteten Kultur. Das Ziel aber
ist die Entwicklung einer Philosophie und der ihr eigentümlichen,
hier zu prüfenden Methode der vergleichenden Morphologie der Weltgeschichte.
().
Die Arbeit zerfällt naturgemäß in zwei Teile. Der erste,
»Gestalt und Wirklichkeit« (),
geht von der Formensprache der großen Kulturen aus, sucht
bis zu den letzten Wurzeln ihres Ursprungs vorzudringen und gewinnt so
die Grundlagen einer Symbolik. Der zweite, »Welthistorische Perspektiven«
(),
geht von den Tatsachen des wirklichen Lebens aus und versucht aus
der historischen Praxis der höheren Menschheit die Quintessenz der
geschichtlichen Erfahrung zu erhalten, auf Grund deren wir die Gestaltung
unserer Zukunft in die Hand nehmen können. (Ebd., S. 70).
Die folgenden Tafeln geben einen Überblick über das,
was das Ergebnis der Untersuchung war. (Diese Tafeln
sind von mir nur teilweise und aus kontrastiven Gründen dargestellt
[zur Originaldarstellung:];
HB). Sie mögen einen Begriff von der Fruchtbarkeit und Tragweite
der neuen Methode geben. (Ebd., S. 70).
Tafeln zur vergleichenden Morphologie der Weltgeschichte (S.
70)
Tafel »gleichzeitiger« Geistesepochen
|
FRÜHLING |
SOMMER |
HERBST |
WINTER |
Landschaftlich-intuitiv.
Mächtige Schöpfungen einer erwachenden Seele. Überpersönliche
Einheit und Fülle. - Geburt eines Mythos großen Stils als
Ausdruck eines neuen Gottgefühls. Weltangst und Weltsehnsucht.
- Früheste mystisch-metaphysische Gestaltung des neuen Weltblickes.
Hochscholastik. .... (Ebd., S. 70). |
Reifende
Bewußtheit. Früheste städtisch-bürgerliche und
kritische Regungen. - Reformation: Innerhalb der Religion volksmäßige
Auflehnung gegen die großen Formen der Frühzeit. - Beginn
einer rein philosophischen Fassung des Weltgefühls. Gegensatz
idealistischer und realistischer Systeme. - Bildung einer neuen Mathematik.
Konzeption der Zahl als Abbild und Inbegriff der Weltform. - Puritanismus:
rationalistisch-mystische Verarmung des Religiösen. ....
(Ebd., S. 70). |
Großstädtische
Intelligenz. Höhepunkt strenggeistiger Gestaltungskraft. - ....
- Höhepunkt des mathematischen Denkens. Abklärung der Formenwelt
der Zahlen. - Die großen abschließenden Systeme. ....
(Ebd., S. 70). |
Erlöschen
der seelischen Gestaltungskraft. Das Leben selbst wird problematisch.
Ethisch-praktiusche Tendenzen eines irreligiösen und unmetaphysischen
Weltstädtertums. - Materialistische Weltanschauung: Kultus der
Wissenschaft, des Nutzens, des Glücks. - Ethisch-geellschaftliche
Lebensideale: Epoche der »Philosophie ohne Mathematik«.
Skepsis - Innere Vollendung der mathematischen Formenwelt. Die abschließenden
Gedanken. ....
(Ebd., S. 70). |
Vgl.
meine Kult-Uhr:
(6-8)
(8-10)
(10-12)
Diese 3 Phasen decken sich mit Spenglers Angaben fast exakt. |
Vgl.
meine Kult-Uhr:
(12-14)
(14-16)
(16-18)
Diese 3 Phasen decken sich mit Spenglers Angaben nur insoweit, als
daß bei Spengler die letzte dieser drei Phasen zumindest zum
Teil bereits dem Herbst zugeordnet ist. |
Vgl.
meine Kult-Uhr:
(18-20)
(20-22)
(22-24)
Diese 3 Phasen decken sich mit Spenglers Angaben nur teilweise, weil
bei Spengler zum Teil noch die letzte Sommer-Phase und
ansonsten und ebenfalls nur zum Teil die erste Herbst-Phase
dem Herbst zugeordnet ist. |
Vgl.
meine Kult-Uhr:
(0-2)
(2-4)
(4-6)
Diese 3 Phasen decken sich mit Spenglers Angaben fast gar nicht, weil
bei Spengler schon die erste Herbst-Phase zu ca. einem
Drittel und die anderen beiden Herbst-Phasen komplett dem Winter
zugeordnet sind. |
Bei
mir beginnt die Kultur-Entwicklung mit dem Winter! In
ihrem ersten Winter existiert die Kultur im Uterus!
(HB).
Tafel »gleichzeitiger« Kunstepochen
|
Vorzeit
(Winter / Vorzeit) |
Frühzeit
(Frühling / Frühzeit) |
Spätzeit
(Sommer / Hochzeit) |
Zivilisation
(Herbst / Spätzeit) |
Chaos
unmenschlicher Ausdrucksformen. Mystische Symbolik und naive Imitation.
.... (Ebd., S. 70). |
Ornament
und Architektur als elementarer Ausdruck des jungen Weltgefühls:
»Die Primitiven«. - Geburt und Aufschwung. Aus dem Geiste
der Landschaft erwachende, nicht bewußt geschaffene Formen.
- Vollendung der frühen Formensprache. Erschöpfung der Möglichkeiten
und Widerspruch. .... (Ebd., S. 70). |
Bildung
einer Gruppe städtisch-bewußter, gewählter, von Einzelnen
getragener Künste: »Die großen Meister«. -
Ausbildung eines reifen Künstlertums. - Äußerste Vollendung
einer durchgeistigten Formensprache. - Ermatten der strengen Gestaltungskraft.
Auflösung der großen Form. .... (Ebd., S. 70). |
Das
Dasein ohne innere Form. Weltstadtkunst als Gewohnheit, Luxus, Sport,
Nervenreiz. Schnellwechselnde Stilmoden [Wiederbelebungen, willkürliche
Erfindungen, Entlehnungen] ohne symbolischen Gehalt. - »Moderne
Kunst«. Kunst-»Probleme«. Versuch, das Weltstadtbewußtsein
zu gestalten und zu reizen. Verwandlung von Musik, Baukunst und Malerei
in bloßes Kunstgewerbe. - .... Sinnlose, leere, erkünstelte,
gehäufte Architektur und Ornamentik. Nachahmung archaischer und
exotischer Motive. - Ausgang. Ausbildung eines starren Formenschatzes.
Prunken der Cäsaren mit Materaial und Massenwirkung. Provinziales
Kunstgewerbe. .... (Ebd., S. 70). |
Vgl.
meine Kult-Uhr:
(0-2)
(2-4)
(4-6)
Was bei Spengler Vorzeit heißt, ist bei mir die
vor-/urkulturelle Zeit und heißt entsprechend Vor-/Urkultur,
Vor-/Urform oder eben auch Vorzeit bzw. Winter. |
Vgl.
meine Kult-Uhr:
(6-8)
(8-10)
(10-12)
Was bei Spengler Frühzeit heißt, ist bei mir
die frühkulturelle Zeit und heißt entsprechend
Frühkultur, Frühform oder eben auch
Frühzeit bzw. Frühling. |
Vgl.
meine Kult-Uhr:
(12-14)
(14-16)
(16-18)
Was bei Spengler Spätzeit heißt, ist bei mir
die hochkulturelle Zeit und heißt entsprechend Hochkultur,
Hochform, Hochzeit bzw. Sommer
(niemals Spätzeit). |
Vgl.
meine Kult-Uhr:
(18-20)
(20-22)
(22-24)
Was bei Spengler Zivilisation heißt, ist bei mir
die spätkulturelle Zeit und heißt entsprechend
Spätkultur, Spätform, Spätzeit
bzw. Herbst, auch Zivilisation. |
Tafel »gleichzeitiger« politischer Epochen
|
Vorzeit
(Winter / Vorzeit) |
Frühzeit
(Frühling / Frühzeit) |
Spätzeit
(Sommer / Hochzeit) |
Zivilisation
(Herbst / Spätzeit) |
Primitiver
Völkertypus. Stämme und Häuptlinge. Noch keine »Politik«.
Kein »Staat«. .... (Ebd., S. 70). |
Völkergruppe
von ausgeprägtem Stil und einheitlichem Weltgefühl: »Nationen«.
Wirkung einer immanenten Staatsidee. - Organische Gliederung des politischen
Daseins. Die beiden frühen Stände: Adel und Priestertum.
Feudalwirtschaft der reinen Bodenwerte. - Lehnswesen. Geist des bäuerlichen
Landes. Die »Stadt« nur Markt oder Burg. Wechselnde Pfalzen
der Herrscher. Ritterlich-religiöse Ideale, Kämpfe der Vasallen
untereinander und gegen Fürsten. Krisis ...: vom Lehnsverband
zum Ständestaat. .... (Ebd., S. 70). |
Verwirklichung
der gereiften Staatsidee. Die Stadt gegen das Land: Entstehung des
Dritten Standes [Bürgertum]. Sieg des Geldes über die Güter.
- Bildung einer Staatenwelt von strenger Form. Fronde. Höchste
Vollendung der Staatsform [»Absolutismus«]. Einheit von
Stadt und Land [»Staat und Gesellschaft«, die »drei
Stände«]. .... (Ebd., S. 70). |
Auflösung
der jetzt wesentlich großstädtisch veranlagten Volkskörper
zu formlosen Massen. Weltstadt und Provinz: Der Vierte Stand [Masse],
anorganisch, kosmopolitisch. - Herrschaft des Geldes [der »Demokratie«].
Wirtschaftsmächte die politischen Formen und Gewalten durchdringend.
[Ägypten 1675-1550; Antike 300-100; China 480-230; Abendland
1800-2000]. - Ausbildung des Cäsarismus. Sieg der Gewaltpolitik
über das Geld. Innerer Zerfall der Nationen in eine formlose
Bevölkerung. Deren Zusammenfassung in ein Imperium von allmählich
wieder primitiv-despotischem Charakter. [Ägypten 1550-1328; Antike
100 v.C. -100 n.C.; China 230 v:C. - 26 n.C.; Abendland
2000-2200]. - Heranreifen
der endgütigen Form: Privat- und Familienpolitik von Einzelherrschern.
Die Welt als Beute. Geschichtsloses
Erstarren und Ohmacht auch des imperialen Mechanismus gegenüber
der Beutelust junger Völker oder fremder Eroberer. Langsames
Heraufdringen urmenschlicher Zustände in eine hochzivilisierte
Lebenshaltung. [Ägypten 1328-1195; Antike 100-200; China 25-220;
Abendland nach 2200]. (Ebd.,
S. 70). |
Vgl.
meine Kult-Uhr:
(0-2)
(2-4)
(4-6)
Was bei Spengler Vorzeit heißt, ist bei mir die
vor-/urkulturelle Zeit und heißt entsprechend Vor-/Urkultur,
Vorform oder eben auch Vorzeit bzw. Winter. |
Vgl.
meine Kult-Uhr:
(6-8)
(8-10)
(10-12)
Was bei Spengler Frühzeit heißt, ist bei mir
die frühkulturelle Zeit und heißt entsprechend
Frühkultur, Frühform oder eben auch
Frühzeit bzw. Frühling. |
Vgl.
meine Kult-Uhr:
(12-14)
(14-16)
(16-18)
Was bei Spengler Spätzeit heißt, ist bei mir
die hochkulturelle Zeit und heißt entsprechend Hochkultur,
Hochform, Hochzeit bzw. Sommer
(niemals Spätzeit). |
Vgl.
meine Kult-Uhr:
(18-20)
(20-22)
(22-24)
Was bei Spengler Zivilisation heißt, ist bei mir
die spätkulturelle Zeit und heißt entsprechend
Spätkultur, Spätform, Spätzeit
bzw. Herbst, auch Zivilisation. |
(* In allen drei Tafeln sind die Spengler-Zitate
nicht vollständig und die Angaben nicht immer deckungsgleich
mit meinen! HB) |
Vom Sinn der Zahlen (S. 71-124):
Grundbegriffe [S. 71] Die Zahl
als Zeichen der Grenzsetzung [S. 76] Jede Kultur hat eine eigene
Mathematik [S. 79] Die antike Zahl als Größe [S. 84]
Weltbild des Aristarch [S. 92] Diophant und die arabische
Zahl [S. 96] Die abendländische Zahl als Funktion [S. 100]
Weltangst und Weltsehnsucht [S. 107] Geometrie und Arithmetik
[S. 110] Die klassischen Grenzprobleme [S. 117] Überschreiten
der Grenze des Sehsinnes. Symbolische Raumwelten [S. 119] Letzte
Möglichkeiten [S. 122].
Es ist zunächst notwendig, einige im Verlauf der Betrachtung
in einem strengen und teilweise neuen Sinn gebrauchte Grundbegriffe1 zu
kennzeichnen, deren metaphysischer Gehalt sich im Laufe der Darstellung
von selbst ergeben wird, die aber schon am Anfang unzweideutig bestimmt
sein müssen. (Ebd., S. 71).
Der volkstümliche, auch der Philosophie geläufige Unterschied
von Sein und Werden erscheint ungeeignet, das Wesentliche des mit ihm
bezweckten Gegensatzes wirklich zu treffen. Ein unendliches Werden
Wirken, »Wirklichkeit« wird man immer, wofür etwa
die physikalischen Begriffe der gleichförmigen Geschwindigkeit und
des Bewegungszustandes oder die Grundvorstellung der kinetischen Gas-Theorie
als Beispiele dienen können, auch als Zustand auffassen und also
dem Sein zuordnen dürfen. Dagegen lassen sich mit Goethe
als letzte Elemente des in und mit dem Wachsein (»Bewußtsein«)
schlechthin Gegebenen das Werden und das Gewordene unterscheiden.
Jedenfalls ist, wenn man an der Möglichkeit zweifelt, durch abstrakte
Begriffsbildungen den letzten Gründen des Menschlichen nahe zu kommen,
das sehr klare und bestimmte Gefühl, aus welchem dieser fundamentale,
die äußersten Grenzen des Wachseins berührende Gegensatz
hervorgeht, das ursprünglichste Etwas, bis zu dem man überhaupt
gelangen kann. (Ebd., S. 71).
Es folgt daraus mit Notwendigkeit, daß immer ein Werden
dem Gewordenen zugrunde liegt, nicht umgekehrt. (Ebd., S. 71).
Gibt man den Begriffen des Werdens und des Gewordnen eine Anwendung
auf diese Struktur des Wachseins als der Spannung von Gegensätzen,
so erhält das Wort Leben einen ganz bestimmten, dem des Werdens
nahe verwandten Sinn. Man darf Werden und Gewordnes als die Gestalt bezeichnen,
in welcher die Tatsache und das Ergebnis des Lebens für das Wachsein
vorhanden sind. Das eigne, fortschreitende, ständig sich erfüllende
Leben wird, solange der Mensch wach ist, durch das Element des Werdens
in seinem Wachsein dargestellt diese Tatsache heißt Gegenwart
und es besitzt wie alles Werden das geheimnisvolle Merkmal der
Richtung, das der Mensch in allen höheren Sprachen durch das
Wort Zeit und die daran sich knüpfenden Probleme geistig zu
bannen und vergeblich zu deuten versucht hat. Es folgt daraus
eine tiefe Beziehung des Gewordenen (Starren) zum Tode. (Ebd.,
S. 73).
Nennt man die Seele und zwar ihre erfühlte
Art, nicht ihr gedachtes und vorgestelltes Bild das Mögliche,
die Welt dagegen das Wirkliche, Ausdrücke, über deren
Bedeutung ein inneres Gefühl keinen Zweifel läßt, so erscheint
das Leben als die Gestalt, in welcher sich die Verwirklichung des Möglichen
vollzieht. Im Hinblick auf das Merkmal der Richtung heißt das
Mögliche Zukunft, das Verwirklichte Vergangenheit.
Die Verwirklichung selbst, die Mitte und den Sinn des Lebens, nennen wir
Gegenwart. »Seele« ist das zu Vollendende, »Welt«
das Vollendete, »Leben« die Vollendung. Die Ausdrücke
Augenblick, Dauer, Entwicklung, Lebensinhalt, Bestimmung, Umfang, Ziel,
Fülle und Leere des Lebens erhalten damit eine bestimmte, für
alles Folgende, namentlich für das Verständnis historischer
Phänomene wesentliche Bedeutung. (Ebd., S. 73).
Endlich sollen die Worte Geschichte und Natur, wie
schon erwähnt, in einem ganz bestimmten, bisher nicht üblichen
Sinne angewandt werden. Es sind darunter mögliche Arten zu
verstehen, die Gesamtheit des Bewußten, Werden und Gewordenes, Leben
und Erlebtes, in einem einheitlichen, durchgeistigten, wohlgeordneten
Weltbilde aufzufassen, je nachdem das Werden oder das Gewordne,
die Richtung oder die Ausdehnung (»Zeit« und »Raum«)
den unteilbaren Eindruck gestaltend beherrschen. Es handelt sich hier
nicht um eine Alternative, sondern um eine Reihe von unendlich
vielen und sehr verschiedenartigen Möglichkeiten, eine »Außenwelt«
als Abglanz und Zeugnis des eignen Daseins zu besitzen, eine Reihe, deren
äußerste Glieder eine rein organische und eine rein
mechanische Weltanschauung (im wörtlichen Sinne: Anschauung
der Welt) sind. Der Urmensch (so wie wir sein Wachsein uns vorstellen)
und das Kind (wie wir uns erinnern) besitzen noch keine dieser Möglichkeiten
mit hinreichender Klarheit der Durchbildung. Als Bedingung dieses höheren
Weltbewußtseins hat man den Besitz der Sprache anzusehen,
und zwar nicht den einer menschlichen Sprache überhaupt, sondern
den einer Kultursprache, die für den ersten noch nicht vorhanden
und für das andere, obwohl vorhanden, noch nicht zugänglich
ist. Beide besitzen, um dasselbe mit anderen Worten zu sagen, noch kein
klares und deutliches Weltdenken, zwar eine Ahnung, aber noch kein wirkliches
Wissen von Geschichte und Natur, in deren Zusammenhang ihr eigenes Dasein
eingegliedert erscheint: Sie haben keine Kultur. (Ebd., S.
73-74).
Damit erhält dieses wichtige Wort einen
bestimmten, sehr bedeutsamen Sinn, der in allem Folgenden vorausgesetzt
wird. Ich unterscheide im Hinblick auf die oben gewählten Bezeichnungen
der Seele als des Möglichen und der Welt als des Wirklichen mögliche
und wirkliche Kultur, das heißt Kultur als Idee des
allgemeinen oder einzelnen Daseins und Kultur als Körper
dieser Idee, als die Summe ihres versinnlichten, räumlich und faßlich
gewordenen Ausdrucks: Taten und Gesinnungen, Religion und Staat, Künste
und Wissenschaften, Völker und Städte, wirtschaftliche und gesellschaftliche
Formen, Sprachen, Rechte, Sitten, Charaktere, Gesichtszüge und Trachten.
Höhere Geschichte ist, mit dem Leben, dem Werden eng verwandt,
die Verwirklichung möglicher Kultur. ().
(Ebd., S. 74).
Ich wähle als Beispiel für die Art, wie eine Seele
sich im Bilde ihrer Umwelt zu verwirklichen sucht, inwiefern also gewordene
Kultur Ausdruck und Abbild einer Idee menschlichen Daseins ist, die Zahl,
die aller Mathematik als schlechthin gegebenes Element zugrunde liegt.
Und zwar deshalb, weil die Mathematik, in ihrer ganzen Tiefe den wenigsten
erreichbar, einen einzigartigen Rang unter allen Schöpfungen des
Geistes behauptet. (Ebd., S. 75-76).
Mit Namen und Zahlen gewinnt das menschliche Verstehen Macht
über die Welt. (Ebd., S. 76).
Die Zeichensprache einer Mathematik und die Grammatik einer Wortsprache
sind letzten Endes von gleichem Bau. Die Logik ist immer eine Art Mathematik
und umgekehrt. Mithin liegt auch in allen Akten menschlichen Verstehens,
welche zur mathematischen Zahl in Beziehung stehen - messen, zählen,
zeichnen, wägen, ordnen, teilen (dazu gehört
auch das Denken in Geld) -, die sprachliche, durch die Formen des
Beweises, Schlusses, Satzes, Systems dargestellte Tendenz auf Abgrenzung
von Ausgedehntem, und erst durch kaum noch bewußte Akte dieser Art
gibt es für den wachen Menschen durch Ordnungszahlen eindeutig bestimmte
Gegenstände, Eigenschaften, Beziehungen, Einzelnes, Einheit und Mehrheit,
kurz die als notwendig und unerschütterlich empfundene Struktur desjenigen
Weltbildes, das er »Natur« nennt und als solche »erkennt«.
Natur ist das Zählbare. Geschichte ist der Inbegriff dessen,
was zur Methematik kein Verhältnis hat. Daher die mathematische Gewißheit
der Naturgesetze, die stauennde Einsicht Galileis, daß die Natur
»scritta in lingua matematica« sei und die von Kant
hervorgehobene Tatsache, daß die exakte Naturwissenschaft genau
so weit reicht wie die Möglichkeit der Anwendung mathematischer Methoden.
(Ebd., S. 76-77).
In der Zahl als dem Zeichen der vollendeten Begrenzung
liegt ..., wie Pythagoras oder wer es sonst war, infolge einer großartigen,
durchaus religiösen Intuition mit innerster Gewißheit begriff,
das Wesen alles Wirklichen, das geworden, erkannt, begrenzt zugleich ist.
Indes darf man Mathematik, wenn man darunter die Fähigkeit, in Zahlen
praktisch zu denken, versteht, nicht mit der viel engeren wissenschaftlichen
Mathematik, der mündlich oder schriftlich entwickelten Lehre
von den Zahlen verwechseln. Die geschriebene Mathematik repräsentiert
so wenig wie die in theoretischen Werken niedergelegte Philosophie den
ganzen Besitz dessen, was im Schoße einer Kultur an mathematischem
und philosophischem Blick und Denken vorhanden war. (Ebd., S. 77).
Es gibt noch ganz andere Wege, das den Zahlen zugrunde liegende
Urgefühl zu versinnlichen. Am Anfang jeder Kultur steht ein archaischer
Stil, den man nicht nur in der frühhellenischen Kunst hätte
geometrisch nennen können. Es liegt etwas Gemeinsames, ausdrücklich
Mathematisches in diesem antiken Stil .... (Ebd., S. 77-78).
Gotische Dome und dorische Tempel sind steingewordne Mathematik.
(Ebd., S. 78).
Eine Zahl an sich gibt es nicht und
kann es nicht geben. Es gibt mehrere Zahlenwelten, weil es mehrere
Kulturen gibt. .... Es gibt demnach mehr als eine Mathematik. Denn ohne
Zweifel ist der innere Bau der euklidischen Geometrie ein ganz anderer
als der der kartesischen, die Analysis von Archimedes eine andere als
die von Gauß, nicht nur der Formensprache, der Absicht und den Mitteln
nach, sondern vor allem in der Tiefe, im ursprünglichen und wahllosen
Sinn der Zahl, deren wissenschaftliche Entwicklung sie darstellt. Diese
Zahl, das Grenzerlebnis, das in ihr mit Selbstverstänbdlichkeit versinnlicht
worden ist, mithin auch die gesamte Natur, die ausgedehnte Welt, deren
Bild durch diese Grenzgebung entstanden und die immer nur Behandlung durch
eine einzige Art von Mathematik zugänglich ist, das alles spricht
nicht vom allgemeinen, sondern jedesmal von einem ganz bestimmten Menschentum.
Es hängt also für den Stil einer entstehenden Mathematik alles
davon ab, in welcher Kultur sie wurzelt, was für Menschen über
sie nachdenken. Der Geist kann die in ihr angelegten Möglichkeiten
zur wissenschaftlichen Entfaltung bringen, sie handhaben, in ihrer Behandlung
zur höchsten Reife gelangen; sie abzuändern ist er völlig
außerstande. In den frühesten Formen des antiken Ornaments
und der gotischen Architektur ist die Idee der euklidischen Geometrie
und der Infinitesimalrechnung verwirklicht, Jahrhunderte bevor der erste
gelehrte Mathematiker dieser Kulturen geboren wurde. (Ebd., S. 79-80).
Wäre Mathematik eine bloße Wissenschaft wie die Astronomie
oder Mineralogie, so würde man ihren Gegenstand definieren können.
Man kann es nicht und hat es nie gekonnt. Mögen wir Westeuropäer
auch den eigenen wissenschaftlichen Zahlbegriff gewaltsam auf das anwenden,
was die Mathematiker in Athen und Bagdad beschäftigte, soviel ist
sicher, daß Thema, Absicht und Methode der gleichnamigen Wissenschaft
dort ganz andere waren. Es gibt keine Mathematik, es gibt nur Mathematiken.
Was wir Geschichte »der« Mathematik nennen, vermeintlich die
fortschreitende Verwirklichung eines einzigen und unveränderlichen
Ideals, ist in der Tat, sobald man das täuschende Bild der historischen
Oberfläche beseitigt, eine Mehrzahl in sich geschlossener,
unabhängiger Entwicklungen, eine wiederholte Geburt neuer, ein Aneignen,
Umbilden und Abstreifen fremder Formenwelten, ein rein organisches, an
eine bestimmte Dauer gebundenes Aufblühen, Reifen, Welken und Sterben.
Man lasse sich nicht täuschen. Der antike Geist schuf seine Mathematik
fast aus dem Nichts; der historisch angelegte Geist des Abendlandes, der
die angelernte antike Wissenschaft schon besaß - äußerlich,
nicht innerlich -, mußte die eigne durch ein scheinbares Ändern
und Verbessern, durch ein tatsächiches Vernichten der ihm wesensfrernden
euklidischen gewinnen. Das eine geschah durch Pythagoras, das andere durch
Descartes. Beide Akte sind in der Tiefe identisch. (Ebd., S. 82).
Die Verwandtschaft der Formensprache einer
Mathematik mit derjenigen der benachbarten großen Künste wird
demnach keinem Zweifel unterliegen. Das Lebensgefühl von Denkern
und Künstlern ist sehr verschieden, aber die Ausdrucksmittel ihres
Wachseins sind innerlich von gleicher Form. Das Formempfinden des Bildhauers,
Malers, Tondichters ist ein wesentlich mathematisches. In der geometrischen
Analysis und der projektiven Geometrie des 17. Jahrhunderts offenbart
sich dieselbe durchgeistigte Ordnung einer unendlichen Welt, welche die
gleichzeitige Musik durch die aus der Kunst des Generalbasses entwickelte
Harmonik - diese Geometrie des Tonraumes -, welche die ihr verschwisterte
Ölmalerei durch das Prinzip einer nur dem Abendland bekannten
Perspektive - dieser gefühlten Geometrie des Bildraumes - ins Leben
rufen, ergreifen, durchdringen möchte. Sie ist das, was Goethe die
Idee nannte, deren Gestalt im Sinnlichen unmittelbar angeschaut werde,
während die bloße Wissenschaft nicht anschaue, sondern nur
beobachte und zergliedere. Aber die Mathematik geht über Beobachten
und Zergliedern hinaus. Sie verfährt in ihren höchsten Augenblicken
visionär, nicht abstrahierend. Von Goethe stammt auch das tiefe Wort,
daß der Mathematiker nur insofern vollkommen sei, als er das Schöne
des Wahren in sich empfinde. Hier wird man fühlen, wie nahe das
Geheimnis im Wesen der Zahl dem Geheimnis der künstlerischen Schöpfung
liegt. Damit tritt der geborene Mathematiker neben die großen Meister
der Fuge, des Meißels und des Pinsels, die ebenfalls jene große
Ordnung aller Dinge, die der bloße Mitmensch ihrer Kultur in sich
trägt, ohne sie wirklich zu besitzen, in Symbole kleiden, verwirklichen,
mitteilen wollen und müssen. Damit wird das Reich der Zahlen zum
Abbild der Weltform neben dem Reich der Töne, Linien und Farben.
Deshalb bedeutet das Wort »schöpferisch« im Mathematischen
mehr als in den bloßen Wissenschaften. Newton, Gauß, Riemann
waren künstlerische Naturen. Man lese nach, wie ihre großen
Konzeptionen sie plötzlich überfielen. »Ein Mathematiker«,
meinte der alte Weierstraß, »der nicht zugleich ein Stück
von einem Poeten ist, wird niemals ein vollkommener Mathematiker sein.«
(Ebd., S. 82-83).
Mathematik ist also auch eine Kunst.
Sie hat ihre Stile und Stilperioden. Sie ist nicht, wie der Laie meint
- auch der Philosoph, insofern er hier als Laie urteilt -, der Substanz
nach unveränderlich, sondern wie jede Kunst von Epoche zu Epoche
unvermerkten Wandlungen unterworfen. Man sollte die Entwicklung der großen
Künste nie behandeln, ohne auf die gleichzeitige Mathematik einen
gewiß nicht unfruchtbaren Seitenblick zu werfen. Einzelheiten in
den sehr tiefen Beziehungen zwischen den Wandlungen der Musiktheorie und
der Analysis des Unendlichen sind nie untersucht worden, obwohl die Ästhetik
mehr daraus hätte lernen können als aus aller »Psychologie«
. Noch aufschlußreicher würde eine Geschichte der Musikinstrumente
sein, wenn sie nicht, wie es immer geschieht, von den technischen Gesichtspunkten
der Tonerzeugung, sondern von den letzten seelischen Gründen der
angestrebten Tonfarbe und -wirkung aus behandelt würde. Denn der
bis zur Sehnsucht gesteigerte Wunsch, eine raumhafte Unendlichkeit von
Klängen herauszubilden, hat im Gegensatz zur antiken Leier und Schalmei
(Lyra, Kithara; Aulos, Syrinx) und zur arabischen Laute schon in gotischer
Zeit die beiden herrschenden Familien der Orgel (Klavier) und Streichinstrumente
hervorgebracht. Beide sind, welches auch ihre technische Herkunft gewesen
sein mag, ihrer Tonseele nach im keltisch-germanischen Norden zwischen
Irland, Weser und Seine ausgebildet worden, Orgel und Klavichord sicherlich
in England. Die Streichinstrumente haben 1480-1530 in Oberitalien ihre
endgültige Gestalt erhalten; die Orgel hat sich hauptsächlich
in Deutschland zu dem raumbeherrschenden Einzelinstrument von riesenhafter
Größe entwickelt, das in der gesamten Musikgeschichte nicht
seinesgleichen hat. Das freie Orgelspiel Bachs und seiner Zeit ist durchaus
Analysis einer ungeheuren und weiträumigen Tonwelt. Und ebenso entspricht
es der inneren Form des abendländischen und nicht des antiken mathematischen
Denkens, wenn die Streich- und Blasinstrumente nicht einzeln, sondern
nach den menschlichen Stimmlagen in ganzen Gruppen von gleicher Klangfarbe
entwickelt werden (Streichquartett, Holzbläser, Posaunenchor), so
daß die Geschichte des modernen Orchesters mit allen Erfindungen
neuer und Verwandlungen alter Instrumente in Wirklichkeit die Einheitsgeschichte
einer Klanglwelt ist, die sich sehr wohl mit Ausdrücken der höheren
Analysis beschreiben ließe. (Ebd., S. 83-84).
Euklid sagt - und man hätte ihn besser verstehen sollen -,
daß inkommensurable Strecken sich »nicht wie Zahlen«
verhaltem. In der Tat liegt im vollzogenen Begriff der irrationalen
Zahl die völlige Trennung des Zahlbegriffs vom Begriff der
Größe und zwar deshalb, weil eine solche Zahl, p
z.B., niemals abgegrenzt oder exakt durch eine Strecke dargestellt werden
kann. Daraus folgt aber, daß in der Vorstellung etwa des Verhältnises
der Quadratseite zur Diagonale die antike Zahl, die durchaus sinnliche
Grenze, abgeschlossene Größe ist, plötzlich eine
ganz andere Art der Zahl rührt, die dem antiken Weltgefühl im
tiefsten Innern fremd und darum unheimlich bleibt, als sei man nahe daran,
ein gefährliches Geheimnis des eignen Daseins aufzudecken. Dies verrät
ein seltsamer spätgriechischer Mythos, wonach derjenige, welcher
zuerst die Betrachtung des Irrationalen aus dem Verborgnen an die Öffentlichkeit
brachte, durch einen Schiffbruch umgekommen sei, »weil das Unaussprechliche
und Bildlose immer verborgen bleiben solle«. Wer die Angst fühlt,
welche diesem Mythos zugrunde liegt - es ist dieselbe, welche den Griechen
der reifsten Zeit vor der Ausdehnung seiner winzigen Stadtstaaten zu politisch
organisierten Landschaften, vor der Anlage weiter Straßenfluchten
und Alleen mit Fernblicken und berechneten Abschlüssen, vor der babylonischen
Astronomie mit ihrer Durchdringung endloser Sternenräume und vor
dem Verlassen des Mittelmeeres auf Bahnen, welche die Schiffe der Ägypter
und Phöniker längst erschlossen hatten, immer wieder zurückschrecken
ließ; es ist die tiefe metaphysische Angst vor der Auflösung
des Greifbar-Sinnlichen und Gegenwärtigen, mit dem sich das antike
Dasein wie mit einer Schutzmauer umgeben hatte, hinter der etwas Unheimliches,
ein Abgrund und Urgrund dieses gewissermaßen künstlich geschaffenen
und behaupteten Kosmos schlief -, wer dies Gefühl begreift, der hat
auch den letzten Sinn der antiken Zahl, des Maßes im Gegensatz
zum Unermeßlichen, und das hohe religiöse Ethos in ihrer
Beschränkung begriffen. Goethe als Naturforscher hat es sehr wohl
gekannt - daher seine fast ängstliche Auflehnung gegen die Mathematik,
die sich in Wirklichkeit, was noch niemand recht verstanden hat, unwillkürlich
durchaus gegen die nichtantike Mathematik, die der Naturlehre seiner
Zeit zugrunde liegende InfInitesimalrechnung richtete. (Ebd., S.
87-88).
Richtig, überzeugend, »denknotwendig« ist eine
mathematische und überhaupt eine wissenschaftliche Denkweise, wenn
sie vollkommen dem eigenen Lebensgefühl entspricht. (Ebd.,
S. 90).
Trotz des Laienvorurteils von der unmittelbaren mathematischen
Evidenz der Anschauung, wie es sich bei Schopenhauer findet, stimmt die
euklidische Geometrie, welche mit der populären Geometrie aller Zeiten
eine oberflächliche Identität besitzt, nur in sehr engen Grenzen
(»auf dem Papier«) mit der Anschauung annähernd überein.
Wie es bei großen Entfernungen steht, lehrt die einfache Tatsache,
daß für unser Auge Parallelen sich am Horizont berühren.
Die gesamte malerische Perspektive beruht auf ihr. Trotzdem berief sich
Kant, der für einen abendländischen Denker in unverzeihlicher
Weise vor der »Mathematik der Ferne« auswich, auf Beispiele
von Figuren, an denen gerade ihrer Kleinheit wegen das spezifisch abendländische,
das infinitesimale Raumproblem gar nicht in Erscheinung treten konnte.
Euklid hatte es zwar ebenfalls vermieden, sich für die anschauliche
Gewißheit seiner Axiome etwa auf ein Dreieck zu berufen, dessen
Punkte durch den Standort des Beobachters und zwei Fixsterne gebildet
werden, das also weder gezeichnet noch »angeschaut« werden
konnte, aber für einen antiken Denker mit Recht. Es war hier dasselbe
Gefühl wirksam, das vor dem Irrationalen zurückschreckte und
das Nichts nicht als Null, als Zahl, zu begreifen wagte, das also auch
im Anschauen kosmischer Verhältnisse dem Unermeßlichen aus
dem Wege ging, um das Symbol des Maßes zu bewahren. (Ebd.,
S. 91-92).
Die mathematische Zahl als formales Grundprinzip der ausgedehnten
Welt, die nur aus dem menschlichen Wachsein und für dieses da ist,
steht durch das Merkmal der kausalen Notwendigkeit zum Tode in Beziehung,
wie die chronologische Zahl zum Werden, zum Leben, zur Notwendigkeit des
Schicksals. Dieser Zusammenhang der strengmathematischen Form mit dem
Ende des organischen Seins, mit der Erscheinung seines anorganischen Restes,
des Leichnams, wird sich immer deutlicher als der Ursprung aller großen
Kunst enthüllen. Wir bemerkten schon die Entwicklung der frühen
Ornamentik an den Geräten und Behältern des Bestattungskultes.
Zahlen sind Symbole des Vergänglichen. Starre Formen verneinen
das Leben. Formeln und Gesetze breiten Starrheit über das Bild der
Natur. Zahlen töten. (Ebd., S. 94).
Es sind die Mütter Fausts, die hehr in Einsamkeit
thronen: »in der Gebilde losgebundnen Reichen ...
. . . . . . . . . Gestaltung, Umgestaltung,
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung,
Umschwebt von Bildern aller Kreatur.«
Hier berühren sich Goethe und Plato im Ahnen eines letzten Geheimnisses.
Die Mütter, das Unzugängliche Platos Ideen bezeichnen
die Möglichkeiten eines Seelentums, seine ungeborenen Formen,
welche in der sichtbaren, aus der Idee dieses Seelentums heraus mit innerster
Notwendigkeit geordneten Welt sich als tätige und geschaffene Kultur,
als Kunst, Gedanke, Staat, Religion verwirklicht haben. Hierauf beruht
die Verwandtschaft des Zahlendenkens einer Kultur mit deren Weltidee,
eine Beziehung, die jenes über das bloße Wissen und Erkennen
hinaus zur Bedeutung einer Weltanschauung erhebt und die bewirkt, daß
es so viele Mathematiken Zahlenwelten wie hohe Kulturen
gibt. So wird es begreiflich, ja notwendig, daß die größten
mathematischen Denker, bildende Künstler im Reiche der Zahlen, aus
tief religiöser Intuition zur Auffassung der entscheidenden mathematischen
Probleme ihrer Kultur gelangt sind. So hat man sich die Schöpfung
der antiken, apollinischen Zahl durch Pythagoras, den Stifter einer
Religion, zu denken. Dies Urgefühl hat Nicolaus Cusanus geleitet,
als er um 1450 von der Betrachtung der Unendlichkeit Gottes in der Natur
ausgehend die Grundzüge der Infinitesimalrechnung fand. Leibniz,
der ihre Methoden und Bezeichnungen zwei Jahrhunderte später endgültig
feststellte, hat selbst aus rein metaphysischen Betrachtungen über
das göttliche Prinzip und seine Beziehungen zum unendlichen Ausgedehnten
den Gedanken einer analysis situs entwickelt, vielleicht der genialsten
Interpretation des reinen, von allem Sinnlichen befreiten Raumes, deren
reiche Möglichkeiten erst im 19. Jahrhundert durch Graßmann
in seiner Ausdehnungslehre und vor allem durch Riemann, ihren eigentlichen
Schöpfer, in seiner Symbolik der zweiseitigen Flächen, welche
die Natur von Gleichungen repräsentieren, entfaltet worden sind.
Und Kepler wie Newton, beide streng religiöse Naturen, blieben sich
wie Plato durchaus bewußt, gerade durch das Medium der Zahlen das
Wesen der göttlichen Weltordnung intuitiv erfaßt zu haben.
(Ebd., S. 95-96).
Es war bemerkt worden, daß in der
Urmenschheit wie im Kinde ein inneres Erlebnis, die Geburt des Ich eintritt,
mit welcher beide den Sinn der Zahl begreifen, mithin plötzlich eine
auf das Ich bezogene Umwelt besitzen. (Ebd., S. 106).
Sobald vor dem erstaunten Blick des
frühen Menschen diese ertragende Welt des geordneten Ausgedehnten,
des sinnvoll Gewordenen sich in großen Umrissen aus einem
Chaos von Eindrücken abhebt und der tief empfundene unwiderrufliche
Gegensatz dieser Außenwelt zur eignen Innenwelt dem wachen Leben
Richtung und Gestalt gibt, erwacht zugleich das Urgefühl der Sehnsucht
in dieser sich plötzlich ihrer Einsamkeit bewußten Seele. Es
ist die Sehnsucht nach dem Ziele des Werdens, nach Vollendung und Verwirklichung
alles innerlich Möglichen, nach Entfaltung der Idee des eigenen Daseins.
Es ist die Sehnsucht des Kindes, die als das Gefühl einer unaufhaltsamen
Richtung mit steigender Deutlichkeit ins Bewußtsein tritt
und später als das Rätsel der Zeit unheimlich, verlockend,
unlösbar vor dem gereiften Geiste steht. Die Worte Vergangenheit
und Zukunft haben plötzlich eine schicksalsschwere Bedeutung erhalten.
(Ebd., S. 106-107).
Aber diese Sehnsucht aus der Überfülle
und Seligkeit des innern Werdens ist in der tiefsten Tiefe einer jeden
Seele zugleich Angst. ().
Wie alles Werden sich auf ein Gewordensein richtet, mit dem es endet,
so rührt das Urgefühl des Werdens, die Sehnsucht, schon an das
andere des Gewordenseins, die Angst. In der Gegenwart fühlt man das
Verrinnen; in der Vergangenheit liegt die Vergänglichkeit. Hier ist
die Wurzel der ewigen Angst vor dem Unwiderruflichen, Erreichten, Endgültigen,
vor der Vergänglichkeit, vor der Welt selbst als dem Verwirklichten,
in dem mit der Grenze der Geburt zugleich die des Todes gesetzt ist, der
Angst vor dem Augenblick, wo das Mögliche verwirklicht, das Leben
innerlich erfüllt und vollendet ist, wo das Bewußtsein am Ziele
steht. Es ist jene tiefe Weltangst der Kinderseele, welche den höheren
Menschen, den Gläubigen, den Dichter, den Künstler in seiner
grenzenlosen Vereinsamung niemals verläßt, die Angst vor den
fremden Mächten, die groß und drohend, in sinnliche Erscheinungen
verkleidet, in die ertagende Welt hineinragen. Auch die Richtung in allem
Werden wird in ihrer Unerbittlichkeit - Nichtumkehrbarkeit - vom
menschlichen Verstehenwollen wie etwas Fremdes und Feindliches mit Namen
belegt, um das ewig Unverständliche zu bannen. Es ist etwas ganz
Unfaßbares, das Zukunft in Vergangenheit verwandelt, und dies gibt
der Zeit im Gegensatz zum Raume jenes widerspruchsvoll Unheimliche und
drückend Zweideutige, dessen sich kein bedeuten der Mensch ganz erwehren
kann. (Ebd., S. 107).
Die Weltangst ist sicherlich das
schöpferischste aller Urgefühle. Ihr verdankt ein Mensch
die reifsten und tiefsten aller Formen und Gestalten nicht nur seines
bewußten Innenlebens, sondern auch von dessen Spiegelung in den
zahllosen Bildungen äußerer Kultur. Wie eine geheime Melodie,
nicht jedem vernehmbar, geht die Angst durch die Formensprache eines jeden
wahren Kunstwerkes, jeder innerlichen Philosophie, jeder bedeutenden Tat
und sie liegt, nur den wenigsten noch fühlbar, auch den großen
Problemen jeder Mathematik zugrunde. Nur der innerlich erstorbene Mensch
der späteren Städte, des Babylon Hammurabis, des ptolemäischen
Alexandria, des islamischen Bagdad oder des heutigen Paris und Berlin,
nur der rein intellektuelle Sophist, Sensualist und Darwinist verliert
oder verleugnet sie, indem er eine geheimnislose »wissenschaftliche
Welt« zwischen sich und das Fremde stellt. (Ebd., S. 107-108).
Knüpft sich die Sehnsucht an jenes
unfaßliche Etwas, dessen tausendgestaltige ungreifbare Daseinszeichen
durch das Wort Zeit mehr verdeckt als bezeichnet werden, so findet das
Urgefühl der Angst seinen Ausdruck in den geistigen, faßlichen,
der Gestaltung fähigen Symbolen der Ausdehnung. So finden
sich im Wachsein jeder Kultur, in jeder anders geartet, die Gegenformen
der Zeit und des Raumes, der Richtung und der Ausdehnung, jene dieser
zugrunde liegend, wie das Werden dem Gewordnen - denn auch die Sehnsucht
liegt der Angst zugrunde; sie wird zur Angst, nicht umgekehrt -,
jene der geistigen Macht entzogen, diese ihr dienend, jene nur zu erleben,
diese nur zu erkennen. »Gott fürchten und lieben«
ist der christliche Ausdruck für den Gegensinn beider Weltgefühle.
(Ebd., S. 108).
Aus der Seele des gesamten Urmenschentums
und also auch der frühesten Kindheit erhebt sich der Drang, das Element
der fremden Mächte, die in allem Ausgedehnten, im Raume und durch
den Raum unerbittlich gegenwärtig sind, zu bannen, zu zwingen, zu
versöhnen- zu »erkennen«. Im letzten Grunde ist alles
dies dasselbe. Gott erkennen heißt in der Mystik aller frühen
Zeiten ihn beschwören, ihn sich geneigt machen, ihn sich innerlich
aneignen. Das geschieht vor allem durch ein Wort, den »Namen«,
mit dem man das numen benennt, anruft, oder durch die Ausübung
der Bräuche eines Kultes, denen eine geheime Kraft innewohnt. Kausale,
systematische Erkenntnis, Grenzsetzung durch Begriffe und Zahlen, ist
die feinste, aber auch die mächtigste dieser Abwehr. Insofern wird
der Mensch erst durch die Wortsprache ganz zum Menschen. Die an Worten
gereifte Erkenntnis verwandelt mit Notwendigkeit das Chaos der ursprünglichen
Eindrücke in die »Natur«, für die es Gesetze
gibt, denen sie gehorchen muß, die »Welt an sich«
in die »Welt für uns«. (Vom »Namenzauber«
der Wilden bis zur modernsten Wissenschaft, welche die Dinge unterwirft,
indem sie Namen, nämlich Fachausdrücke für sie prägt,
hat sich der Form nach nichts geändert. Vgl. S. 723f., 881ff.).
Sie stellt die Weltangst, indem sie das Geheimnisvolle bändigt, es
zur faßlichen Wirklichkeit gestaltet, es durch die ehernen
Regeln einer ihm aufgeprägten intellektuellen Formensprache fesselt.
Dieses ist die Idee des »tabu«
(vgl. S. 693ff.), das im Seelenleben aller
primitiven Menschen eine entscheidende Rolles spielt, dessen ursprünglicher
Gehalt aber uns so fern liegt, daß das Wort in keine reife Kultursprache
mehr übertragbar ist. Ratlose Angst, heilige Scheu, tiefe Verlassenheit,
Schwermut, Haß, dunkle Wünsche nach Annäherung, Vereinigung,
Entfernung, all diese Formen gereifter Seelen verschweben in kindlichen
Zuständen zu einer dumpfen Unentschiedenheit. Der Doppelsinn des
Wortes Beschwören, das bezwingen und anflehen zugleich bedeutet,
kann den Sinn jenes mystischen Vorganges verdeutlichen, durch den für
den frühen Menschen das Fremde und Gefürchtete »tabu«
wird. Die ehrfürchtige Scheu vor allem von ihm Unabhängigen,
Gesetzten, Gesetzlichen, den fremden Mächten in der Welt, ist
der Ursprung aller und jeder elementaren Formgebung. In Urzeiten verwirklicht
sie sich im Ornament, in peinlichen Zeremonien und Riten und den strengen
Satzungen eines primitiven Verkehrs. Auf der Höhe großer Kulturen
sind diese Gestaltungen, ohne innerlich die Merkmale ihrer Herkunft, den
Charakter einer Bannung und Beschwörung verloren zu haben, zu den
vollendeten Formenwelten der einzelnen Künste, des religiösen,
naturwissenschaftlichen und vor allem mathematischen Denkens geworden.
Ihr gemeinsames Mittel, das einzige, welches die sich verwirklichende
Seele kennt, ist die Symbolisierung des Ausgedehnten, des Raumes
oder der Dinge - sei es in den Konezeptionen des absoluten Weltraumes
der Physik Newtons, der Innenräume gotischer Dome und maurischer
Moscheen, der atmosphärischen Unendlichkeit der Gemälde Rembrandts
und ihrer Wiederkehr in den dunklen Tonwelten Beethovenscher Quartette,
seien es die regelmäßigen Polyeder Euklids, die Parthenonskulpturen
oder die Pyramiden Altägyptens, das Nirwana Buddhas, die Distanz
höfischer Sitte unter Sesostris, Justinian I. und Ludwig XIV., sei
es endlich die Gottesidee eines Aischylos, Plotin, Dante oder die den
Erdball umspannenden Raumenergie der heutigen Technik. (Ebd., S.
108-110).
Kehren wir zur Mathematik zurück.
Der Ausgangspunkt aller antiken Formgebung war, wie wir sahen, die Ordnung
des Gewordnen, insofern es gegenwärtig, übersehbar, meßbar,
zählbar ist. Das abendländische, gotische Formgefühl, das
einer maßlosen, willensstarken, in alle Fernen der schweifenden
Seele, hat das Zeichen des reinen, unanschaulichen, grenzenlosen Raumes
gewählt. Man täusche sich ja nicht über die enge Bedingtheit
solcher Symbole, die uns leicht als wesensgleich, als allgemeingültig
erscheinen. Unser unendlicher Weltraum, über dessen Vorhandensein,
wie es scheint, kein Wort zu verlieren ist, ist für den antiken Menschen
nicht vorhanden. Er ist ihm nicht einmal vorstellbar. Der hellenische
Kosmos andrerseits, dessen tiefe Fremdheit für unsre Auffassungsweise
nicht so lange hätte unbemerkt bleiben sollen, ist dem Hellenen das
Selbstverständliche. In der Tat ist der absolute Raum unserer Physik
eine Form mit sehr vielen, äußerst verwickelten stillschweigenden
Voraussetzungen, die allein aus unserem Seelentum als dessen Abbild
und Ausdruck entstanden und allein für unsere Art des wachen
Daseins wirklich notwendig und natürlich ist. Die einfachen Begriffe
sind immer die schwierigsten. Ihre Einfachhait besteht darin, daß
unendlich vieles, was sich nicht aussprechen ließe, auch gar nicht
gesagt zu werden braucht, weil es für Menschen dieses Kreises
gefühlsmäßig gesichert ist. Das gilt von dem spezifisch
abendländischen Inhalt des Wortes Raum. Die gesamte Mathematik von
Descartes an dient der theoretischen Interpretation dieses großen,
ganz von religiösen Gehalt erfüllten Symbols. Die Physik will
seit Galilei nichts anderes. Die antike Mathematik und Physik kennen
den Gehalt dieses Wortes überhaupt nicht. Auch hier haben antike
Namen, die wir aus der literarischen Erbschaft der Griechen beibehalten
haben, den Tatbestand verschleiert. Geometrie heißt die Kunst des
Messens, Arithmetik die des Zählens. Die Mathematik des Abendlandes
hat mit diesen beiden Arten des Begrenzens nichts mehr zu tun,
aber sie hat keinen neuen Namen für sie gefunden. Das Wort Anaalysis
sagt bei weitem nicht alles. (Ebd., S. 110-111).
Der antike Mensch beginnt und schließt
seine Erwägungen mit dem einzelnen Körper und seinen Grenzflächen,
zu denen indirekt die Kegelschnitte und höheren Kurven gehören.
Wir kennen im Grunde nur das abstrakte Raumelement des Punktes,
das ohne Anschaulichkeit, ohne die Möglichkeit einer Messung und
Benennung, lediglich ein Beziehungszentrum darstellt. Die Gerade ist für
den Griechen eine meßbare Kante, für uns ein unbegrenztes Punktkontinuum.
Leibniz führt als Beispiel für sein Infinitesimalprinzip die
Gerade an, die den Grenzfall eines Kreises mit unendlich großem
Radius darstellt, während der Punkt den andern Grenzfall bildet.
Für den Griechen ist der Kreis aber eine Fläche, und das Problem
besteht darin, sie in eine kommensurable Gestalt zu bringen. So wurde
die Quadratur des Kreises das klassische Grenzproblem für den Geist
antiker Menschen. Das schien ihnen das tiefste aller Probleme der
Weltform: krummlinig begrenzte Flächen bei unveränderter Größe
in Rechtecke zu verwandeln und dadurch meßbar zu machen.
Für uns ist daraus das wenig bedeutende Verfahren geworden, die Zahl
p durch durch algebraische Mittel darzustellen,
ohne daß dabei von geometrischen Gebilden überhaupt noch die
Rede wäre. Der antike Mathematiker kennt nur das, was er sieht und
greift. Wo die begrenzte, begrenzende Sichtbarkeit, das Thema seiner Gedankengänge
aufhört, findet seine Wissenschaft ein Ende. Der abendländische
Mathematiker begibt sich, sobald er von antiken Vorurteilen frei sich
selbst gehört, in die gänzlich abstrakte Region einer unendlichen
Zahlenmannigfaltigkeit von n - nicht mehr von 3 - Diemensionen, innerhalb
deren seine sogenannte Geometrie jeder anschaulichen Hilfe entbehren kann
und meistern muß. Greift der antike Mensch zu künstlerischem
Ausdruck seines Formgefühls, so sucht er dem menschlichen Körper
in Tanz und Ringkampf, in Marmor und Bronze diejenige Haltug zu geben,
in der Flächen und Konturen ein Maximum von Maß und Sinn haben.
Der echte Künstler des Abendlandes aber schließt die Augen
und verliert sich in den Bereich einer körperlosen Musik, in dem
Harmonie und Polyphonie zu Bildungen von höchster »Jenseitigkeit«
führen, die weitab von allen Möglichkeiten optischer Bestimmung
liegen. Man denke daran, was ein athenischer Bildhauer und was ein nordischer
Kontrapunktist unter einer Figur versteht, und man hat den Gegensatz beider
Welten, beider Mathematiken unmittelbar vor sich. Die griechischen Mathematiker
gebrauchen sogar das Wort soma für ihre
Körper. Andrerseits verwendet es die Rechtsprache für die Person
im Gegensatz zur Sache (soma kai pragmata:
personae et res). Deshalb sucht die antike, ganze, körperhafte
Zahl unwillkürlich eine Beziehung zur Entstehung des leiblichen Menschen,
des soma. Die Zahl 1 wird noch kaum als wirkliche
Zahl empfunden. Sie ist die arch, der Urstoff
der Zahlenreihe, der Ursprung aller eigentlichen Zahlen und damit aller
Größe, allen Maßes, aller Dinglichkeit,. Ihr Zahlzeichen
war im Kreise der Pythagoräer, gleichwohl zu welcher Zeit, zugleich
das Symbol des Mutterschoßes, des Ursprung allen Lebens. Die 2,
die erste eigentliche Zahl, welche die 1 verdoppelt, erhielt deshalb
eine Beziehung zum männlichen Prinzip, und ihr Zeichen war die Nachbildung
eines Phallus. Die heilige Drei der Pythagoräer endlich bezeichnete
den Akt der Vereinigung von Mann und Weib, die Zeugung - die erotische
Deutung der beiden einzigen der Antike wertvollen Prozesse der
Größenvermehrung, der Größenzeugung, Addition und
Multiplikation, ist leicht verständlich -, und ihr Zeichen war die
Vereinigung der beiden ersten. Von hier aus fällt ein neues Licht
auf den erwähnten Mythos vom Frevel der Aufdeckung des Irrationalen.
Das Irrationale, in unsrer Ausdrucksweise die Verwendung unendlicher Dezimalbrüche,
bedeutet eine Zerstörung der organisch-leiblichen, zeugenden Ordnung,
welche durch die Götter gesetzt war. Es ist kein Zweifel, daß
die pythagoräische Reform der antiken Religion den uralten Demeterkult
wieder zugrunde legte. Demeter ist der Gaia, der mütterlichen Erde
verwandt. Es besteht eine tiefe Beziehung zwischen ihrer Verehrung und
dieser erhabenen Auffassung der Zahlen. So ist die Antike mit innerer
Notwendigkeit allmählich die Kultur des Kleinen geworden.
Die apollinische Seele hatte den Sinn des Gewordnen durch das Prinzip
der übersehbaren Grenze zu bannen gesucht; ihr »tabu«
richtete sich auf die unmittelbare Gegenwart und Nähe des Fremden.
Was weit fort, was nicht sichtbar war, war auch nicht da. Der Grieche
wie der Römer opferte den Göttern der Gegend, in welcher er
sich aufhielt; alle andern entschwanden seinem Gesichtskreis. Wie die
griechische Sprache kein Wort für den Raum besaß - wir
werden die gewaltige Symbolik solcher Sprachphänomene immer wieder
verfolgen -, so fehlt dem Griechen auch unser Landschaftsgefühl,
das Gefühl für Horizonte, Ausblicke, Fernen, WoIken, auch der
Begriff des Vaterlandes, das sich weithin erstreckt und eine große
Nation umfaßt. Heimat ist dem antiken Menschen, was er von
der Burg seiner Vaterstadt aus übersehen kann, nicht mehr. Was jenseits
dieser optischen Grenze eines politischen Atoms lag, war fremd, war sogar
feindlich. Hier schon beginnt die Angst des antiken Daseins, und dies
erklärt die furchtbare Erbitterung, mit der diese winzigen Städte
einander vernichteten. Die Polis ist die kleinste aller denkbaren Staatsformen
und ihre Politik die ausgesprochene Politik der Nähe, sehr im Gegensatz
zu unserer Kabinettsdiplomatie, der Politik des Grenzenlosen. Der antike
Tempel, mit einem Blick zu umfassen, ist der kleinste aller klassischen
Bautypen. Die Geometrie von Archytas bis auf Euklid beschäftigt sich
- wie es die unter ihrem Eindruck stehende Schulgeometrie noch heute tut
- mit kleinen, handlichn Figuren und Körpern, und so blieben ihr
die Schwierigkeiten verborgen, welche bei der Zugrundelegung von Figuren
mit astronomischen Dimensionen auftauchen und die Anwendung der euklidischen
Geometrie nicht mehr überall gestatten. Andernfalls hätte der
feine attische Geist vielleicht schon damals etwas von dem Problem der
nichtchteukidischen Geometrien geahnt, denn die Einwände gegen das
bekannte Parallelenaxiom (daß
durch einen Punkt zu einer Geraden nur eine Parallele möglich sei,
ein Satz, der sich nicht beweisen läßt),
dessen zweifeIhafte und doch nicht zu verbessernde Fassung schon früh
Anstoß erregte, rührten nahe an die entscheidende Entdeckung.
So selbstverständlich dem antiken Sinn die ausschließliche
Betrachtung des Nahen und Kleinen, so selbstverständlich ist dem
unsern die des Unendlichen, die Grenzen des Sehsinnes Überschreitenden.
Alle mathematischen Ansichten, welche das Abendland entdeckte oder entlehnte,
wurden mit Selbstverständlichkeit der Formensprache des Infmitesimalen
unterworfen und das, lange bevor die eigentliche Differentialrechnung
entdeckt worden war. Arabische Algebra, indische Trigononometrie, antike
Mechanik werden ohne weiteres der Analysis einverleibt. Gerade die »evidentesten«
Sätze des elementaren Rechnens - daß etwa 2 x 2 = 4 ist - werden,
aus analytischen Gesichtspunkten betrachtet zu Problemen, deren Lösung
erst durch Ableitungen aus der Mengenlehre und in vielen Einzelheiten
überhaupt noch nicht gelungen ist - was Plato und seiner Zeit sicherlich
als Wahnsinn und Beweis eines völligen Magels an mathematischer Begabung
erschienen wäre. (Ebd., S. 111-114).
Man kann gewissermaßen die Geometrie
algebraisch oder die Algebra geometrisch behandeiln, das heißt,
das Auge ausschalten oder herrschen lassen. Das erste haben wir, das andere
die Griechen getan. Archimedes, der in seiner schönen Berechnung
der Spirale gewisse allgemeine Tatsachen berührt, die auch der Methode
des bestimmten Integrals bei Leibniz zugrunde liegen, ordnet sein bei
oberflächlicher Betrachtung höchst modern wirkendes Verfahren
sofort stereometrischen Prinzipien unter; ein Inder hätte im gleichen
Falle mit mit Selbstverständlichkeit etwa eine trigonometrische Formulierung
gefunden. (Ebd., S. 114).
Aus dem fundamentalen Gegensatz antiker und abendländischer
Zahlen entspringt ein ebenso tiefgehender des Verhältnisses, in dem
die Elemente jeder dieser Zahlenwelten untereinander stehen. Das Verhältnis
von Größen heißt Proportion, das von Beziehungen
ist im Begriff der Funktion enthalten. Beide Worte haben, über
den Bereich der Mathematik hinausgehend, größte Bedeutung für
die Technik der beiden zugehörigen Künste, der Plastik und der
Musik. (Ebd., S. 115).
Jede Proportion setzt die Konstanz, jede Transformation die Variabilität
der Elemente voraus: man vergleiche hier die Kongruenzsätze in der
Fassung Euklids, dessen Beweis tatsächlich auf dem vorliegenden Verhältnis
1 : 1 beruht, mit deren moderner Ableitung mit Hilfe von Winkelfunktionen.
(Ebd., S. 115).
Die Konstruktion - die im
weitesten Sinne alle Methoden der elementaren Arithmetik einschließt
- ist das A und O der antiken Mathematik: die Herstellung einer einzelnen
und sichtbar vorliegenden Figur. Der Zirkel ist der Meißel dieser
zweiten bildenden Kunst. Die Arbeitsweise bei funktionentheoretischen
Untersuchungen, deren Zweck kein Resultat vom Charakter einer Größe,
sondern die Diskussion allgemeiner formaler Möglichkeiten ist, läßt
sich als eine Art Kompositionslehre von naher Verwandtschaft zur musikalischen
bezeichnen. Eine ganze Reihe von Begriffen der Musiktheorie ließe
sich ohne weiteres auf analytische Operationen auch der Physik anwenden
- Tonart, Phrasierung, Chromatik und andere - und es ist die Frage, ob
nicht manche Beziehungen dadurch an Klarheit gewinnen würden.
(Ebd., S. 115-116).
Und so sammelt sich endlich der ganze Gehalt des abendländischen
Zahlendenkens in dem klassischen Grenzproblem der faustischen Mathematik,
das den Schlüssel zu jenem schwer zugänglichen Begriff des Unendlichen
des faustisch Unendlichen bildet, welches von der
Unendlichkeit des arabischen und indischen Weltgefühls weit entfernt
bleibt. Es handelt sich um die Theorie des Grenzwertes, möge
die Zahl im einzelnen als unendliche Reihe, Kurve oder Funktion aufgefaßt
werden. Dieser Grenzwert ist das strengste Gegenteil des antiken, bisher
nicht so genannten, der in dem klassischen Grenzproblem der Quadratur
des Kreises zur Diskussion stand. Bis ins 18. Jahrhundert haben euklidisch-populäre
Vorurteile den Sinn des Differentialprinzips verdunkelt. Man mag den zunächst
naheliegenden Begriff des unendlich Kleinen noch so vorsichtig anwenden,
es haftet ihm ein leichtes Moment antiker Konstanz an, der Anschein
einer Größe, wenn auch Euklid sie als solche nicht erkannt,
anerkannt haben würde. Die Null ist eine Konstante, eine ganze Zahl
im linearen Kontinuum zwischen +1 und -1; es hat Eulers analytischen Untersuchungen
geschadet, daß er wie viele nach ihm die Differentiale
für Nullen hielt. Erst der von Cauchy endgültig aufgeklärte
Begriff des Grenzwertes beseitigt diesen Rest antiken Zahlengefühls
und macht die Infinitesimalrechnung zu einem widerspruchslosen System.
Erst der Schritt von der »unendlich kleinen Größe«
zu dem »unteren Grenzwert jeder möglichen endlichen
Größe« führt zur Konzeption einer veränderlichen
Zahl, die unterhalb jeder von Null verschiedenen endlichen Größe
sich bewegt, selbst also nicht den geringsten Zug einer Größe
mehr trägt. Der Grenzwert in dieser endgültigen Fassung ist
überhaupt nicht mehr das, was angenähert wird. Er stellt
die Annäherung den Prozeß, die Operation selbst
dar. Er ist kein Zustand, sondern ein Verhalten. Hier, im entscheidenden
Problem der abendländischen Mathematik, verrät sich plötzlich,
daß unser Seelentum ein historisch angelegtes ist. (»Funktion,
recht begriffen, ist das Dasein in Tätigkeit gedacht« (Goethe).
Vgl. die Erzeugung des faustischen funktionalen Geldes, Bd. II, S. 1169,
1177.) (Ebd., S. 117-118).
Die Geometrie von der Anschauung, die Algebra vom Begriff der
Größe zu befreien und beide jenseits der elementaren Schranken
von Konstruktion und Rechnung zu dem mächtigen Gebäude der Funktionentheorie
zu vereinigen, das war der große Weg des abendländischen Zahlendenkens.
So wurde die antike, konstante Zahl zur veränderlichen aufgelöst.
Die analytisch gewordene Geometrie löste alle konkreten Formen
auf. Sie ersetzt den mathematischen Körper, an dessen starrem Bilde
geometrische Werte gefunden werden, durch abstrakt-räumliche Beziehungen,
die zuletzt auf Tatsachen der sinnlich-gegenwärtigen Anschauung überhaupt
nicht mehr anwendbar sind. Sie ersetzt zunächst die optischen Gebilde
Euklids durch geometrische Örter in bezug auf ein Koordinatensystem,
dessen Anfangspunkt willkürlich gewählt werden kann, und reduziert
das gegenständliche Dasein des geometrischen Objekts auf die Forderung,
daß während der Operation, die sich nicht mehr auf Messungen,
sondern auf Gleichungen richtet, das gewählte System nicht verändert
werden darf. Alsbald werden aber die Koordinaten nur noch als reine Werte
aufgefaßt, welche die Lage der Punkte als abstrakter Raumelemente
nicht sowohl bestimmen, als repräsentieren und ersetzen. Die Zahl,
die Grenze des Gewordnen, wird nicht mehr durch das Bild einer Figur,
sondern durch das Bild einer Gleichung symbolisch dargestellt. Die »Geometrie«
kehrt ihren Sinn um: das Koordinatensystem als Bild verschwindet, und
der Punkt ist nunmehr eine vollkommen abstrakte Zahlengruppe. Wie die
Architektur der Renaissance durch die Neuerungen Michelangelos und Vignolas
in die des Barock übergeht das ist das genaue Abbild dieser
innern Wandlung der Analysis. An den Palast- und Kirchenfassaden werden
die sinnlich reinen Linien gleichsam unwirklich. An Stelle der klaren
Koordinaten florentinisch-römischer Säulenstellungen und Geschoßgliederungen
tauchen die »infinitesimalen« Elemente geschwungener, flutender
Bauteile, Voluten, Kartuschen auf. Die Konstruktion verschwindet in der
Fülle des Dekorativen mathematisch gesprochen des Funktionalen;
Säulen und Pilaster, in Gruppen und Bündel zusammengefaßt,
durchziehen ohne Ruhepunkte für das Auge die Fronten, sammeln und
zerstreuen sich; die Flächen der Wände, Decken, Geschosse lösen
sich in der Flut von Stukkaturen und Ornamenten auf, verschwinden und
zerfallen unter farbigen Lichtwirkungen. Das Licht aber, das nun über
dieser Formwelt des reifen Barock spielt von Bernini um 1650 an
bis zum Rokoko in Dresden, Wien, Paris , ist ein rein musikalisches
Element geworden. Der Dresdner Zwinger ist eine Sinfonie. Mit der Mathematik
hat sich im 18. Jahrhundert auch die Architektur zu einer Formenwelt von
musikalischem Charakter entwickelt. (Ebd., S. 118-119).
Auf dem Wege dieser Mathematik mußte endlich der Augenblick
eintreten, wo nicht nur die Grenzen künstlicher geometrischer Gebilde,
sondern die Grenzen des Sehsinnes überhaupt seitens der Theorie wie
der Seele selbst in ihrem Drange nach rückhaltlosem Ausdruck ihrer
innern Möglichkeiten als Grenzen, als Hindernis empfunden
wurden, wo also das Ideal transzendenter Ausgedehntheit zu den beschränkten
Möglichkeiten des unmittelbaren Augenscheins in grundsätzlichen
Widerspruch trat. Die antike Seele, welche mit voller Hingabe der platonischen
und stoischen ataraxia das Sinnliche gelten
und walten ließ und ihre großen Symbole, wie es der erotische
Hintersinn der pythagoräischen Zahlen beweist, eher empfing als gab,
konnte auch das körperliche Jetzt und Hier niemals überschreiten
wollen. Hatte sich aber die pythagoräische Zahl im Wesen gegebener
Einzeldinge in der Natur offenbart, so war die Zahl des Descartes
und der Mathematiker nach ihm etwas, das erobert und erzwungen
werden mußte, eine herrische abstrakte Beziehung, unabhängig
von aller sinnlichen Gegebenheit und jederzeit bereit, diese Unabhängigkeit
der Natur gegenüber geltend zu machen. Der Wille zur Macht
um Nietzsches große Formel zu gebrauchen , der von der frühesten
Gotik der Edda, der Kathedralen und Kreuzzüge, ja von den erobernden
Wikingern und Goten an das Verhalten der nordischen Seele ihrer Welt gegenüber
bezeichnet, liegt auch in dieser Energie der abendländischen Zahl
gegenüber der Anschauung. Das ist »Dynamik«. In
der apollinischen Mathematik dient der Geist dem Auge, in der faustischen
überwindet er es. (Ebd., S. 119-120).
Der mathematische, »absolute«, so gänzlich unantike
Raum selbst war von Anfang an, was die Mathematik in ihrer Ehrfurcht vor
hellenischen Traditionen nicht zu bemerken wagte, nicht die unbestimmte
Räumlichkeit der täglichen Eindrücke, der landläufigen
Malerei, der vermeintlich so eindeutigen und gewissen apriorischen Anschauung
Kants, sondern ein reines Abstraktum, ein ideales und unerfüllbares
Postulat einer Seele, der die Sinnlichkeit als Mittel des Ausdruckes immer
weniger genügte und die sich endlich leidenschaftlich von ihr abwandte.
Das innere Auge erwachte. (Ebd., S. 120).
Jetzt erst mußte es tiefen Denkern fühlbar werden,
daß die euklidische Geometrie, die einzige und richtige
für den naiven Blick aller Zeiten, von diesem hohen Standpunkt aus
betrachtet nichts ist als eine Hypothese, deren Alleingültigkeit
gegenüber anderen, auch ganz unanschaulichen Arten von Geometrien,
wie wir seit Gauß bestimmt wissen, sich niemals beweisen läßt.
Der Kernsatz dieser Geometrie, das Parallelenaxiom Euklids, ist eine Behauptung,
die sich durch andere ersetzen läßt, daß es nämlich
durch einen Punkt zu einer Geraden keine, zwei oder viele Parallelen gibt,
Behauptungen, die sämtlich zu vollkommen widerspruchslosen dreidimensionalen
geometrischen Systemen führen, die in der Physik und auch in der
Astronomie angewendet werden können und zuweilen der euklidischen
vorzuziehen sind. (Ebd., S. 120).
Schon die einfache Forderung der Unbegrenztheit des Ausgedehnten
die man seit Riemann und dessen Theorie unbegrenzter, aber infolge
ihrer Krümmung nicht unendlicher Räume eben von der Unendlichkeit
zu scheiden hat widerspricht dem eigentlichen Charakter aller unmittelbaren
Anschauung, welche von dem Vorhandensein von Lichtwiderständen, also
materiellen Grenzen abhängt. Es sind aber abstrakte Prinzipien der
Grenzsetzung denkbar, die in einem ganz neuen Sinne die Möglichkeit
optischer Begrenzung überschreiten. Für den Tieferblickenden
liegt schon in der kartesischen Geometrie die Tendenz, über die drei
Dimensionen des erlebten Raumes als einer für die Symbolik
der Zahlen nicht notwendigen Schranke hinauszugehen. Und wenn auch erst
seit 1800 etwa die Vorstellung mehrdimensionaler Räume
man hätte das Wort besser durch ein neues ersetzt zur erweiterten
Grundlage des analytischen Denkens wurde, so war doch der erste Schritt
dazu in dem Augenblick getan, wo die Potenzen, eigentlicher die Logarithmen,
von ihrer ursprünglichen Beziehung auf sinnlich realisierbare Flächen
und Körper abgelöst und unter Verwendung irrationaler
und komplexer Exponenten als Beziehungswerte von ganz allgemeiner
Art in das Gebiet des Funktionalen eingeführt wurden. Wer hier überhaupt
folgen kann, wird auch begreifen, daß schon mit dem Schritt von
der Vorstellung a3 als einem natürlichen Maximum zu an
die Unbedingtheit eines Raumes von drei Dimensionen aufgehoben ist.
(Ebd., S. 120-121).
Nachdem einmal das Raumelement des Punktes den immerhin noch optischen
Charakter eines Koordinatenschnittes in einem anschaulich vorstellbaren
System verloren hatte und als Gruppe dreier unabhängiger Zahlen definiert
worden war, lag kein inneres Hindernis mehr vor, die Zahl 3 durch die
allgemeine n zu ersetzen. Es tritt eine Umkehrung des Dimensionsbegriffes
ein: es bezeichnen nicht mehr Maßzahlen optische Eigenschaften eines
Punktes hinsichtlich seiner Lage in einem System, sondern Dimensionen
von unbeschränkter Anzahl stellen vollkommen abstrakte Eigenschaften
einer Zahlengruppe dar. Diese Zahlengruppe von n unabhängigen
geordneten Elementen ist das Bild des Punktes; sie heißt
ein Punkt. Eine daraus logisch entwickelte Gleichung heißt Ebene,
ist das Bild einer Ebene. Der Inbegriff aller Punkte von n Dimensionen
heißt ein n-dimensionaler Raum. (Vom
Standpunkt der Mengenlehre aus heißt eine wohlgeordnete Punktmenge,
ohne Rücksicht auf die Dimensionenzahl, ein Körper, eine Menge
von n 1 Dimensionen also im Verhältnis dazu eine Fläche.
Die »Begrenzung« (Wand, Kante) einer Punktmenge stellt eine
Punktmenge von geringerer Mächtigkeit dar.) In diesen transzendenten
Raumwelten, die zu keiner Art von Sinnlichkeit mehr in irgendeinem Verhältnis
stehen, herrschen die von der Analysis aufzufindenden Beziehungen, welche
sich mit den Ergebnissen der experimentellen Physik in ständiger
Übereinstimmung befinden. Diese Räumlichkeit höheren Ranges
ist ein Symbol, das durchaus Eigentum des abendländischen Geistes
bleibt. Nur dieser Geist hat das Gewordene und Ausgedehnte in diese Formen
zu bannen, das Fremde durch diese Art der Aneignung man
erinnere sich des Begriffes »tabu« ()
zu beschwören, zu zwingen, mithin zu »erkennen«
versucht und verstanden. Erst in dieser Sphäre des Zahlendenkens,
die nur einem sehr kleinen Kreis von Menschen noch zugänglich ist,
erhalten selbst Bildungen wie die Systeme der hyperkomplexen Zahlen (etwa
die Quaternionen der Vektorenrechnung) und zunächst ganz unverständliche
Zeichen wie n
den Charakter von etwas Wirklichem. Man hat eben zu begreifen, daß
Wirklichkeit nicht nur sinnliche Wirklichkeit ist, daß vielmehr
das Seelische seine Idee in noch ganz anderen als anschaulichen Bildungen
verwirklichen kann. (Ebd., S. 121-122).
Das Problem der Weltgeschichte (S. 125-209):
I. Physiognomik
und Systematik (S. 125-152) Kopernikanische
Methode [S. 125] Geschichte und Natur [S. 127] Gestalt und
Gesetz [S. 130] Physiognomik und Systematik [S. 135] Kultur
als Organismen [S. 140] Innere Form, Tempo, Dauer [S. 147]
Gleichartiger Bau [S. 149] Gleichzeitigkeit [S. 151]
II. Schicksalsidee
und Kausalitätsprinzip (S. 152-209)
Organische und anorganische Logik [S. 152] Zeit und Schicksal,
Raum und Kausalität [S. 155] Das Zeitproblem [S. 158]
Die Zeit Gegenbegriff zum Raum [S. 165] Die Zeitsymbole (Tragik,
Zeitmessung, Bestattung) [S. 169] Die Sorge (Erotik, Staat, Technik)
[S. 177] Schicksal und Zufall [S. 181] Zufall und Ursache
[S. 185] Zufall und Stil des Daseins [S. 188] Anonyme und
persönliche Epochen [S. 194] Zukunftsrichtung und Bild der
Vergangenheit [S. 199] Gibt es eine Geschichtswissenschaft?
[S. 200] Die neue Fragestellung [S. 207].
Physiognomik und Systematik
Was bisher fehlte, war die Distanz vom Gegenstande. Der
Natur gegenüber war sie längst erreicht. Allerdings war sie
hier auch leichter erreichbar. Der Physiker entwirft das mechanisch-kausale
Bild seiner Welt mit Selbstverständlichkeit so, als ob er selbst
gar nicht da wäre. Aber in der Formenwelt der Geschichte ist dasselbe
möglich. Wir haben das bis jetzt nicht gewußt. Es gehört
zum Stolz moderner Historiker, objektiv zu sein, aber sie verraten damit,
wie wenig sie sich ihrer eigenen Vorurteile bewußt sind. Man darf
deshalb vielleicht sagen, und man wird es später einmal tun, daß
es bis jetzt an einer wirklichen Geschichtsbetrachtung faustischen Stils
überhaupt gefehlt hat, einer solchen nämlich, die Abstand genug
besitzt, um im Gesamtbilde der Weltgeschichte auch die Gegenwart
die es ja nur in bezug auf eine einzige von unzähligen menschlichen
Generationen ist wie etwas unendlich Fernes und Fremdes zu betrachten,
als eine Zeitspanne, die nicht schwerer wiegt als alle andern, ohne den
fälschenden Maßstab irgendwelcher Ideale, ohne Bezug auf sich
selbst, ohne Wunsch, Sorge und persönliche innere Beteiligung, wie
sie das praktische Leben in Anspruch nimmt; einen Abstand also, der es
erlaubt mit Nietzsche zu reden, der bei weitem nicht genug von
ihm besaß die ganze Tatsache Mensch aus ungeheurer Entfernung
zu überschauen; einen Blick über die Kulturen hin, auch über
die eigene, wie über die Gipfelreihe eines Gebirges am Horizont.
(Ebd., S. 125-126).
Hier war noch einmal eine Tat wie die des Kopernikus zu vollbringen,
eine Befreiung vom Augenschein im Namen des unendlichen Raumes, wie sie
der abendländische Geist der Natur gegenüber längst vollzogen
hatte, als er vom ptolemäischen Weltsystem zu dem für ihn heute
allein gültigen überging und damit den zufälligen Standort
des Betrachters auf einem einzelnen Planeten als formbestimmend ausschaltete.
(Ebd., S. 126).
Die Weltgeschichte ist derselben Ablösung von einem zufälligen
Beobachtungsorte der jeweiligen »Neuzeit« fähig
und bedürftig. Uns erscheint das 19. Jahrhundert unendlich viel reicher
und wichtiger als etwa das 19. vor Christus, aber auch der Mond erscheint
uns größer als Jupiter und Saturn. Der Physiker hat sich vom
Vorurteil der relativen Entfernung längst befreit, der Historiker
nicht. Wir erlauben uns, die Kultur der Griechen als Altertum im Verhältnis
zu unserer Neuzeit zu bezeichnen. War sie das auch für die feinen,
auf dem Gipfel ihrer geschichtlichen Entwicklung stehenden Ägypter
am Hofe des großen Thutmosis ein Jahrtausend vor Homer? Für
uns füllen die Ereignisse, die sich 15001800 auf dem Boden
Westeuropas abspielen, das wichtigste Drittel »der« Weltgeschichte.
Für den chinesischen Historiker, der auf 4000 Jahre chinesischer
Geschichte zurückblickt und von ihr aus urteilt, sind sie eine kurze
und wenig bedeutende Episode, nicht entfernt so schwerwiegend wie die
Jahrhunderte der Han-Dynastie (206 v. bis 220 n. Chr.), die in seiner
»Weltgeschichte« Epoche machten. (Ebd., S. 126).
Die Geschichte also vom persönlichen Vorurteil des Betrachters
zu lösen, das sie in unserem Falle wesentlich zur Geschichte eines
Fragments der Vergangenheit mit dem in Westeuropa festgestellten Zufällig-Gegenwärtigen
als Ziel und den augenblicklich gültigen Idealen und Interessen als
Maßstäbe für die Bedeutung des Erreichten und zu Erreichenden
macht das ist die Absicht alles Folgenden (Ebd., S. 126-127).
Natur und Geschichte: So stehen für jeden Menschen
zwei äußerste Möglichkeiten, die ihn umgebende Wirklichkeit
als Weltbild zu ordnen, einander gegenüber. Eine Wirklichkeit ist
Natur, insofern sie alles Werden dem Gewordenen, sie ist Geschichte, insofern
sie alles Gewordne dem Werden einordnet. (Ebd., S. 127).
Eine Wirklichkeit wird in ihrer »erinnerten« Gestalt
erschaut so entsteht die Welt Platons, Rembrandts, Goethes,
Beethovens oder in ihrem gegenwärtig-sinnlichen Bestände
kritisch begriffen dies sind die Welten von Parmenides und
Descartes, Kant und Newton. (Ebd., S. 127).
Erkanntes und Natur sind identisch. Alles Erkannte ist, wie das
Symbol der mathematischen Zahl bewies, gleichbedeutend mit dem mechanisch
Begrenzten, dem ein für allemal Richtigen, dem Gesetzten. Natur ist
der Inbegriff des gesetzlich Notwendigen. Es gibt nur Naturgesetze.
Kein Physiker, der seine Bestimmung begreift, wird über diese Grenzen
hinausgehen wollen. Seine Aufgabe ist es, die Gesamtheit, das wohlgeordnete
System aller Gesetze festzustellen, die im Bilde seiner Natur auffindbar
sind, mehr noch, die das Bild seiner Natur erschöpfend und ohne Rast
darstellen. (Ebd., S. 127).
Andrerseits: Anschauen ich erinnere an das Wort Goethes:
»Das Anschauen ist vom Ansehen sehr zu unterscheiden«
ist derjenige Erlebnisakt, der, indem er sich vollzieht, selbst Geschichte
ist. Erlebtes ist Geschehenes, ist Geschichte. (Ebd., S. 127).
Alles Geschehen ist einmalig und nie sich wiederholend. Es trägt
das Merkmal der Richtung (der »Zeit«), der Nichtumkehrbarkeit.
Das Geschehene, als nunmehr Gewordnes dem Werden, als Erstarrtes dem Lebendigen
entgegengesetzt, gehört unwiderruflich der Vergangenheit an. Das
Gefühl hiervon ist die Weltangst. Alles Erkannte aber ist zeitlos,
weder vergangen noch zukünftig, sondern schlechthin »vorhanden«
und also von dauernder Gültigkeit. Dies gehört zur inneren Beschaffenheit
des Naturgesetzlichen. Das Gesetz, das Gesetzte, ist antihistorisch.
Es schließt den Zufall aus. Naturgesetze sind Formen einer
ausnahmslosen und also anorganischen Notwendigkeit. Es wird klar, weshalb
Mathematik als die Ordnung des Gewordnen durch die Zahl sich immer
auf Gesetze und Kausalität und nur auf sie bezieht.
(Ebd., S. 127-128).
Aber man halte fest: Geschichte wissenschaftlich behandeln
wollen ist im letzten Grunde immer etwas Widerspruchsvolles. Die echte
Wissenschaft reicht so weit, als die Begriffe richtig und falsch Geltung
haben. Das gilt von der Mathematik, das gilt also auch von der historischen
Vorwissenschaft der Sammlung, Ordnung und Sichtung des Stoffes.
Der eigentlich geschichtliche Blick aber, der von hier erst ausgeht,
gehört ins Reich der Bedeutungen, wo nicht richtig und falsch, sondern
flach und tief die maßgebenden Worte sind. Der echte Physiker ist
nicht tief, sondern »scharfsinnig«. Erst wenn er das Gebiet
der Arbeitshypothesen verläßt und an die letzten Dinge streift,
kann er tief sein - dann aber ist er auch schon Metaphysiker geworden.
Natur soll man wissenschaftlich behandeln, über Geschichte soll man
dichten. Der alte Leopold von Ranke soll einmal gesagt haben, daß
der »Quentin Durward« von Scott doch eigentlich die wahre
Geschichtsschreibung darstelle. So ist es auch; ein gutes Geschichtswerk
hat seinen Vorzug darin, daß der Leser sein eigner Walter Scott
zu sein vermag. (Ebd., S. 129).
Es sei noch einmal gesagt: Es gibt keine genaue Grenze zwischen
beiden Arten der Weltfassung. So sehr Werden und Gewordnes Gegensätze
sind, so sicher ist in jeder Art von Verstehen beides vorhanden. Geschichte
erlebt, wer beides als werdend, als sich vollendend anschaut; Natur erkennt,
wer beides als geworden, als vollendet zergliedert. (Ebd., S. 130).
Es liegt eine ursprüngliche Anlage in jedem Menschen, jeder
Kultur, jeder Kulturstufe vor, eine ursprüngliche Neigung und Bestimmung,
eine der beiden Formen als Ideal des Weltverstehens vorzuziehen. Der Mensch
des Abendlandes ist in hohem Grade historisch angelegt, der antike Mensch
war es um so weniger. (Das Antihistorische als Ausdruck
einer entschieden systematischen Veranlagung ist vom Ahistorischen sehr
zu unterscheiden. Der Anfang des 4. Buches der »Welt als Wille und
Vorstellung« (§ 53 )
ist bezeichnend für einen Menschen, der antihistorisch denkt, d.h.
aus theoretischen Gründen das Historische in sich, das vorhanden
ist, unterdrückt und verwirft im Gegensatz zur ahistorischen
hellenischen Natur, die es nicht hat und nicht versteht.)
Wir verfolgen alles Gegebene im Hinblick auf Vergangenheit und Zukunft,
die Antike erkannte nur die punktförmige Gegenwart als seiend an.
Der Rest wurde Mythos. Wir haben in jedem Takte unsrer Musik von Palestrina
bis Wagner auch ein Symbol des Werdens vor uns, die Griechen in
jeder ihrer Statuen ein Bild der reinen Gegenwart. Der Rhythmus eines
Körpers ruht im gleichzeitigen Verhältnis der Teile, der Rhythmus
einer Fuge im zeitlichen Verlauf. (Ebd., S. 130).
Die chronologische Zahl bezeichnet das einmalig Wirkliche, die
mathematische das beständig Mögliche. Die eine umschreibt Gestalten
und arbeitet für das verstehende Auge die Umrisse von Zeitaltern
und Tatsachen heraus; sie dient der Geschichte. Die andere ist selbst
das Gesetz, das sie feststellen soll, das Ende und Ziel der Forschung.
Die chronologische Zahl ist als Mittel einer Vorwissenschaft der eigentlichsten
Wissenschaft entlehnt, der Mathematik. In ihrem Gebrauch wird von dieser
Eigenschaft aber abgesehen. Man fühle sich in den Unterschied der
beiden Symbole hinein: 12 x 8 = 96 und 18. Oktober 1813. Der Zahlengebrauch
unterscheidet sich hier ganz wie der Wortgebrauch in Prosa und Poesie.
(Ebd., S. 131).
Noch etwas andres ist hier zu bemerken. Da ein Werden immer dem
Gewordnen zugrunde liegt und Geschichte eine Ordnung des Weltbildes im
Sinne des Werdens darstellt, so ist Geschichte die ursprüngliche
und Natur im Sinne eines durchgebildeten Weltmechanismus eine späte,
erst dem Menschen reifer Kulturen wirklich vollziehbare Weltform. In der
Tat ist die dunkle, urseelenhafte Umwelt4 der frühesten Menschheit,
wovon heute noch ihre religiösen Gebräuche und Mythen zeugen,
jene durch und durch organische Welt voller Willkür, feindlicher
Dämonen und launischer Mächte, durchaus ein lebendiges, ungreifbares,
rätselhaft wogendes und unberechenbares Ganze. Mag man sie Natur
nennen, so ist sie doch nicht unsre Natur, nicht der starre Reflex eines
wissenden Geistes. (Ebd., S. 131-132).
»Natur« im exakten Sinne ist die seltenere, auf den
Menschen der großen Städte später Kulturen beschränkte,
männliche, vielleicht schon greisenhafte Art, Wirklichkeit zu besitzen,
Geschichte die naive und jugendliche, auch die unbewußtere, die
der ganzen Menschheit eigen ist. So wenigstens steht die zahlenmäßige,
geheimnislose, zerlegte und zerlegbare Natur des Aristoteles und Kant,
der Sophisten und Darwinisten, der modernen Physik und Chemie, jener erlebten,
grenzenlosen, gefühlten Natur Homers und der Edda, des dorischen
und gotischen Menschen gegenüber. Es heißt das Wesen aller
Geschichtsbetrachtung verkennen, wenn man dies übersieht. Sie ist
die eigentlich natürliche, die exakte, mechanisch geordnete Natur
die künstliche Fassung der Seele ihrer Welt gegenüber. Trotzdem
oder gerade deshalb ist dem modernen Menschen die Naturwissenschaft leicht,
die Geschichtsbetrachtung schwer. (Ebd., S. 132).
Die große Aufgabe der Welterkenntnis, wie sie dem Menschen
hoher Kulturen Bedürfnis ist, einer Art Durchdringung seiner Existenz,
die er sich und ihr schuldig zu sein glaubt, mag man ihr Verfahren nun
Wissenschaft oder Philosophie nennen, mag man ihre Verwandtschaft zu künstlerischer
Schöpfung und gläubiger Intuition mit innerster Gewißheit
empfinden oder bestreiten diese Aufgabe ist sicherlich in jedem
Falle die gleiche: Die Formensprache des Weltbildes, das dem Wachsein
des einzelnen vorbestimmt ist, das er, solange er nicht vergleicht,
für »die« Welt halten muß, in ihrer Reinheit
darzustellen. (Ebd., S. 133).
Angesichts des Unterschiedes von Natur und Geschichte muß
diese Aufgabe eine doppelte sein. Beide reden ihre eigene, in jedem Betracht
verschiedene Formensprache; in einem Weltbilde von unentschiedenem Charakter
wie es die alltägliche Regel ist können beide
einander wohl überlagern und verwirren, sich aber niemals zur inneren
Einheit verbinden. (Ebd., S. 133-134).
Richtung und Ausdehnung sind die herrschenden Merkmale, durch
die sich der historische und der naturhafte Welteindruck unterscheiden.
Der Mensch ist gar nicht imstande, beide gleichzeitig gestaltend wirken
zu lassen. Das Wort Ferne hat einen bezeichnenden Doppelsinn. Dort bedeutet
es Zukunft, hier eine räumliche Distanz. (Ebd.,
S. 134).
Alle Arten, die Welt zu begreifen, dürfen letzten Endes als
Morphologie bezeichnet werden. Die Morphologie des Mechanischen und
Ausgedehnten, eine Wissenschaft, die Naturgesetze und Kausalbeziehungen
entdeckt und ordnet, heißt Systematik. Die Morphologie des Organischen,
der Geschichte und des Lebens, alles dessen, was Richtung und Schicksal
in sich trägt, heißt Physiognomik. (Ebd., S. 135).
Jede Mathematik, die als wissenschaftliches
System oder, wie im Fall Ägyptens, in Gestalt einer Architektur die
Idee ihrer, ihrem Wachsein eingeborenen Zahl allen sichtbar zur Erscheinung
bringt, ist das Bekenntnis einer Seele. (Ebd., S. 135).
Alles, was überhaupt geworden
ist, alles, was erscheint, ist Symbol, ist Ausdruck einer Seele.
(Ebd., S. 136).
Und so erhebt sich die Untersuchung zu einer
letzten und höchsten Gewißheit: Alles Vergängliche
ist nur ein Gleichnis ().
(Ebd., S. 137).
Zur Naturerkenntnis kann man erzogen
werden, der Geschichtskenner wird geboren. Er begreift und durchdringt
die Menschen und Tatsachen mit einem Schlage, aus einem Gefühl heraus,
das man nicht lernt, das jeder absichtlichen Einwirkung entzogen ist,
das in seiner höchsten Kraft sich selten genug einstellt. Zerlegen,
definieren, ordnen, nach Ursache und Wirkung abgrenzen kann man, wenn
man will. Das ist eine Arbeit; das andre ist eine Schöpfung. Gestalt
und Gesetz, Gleichnis und Begriff, Symbol und Formel haben ein ganz verschiedenes
Organ. Es ist das Verhältnis von Leben und Tod, von Zeugen
und Zerstören, das in diesem Gegensatz erscheint. Der Verstand, das
System, der Begriff töten, indem sie »erkennen«. Sie
machen das Erkannte zum starren Gegenstand, der sich messen und teilen
läßt. Das Anschauen beseelt. Es verleibt das Einzelne einer
lebendigen, innerlich gefühlten Einheit ein. Dichten und Geschichtsforschung
sind verwandt, Rechnen und Erkennen sind es auch. Aber wie Hebbel
einmal sagt: »Systeme werden nicht erträumt, Kunstwerke nicht
errechnet oder, was dasselbe ist, erdacht«. Der Künstler, der
echte Historiker schaut, wie etwas wird. Er erlebt das Werden in den Zügen
des Betrachteten noch einmal. Der Systematiker, sei er Physiker, Logiker,
Darwinist oder schreibe er pragmatische Geschichte, erfährt, was
geworden ist. Die Seele eines Künstlers ist wie die Seele einer Kultur
etwas, das sich verwirklichen möchte, etwas Vollständiges und
Vollkommenes, in der Sprache einer älteren Philosophie: ein Mikrokosmos.
Der systematische, vom Sinnlichen abgezogene »abstrakte«
Geist ist eine späte, enge und vorübergehende Erscheinung
und gehört zu den reifsten Zuständen einer Kultur. Er ist an
die Städte gebunden, in denen sich ihr Leben mehr und mehr zusammendrängt,
er erscheint und er verschwindet wieder mit ihnen. Antike Wissenschaft
gibt es nur von den Ioniern des 6. Jahrhunderts an bis zur Römerzeit.
Antike Künstler gibt es, solange es eine Antike gibt. Ein Schema
möge wieder zur Verdeutlichung dienen: (Ebd., S. 138).
Versucht man, sich über das Prinzip der Einheit klar zu werden,
aus welcher jede der beiden Welten aufgefaßt wird, so findet man,
daß mathematisch geregelte Erkenntnis, und zwar desto entschiedener,
je reiner sie ist, sich durchaus auf ein beständig Gegenwärtiges
bezieht. Das Bild der Natur, wie es der Physiker betrachtet, ist das augenblicklich
vor seinen Sinnen sich entfaltende. Zu den meist verschwiegenen, aber
um so festeren Voraussetzungen aller Naturforschung gehört die, daß
»die« Natur für jedes Wachsein und zu allen Zeiten dieselbe
sei. Ein Experiment entscheidet für immer. Die Zeit wird nicht verneint,
aber es wird innerhalb dieser Einstellung von ihr abgesehen. Wirkliche
Geschichte aber beruht auf dem ebenso gewissen Gefühl vom Gegenteil.
Geschichte setzt als ihr Organ eine schwer zu beschreibende Art von innerer
Sinnlichkeit voraus, deren Eindrücke in unendlicher Wandlung begriffen
sind, mithin in einem Zeitpunkte gar nicht zusammengefaßt werden
können. (Von der vermeintlichen »Zeit« der Physiker wird
später die Rede sein.) Das Bild der Geschichte sei es die
der Menschheit, der Organismenwelt, der Erde, der Fixsternsysteme
ist ein Gedächtnisbild. Gedächtnis wird hier als ein
höherer Zustand aufgefaßt, der durchaus nicht jedem Wachsein
eigen und manchem nur in geringem Grade verliehen ist, eine ganz bestimmte
Art von Einbildungskraft, die den einzelnen Augenblick sub specie aeternitatis,
in steter Beziehung auf alles Vergangene und Zukünftige durchlebt
werden läßt; es ist die Voraussetzung jeder Art von zurückgewandter
Beschaulichkeit, von Selbsterkenntnis und Selbstbekenntnis. In diesem
Sinne besitzt der antike Mensch kein Gedächtnis, mithin keine Geschichte,
weder in sich noch um sich. Ȇber Geschichte kann niemand urteilen,
als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat« (Goethe). Im antiken
Weltbewußtsein wird alles Vergangene im Augenblicklichen aufgesaugt.
Man vergleiche die äußerst »historischen« Köpfe
der Naumburger Domskulpturen, Dürers, Rembrandts mit denen hellenistischer
Bildnisse, etwa der bekannten Sophoklesstatue. Die einen erzählen
die ganze Geschichte einer Seele, die Züge der andern beschränken
sich streng auf den Ausdruck eines augenblicklichen Seins. Sie schweigen
von allem, was im Lauf eines Lebens zu diesem Sein geführt hat
wenn davon bei einem echt antiken Menschen, der immer fertig, nie ein
Werdender ist, überhaupt die Rede sein kann. (Ebd., S. 138-139).
Und nun ist es möglich, die letzten Elemente der historischen
Formenwelt aufzufinden. Unzählige Gestalten, in endloser Fülle
auftauchend, verschwindend, sich abhebend, wieder verfließend, ein
in tausend Farben und Lichtern blinkendes Gewirr von anscheinend freiester
Zufälligkeit das ist zunächst das Bild der Weltgeschichte,
wie sie als Ganzes vor dem innern Auge sich ausbreitet. Der tiefer ins
Wesenhafte dringende Blick aber sondert aus dieser Willkür reine
Formen ab, die dicht verhüllt und nur widerwillig sich entschleiernd
allem menschlichen Werden zugrunde liegen. (Ebd., S. 139).
Vom Bilde des gesamten Weltwerdens mit seinen mächtig hintereinander
getürmten Horizonten, wie sie das faustische Auge umfaßt (),
dem Werden des Sternenhimmels, der Erdoberfläche, der Lebewesen,
der Menschen, betrachten wie jetzt nur die äußerst kleine morphologische
Einheit der »Weltgeschichte« im gewohnten Sinne, der von dem
späten Goethe wenig geachteten Geschichte des höheren Menschentums,
die gegenwärtig etwa 6000 Jahre umfaßt, ohne auf das tiefe
Problem der inneren Gleichartigkeit all dieser Aspekte einzugehen. Was
dieser flüchtigen Formenwelt Sinn und Gehalt gibt und was bis jetzt
tief verschüttet lag unter der kaum durchdrungenen Masse handgreiflicher
»Daten« und »Tatsachen«, ist das Phänomen
der großen Kulturen. Erst nachdem diese Urformen in ihrer physiognomischen
Bedeutung erschaut, gefühlt, herausgearbeitet worden sind, kann das
Wesen und die innere Form der menschlichen Geschichte gegenüber
dem Wesen der Natur für uns als verstanden gelten.
Erst von diesem Ein- und Ausblicke an darf von einer Philosophie der Geschichte
ernsthaft die Rede sein. Erst dann ist es möglich, jede Tatsache
im historischen Bilde, jeden Gedanken, jede Kunst, jeden Krieg, jede Persönlichkeit,
jede Epoche ihrem symbolischen Gehalte nach zu begreifen und die Geschichte
selbst nicht mehr als bloße Summe von Vergangenem ohne eigentliche
Ordnung und innere Notwendigkeit vor sich zu sehen, sondern als einen
Organismus von strengstem Bau und sinnvollster Gliederung, in dessen Entwicklung
die zufällige Gegenwart des Betrachters keinen Abschnitt bezeichnet
und die Zukunft nicht mehr formlos und unbestimmbar erscheint. (Ebd.,
S. 139-140).
Kulturen sind Organismen. ().
Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie. Die ungeheure Geschichte der
chinesischen oder antiken Kultur ist morphologisch das genaue Seitenstück
zur Kleingeschichte des einzelnen Menschen, eines Tieres, eines Baumes
oder einer Blume. Das ist für den faustischen Blick keine Forderung,
sondern eine Erfahrung. Will man die überall wiederholte innere Form
kennen lernen, so hat die vergleichende Morphologie der Pflanzen und Tiere
längst die Methode dazu vorbereitet. (Es ist
nicht die zerlegende des zoologischen »Pragmatismus« der Darwinisten
mit ihrer Jagd nach Kausalzusammenhängen, sondern die anschauende
und überschauende Goethes.) (Ebd., S. 140).
Im Schicksal der einzelnen, aufeinander folgenden, nebeneinander
aufwachsenden, sich berührenden, überschattenden, erdrückenden
Kulturen erschöpft sich der Gehalt aller Menschengeschichte. Und
läßt man ihre Gestalten, die bis jetzt nur allzu tief unter
der Oberfläche einer trivial fortlaufenden »Geschichte der
Menschheit« verborgen waren, im Geiste vorüberziehen, so muß
es gelingen, die Urgestalt der Kultur, frei von allem Trübenden und
Unbedeutenden aufzufinden, die allen einzelnen Kulturen als Formideal
zugrunde liegt. (Ebd., S. 140-141).
Ich unterscheide die Idee einer
Kultur, den Inbegriff ihrer inneren Möglichkeiten, von ihrer sinnlichen
Erscheinung im Bilde der Geschichte als der vollzogenen Verwirklichung.
Es ist das Verhältnis der Seele zum lebenden Körper, ihrem Ausdruck
inmitten der Lichtwelt unsrer Augen. Die Geschichte einer Kultur ist die
fortschreitende Verwirklichung ihres Möglichen. Die Vollendung ist
gleichbedeutend mit dem Ende. So verhält sich die apollinische Seele,
die einige von uns vielleicht verstehen und miterleben können, zu
ihrer Entfaltung in der Wirklichkeit, zur »Antike«, deren
dem Auge und Verstand zugänglichen Reste der Archäologe, der
Philologe, der Ästhetiker und der Historiker untersuchen. (Ebd.,
S. 141).
Kultur ist das Urphänomen aller vergangenen und künftigen
Weltgeschichte. Die tiefe und wenig gewürdigte Idee Goethes, die
er in seiner »lebendigen Natur« entdeckte und seinen morphologischen
Forschungen stets zugrunde gelegt hat, soll hier in ihrem genauesten Sinne
auf all die vollkommen ausgereiften, in der Blüte erstorbenen, halbentwickelten,
im Keim erstickten Bildungen der menschlichen Geschichte angewendet werden.
Es ist eine Methode des Erfühlens, nicht des Zerlegens. (Ebd.,
S. 141).
»Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das
Erstaunen, und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei
er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren und ein
Weiteres soll er nicht dahinter suchen: hier ist die Grenze.« Ein
Urphänomen ist dasjenige, worin die Idee des Werdens rein vor Augen
liegt. Goethe sah die Idee der Urpflanze in der Gestalt jeder einzelnen,
zufällig entstandenen oder überhaupt möglichen Pflanze
klar vor seinem geistigen Auge. Er ging bei seiner Untersuchung des os
intermaxillare vom Urphänomen des Wirbeltiertypus, auf
anderem Gebiete von der geologischen Schichtung, vom Blatt als der Urform
aller pflanzlichen Organe, von der Metamorphose der Pflanzen als dem Urbild
alles organischen Werdens aus. »Dasselbe Gesetz wird sich auf alles
übrige Lebendige anwenden lassen«, schrieb er aus Neapel an
Herder, als er ihm seine Entdeckung mitteilte. (Ebd., S. 141-142).
Aber eine Geschichtsbetrachtung, die von den Methoden des Darwinismus,
das heißt der systematischen, auf dem Kausalprinzip beruhenden Naturwissenschaft
ganz frei wäre, gibt es überhaupt noch nicht. Von einer strengen
und klaren, ihrer Mittel und Grenzen vollkommen bewußten Physiognomik,
deren Methoden erst noch zu finden wären, ist niemals die Rede gewesen.
Hier liegt die große Aufgabe des 20. Jahrhunderts vor, den inneren
Bau der organischen Einheiten, durch die und an denen sich Weltgeschichte
vollzieht, sorgfältig bloßzulegen, das morphologisch Notwendige
und Wesenhafte vom Zufälligen zu unterscheiden, den Ausdruck der
Begebenheiten zu begreifen und die ihm zugrunde liegende Sprache zu ermitteln.
(Ebd., S. 142).
Eine unübersehbare Masse menschlicher Wesen, ein uferloser
Strom, der aus dunkler Vergangenheit hervortritt, dort, wo unser Zeitgefühl
seine ordnende Wirksamkeit verliert und die ruhelose Phantasie
oder Angst in uns das Bild geologischer Erdperioden hingezaubert
hat, um ein nie zu lösendes Rätsel dahinter zu verbergen; ein
Strom, der sich in eine ebenso dunkle und zeitlose Zukunft verliert: das
ist der Untergrund des faustischen Bildes der Menschengeschichte. Der
einförmige Wellenschlag zahlloser Generationen bewegt die weite Fläche.
Glitzernde Streifen breiten sich aus. Flüchtige Lichter ziehen und
tanzen darüber hin, verwirren und trüben den klaren Spiegel,
verwandeln sich, blitzen auf und verschwinden. Wir haben sie Geschlechter,
Stämme, Völker, Rassen genannt. Sie fassen eine Reihe von Generationen
in einem beschränkten Kreise der historischen Oberfläche zusammen.
Wenn die gestaltende Kraft in ihnen erlischt und diese Kraft ist
eine sehr verschiedene und bestimmt von vornherein eine sehr verschiedene
Dauer und Plastizität dieser Bildungen , erlöschen auch
die physiognomischen, sprachlichen, geistigen Merkmale, und die Erscheinung
löst sich wieder in dem Chaos der Generationen auf. Arier, Mongolen,
Germanen, Kelten, Parther, Franken, Karthager, Berber, Bantu sind Namen
für höchst verschiedenartige Gebilde dieser Ordnung. (Ebd.,
S. 142-143).
Über diese Fläche hin aber ziehen die großen Kulturen
ihre majestätischen Wellenkreise ().
Sie tauchen plötzlich auf, verbreiten sich in prachtvollen Linien,
glätten sich, verschwinden, und der Spiegel der Flut liegt wieder
einsam und schlafend da. (Ebd., S. 143).
Eine Kultur wird in dem Augenblick geboren,
wo eine große Seele aus dem urseelenhaften Zustande ewig-kindlichen
Menschentums erwacht, sich ablöst, eine Gestalt aus dem Gestaltlosen,
ein begrenztes und Vergängliches aus dem Grenzenlosen und Verharrenden.
Sie erblüht auf dem Boden einer genau abgrenzbaren Landschaft, an
die sie pflanzenhaft gebunden bleibt. Eine Kultur stirbt, wenn diese Seele
die volle Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern,
Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht
hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt. Ihr lebendiges
Dasein aber, jene Folge großer Epochen, die in strengem Umriß
die fortschreitende Vollendung bezeichnen, ist ein tiefinnerlicher, leidenschaftlicher
Kampf um die Behauptung der Idee gegen die Mächte des Chaos nach
außen, gegen das Unbewußte nach innen, in das sie sich grollend
zurückgezogen haben. Nicht nur der Künstler kämpft gegen
den Widerstand der Materie und gegen die Vernichtung der Idee in sich.
Jede Kultur steht in einer tiefsymbolischen und beinahe mystischen Beziehung
zum Ausgedehnten, zum Raume, in dem, durch den sie sich verwirklichen
will. Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer
Möglichkeiten vollendet und nach außen hin verwirklicht, so
erstarrt die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, ihr Blut gerinnt, ihre
Kräften brechen - sie wird zur Zivilisation. Das ist es, was
wir bei den Worten Ägyptizismus, Byzantinismus, Mandarinentum fühlen
und verstehen. So kann sie, ein verwitterter Baumriese im Urwald, noch
Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch die morschen Äste emporstrecken.
Wir sehen es an China, an Indien, an der Welt des Islam. So ragte die
antike Zivilisation der Kaiserzeit mit einer scheinbaren Jugendkraft und
Fülle riesenhaft auf und nahm der jungen arabischen Kultur des Ostens
Luft und Licht ().
(Ebd., S. 143-144).
Dies ist der Sinn aller
Untergänge in der Geschichte - der inneren und äußeren
Vollendung, des Fertigseins, das jeder lebendigen Kultur bevorsteht -,
von denen der in seinen Umrissen deutlichste als »Untergang der
Antike« vor uns steht, während wir die frühesten Anzeichen
des eignen, eines nach Verlauf und Dauer jenem völlig gleichartigen
Ereignisses, das den ersten Jahrhunderten des nächsten Jahrtausends
angehört, den »Untergang des Abendlandes«, heute schon
deutlich in und um uns spüren. (Es ist nicht
die Katastrophe ..., ... ein Zufall ohne alle tiefere Notwendigkeit ...,
sondern der innere Abbau, der seit Hadrian und dementsprechend in China
unter der östlichen Han-Dynastie [25-220] einsetzt.)
(Ebd., S. 144).
Jede Kultur durchläuft die Altersstufen
des einzelnen Menschen. Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit
und ihr Greisentum. (Ebd., S. 144).
Zum Habitus einer Gruppe von Organismen gehört aber
auch eine bestimmte Lebensdauer und ein bestimmtes Tempo der Entwicklung.
Diese Begriffe dürfen in einer Strukturlehre der Geschichte nicht fehlen.
Der Takt des antiken Daseins war ein anderer als der des ägyptischen oder
arabischen. Man darf vom Andante des hellenisch-römischen und vom Allegro
con brio des faustischen Geistes reden. Mit dem Begriff der Lebensdauer eines
Menschen, eines Schmetterlings, einer Eiche, eines Grashalms verbindet sich,
ganz unabhängig von allen Zufälligkeiten des Einzelschicksals, ein
bestimmter Wert. Zehn Jahre sind im Leben aller Menschen ein annähernd
gleichbedeutender Abschnitt, und die Metamorphose der Insekten knüpft sich
in einzelnen Fällen an eine im voraus genau bekannte Anzahl von Tagen.
Die Römer verbanden mit ihren Begriffen pueritia, adolescentia, juventus,
virilitas, senectus eine fast mathematisch genaue Vorstellung. Die Biologie
der Zukunft wird ohne Zweifel die vorbestimmte Lebensdauer der Arten
und Gattungen - im Gegensatz zum Darwinismus und mit grundsätzlicher Ausschaltung
kausaler Zweckmäßigkeitsmotive für die Entstehung von Arten
zum Ausgangspunkt einer ganz neuen Problemstellung machen. (Vgl. S. 592).
Die Dauer einer Generation gleichviel von was für Wesen ist
eine Tatsache von beinahe mystischer Bedeutung. Diese Beziehungen besitzen nun
auch, in einer bisher nie geahnten Weise, Geltung für alle hohen Kulturen.
Jede Kultur, jede Frühzeit, jeder Aufstieg und Niedergang, jede ihrer innerlich
notwendigen Stufen und Perioden hat eine bestimmte, immer gleiche, immer mit
dem Nachdruck eines Symbols wiederkehrende Dauer. In diesem Buche muß
darauf verzichtet werden, diese Welt geheimnisvollster Zusammenhänge zu
erschließen, aber die im folgenden immer wieder aufleuchtenden Tatsachen
werden verraten, was alles hier verborgen liegt. Was bedeutet die in allen Kulturen
auffallende 50jährige Periode im Rhythmus des politischen, geistigen, künstlerischen
Werdens? (Ich mache hier nur auf den Abstand der drei
Punischen Kriege und auf die ebenfalls rein rhythmisch zu begreifende Reihe
des spanischen Erbfolgekrieges, der Kriege Friedrichs des Großen, Napoleons,
Bismarcks und des Weltkriegs aufmerksam; vgl. Bd. II, S. 1047 Anm.. Das seelische
Verhältnis zwischen Großvater und Enkel hängt damit zusammen.
Daher stammt die Überzeugung primitiver Völker, daß die Seele
des Großvaters im Enkel zurückkehre, und die verbreitete Sitte, dem
Enkel den Namen des Großvaters zu geben, der mit seiner mystischen Kraft
dessen Seele wieder in die Körperwelt bannt.) Was die 300jährigen
Perioden des Barock, der Ionik, der großen Mathematiken, der attischen
Plastik, der Mosaikmalerei, des Kontrapunkts, der galileischen Mechanik? Was
bedeutet die ideale Lebensdauer von einem Jahrtausend für jede Kultur
im Vergleich zu der des Einzelnen, dessen »Leben 70 Jahre währt«? (Ebd., S. 147-148).
Wie Blätter, Blüten, Zweige, Früchte
in ihrer Gestalt, Tracht und Haltung ein Pflanzendasein zum Ausdruck bringen,
so tun es die religiösen, gelehrten, politischen, wirtschaftlichen
Bildungen im Dasein einer Kultur. (Ebd., S. 148).
In diesem Sinne wiederholt nun auch
mit tiefster Notwendigkeit jedes irgendwie bedeutende Einzeldasein alle
Epochen der Kultur, welcher es angehört. (Ebd., S. 149).
Vgl. daher auch Spenglers Wiederholungen
Als Goethe den Urfaust entwarf, war
er Parzival. Als er den ersten Teil abschloß, war er Hamlet. Erst
mit dem Zweiten Teil wurde er der Weltmann des 19. Jahrhunderts ....
(Ebd., S. 149).
Und Goethes zweiter Faust, Wagners Parsifal
verraten im voraus, welche Gestalt unser Seelentum in den nächsten,
den letzten schöpferischen Jahrhunderten annehmen wird. Erst mit
dem Zweiten Teil wurde er der Weltmann des 19. Jahrhunderts, welcher Byron
verstand. Selbst das Greisentum, jene grillenhaften und unfruchtbaren
Jahrhunderte des spätesten Hellenismus, die »zweite Kindheit«
einer müden, blasierten Intelligenz, ist an mehr als einem großen
Greise der Antike zu studieren. In den Bacchen des Euripides ist viel
vom Lebensgefühl, in Platos Timaios viel von dem religiösen
Synkretismus der Kaiserzeit vorweggenommen. Und Goethes zweiter Faust,
Wagners Parsifal verraten im voraus, welche Gestalt unser Seelentum in
den nächsten, den letzten schöpferischen Jahrhunderten
annehmen wird. (Ebd., S. 149).
Als Homologie der Organe bezeichnet
die Biologie deren morphologische Gleichwertigkeit im Gegensatz
zur Analogie, die sich auf die Gleichwertigkeit der Funktion
bezieht. Goethe hat diesen bedeutenden und in der Folge so fruchtbaren
Begriff konzipiert, dessen Verfolgung ihn zur Entdeckung des os intermaxillare
beim Menschen führte; Owen hat ihm eine streng wissenschaftliche
Fassung gegeben. Ich führe auch diesen Begriff in die historische
Methode ein. (Ebd., S. 149).
Man weiß, daß jedem Teil des menschlichen Kopfskeletts
bei jedem Wirbeltier bis zu den Fischen herab ein anderer genau entspricht,
daß die Brustflossen der Fische und die Füße, Flügel,
Hände der landbewohnenden Wirbeltiere homologe Organe sind, auch
wenn sie den leisesten Anschein von Ähnlichkeiten verloren haben.
(Ebd., S. 149-150).
Homolog sind die Lunge der Landtiere
und die Schwimmblase der Fische, analog - in bezug auf den Gebrauch -
sind Lunge und Kiemen. ().
Hier äußert sich eine vertiefte, durch strengste Schulung des
Blicks erworbene morphologische Begabung, die der heutigen Geschichtsforschung
mit ihren oberflächlichen Vergleichen - zwischen Christus und Buddha,
Archimedes und Galilei, Cäsar und Wallenstein, der deutschen und
der hellenischen Kleinstaaterei - völlig fremd ist. Es wird im Verlauf
dieses Buches immer deutlicher werden, welch ungeheure Perspektiven sich
dem historischen Blick eröffnen, sobald jene strenge Methode auch
innerhalb der Geschichtsbetrachtung verstanden und ausgebildet worden
ist. Homologe Bildungen sind, um hier nur weniges zu nennen, die antike
Plastik und die abendländische Instrumentalmusik, die Pyramiden der
4. Dynastie und die gotischen Dome, der indische Buddhismus und der römische
Stoizismus (Buddhismus und Christentum sind nicht einmal analog),
die Zeit der »kämpfenden Staaten« Chinas, der Hyksos
und der Punischen Kriege, die des Perikles und der Ommaijaden, die Epochen
des Rigveda, Plotins und Dantes. Homolog sind dionysische Strömung
und Renaissance, analog dionysische Strömung und Reformation. Für
uns - das hat Nietzsche richtig gefühlt - »resümiert Wagner
die Modernität« ().
Folglich muß es für die antike Modernität etwas
Entsprechendes geben: es ist die pergamenische Kunst ().
(Die Tafeln am Anfang geben einen vorläufigen Begriff von der Fruchtbarkeit
dieses Aspekts).
(Ebd., S. 150).
Aus der Homologie historischer Erscheinungen folgt sogleich ein
völlig neuer Begriff: Ich nenne »gleichzeitig«
zwei geschichtliche Tatsachen, die, jede in ihrer Kultur, in genau derselben
- relativen - Lage auftreten und also eine genau entsprechende Bedeutung
haben. Es war gezeigt worden, wie die Entwicklung der antiken und der
abendländischen Mathematik in völliger Kongruenz verläuft.
Hier hätten also Pythagoras und Descartes, Archytas und Laplace,
Archimedes und Gauß als gleichzeitig bezeichnet werden dürfen.
Gleichzeitig vollzieht sich die Entstehung der Ionik und des Barock. Polygnot
und Rembrandt, Polyklet und Bach sind Zeitgenossen. Gleichzeitig erscheinen
in allen Kulturen die Reformation, der Puritanismus, vor allem die Wende
zur Zivilisation. In der Antike trägt diese Epoche die Namen Philipps
und Alexanders, im Abendlande tritt das gleichzeitige Ereignis in Gestalt
der Revolution und Napoleons ein. Gleichzeitig werden Alexandria, Bagdad
und Washington erbaut ();
gleichzeitig erscheinen die antike Münze und unsre doppelte Buchführung,
die erste Tyrannis und die Fronde, Augustus und Schi Hoang-ti, Hannibal
und der Weltkrieg. (Ebd., S. 150-151).
Ich hoffe zu beweisen, daß ohne Ausnahme alle großen
Schöpfungen und Formen der Religion, Kunst, Politik, Gesellschaft,
Wirtschaft, Wissenschaft in sämtlichen Kulturen gleichzeitig entstehen,
sich vollenden, erlöschen; daß der inneren Struktur der einen
die aller anderen durchaus entspricht; daß es nicht eine Erscheinung
von tiefer physiognomischer Bedeutung im geschichtlichen Bilde der einen
gibt, deren Gegenstück, und zwar in einer streng bezeichnenden Form
und an ganz bestimmter Stelle nicht in den übrigen aufzufinden wäre.
Allerdings bedarf es, um diese Homologie zweier Tatsachen zu begreifen,
einer ganz andem Vertiefung und Unabhängigkeit vom Augenschein des
Vordergrundes, als sie unter Historikern bisher üblich war, die sich
nie hätten träumen lassen, daß der Protestantismus in
der dionysischen Bewegung sein Gegenbild findet und daß der englische
Puritanismus im Abendlande dem Islam in der arabischen Welt entspricht.
(Ebd., S. 151).
Aus diesem Aspekt ergibt sich eine Möglichkeit, die weit
über den Ehrgeiz aller bisherigen Geschichtsforschung hinausgeht,
welcher sich im wesentlichen darauf beschränkte, Vergangnes, soweit
man es kannte, zu ordnen, und zwar nach einem einreihigen Schema: die
Möglichkeit nämlich, die Gegenwart als Grenze der Untersuchung
zu überschreiten und auch die noch nicht abgelaufenen Zeitalter
abendländischer Geschichte nach innerer Form, Dauer, Tempo, Sinn,
Ergebnis vorauszubestimmen, aber auch längst verschollene und unbekannte
Epochen, ja ganze Kulturen der Vergangenheit an der Hand morphologischer
Zusammenhänge zu rekonstruieren (ein Verfahren nicht unähnlich
dem der Paläontologie, die heute fähig ist, aus einem einzigen
aufgefundenen Schädelfragment weitgehende und sichere Angaben über
das Skelett und die Zugehörigkeit des Stückes zu einer bestimmten
Art zu machen). (Ebd., S. 151-152).
Es ist, den physiognomischen Takt vorausgesetzt, durchaus möglich,
aus zerstreuten Einzelheiten der Ornamentik, Bauweise, Schrift, aus vereinzelten
Daten politischer, wirtschaftlicher, religiöser Natur die organischen
Grundzüge des Geschichtsbildes ganzer Jahrhunderte wiederzufinden,
aus Elementen der künstlerischen Formensprache etwa die gleichzeitige
Staatsform, aus mathematischen Formen den Charakter der entsprechenden
wirtschaftlichen abzulesen, ein echt Goethesches, auf Goethes Idee vom
Urphänomen zurückführendes Verfahren, das in beschränktem
Umfange der vergleichenden Tier- und Pflanzenkunde geläufig ist,
das sich aber in einem nie geahnten Grade auf den gesamten Bereich der
Historie ausdehnen läßt. (Ebd., S. 152).
Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip
Dieser Gedankengang erschließt
endlich den Blick auf einen Gegensatz, der den Schlüssel zu einem
der ältesten und mächtigsten Menschheitsprobleme bildet, das
erst durch ihn zugänglich und - soweit das Wort überhaupt einen
Sinn hat - lösbar erscheint: den Gegensatz von Schicksalsidee und
Kausalitätsprinzip, der wohl niemals bisher als solcher, in seiner
tiefen, weltgestaltenden Notwendigkeit erkannt worden ist. Wer
überhaupt versteht, inwiefern man die Seele als Idee eines Daseins
bezeichnen kann, der wird auch ahnen, wie nahe verwandt ihr die Gewißheit
eines Schicksals ist und inwiefern das Leben selbst, das ich die Gestalt
nannte, in welcher die Verwirklichung des Möglichen sich vollzieht
(),
als gerichtet, als unwiderruflich in jedem Zuge, als schicksalhaft
hingenommen werden muß - dumpf und ängstigend vom Urmenschen,
klar und in der Fassung einer Weltanschauung, die allerdings nur durch
die Mittel der Religion und Kunst, nicht durch Begriffe und Beweise mitgeteilt
werden kann, vom Menschen hoher Kulturen. Jede höhere Sprache besitzt
eine Anzahl Worte, die wie von einem tiefen Geheimnis umgeben sind: Geschick,
Verhängnis, Zufall, Fügung, Bestimmung. (Vgl.
auch z.B. den Gegensatz von Schicksal und Zufall).
Keine Hypothese, keine Wissenschaft kann je an das rühren, was man
fühlt, wenn man sich in den Sinn und Klang dieser Worte versenkt.
Es sind Symbole, nicht Begriffe. Hier ist der Schwerpunkt des Weltbildes,
das ich die Welt als Geschichte im Unterschiede von der Welt als Natur
genannt habe. Die Schicksalsidee verlangt Lebenserfahrung, nicht wissenschaftliche
Erfahrung, die Kraft des Schauens, nicht Berechnung, Tiefe, nicht Geist.
Es gibt eine organische Logik, eine instinkthafte, traumsichere
Logik allen Daseins im Gegensatz zu einer Logik des Anorganischen,
des Verstehens, des Verstandenen. Es gibt eine Logik der Richtung gegenüber
einer Logik des Ausgedehnten. Kein Systematiker, kein Aristoteles, kein
Kant hat mit ihr etwas anzufangen gewußt. Sie verstehen von Urteil,
Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Erinnerung zu reden, aber sie schweigen von
dem, was in den Worten Hoffnung, Glück, Verzweiflung, Reue, Ergebenheit,
Trotz liegt. Wer hier, im Lebendigen, Gründe und
Folgen sucht und wer da glaubt, daß eine tiefinnere Gewißheit
über den Sinn des Lebens ()
gleichbedeutend mit Fatalismus und Prädestination sei, der weiß
gar nicht, wovon die Rede ist, der hat schon das Erlebnis mit dem Erkannten
und Erkennbaren verwechselt. Kausalität ist das Verstandesmäßige,
Gesetzhafte, Aussprechbare, das Merkmal unsres gesamten verstehenden Wachseins.
Schicksal ist das Wort für eine nicht zu beschreibende innere Gewißheit.
Man macht das Wesen des Kausalen deutlich durch ein physikalisches oder
erkenntniskritisches System, durch Zahlen, durch begriffliche Zergliederung.
Man teilt die Idee des Schicksals nur als Künstler mit, durch ein
Bildnis, durch eine Tragödie, durch Musik. Das eine erfordert eine
Unterscheidung, also Zerstörung, das andre ist durch und durch
Schöpfung. Darin liegt die Beziehung des Schicksals zum Leben,
der Kausalität zum Tode. In der Schicksalsidee offenbart sich die
Weltsehnsucht einer Seele, ihr Wunsch nach dem Licht, dem Aufstieg, nach
Vollendung und Verwirklichung ihrer Bestimmung. Sie ist keinem Menschen
ganz fremd, und erst der späte, wurzellose Mensch der großen
Städte mit seinem Tatsachensinn und der Macht seines mechanisierenden
Denkens über das ursprüngliche Schauen verliert sie aus den
Augen, bis sie in einer tiefen Stunde mit furchtbarer, alle Kausalität
der Weltoberfläche zermalmender Deutlichkeit vor ihm steht. Denn
die Welt als System kausaler Zusammenhänge ist spät, selten
und nur dem energischen Intellekt hoher Kulturen ein sichrer, gewissermaßen
künstlicher Besitz. Kausalität deckt sich mit dem Begriff des
Gesetzes. Es gibt nur Kausalität. Aber wie im Kausalen nach
Kants Feststellung eine Notwendigkeit des denkenden Wachseins liegt,
die Grundform seiner Beziehung zur Welt der Dinge, so bezeichnen
die Worte Schicksal, Fügung, Bestimmung eine unentrinnbare Notwendigkeit
des Lebens. Wirkliche Geschichte ist schicksalsschwer,
aber frei von Gesetzen. (Ebd., S. 152-154).
Schicksal und Kausalität
verhalten sich wie Zeit und Raum. ().
In beiden möglichen Weltbildungen, in Geschichte und Natur, der Physiognomie
alles Werdens und dem System alles Gewordnen, herrschen also
Schicksal oder Kausalität. Zwischen ihnen besteht der Unterschied
eines Lebensgefühls und einer Erkenntnisweise. Jedes von ihnen ist
der Ausgangspunkt einer vollkommenen und in sich geschlossenen,
nur nicht der einzigen Welt. Aber das Werden liegt dem Gewordenen,
das innere und gewisse Fühlen eines Schicksals mithin dem
Erkennen von Ursache und Wirkung zugrunde. Kausalität ist
- wenn man sich so ausdrücken darf - gewordenens, entorganisiertes,
in Formen des Verstandes erstarrtes Schicksal. Das Schicksal selbst ...
steht jenseits und außerhalb aller begriffenen Natur. .... Wir erfahren
hier wieder, in welchem Sinne Werden und Gewordnes, Richtung und Ausdehnung
einander erschließen und unterordnen, je nachdem wir geschichtlich
oder naturhaft »im Bilde sind«. Ist »Geschichte«
diejenige Art der Weltfassung, in welcher alles Gewordne dem Werden eingefügt
wird, so müßte das auch mit den Eregebnissen der Naturforschung
der Fall sein. Und in der Tat, für den Blick des Historikers gibt
es nur eine Geschichte der Physik. .... Ist »Natur«
die Fassung, welche verstandesmäßig das Werden dem Gewordenen
einverleiben möchte, die lebendige Richtung also der starren Ausdehnung,
so darf die Geschichte bestenfalls in einem Kapitel der Erkenntnistheorie
erscheinen ... Aber Kausalität hat mit Zeit gar nichts zu tun.
Das wirkt heute als Paradoxon ohnegleichen, vor einer Welt von Kantianern,
die gar nicht wissen, wie sehr sie es sind. Indessen läßt sich
in jeder Formel der abendländischen Physik das Wie dem Wesen nach
von dem Wann und Wielange unterscheiden. Der kausale Zusammenhang beschränkt
sich, sobald man in die Tiefe dringt, streng darauf, daß
etwas geschieht, nicht wann es geschieht. Die »Wirkung«
muß mit der »Ursache« notwendig gesetzt sein.
(Ebd., S. 155-156).
Erst aus dem Urgefühl der Sehnsucht
und dessen Verdeutlichung in der Schicksalsidee wird nunmehr das Zeitproblem
zugänglich, dessen Gehalt, soweit er das Thema des Buches berührt,
kurz umschrieben werden soll. Mit dem Worte Zeit wird immer etwas
höchst Persönliches angerufen, das, was anfangs als das Eigne
bezeichnet worden war, insofern es mit innerer Gewißheit als Gegensatz
zu etwas Fremdem empfunden wird, das in, mit und unter den Eindrücken
des Sinnenlebens auf das Einzelwesen eindringt. Das Eigne, das Schicksal,
die Zeit sind Wechselworte. (Ebd., S. 158)
Das Problem der Zeit ist wie das des Schicksals von allen auf
die Systematik des Gewordenen eingeschränkten Denkern mit vollkommenem
Unverständnis behandelt worden. In Kants berühmter Theorie ist
von dem Merkmal des Gerichtetseins mit keinem Wort die Rede. Man hat Äußerungen
darüber nicht einmal vermißt. Aber was ist das - Zeit als Strecke,
Zeit ohne Richtung? Alles Lebendige besitzt - hier kann man sich nur wiederholen
- »Leben«, Richtung, Triebe, Wollen, eine mit Sehnsucht
aufs tiefste verwandte Bewegtheit, die mit der »Bewegung«
des Physikers nicht das geringste zu tun hat. Das Lebendige ist unteilbar
und nicht umkehrbar, einmalig, nie zu wiederholen und in seinem Verlaufe
mechanisch völlig unbestimmbar: das alles gehört zur Wesenheit
des Schicksals. Und »Zeit« das, was man beim Klang
des Wortes wirklich fühlt, was Musik besser verdeutlichen
kann als Worte, Poesie besser als Prosa hat im Unterschied vom
toten Räume diesen organischen Wesenszug. Damit aber verschwindet
die von Kant und allen andern geglaubte Möglichkeit, die Zeit neben
dem Raum einer gleichartigen erkenntniskritischen Erwägung unterwerfen
zu können. Raum ist ein Begriff. Zeit ist ein Wort, um etwas
Unbegreifliches anzudeuten, ein Klangsymbol, das man völlig mißversteht,
wenn man es ebenfalls als Begriff wissenschaftlich zu behandeln sucht.
Selbst das Wort Richtung, das sich nicht ersetzen läßt, ist
geeignet, durch seinen optischen Gehalt irrezuführen. Der Vektorbegriff
der Physik ist ein Beweis dafür. (Ebd., S. 158-159).
Dem Urmenschen kann das Wort »Zeit« nichts bedeuten.
Er lebt, ohne es durch den Gegensatz zu etwas anderem nötig zu haben.
Er hat Zeit, aber er weiß nichts von ihr. Wir alle werden
uns, indem wir wach sind, nur des Raumes, nicht der Zeit bewußt.
Er »ist«, nämlich in und mit unsrer Sinnenwelt, und zwar
als ein Sichausdehnen, solange wir träumerisch, triebhaft, schauend,
»weise« vor uns hin leben, als Raum im strengen Sinne in den
Augenblicken gespannter Aufmerksamkeit. »Die Zeit« dagegen
ist eine Entdeckung, die wir erst denkend machen; wir erzeugen sie als
Vorstellung oder Begriff, und noch viel später ahnen wir, daß
wir selbst, insofern wir leben, die Zeit sind. (Auch
das Sinnenleben und Geistesleben ist Zeit; erst das Sinnen- und Geisteserlebnis,
die Welt, ist raumhafter Natur. [Über die größere Nähe
des Weiblichen zur Zeit vgl. Bd. II, S. 961 ff.].) Erst das Weltverstehen
hoher Kulturen entwirft unter dem mechanisierenden Eindruck unter »Natur«,
aus dem Bewußtsein eines streng geordneten Räumlichen, Meßbaren,
Begriff das raumhafte Bild, das Phantom einer Zeit, das seinem
Bedürfnis, alles zu begreifen, zu messen, kausal zu orden, genügen
soll. Und dieser Trieb, der in jeder Kultur sehr früh erscheint,
schafft jenseits des echten Lebensgefühls das, was alle Kultursprachen
Zeit nennen und was dem städtischen Geiste zu einer völlig anorganischen,
ebenso irreführenden als geläufigen Größe geworden
ist. Mit dem Bilde der Zeit wurde das Wirkliche zum Vergänglichen.
Die deutsche Sprache besitzt - wie viele andre - in dem Wort Zeitraum
ein Zeichen dafür, daß wir Richtung nur als Ausdehnung uns
vorstellen können. (Ebd., S. 159-160).
Der Mensch vernichtet in einem sehr tiefen Sinne, indem er zeugt:
durch leibliche Zeugung in der sinnlichen, durch »Erkennen«
in der geistigen Welt. Noch bei Luther hat Erkennen den Nebensinn von
Zeugung. Mit dem Wissen um das Leben, das den Tieren fremd blieb, ist
das Wissen um den Tod zu jener Macht aufgewachsen, die das gesamte
menschliche Wachsein beherrscht. Mit dem Bilde der Zeit wurde das
Wirkliche zum Vergänglichen. (Vgl. S. 574 f.).
(Ebd., S. 160).
Die Schöpfung des bloßen Namens Zeit war eine
Erlösung ohnegleichen. Etwas beim Namen nennen, heißt Macht
darüber gewinnen: dies ist ein wesentlicher Teil urmenschlicher Zauberkünste.
Man bezwingt die bösen Mächte durch Nennung ihres Namens. Man
schwächt oder tötet seinen Feind, indem man mit dessen Namen
gewisse magische Prozeduren vornimmt. (Ebd., S. 161).
Alles was »wissenschaftlich«
über die Zeit gesagt worden ist, ... was nämlich die Zeit »ist«,
betrifft niemals das Geheimnis selbst, sondern lediglich ein räumlich
gestaltetes, selbstvertretendes Phantom, in dem die Lebendigkeit
der Richtung, ihr Schicksalszug, durch das wenn auch noch so verinerlichte
Bild einer Strecke ersetzt worden ist, ein mechanisches, meßbares,
teilbares und umkehrbares Abbild des in der Tat nicht Abzubildenden; eine
Zeit, welche mathematisch in Ausdrücke wie
gebracht werden kann, die die Annahme einer Zeit von der Größe
Null oder negative Zeiten wenigstens nicht ausschließen. Ohne Zweifel
kommt hier der Bereich des Lebens, des Schicksals, der lebendigen, historischen
Zeit gar nicht in Frage. Die Relativitätstheorie, eine Arbeitshypothese,
welche im Begriff steht, die Mechanik Newtons - im Grunde bedeutet das:
seine Fassung des Bewegungsproblems - zu stürzen, läßt
Fälle zu, in welchen die Bezeichnungen »früher«
oder »später« sich umkehren; die mathematische Begründung
dieser Theorie durch Minkowski wendet imaginäre Zeiteinheiten
zu Meßzwecken an. (Ebd., S. 161-162).
Wenn Philosophen der abendländischen Gegenwart sie
tun es alle sich der Wendung bedienen, daß die Dinge »in
der Zeit« wie im Räume sind und nichts »außerhalb«
ihrer »gedacht« werden[162] könne, so setzen sie lediglich
eine zweite Art von Räumlichkeiten neben die gewöhnliche. Das
ist, als wollte man Hoffnung und Elektrizität die beiden Kräfte
des Weltalls nenne (Ebd., S. 162-163).
Die Zeit ist ein Gegenbegriff
zum Raume, so wie erst im Gegensatz zum Denken nicht die Tatsache,
aber der Begriff des Lebens, und erst im Gegensatz zum Tode nicht die
Tatsache, aber der Begriff des Entstehens, der Zeugung entstanden ist.
(Vgl. S. 568, 574.) Das liegt tief im Wesen allen Wachseins begründet.
So wie jeder Sinneseindruck erst bemerkt wird, wenn er sich von einem
andern abhebt, so ist jede Art von Verstehen als eigentlich kritische
Tätigkeit (vgl. S. 570 f.) nur dadurch möglich, daß
ein neuer Begriff sich als Gegenpol eines vorhandenen bildet oder ein
Begriffspaar von innerem Gegensatz gewissermaßen durch Auseinandertreten
erst Wirklichkeit erhält. Es ist zweifellos und schon längst
vermutet worden, daß alle Urworte, mögen sie Dinge oder Eigenschaften
bezeichnen, paarweise entstanden sind. Aber ebenso empfängt später
und heute noch jedes neue Wort seinen Gehalt als Widerschein eines andern.
Das sprachgeleitete Verstehen, unfähig, die innere Gewißheit
des Schicksals seiner Formenwelt einzugliedern, hat vom Räume aus
»die Zeit« als dessen Gegenüber geschaffen. Andernfalls
würden wir weder das Wort noch dessen Inhalt besitzen. Und diese
Bildungsweise geht so weit, daß aus dem antiken Stil der Ausdehnung
ein spezifisch antiker Zeitbegriff entsprang, der sich vom indischen,
chinesischen, abendländischen genau so unterscheidet, wie es mit
dem Räume der Fall ist. (Ebd., S. 165-166).
Die Frage nach dem Geltungsbereich kausaler Zusammenhänge
innerhalb eines Naturbildes oder, was nunmehr dasselbe ist, nach den Schicksalen
dieses Naturbildes, wird aber noch viel schwieriger, wenn wir zu der Einsicht
gelangen, daß es für den ursprünglichen Menschen und das
Kind eine vollkommen kausal geordnete Umwelt noch gar nicht gibt, und
daß wir, späte Menschen, deren Denken doch unter dem Druck
eines übermächtigen, an der Sprache geschärften Denkens
steht, selbst in den Augenblicken gespanntester Aufmerksamkeit
den einzigen, in welchen wir wirklich streng physikalisch »im Bilde«
sind bestenfalls behaupten können, daß diese
kausale Ordnung auch abgesehen von diesen Augenblicken in der uns umgebenden
Wirklichkeit enthalten sei. Wir nehmen wachend dieses Wirkliche, »der
Gottheit lebendiges Kleid«, physiognomisch hin, unwillkürlich
und auf Grund einer tiefen, in die Quellen des Lebens hinabreichenden
Erfahrung. Die systematischen Züge sind Ausdruck eines aus
dem gegenwärtigen Empfinden abgehobenen Verstehens, und mit
ihnen unterwerfen wir das Vorstellungsbild aller fernen Zeiten und Menschen
dem Augenblicksbilde der durch uns selbst geordneten Natur. Die Art dieser
Ordnung aber, die eine Geschichte hat, in die wir nicht im geringsten
eingreifen können, ist nicht die Wirkung einer Ursache, sondern ein
Schicksal. (Ebd., S. 166).
Die Zeit ist das Tragische, und
dem gefühlten Sinne der Zeit nach unterscheiden sich die einzelnen
Kulturen. Deshalb hat sich eine Tragödie großen Stils nur in
den beiden entwickelt, welche die Zeit am leidenschaftlichsten bejahten
oder verneinten. Wir haben eine antike Tragödie des Augenblicks
und eine abendländische der Entwicklung ganzer Lebensläufe
vor uns. So empfand eine ahistorische und eine extrem historische Seele
sich selbst. Unsere Tragik entstand aus dem Gefühl einer unerbitterlichen
Logik des Werdens. Der Grieche fühlte das Alogische, das blinde
Ungefähr des Moments. (Ebd., S. 170).
Als eines dieser kaum je begriffenen Zeichen war schon die Uhr
genannt worden (),
eine Schöpfung hochentwickelter Kulturen, die immer geheimnisvoller
wird, je mehr man darüber nachdenkt. Die antike Menschheit verstand
sie zu entbehren nicht ohne Absichtlichkeit; sie hat weit über
Augustus hinaus die Tageszeit nach der Schattenlänge des eignen Körpers
abgeschätzt (vgl. Hermann A. Diels, Antike
Technik, 1920, S. 159), obwohl Sonnen- und Wasseruhren in den
beiden älteren Welten der ägyptischen und babylonischen Seele
im Zusammenhang mit einer strengen Zeitrechnung und mit einem tiefen Blick
auf Vergangenheit und Zukunft ständig in Gebrauch waren. (Gelehrte
Kreise in Attika und Ionien haben etwa seit 400 kunstlose Sonnenuhren
konstruiert; seit Plato kommt daneben eine noch primitivere Klepsydra
in Aufnahme, aber beide Formen in Nachahmung weit überlegener Muster
des alten Ostens und ohne das antike Lebensgefühl irgendwie zu berühren;
vgl. Hermann A. Diels, S. 160 ff.) Aber das antike Dasein, euklidisch,
beziehungslos, punktförmig, war im gegenwärtigen Moment völlig
beschlossen. Nichts sollte an Vergangenes und Künftiges mahnen. Die
Archäologie fehlt der echten Antike ebenso wie deren seelische
Umkehrung, die Astrologie. (Ebd., S. 172-174).
Die Archäologie fehlt der echten Antike ebenso wie
deren seelische Umkehrung, die Astrologie. (Ebd.,
S. 173).
Die antiken Orakel und Sibyllen wollen ebensowenig wie die etruskisch-römischen
Haruspices und Auguren die ferne Zukunft erkunden, sondern für den
einzelnen, unmittelbar bevorstehenden Fall eine Weisung geben.
Und ebensowenig gab es eine in das Alltagsbewußtsein gedrungene
Zeitrechnung, denn die Olympiadenrechnung war lediglich ein literarischer
Notbehelf. Es kommt nicht darauf an, ob ein Kalender gut oder schlecht
ist, sondern für wen er im Gebrauch ist, ob das Leben der Nation
danach läuft. In antiken Städten erinnert nichts an die Dauer,
an die Vorzeit, an das Bevorstehende, keine pietätvoll gepflegte
Ruine, kein für noch ungeborne Geschlechter vorgedachtes Werk, kein
trotz technischer Schwierigkeiten mit Bedeutung gewähltes Material.
Der dorische Grieche hat die mykenische Steintechnik unbeachtet gelassen
und baute wieder in Holz und Lehm, trotz des mykenischen und ägyptischen
Vorbildes und trotz des Reichtums seiner Landschaft an den besten Gesteinen.
Der dorische Stil ist ein Holzstil. Noch zur Zeit des Pausanias sah man
am Heraion in Olympia die letzte nicht ausgewechselte Holzsäule.
In einer antiken Seele ist das eigentliche Organ für
Geschichte, das Gedächtnis in dem hier stets vorausgesetzten
Sinne, welches das Bild der persönlichen und dahinter das der nationalen
und weltgeschichtlichen Vergangenheit ()
und den Gang des eignen und nicht nur eignen Innenlebens immer
gegenwärtig erhält, nicht vorhanden. Es gibt keine »Zeit«.
Für den Geschichtsbetrachter erhebt sich gleich hinter der eignen
Gegenwart ein zeitlich und also innergeschichtlich nicht mehr geordneter
Hintergrund, dem für Thukydides schon die Perserkriege, für
Tacitus schon die gracchischen Unruhen angehören (vgl. S. 12 ff.
[]),
und dasselbe gilt von den großen Geschlechtern Roms, deren Tradition
nichts als ein Roman war man denke an den Cäsarmörder
Brutus und dessen festen Glauben an seinen berühmten Ahnherrn. Daß
Cäsar den Kalender reformierte, darf man beinahe als einen Akt der
Emanzipation vom antiken Lebensgefühl bezeichnen: aber Cäsar
dachte auch an den Verzicht auf Rom und an die Verwandlung des Stadtstaates
in ein dynastisches, also dem Symbol der Dauer unterstelltes Reich mit
dem Schwerpunkt in Alexandria, von wo sein Kalender stammt. Seine Ermordung
wirkt wie eine letzte Auflehnung eben dieses, in der Polis, der Urbs
Roma verkörperten, der Dauer feindlichen Lebensgefühls.
(Ebd., S. 172-174).
Man erlebte selbst damals noch jede Stunde, jeden Tag für
sich. Das gilt vom einzelnen Hellenen und Römer, von der Stadt, der
Nation, der ganzen Kultur. Die von Kraft und Blut strömenden Prachtaufzüge,
Palastorgien und Zirkuskämpfe unter Nero und Caligula, die Tacitus,
ein echter Römer, allein beschreibt, während er für das
leise Vorwärtsschreiten im Leben der weiten Landschaft der Provinzen
kein Auge und keine Worte hat, sind der letzte prachtvolle Ausdruck dieses
euklidischen, den Leib, die Gegenwart vergötternden Weltgefühls.
Die Inder, deren Nirwana auch durch den Mangel an irgendwelcher Zeitrechnung
ausgedrückt ist, besaßen ebenfalls keine Uhren und also keine
Geschichte, keine Lebenserinnerungen, keine Sorge. Was wir, eminent historisch
angelegte Menschen, indische Geschichte nennen, ist ohne das geringste
Bewußtsein seiner selbst verwirklicht worden. Das Jahrtausend der
indischen Kultur von den Veden bis auf den Buddha herab wirkt auf uns
wie die Regungen eines Schlafenden. Hier war das Leben wirklich ein Traum.
Nichts steht diesem Indertum ferner als das Jahrtausend der abendländischen
Kultur. Niemals, selbst im »gleichzeitigen« China der Dschouzeit
nicht mit seinem hochentwickelten Sinn für Zeitalter und Epochen
(vgl. S. 1041 f., 1081 f. []),
war man wacher, bewußter; niemals ist die Zeit tiefer gefühlt
und mit dem vollen Bewußtsein ihrer Richtung und schicksalsschweren
Bewegtheit erlebt worden. (Ebd., S. 174).
Die Geschichte Westeuropas ist gewolltes, die indische ist
widerfahrenes Schicksal. Im antiken Dasein spielen Jahre keine Rolle,
im indischen kaum Jahrzehnte; für uns ist die Stunde, die Minute,
zuletzt die Sekunde von Bedeutung. Von der tragischen Spannung historischer
Krisen, wo der Augenblick schon erdrückend wirkt wie in den Augusttagen
1914, hätte weder ein Grieche noch ein Inder eine Vorstellung haben
können. Aber solche Krisen können tiefe Menschen des Abendlandes
auch in sich erleben, der echte Hellene nie. Über unsrer Landschaft
hallen Tag und Nacht von Tausenden von Türmen die Glockenschläge,
die ständig Zukunft an Vergangnes knüpfen und den flüchtigen
Moment der »antiken Gegenwart« in einer ungeheuren Beziehung
auflösen. Die Epoche, welche die Geburt dieser Kultur bezeichnet,
die Zeit der Sachsenkaiser, sah auch schon die Erfindung der Räderuhren.
(Darf die Vermutung gewagt werden, daß »gleichzeitig«,
also an der Schwelle des 3. vorchristlichen Jahrtausends, die babylonischen
Sonnen- und die ägyptischen Wasseruhren entstanden sind? Die Geschichte
der Uhren ist von der des Kalenders innerlich nicht zu trennen, und deshalb
muß auch für die chinesische und mexikanische Kultur mit ihrem
tiefen Sinn für Geschichte die sehr frühe Erfindung und Einbürgerung
zeitmessender Verfahren angenommen werden.) Ohne peinlichste Zeitmessung
eine Chronologie des Geschehenden, die durchaus unserm ungeheuren
Bedürfnis nach Archäologie, das heißt Erhaltung, Ausgrabung,
Sammlung alles Geschehenen entspricht ist der abendländische
Mensch nicht denkbar. Die Barockzeit steigerte das gotische Symbol der
Turmuhr noch weiter zu dem grotesken der Taschenuhr, die den einzelnen
ständig begleitet. (Man muß sich in die
Gefühle eines Griechen versetzen, der diese Sitte plötzlich
kennenlernt.) (Ebd., S. 174-175).
Es ist das Urgefühl der Sorge,
das die Physiognomie der abendländischen wie der ägyptischen
und chinesischen Geschichte beherrscht und auch noch die Symbolik des
Erotischen gestaltet, in dem sich das Dahinströmen nie endenden Lebens
im Bilde der Geschlechterfolgen von Einzelwesen darstellt. Das punktförmige
euklidische Dasein der Antike empfand auch da nur das Jetzt und Hier der
entscheidenden Akte, Zeugung und Geburt. Es stellte deshalb in den Mittelpunkt
der demetrischen Kulte die Wehen des gebärenden Weibes, in die antike
Welt überhaupt das dionysische Symbol des Phallus, das Zeichen
einer durchaus dem Augenblick geweihten und Vergangenheit wie Zukunft
in ihm vergessenden Geschlechtlichkeit. Wiederum entspricht ihm in der
indischen Welt das Zeichen des Lingam und der Kultkreis um die Göttin
Parwati. Der Mensch fühlt sich hier wie dort als Natur, als Pflanze,
dem Sinn des Werdens willenlos und sorglos hingegeben. Der häusliche
Kult des Römers galt dem genius, d.h. der Zeugungskraft des
Familienhauptes. Dem hat die tiefe und nachdenkliche Sorge der abendländischen
Seele das Zeichen der Mutterliebe entgegengestellt, das im antiken Mythos
kaum am Horizont erscheint, etwa in der Klage der Persephone oder dem
schon hellenistischen Sitzbild der Demeter von Knidos. Die Mutter, welche
das Kind die Zukunft an der Brust trägt: der Marienkult
in diesem neuen, faustischen Sinn ist erst in den Jahrhunderten der Gotik
erblüht (nicht vergessen: Spengler zufolge
ist in der Gotik auch die Romanik enthalten! HB). Seinen höchsten
Ausdruck fand er in Raffaels sixtinischer Madonna. Das ist nicht
christlich überhaupt, denn das magische Christentum hatte Maria als
Theotokos, als Gebärerin Gottes, zu einem ganz anders gefühlten
Symbol erhoben. Die stillende Mutter ist der altchristlich-byzantinischen
Kunst ebenso fremd wie der hellenischen, wenn auch aus einem andern Grunde;
sicherlich steht Gretchen im Faust mit dem tiefen Zauber ihrer unbewußten
Mütterlichkeit den gotischen Madonnen näher als alle Marien
byzantinischer und ravennatischer Mosaiken. Für die Innerlichkeit
dieser Beziehungen ist es erschütternd, daß die Madonna mit
dem Jesusknaben durchaus der ägyptischen Isis mit dem Horusknaben
entspricht beide sind sorgende Mütter und daß
dies Symbol Jahrtausende hindurch und während der ganzen Dauer der
antiken und arabischen Kultur, für die es nichts bedeuten konnte,
verschollen war, um endlich durch die faustische Seele wieder erweckt
zu werden. (Ebd., S. 177-178)
Von der mütterlichen führt der Weg zur Vätersorge
und damit zum höchsten Zeitsymbol, das im Umkreis der großen
Kulturen hervorgetreten ist, dem Staate. Was der Mutter das Kind bedeutet,
Zukunft und Fortdauer des eignen Lebens nämlich, so daß in
der Mutterliebe die Getrenntheit zweier Einzelwesen gleichsam aufgehoben
wird, das bedeutet für Männer die bewaffnete Gemeinschaft, durch
die sie Haus und Herd, Weib und Kind und damit das ganze Volk, seine Zukunft
und Wirksamkeit sichern. Der Staat ist die innere Form, das »In-Formsein«
einer Nation, und Geschichte im großen Sinne ist dieser Staat nicht
als Bewegtes, sondern als Bewegung gedacht. Das Weib als Mutter ist,
der Mann als Krieger und Politiker macht Geschichte. ().
(Ebd., S. 178-179).
Und da zeigt die Geschichte der hohen Kulturen wieder drei Beispiele
sorgenvoller Staatsbildungen: die ägyptische Verwaltung schon des
Alten Reiches seit 3000 v. Chr., den frühchinesischen Staat der Dschou,
von dessen Organisation das Dschou-li ein solches Bild entwarf, daß
man später an die Echtheit des Buches nicht zu glauben wagte, und
die Staaten des Abendlandes, deren vorausschauende Gestaltung einen Zukunftswillen
verrät, der nicht mehr überboten werden kann. ().
Und demgegenüber erscheint zweimal ein Bild sorglosester Hingegebenheit
an den Augenblick und seine Zufälle: der antike und der indische
Staat. So verschieden an sich Stoizismus und Buddhismus, die Altersstimmungen
beider Welten sind, im Widerspruch gegen das historische Gefühl der
Sorge, in der Verachtung also des Fleißes, der organisatorischen
Kraft, des Pflichtbewußtseins sind sie einig, und deshalb hat an
indischen Königshöfen und auf dem Forum antiker Städte
niemand an das Morgen gedacht, weder für seine Person noch für
die Gesamtheit. Das Carpe diem des apollinischen Menschen galt
auch für den antiken Staat. (Ebd., S. 179).
Wie
mit der politischen, so steht es auch mit der andern Seite geschichtlichen Daseins,
der wirtschaftlichen. Der antiken und indischen Liebe, die im Genießen des
Augenblicks beginnt und endet, entspricht das Leben von der Hand in den Mund.
Es gibt eine Wirtschaftsorganisation großen Stils in Ägypten, wo sie
das ganze Bild der Kultur ausfüllt und aus Tausenden von Gemälden voller
Emsigkeit und Ordnung noch heute zu uns redet; in China, dessen Mythos von Göttern
und Sagenkaisern und dessen Geschichte beständig um die heiligen Aufgaben
der Bodenkultur kreisen; endlich in Westeuropa, dessen Wirtschaft mit den Musterkulturen
der Orden begann und mit einer eignen Wissenschaft, der Nationalökonomie,
den Gipfel erreichte, die von Anfang an Arbeitshypothese war und nicht eigentlich
lehrte, was geschah, sondern was geschehen sollte. In der Antike aber, um von
Indien zu schweigen, wirtschaftete man von einem Tag zum andern obwohl
das Vorbild Ägyptens vor Augen lag und trieb Raubbau nicht nur an
Schätzen, sondern auch an Möglichkeiten, um zufällige Überschüsse
sofort an den Pöbel zu verschwenden. Man prüfe alle großen Staatsmänner
der Antike, Perikles und Cäsar, Alexander und Scipio, und selbst die Revolutionäre
wie Kleon und Ti. Gracchus: keiner von ihnen hat wirtschaftlich in die Ferne gedacht.
Keine Stadt hat die Entwässerung oder Aufforstung eines Gebiets oder die
Einführung höherer Methoden oder Vieh- und Pflanzenarten in die Hand
genommen. Man versteht die »Agrarreform« der Gracchen ganz falsch,
wenn man sie abendländisch interpretiert: sie wollten ihre Partei zu Besitzern
machen. Sie zu Landwirten zu erziehen oder gar die italische Landwirtschaft zu
heben, lag ihnen ganz fern. Man ließ die Zukunft herankommen, man versuchte
nicht, auf sie zu wirken. Und deshalb ist der Sozialismus nicht der theoretische
von Marx, sondern der praktische, von Friedrich Wilhelm I. begründete des
Preußentums, der jenem voraufging und ihn wieder überwinden wird
mit seiner tiefen Verwandtschaft zum Ägyptertum das Gegenstück zum wirtschaftlichen
Stoizismus der Antike, ägyptisch in seiner umfassenden Sorge für dauerhafte
wirtschaftliche Zusammenhänge, in seiner Erziehung des einzelnen zur Pflicht
für das Ganze und in der Heiligung des Fleißes, durch den die Zeit
und Zukunft bejaht werden. (Ebd., S. 179-180).Der
alltägliche Mensch sämtlicher Kulturen bemerkt von der Physiognomie
allen Werdens, seines eigenen und dessen der lebendigen Welt rings um sich, nur
den unmittelbar greifbaren Vordergrund. Die Summe seiner Erlebnisse, der inneren
wie der äußeren, füllt als bloße Reihenfolge von Tatsachen
den Lauf seiner Tage. Erst der bedeutende Mensch fühlt hinter dem volkstümlichen
Zusammenhang der historisch bewegten Oberfläche eine tiefe Logik des Werdens,
die in der Schicksalsidee hervortritt und die eben jene oberflächlichen bedeurtungsarmen
Bildungen des Tages als zufällig scheinen läßt. (Ebd., S.
180-181).Zwischen
Schicksal und Zufall scheint zunächst nur ein Grad an Gradunterschied zu
bestehen. Man empfindet so etwa als Zufall, daß Goethe nach Sesenheim, und
als Schicksal, daß er nach Weimar kam. ().
Das eine scheint Episode, das andre Epoche zu sein. Indessen wird daraus deutlich,
daß die Unterscheidung vom iunern Range des Menschen abhängt, der sie
trifft. Der Menge wird selbst das Leben Goethes als eine Reihe anekdotischer Zufälle
erscheinen; wenige werden mit Erstaunen empfinden, welche symbolische Notwendigkeit
in ihm auch noch dem Unbedeutsamsten innewohnt. Aber war vielleicht die Entdeckung
des heliozentrischen Systems durch Aristarch für die Antike ein belangloser
Zufall, die vermeintliche Wiederentdeckung durch Kopernikus dagegen ein Schicksal
für die faustische Kultur? War es ein Schicksal, daß Luther im
Gegensatz zu Calvin kein Organisator war - und für wen? .... Hier bleibt
das Gebiet der begrifflichen Verständigung weit zurück; was Schicksal,
was Zufall ist, das gehört zu den entscheidenden Erlebnissen der einzelnen
Seele wie derjenigen ganzer Kulturen. Hier schweigt alle gelehrte Erfahrung, jede
wissenschaftliche Einsicht, jede Definition; und wer auch nur den Versuch wagt,
beides erkenntnistheoretisch fassen zu wollen, der kennt es gar nicht. .... Wer
urteilend an die Geschichte herantritt, wird nur Daten finden. (Ebd.,
S. 181).Schicksal
und Zufall bilden jederzeit einen Gegensatz, in den die Seele zu kleiden versucht,
was nur Gefühl, nur Erlebnis und Schauen sein kann und was
allein durch die innerlichsten Schöpfungen von Religion und Kunst denen verdeutlicht
wird, die zur Einsicht berufen sind. Um dies Urgefühl des lebendigen
Daseins, das dem Weltbilde der Geschichte Sinn und Gehalt verleiht, heraufzurufen
- Name ist Schall und Rauch -, weiß ich nichts Besseres als eine Strophe
von Goethe, dieselbe, die an der Spitze dieses Buches dessen Grundgesinnung bezeichnen
soll:Wenn im Unendlichen dasselbe Sich wiederholend
ewig fließt, Das tausendfältige Gewölbe Sich kräftig
ineinander schließt; Strömt Lebenslust aus allen Dingen, Dem
kleinsten wie dem größten Stern, Und alles Drängen, alles
Ringen Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn. An der Oberfläche
des Weltgeschehens herrscht das Unvorhergesehene. Es haftet als Merkmal
an jedem Einzelereignis, jeder Einzelentscheidung, jeder Einzelpersönlichkeit.
(Ebd., S. 182).
Daß in den Wirbeln des Werdens ein Element nur ein Schicksal
erlitt und ein andres zum Schicksal wurde und oft geung für alle
Zukunft, so daß jenes im Wellenschlag der historischen Oberfläche
dahinschwand, dieses aber Geschichte schuf, das ist mit keinem
Darum und Deshalb zu erklären und doch von innerster Notwendigkeit.
Und deshalb gilt auch vom Schicksal, was Augustinus in einem tiefen Augenblick
von der Zeit gesagt hat: Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti
explicare velim, nescio. (Ebd., S. 182-183).
Wenden wir uns nun der weiteren Verdeutlichung des Zufälligen
zu, so werden wir nicht mehr Gefahr laufen, in ihm eine Ausnahme oder
Durchbrechung des kausalen Naturzusammenhanges zu sehen. »Natur«
ist nicht das Weltbild, in dem das Schicksal wesenhaft wird. Überall,
wo der verinnerlichte Blick sich vom Sinnlich-Gewordnen löst und,
der Vision sich nähernd, die Umwelt durchdringt, Urphänomene
statt bloßer Objekte auf sich wirken fühlt, tritt der große
historische, der außer- und übernatürliche Aspekt
ein: es ist der Blick Dantes und Wolframs, auch der des Goetheschen Alters,
als dessen Ausdruck vor allem das Ende des zweiten Faust erscheint. Verweilen
wir schauend in dieser Welt von Schicksal und Zufall, so scheint es vielleicht
zufällig, daß auf diesem kleinen Gestirn unter Millionen Sonnensystemen
sich irgendwann die Episode der »Weltgeschichte« abspielt;
zufällig, daß die Menschen, ein seltsames tierartiges Gebilde
auf der Rinde dieses Sterns, irgendwann das Schauspiel des »Erkennens«
und gerade in dieser, von Kant, Aristoteles und andern so sehr verschieden
dargestellten Form bieten; zufällig, daß als Gegenpol dieser
Erkenntnis gerade diese Naturgesetze in Erscheinung treten (»ewig
und allgemeingültig«) und das Bild einer »Natur«
wachrufen, von dem jeder einzelne glaubt, daß es für alle dasselbe
sei. Die Physik verbannt mit Recht den Zufall aus ihrem
Bilde, aber es ist doch wieder Zufall, daß sie selbst überhaupt,
irgendwann in der Alluvialperiode der Erdoberfläche, einmal als eine
besondere Art von Geistesverfassung in Erscheinung trat. (Ebd.,
S. 184-185).
Die Welt des Zufalls ist die Welt der einmalig-wirklichen Tatsachen,
denen wir als Zukunft sehnsüchtig oder angstvoll entgegenleben, die
uns als lebendige Gegenwart erheben oder bedrücken, die wir schauend
als Vergangenheit mit Freude oder Trauer wiedererleben können. Die
Welt der Ursachen und Wirkungen ist die Welt des Beständig-Möglichen,
die Welt der zeitlosen Wahrheiten, die man zerlegend und unterscheidend
erkennt. (Ebd., S. 185).
Wie viele Schlachten wurden durch lächerliche Zwischenfälle
gewonnen oder verloren! (Ebd., S. 187).
Und eben diese abendländische Art
des Zufälligen ist dem antiken Weltgefühl und mithin dem antiken
Drama ganz fremd. Antigone hat keine zufällige Eigenschaft, welche
für ihr Geschick irgendwie in Betracht käme. Was dem König
Ödipus widerfuhr, hätte im Gegensatz zum Schicksale Lears
jedem andern widerfahren können. Dies ist das antike
Schicksal, das »allgemein menschliche« Fatum, das einem
»Leibe« überhaupt gilt und vom zufällig Persönlichen
in keiner Weise abhängt. (Ebd., S. 187).
Wie viele Schlachten wurden durch lächerliche Zwischenfälle
gewonnen oder verloren! (Ebd., S. 187).
Napoleon hat in bedeutenden Augenblicken ein starkes Gefühl
für die tiefe Logik des Weltwerdens. Er ahnte dann, inwiefern er
ein Schicksal war und inwiefern er eines hatte. »Ich fühle
mich gegen ein Ziel getrieben, das ich nicht kenne. Sobald ich es erreicht
haben werde, sobald ich nicht mehr notwendig sein werde, wird ein Atom
genügen, mich zu zerschmettern. Bis dahin aber werden alle menschlichen
Kräfte nichts gegen mich vermögen«, sagte er zu Beginn
des russischen Feldzugs. Das war nicht pragmatisch gedacht. In diesem
Augenblick ahnte er, wie wenig die Logik des Schicksals eines bestimmten
Einzelnen, sei es Mensch oder Lage, bedarf. Er selbst als empirische Person
hätte bei Marengo fallen können. Was er bedeutete, wäre
dann in andrer Gestalt verwirklicht worden. Eine Melodie ist in den Händen
eines großen Musikers reicher Variationen fähig; sie kann für
den einfachen Hörer völlig verwandelt sein, ohne in der Tiefe
in einem ganz andern Sinne sich verändert zu haben.
Die Epoche der deutschnationalen Einigung ist in der Person Bismarcks,
die der Freiheitskriege in breiten und beinahe namenlosen Ereignissen
durchgeführt worden. Beide »Themata« konnten auch anders
durchgeführt werden, um in der Sprache des Musikers zu reden. Bismarck
hätte früh entlassen und die Schlacht bei Leipzig verloren werden
können; die Gruppe der Kriege von 1864, 1866 und 1870 konnte durch
diplomatische, dynastische, revolutionäre oder volkswirtschaftliche
Tatsachen »Modulationen« vertreten werden, obwohl
die physiognomische Prägnanz der abendländischen Geschichte,
im Gegensatz zum Stil der indischen etwa, an entscheidender Stelle starke
Akzente, Kriege oder große Persönlichkeiten, sozusagen kontrapunktisch
fordert. Bismarck selbst deutet in seinen Erinnerungen an, daß
im Frühling 1848 eine Einigung in weiterem Umfang als 1870 hätte
erreicht werden können, was nur an der Politik des preußischen
Königs, richtiger an seinem privaten Geschmack scheiterte. Das wäre,
auch nach Bismarcks Gefühl, eine matte Durchführung des »Satzes«
gewesen, die irgendwie eine Coda (»da capo e poi la coda«)
notwendig gemacht hätte. Der Sinn der Epoche das Thema
wäre aber durch keine Gestaltung des Tatsächlichen verändert
worden. Goethe konnte vielleicht in frühen Jahren sterben,
nicht seine »Idee«. Faust und Tasso wären nicht geschrieben
worden, aber sie wären, ohne ihre poetische Greifbarkeit, in einem
sehr geheimnisvollen Sinne trotzdem »gewesen«. (Ebd.,
S. 188-189).
Denn es war Zufall, daß die Geschichte
des höheren Menschentums sich in der Form großer Kulturen vollzieht,
und Zufall, daß eine von ihnen um das Jahr 1000 in Westeuropa erwachte.
Von diesem Augenblick an aber folgte sie »dem Gesetz, wonach sie
angetreten«. Innerhalb jeder Epoche besteht eine unbegrenzte Fülle
überraschender und nie vorherzusehender Möglichkeiten, sich
in Einzeltatsachen zu verwirklichen, die Epoche selbst aber ist notwendig,
weil die Lebenseinheit da ist. Daß ihre innere Form gerade diese
ist, ist ihre Bestimmung. Neue Zufälle können deren Entwicklung
großartig oder kümmerlich, glücklich oder jammervoll gestalten,
aber ändern können sie sie nicht. Eine unwiderrufliche Tatsache
ist nicht nur der Einzelfall, sondern auch der Einzeltypus, in der Geschichte
des Alls der Typus »Sonnensystem« mit den kreisenden Planeten,
in der Geschichte unsres Planeten der Typus »Lebewesen« mit
Jugend, Alter, Lebensdauer und Fortpflanzung, in der Geschichte der Lebewesen
der Typus des Menschendaseins, in dessen »weltgeschichtlichem«
Stadium der Typus der großen Einzelkultur. (Auf
der Tatsache, daß eine ganze Gruppe dieser Kulturen vor uns liegt,
beruht die vergleichende Methode dieses Buches; vgl. Bd. II, S. 597 ff.
)
Und diese Kulturen sind ihrem Wesen nach den Pflanzen verwandt: sie sind
für ihre ganze Lebensdauer mit dem Boden verbunden, aus dem sie aufgesprossen
sind. Und typisch ist endlich die Art, wie die Menschen einer Kultur das
Schicksal auffassen und erleben, mag das Bild für den einzelnen noch
so verschieden gefärbt sein. Was hier darüber gesagt wird, ist
nicht »wahr«, sondern für diese Kultur und diese Zeitstufe
innerlich notwendig, und es überzeugt andre, nicht weil es nur eine
Wahrheit gibt, sondern weil sie derselben Epoche angehören.
(Ebd., S. 189-190).
Die euklidische Seele der Antike konnte ihr an gegenwärtigen
Vordergründen haftendes Dasein deshalb nur in der Gestalt von Zufällen
antiken Stils erleben. Darf man für die abendländische Seele
das Zufällige als Schicksal von geringerem Gehalte deuten, so darf
umgekehrt das Schicksal für die antike Seele als ein ins Ungeheure
gesteigerter Zufall gelten. Das bedeuten Ananke, Heimarmene und Fatum.
Weil die antike Seele Geschichte nicht eigentlich durchlebte, besaß
sie auch kein eigentliches Gefühl für eine Logik des Schicksals.
Man lasse sich nicht durch Worte täuschen. Die volkstümlichste
Göttin des Hellenismus war Tyche, die man von Ananke kaum zu scheiden
wußte. Schicksal und Zufall aber werden von uns mit der ganzen Wucht
eines Gegensatzes empfunden, von dessen Austrag in den Tiefen unseres
Daseins alles abhängt. (Ebd., S. 190).
Noch einmal: was dem Ödipus zustößt, ganz von
außen und innerlich durch nichts bedingt und bewirkt, hätte
jedem Menschen ohne Ausnahme geschehen können. Das ist die Form
des antiken Mythos. Man vergleiche damit die tiefinnere, durch ein
ganzes Dasein und das Verhältnis dieses Daseins zur Zeit bedingte
Notwendigkeit im Schicksal Othellos, Don Quijotes, Werthers. Das ist
es war schon gesagt der Unterschied von Situationstragödie
und Charaktertragödie. Aber in der Geschichte selbst wiederholt sich
dieser Gegensatz. Jede Epoche des Abendlandes hat Charakter, jede Epoche
der Antike stellt nur eine Situation dar. (Ebd., S. 191).
Geschichte ist die Verwirklichung einer
Seele, und der gleiche Stil beherrscht die Geschichte, die man macht,
und die, welche man schaut. Die antike Mathematik schließt das Symbol
des unendlichen Raumes aus, die antike Geschichte mithin auch. Micht umsonst
ist die Szene des antiken Daseins die kleinste von allen: die einzelne
Polis. Es fehlen ihm Horizont und Perspektiven - trotz der Episode des
Alexanderzuges - genau wie der Szene des attischen Theaters mit der flach
abschließenden Rückwand. Man vergleiche damit die Fernwirkungen
der abendländischen Kabinettsdiplomatie wie des Kapitals. Wie die
Hellenen und Römer in ihrem Kosmos nur Vordergründe der Natur
erkannten und als wirklich anerkannten, unter innerlichster Ablehnung
der chaldäischen Astronomie, wie sie im Grunde nur Haus-, Stadt-
und Feldgottheiten, aber keine Gestirngötter besaßen (),
so malten sie auch nur Vordergründe. Niemals ist in Korinth, Athen
und Sikyon eine Landschaft mit Gebirgshorizont, ziehenden Wolken, fernen
Städten entstanden. Man findet auf allen Vasengemälden nur Figuren
von euklidischer Vereinzelung und künstlerischem Selbstgenügen.
Jede Giebelgruppe eines Tempels ist von reihenweisem, niemals von kontrapunktischem
(soll heißen: abendländischem; HB)
Aufbau. Aber man erlebte auch nur Vordergründe. Schicksal war es,
was dem Menschen plötzlich zustieß, nicht der »Lauf des
Lebens«, und so hat Athen neben dem Fresko Polygnots und der Geometrie
der platonischen Akademie die Schicksalstragödie ganz im berüchtigten
Sinne der »Braut von Messina« geschaffen. Der vollkommene
Unsinn des blinden Verhängnisses, verkörpert z.B. im Atridenfluch,
offenbarte dem ahistorischen antiken Seelentum den ganzen Sinn seiner
Welt. (Ebd., S. 192).
Der
Zufall wählte die ... Geste ...; die innere Logik ()
... blieb davon unberührt. ().
(Ebd., S. 193 ).
Die französische Revolution
konnte durch ein Ereignis von anderer Gestalt und an anderer Stelle, in
England oder Deutschland etwa, vertreten werden. Ihre »Idee«,
der Übergang der Kultur in die Zivilisation, der Sieg der anorganischen
Weltstadt über das organische Land, das nun »Provinz«
in geistigem Sinne wird, war notwendig, und zwar in diesem Augenblick.
.... Ein Ereignis macht Epoche, das heißt: es bezeichnet im Ablauf
einer Kultur eine notwendige, schicksalshafte Wendung. Das zufällige
Ereignis selbst, ein Kristallisationsgebilde der historischen Oberfläche,
konnte durch entsprechende andre Zufälle vertreten werden; die Epoche
ist notwendig und vorbestimmt. Ob ein Ereignis den Rang einer Epoche oder
einer Episode in bezug auf eine Kultur und deren Gang einnimmt, das hängt
... mit den Ideen vom Schicksal und Zufall ()
... zusammen. (Ebd., S. 193-194).
In London war ... die Theorie der »europäischen Zivilisation«,
des abendländischen Hellenismus ausgebildet ... worden (Ebd.,
S. 195).
Ob das weltumfassende Kolonialsystem,
einst von spanischem Geist entworfen ..., ob die »Vereinigten Staaten
von Europa«, das Seitenstück damals der Diadochenreiche
und nun in Zukunft des Imperium Romanum (oder des
Imperium Dollarum der USA; HB), ... als romantische Militärmonarchie
auf demokratischer Basis oder im 21. Jahrhundert durch einen cäsarischen
Tatsachenmenschen als wirtschaftlicher Organismus Wirklichkeit wurden
das gehört zum Zufälligen des Geschichtsbildes.
(Ebd., S. 196-197).
Seine (Napoleons; HB) Siege und Niederlagen,
in denen immer ein Sieg Englands, ein Sieg der Zivilisation über
die Kultur verborgen war, sein Kaisertum, sein Sturz, die grande nation,
die episodische Befreiung Italiens, die 1796 wie 1859 eigentlich nur das
politische Kostüm eines längst bedeutungslos gewordenen Volkes
änderte, die Zerstörung des Deutschen Reiches, einer gotischen
Ruine, sind Oberflächenbildungen, hinter denen die große Logik
der eigentlichen, unsichtbaren Geschichte steht, und in ihrem Sinne vollzog
damals das Abendland den Abschluß der in französischer Gestalt,
im ancien régime zur Vollendung gelangten Kultur durch die englische
Zivilisation. Als Symbole »gleichzeitiger« Zeitwenden entsprechen
also die Erstürmung der Bastille, Valmy, Austerlitz, Waterloo und
der Aufschwung Preußens den antiken Tatsachen der Schlachten von
Chäronea und Gaugamela, dem Zug nach Indien und dem römischen
Sieg bei Sentinum, und man begreift, daß in Kriegen und politischen
Katastrophen, dem Grundstoff unserer Geschichtsschreibung, der Sieg nicht
das Wesentliche eines Kampfes und der Friede nicht das Ziel einer Umwälzung
ist. (Ebd., S. 197).
Wer diese Gedanken in sich aufgenommen
hat, wird es verstehen, wie verhängnisvoll das in seiner starren
Form erst ganz späten Kulturzuständen eigne und dann um so tyrannischer
auf das Weltbild wirkende Kausalitätsprinzip für das Erleben
echter Geschichte werden mußte. Kant hatte sehr vorsichtig die Kausalität
als notwendige Form der Erkenntnis festgestellt, und es kann nicht oft
genug betont werden, daß damit ausschließlich die verstandesmäßige
Betrachtung der menschlichen Umwelt gemeint war. Das Wort Notwendigkeit
hörte man gern, aber man überhörte die Einschränkung
des Prinzips auf ein einzelnes Erkenntnisgebiet, die gerade das Schauen
und Erfühlen lebendiger Geschichte ausschloß. Menschenkenntnis
und Naturerkenntnis sind dem Wesen nach ganz unvergleichbar. Aber das
ganze 19. Jahrhundert war bemüht, die Grenze von Natur und Geschichte
zugunsten der ersten zu verwischen. Je historischer man denken wollte,
desto mehr vergaß man, wie hier nicht gedacht werden durfte.
Indem man das starre Schema einer räumlichen und zeitfeindlichen
Beziehung, Ursache und Wirkung, gewaltsam auf Lebendiges anwandte, trug
man in das sinnliche Oberflächenbild des Geschehens die konstruktiven
Linien des physikalischen Naturbildes ein, und niemand fühlte - inmitten
später, städtischer, an kausalen Denkzwang gewöhnter Geister
- die tiefe Absurdität einer Wissenschaft, welche ein organisches
Werden durch methodisches Mißverstehen als dem Mechanismus eines
Gewordenen begreifen wollte. Aber der Tag ist nicht Ursache der Nacht
.... (Ebd., S. 197-198).
Aber der Tag ist nicht Ursache der Nacht,
die Jugend nicht die des Alters, die Blüte nicht die der Frucht.
Alles was wir geistig erfahren, hat eine Ursache; alles was wir
als organisch mit innerer Gewißheit erleben, hat eine Vergangenheit.
Jene kennzeichnet den »Fall«, der überall möglich
ist und dessen innere Form feststeht, gleichviel wann, wie oft und ob
er überhaupt eintritt; diese kennzeichnet das Ereignis, das
einmal war und nie wiederkehrt. Und je nachdem wir etwas in unserer Umwelt
kritisch bewußt oder physiognomisch und unwillkürlich erfassen,
ziehen wir den Schluß aus technischer oder aus Lebenserfahrung,
auf eine zeitlose Ursache im Räume also oder auf eine Richtung, die
vom Gestern zum Heute und Morgen führt. (Ebd., S. 198).
Aber der Geist unsrer großen Städte will so nicht schließen.
Umgeben von einer Maschinentechnik, die er selbst geschaffen hat, indem
er der Natur ihr gefährlichstes Geheimnis, das Gesetz, ablauschte,
will er auch die Geschichte technisch erobern, theoretisch und praktisch.
Zweckmäßigkeit war das große Wort, mit dem er sie sich
ähnlich machte. In der materialistischen Geschichtsauffassung herrschen
Gesetze kausaler Natur, und daraus folgte, daß man Nützlichkeitsideale
wie Aufklärung, Humanität und Weltfrieden als Zwecke der Weltgeschichte
ansetzen durfte, um sie durch den »Fortschrittsprozeß«
zu erreichen. Das Gefühl vom Schicksal aber war erstorben in diesen
greisenhaften Entwürfen, zugleich mit dem Jugend- und Wagemut, der
zukunftsschwanger und selbstvergessen einer dunklen Entscheidung entgegendrängt.
(Ebd., S. 198).
Denn nur die Jugend hat Zukunft und ist Zukunft. Dieser rätselvolle
Wortklang aber ist gleichbedeutend mit Richtung der Zeit und Schicksal.
Das Schicksal ist immer jung. Wer an seine Stelle eine Kette von
Ursachen und Wirkungen setzt, der sieht auch in dem noch nicht Verwirklichten
etwas gleichsam Altes und Vergangenes. Die Richtung fehlt. Wer
aber in strömendem Überschwang einem Etwas entgegenlebt, der
braucht nicht von Zweck und Nutzen zu wissen. Er fühlt sich selbst
als Sinn dessen, was geschehen wird. Das war der Glaube an den Stern,
der Cäsar und Napoleon nicht verließ und ebensowenig die großen
Täter anderer Art, und das liegt zutiefst trotz aller Schwermut junger
Jahre in jeder Kindheit, in allen jungen Geschlechtern, Völkern und
Kulturen und über die gesamte Geschichte hin in allen Handelnden
und Schauenden, die jung sind trotz ihrer weißen Haare und jünger
als aller noch so frühe Hang zur zeitlosen Zweckmäßigkeit.
Die gefühlte Bedeutung der jeweils augenblicklichen Umwelt erschließt
sich denn auch in den ersten Tagen der Kindheit, für die nur Personen
und Dinge der nächsten Umgebung wesenhaft sind, und erweitert sich
in schweigender und unbewußter Erfahrung bis zu dem umfassenden
Bilde, das der allgemeine Ausdruck der ganzen Kultur auf dieser Stufe
ist und dessen Dolmetscher nur die großen Lebenskenner und Geschichtsforscher
sind. (Ebd., S. 199).
Hier unterscheidet sich der unmittelbare
Eindruck des Gegenwärtigen vom Bilde des Vergangenen, das nur im
Geiste vergegenwärtigt wird, also die Welt als Geschehen von der
Welt als Geschichte. Auf jene richtet sich der Kennerblick des tätigen
Menschen, des Staatsmannes und Feldherrn, auf diese der schauende des
Historikers und Dichters. In jene greift man praktisch ein, leidend oder
handelnd; diese ist der Chronologie als dem großen Symbol des unwiderruflich
Vergangenen verfallen. (Die sich eben deshalb, weil
der Zeit entrückt, mathematischer Zeichen bedienen kann. Diese starren
Zahlen bedeuten für unser Auge das Schicksal von ehemals. Aber ihr
Sinn ist ein anderer als der mathematische Vergangenheit ist keine
Ursache, ein Verhängnis keine Formel , und wer sie mathematisch
behandelt wie der historische Materialist, der hat aufgehört, Vergangenes,
das einmal und nur einmal gelebt hat, als solches wirklich zu sehen.)
Wir blicken rückwärts und leben vorwärts, dem Unvorhergesehenen
entgegen, aber in das Bild des einmaligen Geschehens dringen nun, von
der technischen Erfahrung schon der Kinderzeit her, die Züge
des Vorherzusehenden ein, das Bild einer gesetzmäßigen Natur,
die nicht dem physiognomischen Takt, sondern der Berechnung unterliegt.
Wir erfassen ein Stück Wild als beseeltes Wesen und gleich darauf
als Nahrungsmittel; wir sehen in einem Blitz eine Gefahr oder eine elektrische
Entladung. Und dieses zweite, spätere, versteinernde Bild der Welt
überwältigt in den großen Städten mehr und mehr das
erste: das Bild der Vergangenheit wird mechanisiert, materialisiert, und
aus ihm für Gegenwart und Zukunft eine Summe kausaler Regeln gezogen.
Man glaubt an geschichtliche Gesetze und eine verstandesmäßige
Erfahrung von ihnen. (Ebd., S. 199-200).
Aber Wissenschaft ist immer Naturwissenschaft. (Sollte
man »Naturwissenschaft« nicht lieber »Naturwissenschaft«
nennen? HB) Kausales Wissen, technische Erfahrung gibt es
nur von Gewordenem, Ausgedehntem, Erkanntem. Wie Leben zur Geschichte,
so gehört Wissen zur Natur zu der als Element begriffenen,
im Räume betrachteten, nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung gestalteten
Sinnenwelt. Gibt es also überhaupt eine Wissenschaft der Geschichte?
Erinnern wir uns, wie in jedem persönlichen Weltbilde, das dem idealen
Bild nur mehr oder weniger nahekommt, etwas von beidem erscheint, keine
»Natur« ohne lebendige, keine »Geschichte« ohne
kausale Einklänge ist. Denn innerhalb der Natur haben zwar
gleichartige Versuche das gleiche gesetzmäßige Ergebnis, aber
jeder einzelne ist ein geschichtliches Ereignis, das ein Datum besitzt
und nie wiederkehrt. Und innerhalb der Geschichte bilden die Daten des
Vergangenen chronologische, statistische, Namen, Gestalten (nicht
nur Friedensschlüsse und Todestage, sondern auch der Renaissancestil,
die Polis, die mexikanische Kultur sind Daten, Tatsachen, die dagewesen
sind, auch wenn wir keine Vorstellung von ihnen besitzen)
ein starres Gewebe. Tatsachen »stehen fest«, auch wenn
wir sie nicht kennen. Alles andre ist Bild, theoria, dort wie hier,
aber Geschichte ist das »Im-Bilde-sein« selbst, dem das Tatsachenmaterial
nur dient; in der Natur dient die Theorie der Gewinnung dieses Materials
als dem eigentlichen Zweck. (Ebd., S. 200).
Es gibt also keine Wissenschaft der Geschichte,
aber eine Vorwissenschaft für sie, welche das Dagewesene
ermittelt. Für den geschichtlichen Blick selbst sind die Daten stets
Symbole. Die Naturforschung aber ist nur Wissenschaft. Sie will,
weil technischen Ursprungs und Ziels, nur Daten finden, Gesetze
kausaler Art, und sobald sie den Blick auf etwas anderes richtet, ist
sie schon Metaphysik geworden, etwas jenseits der Natur. Aber deshalb
sind geschichtliche und naturwissenschaftliche Daten zweierlei. Diese
kehren immer wieder, jene nie. Diese sind Wahrheiten, jene Tatsachen.
Mögen also »Zufälle« und »Ursachen«
im Alltagsbilde noch so verwandt erscheinen, in der Tiefe gehören
sie verschiedenen Welten an. Sicherlich ist das Geschichtsbild eines Menschen
und damit der Mensch selbst um so flacher, je entschiedener
der handgreifliche Zufall in ihm regiert, und sicherlich ist mithin eine
Geschichtsschreibung um so leerer, je mehr sie ihr Objekt durch Feststellung
rein tatsächlicher Beziehungen erschöpft. Je tiefer jemand Geschichte
erlebt, desto seltener wird er »kausale« Eindrücke haben
und desto gewisser wird er sie als gänzlich bedeutungslos empfinden.
Man prüfe Goethes naturwissenschaftliche Schriften, und man wird
erstaunt sein, die Darstellung einer lebendigen Natur ohne Formeln, ohne
Gesetze, fast ohne eine Spur von Kausalem zu finden. Zeit ist für
ihn keine Distanz, sondern ein Gefühl. Der bloße Gelehrte,
der lediglich kritisch zerlegt und ordnet, nicht schaut und fühlt,
besitzt kaum die Gabe, hier das Letzte und Tiefste zu erleben. Die Geschichte
fordert sie aber; und so besteht das Paradoxon zu Recht, daß ein
Geschichtsforscher um so bedeutender ist, je weniger er der eigentlichen
Wissenschaft angehört. (Ebd., S. 201).
Das Schema auf der folgenden Seite möge das Gesagte zusammenfassen:
(Ebd., S. 201).
Darf man irgendeine Gruppe von Tatsachen sozialer, religiöser,
physiologischer, ethischer Natur als »Ursache« einer andern
setzen? Die rationalistische Geschichtsschreibung und mehr noch die heutige
Soziologie kennen im Grunde nichts andres. Das heißt für sie,
Geschichte begreifen, ihre Erkenntnis vertiefen. In der Tiefe aber liegt
für den zivilisierten Menschen immer der vernunftgemäße
Zweck. Ohne ihn wäre seine Welt sinnlos. Allerdings ist die gar nicht
physikalische Freiheit in der Wahl der grundlegenden Ursachen nicht
ohne Komik. Der eine wählt diese, der andre jene Gruppe als prima
causa eine unerschöpfliche Quelle wechselseitiger Polemik
und alle füllen ihre Werke mit vermeintlichen Erklärungen
des Ganges der Geschichte im Stil naturhafter Zusammenhänge. Schiller
hat dieser Methode durch eine seiner unsterblichen Banalitäten, den
Vers vom Weltgetriebe, das sich »durch Hunger und durch Liebe«
erhält, den klassischen Ausdruck gegeben. Das 19. Jahrhundert, vom
Rationalismus zum Materialismus fortschreitend, hat seine Meinung zu kanonischer
Geltung erhoben. Damit war der Kult des Nützlichen an[202] die Spitze
gestellt. Ihm hat Darwin im Namen des Jahrhunderts Goethes Naturlehre
zum Opfer gebracht. Die organische Logik der Tatsachen des Lebens wurde
durch eine mechanische in physiologischer Einkleidung ersetzt.
Vererbung, Anpassung, Zuchtwahl sind Zweckmäßigkeitsursachen
von rein mechanischem Gehalt. An Stelle geschichtlicher Fügungen
tritt die naturhafte Bewegung »im Räume«. Aber
gibt es historische, seelische, gibt es überhaupt lebendige »Prozesse«?
Haben historische »Bewegungen«, die Zeit der Aufklärung
oder die Renaissance etwa, irgend etwas mit dem Naturbegriff der
Bewegung zu tun? Mit dem Worte Prozeß war das Schicksal abgetan.
Das Geheimnis des Werdens war enthüllt. Es gab keine tragische, es
gab nur noch eine mathematische Struktur des Weltgeschehens. Der »exakte«
Historiker setzt nunmehr voraus, daß im Geschichtsbild eine Folge
von Zuständen von mechanischem Typus vorliegt, daß sie verstandesmäßiger
Zergliederung wie ein physikalisches Experiment oder eine chemische Reaktion
zugänglich ist, und daß mithin die Gründe, Mittel, Wege,
Ziele ein greifbar an der Oberfläche des Sichtbaren liegendes festes
Gewebe bilden müssen. Das Bild ist überraschend vereinfacht.
Und man muß zugeben, daß bei hinreichender Flachheit des Betrachters
die Voraussetzung für seine Person und für deren
Weltbild zutrifft. (Ebd., S. 202-203).
Hunger und Liebe (was dem zugrunde liegt,
die metaphysischen Wurzeln von Wirtschaft und Politik, ist in Bd. II,
S. 961 ff. [],
1147 f. angedeutet) das sind nunmehr mechanische Ursachen
mechanischer Prozesse im »Völkerleben«. Sozialprobleme
und Sexualprobleme beide einer Physik oder Chemie des öffentlichen,
allzuöffentlichen Daseins angehörend werden das selbstverständliche
Thema utilitarischer Geschichtsbetrachtung und also auch der ihr
entsprechenden Tragödie. Denn das soziale Drama steht mit Notwendigkeit
neben der materialistischen Geschichtsbetrachtung. Und was in den »Wahlverwandtschaften«
Schicksal im höchsten Sinne war, ist in der »Frau vom Meere«
nichts als ein Sexualproblem. Ibsen und alle Verstandespoeten unsrer großen
Städte dichten nicht. Sie konstruieren, und zwar einen kausalen Zusammenhang
von einer ersten Ursache bis zu einer letzten Wirkung. Hebbels schwere
künstlerische Kämpfe galten immer nur dem Versuch, dieses schlechthin
Prosaische seiner mehr kritischen als intuitiven Anlage zu überwinden
trotz ihrer ein Dichter zu sein , daher sein unmäßiger,
ganz ungoethescher Hang zum Motivieren der Begebenheiten. Motivieren
bedeutet hier, bei Hebbel wie bei Ibsen, das Tragische kausal gestalten
wollen. Hebbel redet gelegentlich vom Schraubenzug in der Begründung
eines Charakters; er hat die Anekdote so lange zerlegt und umgestaltet,
bis sie ein System, ein Beweis für einen Fall geworden war: man verfolge
seine Behandlung der Judithgeschichte. Shakespeare hätte sie genommen,
wie sie war, und in dem physiognomischen Reiz einer echten Begebenheit
das Weltgeheimnis geahnt. Aber was Goethe einmal aussprach: »Man
suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre«,
das war dem Jahrhundert von Marx und Darwin nicht mehr verständlich.
Man war weit entfernt, in der Physiognomie des Vergangenen ein Schicksal
abzulesen, so wenig man in der Tragödie ein reines Schicksal gestalten
wollte. Der Kult des Nützlichen hat hier wie dort ein ganz andres
Ziel festgelegt. Man gestaltete, um etwas zu beweisen. »Fragen«
der Zeit werden »behandelt«, soziale Probleme zweckmäßig
»gelöst«. Die Szene ist wie das Geschichtswerk ein Mittel
dazu. Der Darwinismus hat, so unbewußt das geschehen sein mag, die
Biologie politisch wirksam gemacht. Es ist irgendwie eine demokratische
Rührigkeit in den hypothetischen Urschleim gekommen, und der Kampf
der Regenwürmer um ihr Dasein erteilt den zweibeinigen Schlechtweggekommenen
eine gute Lehre. (Ebd., S. 203-204).
Und doch hätten die Historiker gerade von den Vertretern
unsrer reifsten und strengsten Wissenschaft, der Physik, Vorsicht lernen
sollen. Die kausale Methode zugegeben, so ist es die Flachheit ihrer Anwendung,
die beleidigt. Hier fehlt es an geistiger Disziplin, an Tiefe des Blicks,
von der Skepsis, welche der Art des Gebrauchs physikalischer Hypothesen
innewohnt, ganz zu schweigen. (Die Hypothesenbildung
erfolgt schon in der Chemie viel unbedenklicher, und zwar infolge ihrer
geringeren Verwandtschaft zur Mathematik. Ein Kartenhaus von Vorstellungen,
wie es die augenblicklichen Forschungen über Atomstruktur zeigen
[vgl. z.B. M. Born, Der Aufbau der Materie, 1920], wäre in
der Nähe der elektromagnetischen Lichttheorie unmöglich, deren
Urheber sich über die Grenze zwischen mathematischer Einsicht und
deren Veranschaulichung durch ein Bild nicht mehr! beständig
klar blieben.) Denn der Physiker betrachtet seine Atome und
Elektronen, Ströme und Kraftfelder, den Äther und die Masse
weitab vom Köhlerglauben des Laien und Monisten als Bilder,
die er den abstrakten Beziehungen seiner Differentialgleichungen unterlegt,
in die er unanschauliche Zahlen kleidet, und zwar mit einer gewissen Freiheit
der Wahl zwischen mehreren Theorien, ohne in ihnen eine andre Wirklichkeit
als die konventioneller Zeichen (zwischen diesen
Bildern und den Bezeichnungen einer Schalttafel besteht dem Wesen nach
kein Unterschied) zu suchen. Und er weiß, daß auf diesem,
der Naturwissenschaft allein möglichen Wege außer Erfahrungen
über die technische Struktur der Umwelt nur deren symbolische Deutung
nicht mehr erreicht werden kann, sicherlich keine
»Erkenntnis« im hoffnungsvoll populären Sinne. Das Bild
der Natur Schöpfung und Abbild des Geistes, sein alter
ego im Bereich des Ausgedehnten erkennen, bedeutet sich
selbst erkennen. (Ebd., S. 204-205).
Wie die Physik unsre reifste, so ist die Biologie, welche das
Bild des organischen Lebens durchforscht, nach Gehalt und Methode unsre
schwächste Wissenschaft. Was wirklich Geschichtsforschung
sei, reine Physiognomik nämlich, ist durch nichts deutlicher zu machen
als durch den Verlauf von Goethes Naturstudien. Er treibt Mineralogie:
sogleich fügen sich ihm die Einsichten zum Bilde einer Erdgeschichte
zusammen, in dem sein geliebter Granit beinahe das bedeutet, was ich innerhalb
der Menschengeschichte das Urmenschliche nenne. Er untersucht bekannte
Pflanzen, und das Urphänomen der Metamorphose erschließt sich
ihm, die Urgestalt der Geschichte alles Pflanzendaseins, und er
gelangt weiterhin zu jenen seltsam tiefen Einsichten über die Vertikal-
und Spiraltendenz der Vegetation, die noch heute nicht recht begriffen
worden sind. Seine Knochenstudien, durchaus auf Anschauen des Lebendigen
gerichtet, führen ihn zur Entdeckung des os intermaxillare
beim Menschen und der Einsicht, daß das Schädelgerüst
der Wirbeltiere sich aus sechs Wirbelknochen entwickelt hat. Nirgends
ist von Kausalität die Rede. Er empfand die Notwendigkeit des Schicksals
so, wie er sie in seinen orphischen Urworten ausgedrückt hat:
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen.
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. |
Die bloße Chemie der Gestirne, die mathematische Seite physikalischer
Beobachtungen, die eigentliche Physiologie kümmern ihn, den großen
Historiker der Natur, sehr wenig, weil sie Systematik, Erfahrung von Gewordnem,
Totem, Starrem sind, und dies liegt seiner Polemik gegen Newton zugrunde
ein Fall, in dem beide recht haben: der eine erkannte in
der toten Farbe den gesetzlichen Naturprozeß, der andre, der Künstler,
hatte das intuitiv-sinnliche Erlebnis; hier liegt der Gegensatz
beider Welten zutage und ich fasse ihn jetzt in seiner ganzen Schärfe
zusammen. (Ebd., S. 205-206).
Die Geschichte trägt das Merkmal des Einmalig-tatsächlichen,
die Natur das des Ständig-möglichen. Solange ich das
Bild der Umwelt daraufhin beobachte, nach welchen Gesetzen es sich verwirklichen
muß, ohne Rücksicht darauf, ob es geschieht oder nur geschehen
könnte, zeitlos also, bin ich Naturforscher, treibe ich eine echte
Wissenschaft. Es macht für die Notwendigkeit eines Naturgesetzes
und andere Gesetze gibt es nicht nicht das geringste aus,
ob es unendlich oft oder nie in Erscheinung tritt, d.h. es ist vom Schicksal
unabhängig. Tausende von chemischen Verbindungen kommen nie vor und
werden nie hergestellt werden, aber sie sind als möglich bewiesen
und also sind sie da für das feste System der Natur, nicht
für die Physiognomie des kreisenden Weltalls. Ein System besteht
aus Wahrheiten, eine Geschichte beruht auf Tatsachen. Tatsachen folgen
aufeinander, Wahrheiten auseinander: das ist der Unterschied zwischen
dem Wann und dem Wie. Es hat geblitzt das ist eine Tatsache,
auf die schweigend mit dem Finger gedeutet werden kann. Wenn es blitzt,
so donnert es das verlangt zur Mitteilung einen Satz. Das
Erleben kann wortlos sein; systematisches Erkennen gibt es nur durch Worte.
»Definierbar ist nur, was keine Geschichte hat«, sagt Nietzsche
einmal. Geschichte aber ist gegenwärtiges Geschehen mit dem Zug in
die Zukunft und einem Blick auf die Vergangenheit. Die Natur steht jenseits
aller Zeit, mit dem Merkmal der Ausdehnung, aber ohne Richtung. In dieser
liegt die Notwendigkeit des Mathematischen, in jener die des Tragischen.
(Ebd., S. 206-207).
In der Wirklichkeit des wachen Daseins verweben sich beide Welten,
die der Beobachtung und die der Hingebung, wie in einem Brabanter Wandteppich
Kette und Einschlag das Bild »wirken«. Jedes Gesetz muß,
um für das Verstehen überhaupt vorhanden zu sein, einmal
durch eine Schicksalsfügung innerhalb der Geistesgeschichte entdeckt,
d.h. erlebt worden sein; jedes Schicksal erscheint in einer sinnlichen
Verkleidung Personen, Taten, Szenen, Gebärden , in welcher
Naturgesetze am Werke sind. Das urmenschliche Leben war der dämonischen
Einheit des Schicksalhaften hingegeben; im Bewußtsein reifer Kulturmenschen
kommt der Widerspruch jenes frühen und dieses späten Weltbildes
niemals zum Schweigen; im zivilisierten Menschen erliegt das tragische
Weltgefühl dem mechanisierenden Intellekt. Geschichte und Natur stehen
in uns einander gegenüber wie Leben und Tod,
wie die ewig werdende Zeit und der ewig gewordene Raum.
Im Wachsein ringen Werden und Gewordnes um den Vorrang im Weltbilde. Die
höchste und reifste Form beider Arten der Betrachtung, wie sie nur
großen Kulturen möglich ist, erscheint für die antike
Seele im Gegensatz von Plato und Aristoteles, für die abendländische
in dem von Goethe und Kant: die reine Physiognomie der Welt, erschaut
von der Seele eines ewigen Kindes, und die reine Systematik, erkannt vom
Verstand eines ewigen Greises. (Ebd., S. 207).
Und hier erblicke ich nunmehr die letzte große Aufgabe
abendländischer Philosophie, die einzige, welche der Altersweisheit
der faustischen Kultur noch aufgespart ist, die, welche durch eine jahrhundertelange
Entwicklung unseres Seelentums vorbestimmt erscheint. Es steht keiner
Kultur frei, den Weg und die Haltung ihres Denkens zu wählen;
hier zum erstenmal aber kann eine Kultur voraussehen, welchen Weg das
Schicksal für sie gewählt hat. (Ebd., S. 208).
Ein Jahrtausend (zwei Jahrtausende! HB)
organischer Kulturgeschichte als Einheit, als Person aus dem Gewebe
des Weltgeschehens herauszuheben und in ihren innersten seelischen Bedingungen
zu begreifen, ist das Ziel. (Ebd., S. 208).
»Alles Vergängliche ist nur
ein Gleichnis« ().
Hier liegen Lösungen und Fernblicke verborgen, welche noch nicht
einmal geahnt worden sind. Dunkle Fragen, die den tiefsten aller menschlichen
Urgefühle, aller Angst und Sehnsucht zugrunde liegen und vom Verstehenwollen
in die Probleme der Zeit, der Notwendigkeit, des Raumes, der Liebe, des
Todes, der ersten Ursachen verkleidet worden sind, werden aufgehellt.
Es gibt eine ungeheure Musik der Sphären, die gehört
sein will, die einige unsrer tiefsten Geister hören werden.
Die Physiognomik des Weltgeschehens wird zur letzten faustischen Philosophie.
(Ebd., S. 209).
Makrokosmos (S. 210-281): I. Die
Symbolik des Weltbildes und das Raumproblem (S. 210-234)
Der Makrokosmos als Inbegriff der Symbole in bezug auf eine Seele [S. 210]
Raum und Tod [S. 214] Alles Vergängliche ist nur ein
Gleichnis [S. 217] Das Raumproblem: Nur die Tiefe ist raumbildend
[S. 218] Die Raumtiefe als Zeit [S. 223] Geburt der Weltanschauung
aus dem Ursymbol einer Kultur [S. 225] Das antike Ursymbol der Körper,
das arabische die Höhle, das abendländische der unendliche Raum [S.
226] II. Apollinische,
faustische, magische Seele (S. 234-281)
Ursymbol, Architektur und Götterwelt [S. 234] Das ägyptische
Ursymbol der Weg [S. 241] Ausdruckssprache der Kunst: Ornamentik oder Imitation
[S. 245] Ornament und Früharchitektur [S. 252] Architektur
des Fensters [S. 257] Der große Stil [S. 258] Stilgeschichte
als Organismus [S. 265] Zur Geschichte des arabischen Stils [S. 268]
Psychologie der Kunsttechnik [S. 277].
Die Symbolik des Weltbildes und das Raumproblem
Und so erweitert sich der Gedanke einer
Weltgeschichte physiognomischer Art zur Idee einer allumfassenden Symbolik.
Die Geschichtsforschung in dem hier geforderten Sinne hat nur das Bild
des einst Lebendigen und nun Vergangenen zu prüfen und dessen innerste
Form und Logik festzustellen. Der Schicksalsgedanke ist der letzte, bis
zu dem sie vordringen kann. (Ebd., S. 210).
Symbole sind sinnliche Zeichen, letzte, unteilbare und vor allem
ungewollte Eindrücke von bestimmter Bedeutung. Ein Symbol ist ein
Zug der Wirklichkeit, der für sinnenwache Menschen mit unmittelbarer
innerer Gewißheit etwas bezeichnet, das verstandesmäßig
nicht mitgeteilt werden kann. Ein dorisches, früharabisches, frühromanisches
Ornament, die Gestalt des Bauernhauses, der Familie, des Verkehrs, Trachten
und Kulthandlungen, aber auch Antlitz, Gang und Haltung eines Menschen,
ganzer Stände und Völker, die Spracharten und Siedlungsformen
aller Menschen und Tiere und darüber hinaus die gesamte stumme Sprache
der Natur mit ihren Wäldern, Triften, Herden, Wolken, Sternen, mit
Mondnächten und Gewittern, Blühen und Welken, Nähe und
Ferne ist sinnbildlicher Eindruck des Kosmischen auf uns, die wir wach
sind und in Stunden der Einkehr diese Sprache wohl vernehmen; und anderseits
ist es das Gefühl eines gleichartigen Verstehens, das Familien, Stände,
Stämme und endlich ganze Kulturen aus dem allgemeinen Menschentum
heraushebt und zusammenschließt. (Ebd., S. 211).
Es wird hier also nicht davon die Rede sein, was eine Welt »ist«,
sondern was sie dem lebendigen Wesen bedeutet, das von ihr umgeben ist.
Mit dem Erwachen zerdehnt sich für uns etwas zwischen einem Hier
und einem Dort. Das Hier leben, das Dort erleben wir, jenes als eigen,
dieses als fremd. Es ist die Entzweiung zwischen Seele und Welt als den
Polen der Wirklichkeit, und in dieser gibt es nicht nur Widerstände,
die wir als Dinge und Eigenschaften kausal erfassen, und Regungen, in
denen wir Wesen, Numina »ganz wie wir selbst« wirken fühlen,
sondern auch noch etwas, das die Entzweiung gleichsam aufhebt. (Ebd.,
S. 211).
Die Wirklichkeit die Welt in bezug
auf eine Seele ist für jeden einzelnen die Projektion des
Gerichteten in den Bereich des Ausgedehnten; sie ist das Eigne, das sich
am Fremden spiegelt, sie bedeutet ihn selbst. Durch einen ebenso
schöpferischen als unbewußten Akt nicht »ich«
verwirkliche das Mögliche, sondern »es« verwirklicht
sich durch mich wird die Brücke des Symbols geschlagen zwischen
dem lebendigen Hier und Dort; es entsteht plötzlich und mit vollkommenster
Notwendigkeit aus der Gesamtheit sinnlicher und erinnerter Elemente »die«
Welt, die man begreift, für jeden einzelnen »die«
einzige. Und deshalb gibt es so viele Welten, als es wache Wesen und im
gefühlten Einklang lebende Scharen von Wesen gibt, und im Dasein
jedes von ihnen ist die vermeintlich einzige, selbständige und ewige
Welt die jeder mit dem andern gemein zu haben glaubt ein
immer neues, einmaliges, nie sich wiederholendes Erlebnis. (Ebd.,
S. 211-212).
Eine Reihe von Graden der Bewußtheit
führt von den Uranfängen kindlich-dumpfen Schauens, in denen
es noch keine klare Welt für eine Seele und keine ihrer selbst gewisse
Seele inmitten einer Welt gibt, zu den höchsten Arten durchgeistigter
Zustände, deren nur Menschen ganz reifer Zivilisationen fähig
sind. Diese Steigerung ist zugleich eine Entwicklung der Symbolik vom
Bedeutungsgehalt aller Dinge bis zum Hervortreten vereinzelter
und bestimmter Zeichen. Nicht nur, wenn ich in der Art des Kindes, des
Träumers, des Künstlers die Welt voll dunkler Bedeutungen hinnehme;
nicht nur, wenn ich wach bin, ohne sie mit der gespannten Aufmerksamkeit
des denkenden und tätigen Menschen aufzufassen ein Zustand,
der selbst im Bewußtsein des eigentlichen Denkers und Tatmenschen
weit seltener herrscht als man glaubt , sondern stets und immer,
solange von wachem Leben überhaupt die Rede sein kann, verleihe ich
dem Außermir den Gehalt meines ganzen Selbst, von den halb
träumerischen Eindrücken der Welthaftigkeit an bis zur starren
Welt der kausalen Gesetze und Zahlen, die jene überlagert und bindet.
Aber selbst dem reinen Reich der Zahlen fehlt das Symbolische nicht, und
gerade ihm entstammen die Zeichen, in welche das grüblerische Denken
unaussprechliche Bedeutungen legt: das Dreieck, der Kreis, die Sieben,
die Zwölf. (Ebd., S. 212).
Dies ist die Idee des Makrokosmos,
der Wirklichkeit als dem Inbegriff aller Symbole in bezug auf eine Seele.
Nichts ist von dieser Eigenschaft des Bedeutsamen ausgenommen. (Ebd.,
S. 212).
Alles, was ist, ist auch Symbol. (Ebd., S. 212).
Allein auf der größeren oder geringeren Verwandtschaft
der einzelnen Welten untereinander, soweit sie von Menschen einer Kultur
oder seelischen Gemeinschaft erlebt werden, beruht die größere
oder geringere Mitteilbarkeit des Geschauten, Empfundenen, Erkannten,
das heißt des im Stil des eignen Seins Gestalteten durch die Ausdrucksmittel
der Sprache, Kunst und Religion, durch Wortklänge, Formeln, Zeichen,
die ihrerseits selbst Symbole sind. Zugleich erscheint hier die unverrückbare
Grenze, fremden Wesen wirklich etwas mitzuteilen oder deren Lebensäußerungen
wirklich zu verstehen. Der Verwandtschaftsgrad der beiderseitigen Formenwelten
entscheidet darüber, wo das Begreifen in Selbsttäuschung übergeht.
Wir können die indische und ägyptische Seele offenbart
in ihren Menschen, Sitten, Gottheiten, Urworten, Ideen, Bauten, Taten
sicherlich nur sehr unvollkommen verstehen. Den Griechen, ahistorisch
wie sie waren, war auch die geringste Ahnung vom Wesen fremden Seelentums
versagt. (Ebd., S. 213).
Symbole, als etwas verwirklichtes, gehören
zum Bereich des Ausgedehnten. Sie sind geworden, nicht werdend - auch
wenn sie ein Werden bezeichnen - mithin starr begrenzt und den Gesetzen
des Raumes unterworfen. Es gibt nur sinnlich-räumliche Symbole.
Schon das Wort Form bezeichnet etwas Ausgedehntes im Ausgedehnten, und
davon machen auch, wie wir sehen werden, die inneren Formen der Musik
keine Ausnahme. Ausdehnung aber ist das Merkmal der Tatsache »Wachsein«,
die nur eine Seite des Einzeldaseins bildet und mit dessen Schicksalen
innerlichst verbunden ist. (Ebd., S. 214).
Symbole, als etwas Verwirklichtes, gehören zum Bereich des
Ausgedehnten. Sie sind geworden, nichtwerdend auch wenn sie ein
Werden bezeichnen mithin starr begrenzt und den Gesetzen des Raumes
unterworfen. Es gibt nur sinnlich-räumliche Symbole. Schon das Wort
Form bezeichnet etwas Ausgedehntes im Ausgedehnten, und davon machen auch,
wie wir sehen werden, die inneren Formen der Musik keine Ausnahme. Ausdehnung
aber ist das Merkmal der Tatsache »Wachsein«, die nur eine
Seite des Einzeldaseins bildet und mit dessen Schicksalen innerlichst
verbunden ist. Deshalb ist jeder Zug des tätigen empfindenden
oder verstehenden Wachseins in dem Augenblick, wo wir ihn bemerken,
bereits vergangen. Wir können über Eindrücke nur
nachdenken, wie es mit bezeichnender Wendung heißt, aber
was für das Sinnenleben der Tiere nur vergangen ist, ist für
das wortgebundene Verstehen des Menschen vergänglich. Vergänglich
ist nicht nur, was geschieht denn kein Geschehnis läßt
sich zurückrufen , sondern auch jede Art von Bedeutung. ....
Was in das Reich des Ausgedehnten trat, hat mit dem Anfang auch ein Ende.
Es besteht ein tiefer und früh gefühlter Zusammenhang zwischen
Raum und Tod. Der Mensch ist das einzige Wesen, welches den Tod kennt.
Alle andern werden älter, aber mit einer durchaus auf den Augenblick
eingeschränkten Bewußtheit, die ihnen ewig erscheinen muß.
Sie leben, aber sie wissen nichts vom Leben wie die Kinder in den frühesten
Jahren, wo das Christentum sie noch als »unschuldig« betrachtet.
Und sie sterben und sehen das Sterben, aber sie wissen nicht darum. Erst
der ganz erwachte, der eigentliche Mensch, dessen Verstehen durch die
Gewohnheit des Sprechens vom Sehen abgehoben ist, besitzt außer
der Empfindung auch einen Begriff des Vergehens, das heißt ein Gedächtnis
für das Vergangene und eine Erfahrung von Unwiderruflichem. Wir sind
die Zeit (),
aber wir besitzen auch ein Bild der Geschichte, und in diesem erscheint
im Hinblick auf den Tod die Geburt (die Zeugung;
HB) als das andre Rätsel. Für alle übrigen Wesen
verläuft das Leben ohne Ahnung seiner Grenzen, das heißt ohne
ein Wissen um Aufgabe, Sinn, Dauer und Ziel. Mit tiefer und bedeutungsvoller
Identität knüpft sich deshalb das Erwachen des Innenlebens in
einem Kinde oft an den Tod eines Verwandten. Es begreift plötzlich
den leblosen Leichnam, der ganz Stoff, ganz Raum geworden ist, und zugleich
fühlt es sich als einzelnes Wesen in einer fremden, ausgedehnten
Welt. »Vom fünfjährigen Knaben bis
zu mir ist nur ein Schritt. Vom Neugeborenen bis zum fünfjährigen
Kinde ist eine schreckliche Entfernung«, hat Tolstoi einmal gesagt.
Hier, in diesem entscheidenden Punkt des Daseins, wo der Mensch erst zum
Menschen wird und seine ungeheure Einsamkeit im All kennen lernt, enthüllt
sich die Weltangst als die rein menschliche Angst vor dem Tode,
der Grenze in der Welt des Lichts, dem starren Raum. Hier liegt
der Ursprung des höheren Denkens, das zuerst ein Nachdenken über
den Tod ist. Jede Religion, jede Naturforschung, jede Philosophie geht
von hier aus. Jede große Symbolik heftet ihre Formensprache an den
Totenkult, die Bestattungsform, den Schmuck des Grabes. .... Erst aus
der stets wachen Sorge um das Leben, das noch nicht vergangen ist,
entsteht die Sorge um das Vergangne. Ein Tier hat nur Zukunft,
der Mensch kennt auch die Vergangenheit. Mit einer
neuen »Weltanschauung«, das heißt einem plötzlichen
Blick auf den Tod als dem Geheimnis der erschauten Welt, erwacht deshalb
jede neue Kultur. Als um das Jahr 1000 der Gedanke an das Weltende sich
im Abendland verbreitete, wurde die faustische Seele dieser Landschaft
geboren. (Ebd., S. 214-216).
Der Urmensch, in tiefem Staunen über den Tod, suchte diese
Welt des Ausgedehnten mit den unerbittlichen und stets gegenwärtigen
Schranken ihrer Kausalität, voll von dunkler Allmacht, die ihn ständig
mit dem Ende bedrohte, mit allen Kräften seines Geistes zu durchdringen
und zu beschwören. Diese triebhafte Abwehr liegt tief im unbewußten
Dasein, aber indem sie Seele und Welt erst eigentlich schuf, zerdehnte,
gegeneinander stellte, bezeichnete sie die Schwelle persönlicher
Lebensführung. Ichgefühl und Weltgefühl beginnen zu wirken,
und alle Kultur, innere wie äußere, Haltung wie Leistung, ist
nur die Steigerung dieses Menschseins überhaupt. Von hier an ist
alles, was unsern Empfindungen widersteht, nicht mehr nur »Widerstand«,
Sache, Eindruck wie bei Tieren und auch noch beim Kinde, sondern auch
Ausdruck. Die Dinge sind nicht nur wirklich innerhalb der Umwelt,
sondern sie haben, so wie sie »erscheinen«, innerhalb der
Welt»anschauung« auch einen Sinn. Zuerst besaßen
sie allein ein Verhältnis zum Menschen, jetzt besitzt der Mensch
auch sein Verhältnis zu ihnen. Sie sind Sinnbilder seines Daseins
geworden. So geht das Wesen aller echten unbewußten und
innerlich notwendigen Symbolik aus dem Wissen des Todes hervor,
in dem sich das Geheimnis des Raumes enthüllt. Alle Symbolik bedeutet
eine Abwehr. Sie ist Ausdruck einer tiefen Scheu im alten Doppelsinn des
Wortes: ihre Formensprache redet zugleich von Feindschaft und Ehrfurcht.
(Ebd., S. 216).
Alles Gewordne
ist vergänglich. Vergänglich sind nicht nur Völker,
Sprachen, Rassen, Kulturen. Es wird in wenigen Jahrhunderten keine westeuropäische
Kultur, keinen Deutschen, Engländer, Franzosen mehr geben, wie es
zur Zeit Justinians keinen Römer mehr gab. Nicht die Folge menschlicher
Generationen war erloschen; die innere Form eines Volkes, die eine Anzahl
von ihnen zu einheitlicher Gebärde zusammengefaßt hatte, war
nicht mehr da ().
Der civis Romanus, eines der mächtigsten Symbole antiken Seins,
war gleichwohl als Form nur von Dauer einiger Jahrhunderte. Aber das Urphänomen
der großen Kultur überhaupt wird einmal wieder verschwunden
sein, und mit ihm das Schauspiel der Weltgeschichte, und endlich der Mensch
selbst und darüber hinaus die Erscheinung des pflanzlichen und tierischen
Lebens an der Erdoberfläche, die Erde, die Sonne und die ganze Welt
der Sonnensysteme. .... Und so läßt sich der Gedanke des rein
menschlichen Makrokosmos wieder an ein Wort knüpfen, dem die ganze
fernere Darstellung gewidmet sein soll: Alles Vergängliche ist
nur ein Gleichnis ().
(Ebd., S. 216-217).
So führt diese Einsicht unvermerkt
auf das Raumproblem, allerdings in einem neuen und überraschenden
Sinne. Seine Lösung - oder bescheidener, seine Deutung - erscheint
erst in diesem Zusammenhang möglich, so wie das Zeitproblem erst
aus der Schicksalsidee faßlicher wurde. Das schicksalhaft gerichtete
Leben erscheint, sobald wir erwachen, im Sinnenleben als empfundene
Tiefe. Alles dehnt sich, aber es ist noch nicht »der Raum«,
nichts in sich Verfestigtes, sondern ein beständiges Sich-dehnen
vom bewegten Hier zum bewegten Dort. Das Welterlebnis knüpft sich
ausschließlich an das Wesen der Tiefe - der Ferne oder Entfernung
- deren Zug im abstrakten System der Mathematik neben Länge und Breite
als »dritte Dimension« bezeichnet wird. Diese Dreizahl
gleichgeordneter Elemente ist von vornherein irreführend. Ohne Zweifel
sind sie im räumlichen Welteindruck nicht gleichwertig, geschweige
denn gleichartig. »Länge und Breite«, sicherlich als
Erlebnis eine Einheit, keine Summe, sind, mit Vorsicht gesagt, bloße
Form der Empfindung. Sie repräsentieren den rein sinnlichen Eindruck.
Die Tiefe repräsentiert den Ausdruck, die Natur; mit
ihr beginnt die »Welt«. Diese der Mathematik selbstverständlich
ganz fremde Unterscheidung in der Bewertung der dritten Dimension gegenüber
den sogenannten beiden andern liegt auch in der Gegenüberstellung
der Begriffe Empfindung und Anschauung. Die Dehnung in die Tiefe verwandelt
die erste in die letzte. Erst die Tiefe ist die eigentliche
Dimension im wörtlichen Sinne, das Ausdehnende ().
In ihr ist das Wachsein aktiv, in den andern streng passiv. Es ist der
symbolische Gehalt einer Ordnung, und zwar im Sinne einer einzelnen
Kultur, der sich zutiefst in diesem ursprünglichen und nicht weiter
analysierbaren Element ausspricht. Das Erlebnis der Tiefe ist von
dieser Einsicht hängt alles Weitere ab ein ebenso vollkommen
unwillkürlicher und notwendiger als vollkommen schöpferischer
Akt, durch den das Ich seine Welt, ich möchte sagen zudiktiert erhält.
Er schafft aus dem Strom von Empfindungen eine formvolle Einheit, ein
bewegtes Bild, das nunmehr, sobald das Verstehen sich seiner bemächtigt,
von Gesetzen beherrscht, dem Kausalprinzip unterworfen und mithin, als
Abbild eines persönlichen Geistes, vergänglich ist.
(Ebd., S. 217-218).
Es besteht kein Zweifel, obwohl der Verstand sich dagegen auflehnt,
daß diese Dehnung unendlicher Verschiedenheit fähig ist, nicht
nur anders beim Kinde und Manne, beim Naturmenschen und Städter,
Chinesen und Römer, sondern in jedem einzelnen, je nachdem er nachdenklich
oder aufmerksam, tätig oder ruhend seine Welt erlebt. Jeder Künstler
hat noch »die« Natur durch Farbe und Linie wiedergegeben.
Jeder Physiker, der griechische, arabische, deutsche hat »die«
Natur in letzte Elemente zergliedert warum fanden sie nicht
alle dasselbe? Weil jeder seine eigene Natur hat, obwohl jeder sie mit
einer Naivität, die seine Lebensanschauung rettet, die ihn rettet,
mit allen andern gemein zu haben glaubt. »Natur« ist ein Besitz,
der durch und durch mit persönlichstem Gehalt gesättigt ist.
Natur ist eine Funktion der jeweiligen Kultur.
(Man muß hier wissen, daß mit »Natur« das gemeint
ist, was jeweils kulturell darunter verstanden wird, daß es also
dann, wenn es verschiedene Kulturen gibt, auch verschiedene »Naturen«
gibt!) (Ebd., S. 218-219).
Nun hat Kant die große Frage, ob dies Element »a priori«
vorhanden oder durch Erfahrung erworben ist, durch seine berühmte
Formel dahin zu entscheiden geglaubt, daß der Raum die allen Welteindrücken
zugrunde liegende Form der Anschauung sei. Aber die »Welt«
des sorglosen Kindes und des Träumers besitzt diese Form unzweifelhaft
in schwankender und unentschiedener Art (der Mangel
an Perspektive in Kinderzeichnungen wird von Kindern gar nicht empfunden),
und erst die gespannte, praktische, technische Betrachtung der Umwelt
denn frei bewegliche Wesen müssen für ihr Leben sorgen;
nur die Lilien auf dem Felde brauchen es nicht läßt
das sinnliche Sich-dehnen zur verstandenen Dreidimensionalität erstarren.
Erst der städtische Mensch hoher Kulturen lebt wirklich in
dieser grellen Wachheit, und erst für sein Denken gibt es einen vom
Sinnenleben ganz abgelösten (»absoluten«), toten,
zeitfremden Raum als Form nicht mehr des Angeschauten, sondern des Verstandenen.
Es ist keine Frage, daß »der« Raum, wie ihn Kant mit
unbedingter Gewißheit um sich sah, als er über seine Theorie
nachdachte, für seine Vorfahren zur Karolingerzeit auch nicht annähernd
in dieser strengen Gestalt vorhanden war. Kants Größe beruht
auf der Schöpfung des Begriffs einer »Form a priori«,
aber nicht auf der Anwendung, die er ihm gab. Daß die Zeit keine
Form der Anschauung ist, daß sie überhaupt keine »Form«
ist es gibt nur ausgedehnte Formen und nur als Gegenbegriff
zum Raum definiert wurde, sahen wir schon. Es ist aber nicht nur die Frage,
ob gerade das Wort Raum den formalen Gehalt im Angeschauten genau deckt;
es ist auch eine Tatsache, daß die Form der Anschauung sich mit
dem Grade der Entfernung ändert: Jedes entfernte Gebirge wird
als Fläche Kulisse »angeschaut«. Niemand
wird behaupten, daß er die Mondscheibe körperhaft sehe. Der
Mond ist für das Auge eine reine Fläche, und erst durch das
Fernrohr stark vergrößert also künstlich angenähert
erhält er mehr und mehr räumliche Beschaffenheit. Augenscheinlich
ist die Form der Anschauung also auch eine Funktion des Abstandes. Dazu
kommt, daß wir beim Nachdenken, statt uns eben vergangener Eindrücke
genau zu erinnern, das Bild des von ihnen abgezogenen Raumes »vor
uns hinstellen«. Aber diese Vorstellung täuscht uns über
die lebendige Wirklichkeit. Kant hat sich täuschen lassen. Er hätte
zwischen Formen der Anschauung und des Verstandes gar nicht scheiden dürfen,
denn sein Begriff Raum umfaßt bereits beides. Sein
Gedanke, daß die Apriorität des Raumes durch die unbedingte
anschauliche Gewißheit einfacher geometrischer Tatsachen bewiesen
werde, beruht auf der schon erwähnten allzu populären Ansicht,
daß Mathematik entweder Geometrie oder Arithmetik sei. Nun war schon
damals die Mathematik des Abendlandes weit über dieses naive
der Antike nachgesprochene Schema hinausgegangen. Wenn die heutige
Geometrie statt »des Raumes« mehrfach unendliche Zahlenmannigfaltigkeiten
zugrunde legt, unter denen die dreidimensionale ein an sich nicht ausgezeichneter
Einzelfall ist, und innerhalb dieser Gruppen funktionale Gebilde hinsichtlich
ihrer Struktur untersucht, so hat jede überhaupt mögliche Art
von sinnlicher Anschauung aufgehört, sich formal mit mathematischen
Tatsachen im Bereich solcher Ausgedehntheiten zu berühren, ohne daß
deren Evidenz dadurch herabgesetzt würde. Die Mathematik ist also
von der Form des Angeschauten unabhängig. Es ist nun die Frage, wie
viel von der gerühmten Evidenz der Anschauungsformen für sich
übrig bleibt, sobald die künstliche Übereinanderschichtung
beider in einer vermeintlichen Erfahrung erkannt worden ist.
(Ebd., S. 219-220).
Wie Kant sich das Zeitproblem dadurch verdarb, daß er es
zu der in ihrem Wesen mißverstandenen Arithmetik in Beziehung brachte
und also von einem Zeitphantom redete, dem die lebendige Richtung fehlte,
das also nur ein räumliches Schema war, so verdarb er sich das Raumproblem
durch seine Beziehung auf eine Allerweltsgeometrie. Der Zufall hat es
gewollt, daß wenige Jahre nach Vollendung seines Hauptwerkes Gauß
die erste der nichteuklidischen Geometrien entdeckte, durch deren in sich
widerspruchslose Existenz bewiesen wurde, daß es mehrere
streng mathematische Arten einer dreidimensionalen Ausgedehntheit gibt,
die sämtlich »a priori gewiß« sind, ohne daß
es möglich wäre, eine von ihnen als die eigentliche Form der
»Anschauung« herauszuheben. (Ebd., S. 220-221).
Es war ein schwerer und für einen Zeitgenossen Eulers und
Lagranges unverzeihlicher Irrtum, die antike Schulgeometrie, denn an sie
hat Kant immer gedacht, in den Formen der uns umgebenden Natur abgebildet
finden zu wollen. In den Augenblicken, wo wir sie aufmerksam beobachten,
ist in der Nähe des Beobachters und bei hinreichend kleinen Verhältnissen
eine annähernde Übereinstimmung zwischen dem lebendigen Eindruck
und den Regeln der gewöhnlichen Geometrie sicherlich vorhanden. Die
von der Philosophie behauptete genaue Übereinstimmung läßt
sich aber weder durch den Augenschein noch durch Meßinstrumente
nachweisen. Beide können eine gewisse, für die praktische Entscheidung
über die Frage z.B., welche der nichteuklidischen Geometrien die
des »empirischen« Raumes sei, bei weitem nicht ausreichende
Grenze der Genauigkeit niemals überschreiten. (Gewiß
läßt sich ein geometrischer Lehrsatz an einer Zeichnung beweisen,
richtiger demonstrieren. Aber der Lehrsatz erhält in jeder Art von
Geometrie eine andre Fassung, und hier entscheidet die Zeichnung nichts
mehr.) Bei großen Maßstäben und Entfernungen, wo
das Tiefenerlebnis das Anschauungsbild völlig beherrscht vor
einer weiten Landschaft etwa statt vor einer Zeichnung widerspricht
die Anschauungsform der Mathematik gründlich. Wir sehen in jeder
Allee, daß Parallelen sich am Horizont berühren. Die Perspektive
der abendländischen und die ganz andere der chinesischen Malerei,
deren Zusammenhang mit den Grundproblemen der zugehörigen Mathematiken
deutlich fühlbar wird, beruht eben auf dieser Tatsache. Das Tiefenerlebnis
in der unermeßlichen Fülle seiner Arten entzieht sich jeder
zahlenmäßigen Bestimmung. Die gesamte Lyrik und Musik, die
gesamte ägyptische, chinesische, abendländische Malerei widersprechen
laut der Annahme einer streng mathematischen Struktur des erlebten und
gesehenen Raumes und nur, weil kein neuerer Philosoph von Malerei das
geringste verstanden hat, konnte ihnen allen diese Widerlegung unbekannt
bleiben. Der »Horizont«, in dem und durch den jedes
Gesichtsbild allmählich in einen Flächenabschluß übergeht,
ist durch keine Art von Mathematik zu erfassen. Jeder Pinselstrich eines
Landschaftsmalers widerlegt die Behauptung der Erkenntnistheorie.
(Ebd., S. 221-222).
Die »drei Dimensionen« besitzen
als vom Leben abgezogene mathematische Größe keine natürliche
Grenze. Man verwechselt das mit Fläche und Tiefe des erlebten Eindrucks,
und so setzt sich der eine erkenntnistheoretische Irrtum in den andern
fort, daß auch die angeschaute Ausgedehntheit unbegrenzt sei, obwohl
unser Blick nur belichtete Raumstücke umfaßt, deren Grenze
die jeweilige Lichtgrenze bildet, sollte es auch der Fixsternhimmel oder
die atmosphärische Helligkeit sein. Die »gesehene Welt«
ist die Gesamtheit von Lichtwiderständen, weil das Sehen an
das Vorhandensein von strahlendem oder zurückgestrahltem Licht gebunden
ist. Die Griechen blieben auch dabei stehen. Nur das abendländische
Weltgefühl schuf die Idee eines grenzenlosen Weltraums mit
unendlichen Fixsternensystemen und Entfernungen, die weit über alle
optischen Möglichkeiten hinausgeht eine Schöpfung des
inneren Blickes, die sich jeder Verwirklichung durch das Auge entzieht
und Menschen anders fühlender Kulturen selbst als Gedanke fremd und
unvollziehbar bleibt. (Ebd., S. 222).
Das Ergebnis der Gaußschen Entdeckung, welche den Weg der
modernen Mathematik überhaupt änderte (bekanntlich
hat Gauß über seine Entdeckung bis fast an sein Lebensende
geschwiegen, weil er »das Geschrei der Böoter« fürchtete),
war also der Nachweis, daß es mehrere gleich richtige Strukturen
der dreidimensionalen Ausgedehntheit gibt, und die Frage, welche von ihnen
denn der wirklichen Anschauung entspreche, beweist, daß man das
Problem gar nicht begriffen hat. Die Mathematik beschäftigt sich,
gleichviel ob sie sich anschaulicher Bilder und Vorstellungen als Handhaben
bedient oder nicht, mit völlig von Leben, Zeit und Schicksal abgehobenen,
rein verstandenen Systemen, Formenwelten reiner Zahlen, deren Richtigkeit
nicht Tatsächlichkeit zeitlos und von kausaler Logik
ist wie alles nur Erkannte und nicht Erlebte. (Ebd., S. 222-223).
Damit ist die Verschiedenheit der lebendigen Anschauung von der
mathematischen Formensprache offenbar geworden, und das Geheimnis des
Raumwerdens tut sich auf. (Ebd., S. 223).
Wie das Werden dem Gewordnen, die unaufhörlich
lebende Geschichte der vollendeten und toten Natur zugrunde liegt, das
Organische dem Mechanischen, das Schicksal dem kausalen Gesetz, dem objektiv
Gesetzten, so ist die Richtung der Ursprung der Ausdehnung. Das mit
dem Worte Zeit berührte Geheimnis des sich vollendenden Lebens bildet
die Grundlage dessen, was als vollendet durch das Wort Raum weniger verstanden
als für ein inneres Gefühl angedeutet wird. Jede wirkliche
Ausgedehntheit wird in und mit dem Erlebnis der Tiefe erst vollzogen;
und eben jene Dehnung in die Tiefe und Ferne zuerst für das
Empfinden, vor allem das Auge, dann erst für das Denken , der
Schritt vom tiefenlosen Sinneneindruck zum makrokosmisch geordneten Weltbilde
mit der geheimnisvoll in ihm sich andeutenden Bewegtheit ist das, was
zunächst durch das Wort Zeit bezeichnet wird. Der Mensch empfindet
sich, und das ist der Zustand wirklichen, auseinanderspannenden Wachseins,
»in« einer ihn rings umgebenden Ausgedehntheit. Man
braucht diesen Ureindruck des Weltmäßigen nur zu verfolgen,
um zu sehen, daß es in Wirklichkeit nur eine wahre Dimension des
Raumes gibt, die Richtung nämlich von sich aus in die Ferne,
das Dort, die Zukunft, und daß das abstrakte System dreier Dimensionen
eine mechanische Vorstellung, keine Tatsache des Lebens ist. Das Tiefenerlebnis
dehnt die Empfindung zur Welt. Das Gerichtetsein des Lebens war
mit Bedeutung als Nichtumkehrbarkeit bezeichnet worden und ein
Rest dieses entscheidenden Merkmals der Zeit liegt in dem Zwang, auch
die Tiefe der Welt stets von sich aus, nie vom Horizont aus zu sich hin
empfinden zu können. Der bewegliche Leib aller Tiere und des Menschen
ist auf diese Richtung hin angelegt. Man bewegt sich »vorwärts«
der Zukunft entgegen, mit jedem Schritt nicht nur dem Ziel, sondern
auch dem Alter sich nähernd und empfindet jeden Blick rückwärts
auch als den Blick auf etwas Vergangnes, bereits zur Geschichte Gewordnes.
(Erst von dieser Richtung in der Anlage des Leibes
aus besinnt man sich auf den Unterschied von rechts und links, vgl. S.
218, Anm. ().
»Vorn« hat für den Körper einer Pflanze gar keinen
Sinn.) (Ebd., S. 223-224).
Wenn man die Grundform des Verstandenen, die
Kausalität, als erstarrtes Schicksal bezeichnet, so darf die
Raumtiefe eine erstarrte Zeit genannt werden. Was nicht nur der
Mensch, sondern schon das Tier als Schicksal um sich walten fühlt,
empfindet es tastend, sehend, horchend, witternd als Bewegung,
die vor der gespannten Aufmerksamkeit kausal erstarrt. Wir fühlen:
es geht dem Frühling entgegen, und wir fühlen im voraus, wie
die Frühlingslandschaft sich rings um uns dehnt; aber wir wissen,
daß sich die Erde im Weltraum drehend bewegt und daß die Frühlingsdauer
neunzig solcher Erddrehungen Tage »beträgt«.
Die Zeit gebiert den Raum, der Raum aber tötet die Zeit. (Ebd.,
S. 224).
Die Zeit gebiert den Raum, der Raum aber tötet
die Zeit. (Ebd., S. 224).
Hätte Kant sich schärfer gefaßt, so hätte
er, statt von »zwei Formen der Anschauung« zu reden, die Zeit
die Form des Anschauens, den Raum die Form des Angeschauten
genannt, und dann hätte sich ihm der Zusammenhang beider vielleicht
offenbart. Der Logiker, Mathematiker und Naturforscher kennt in den Augenblicken
gespannten Nachdenkens nur den gewordenen, vom einmaligen Geschehen eben
durch das Nachdenken darüber abgelösten, wahren, systematischen
Raum, in welchem alles die Eigenschaft einer mathematisch bestimmbaren
»Dauer« besitzt. Hier aber wurde angedeutet, wie der Raum
unaufhörlich wird. Solange wir sinnend ins Weite blicken,
webt es ringsumher. Werden wir aufgeschreckt, so spannt sich vor scharfen
Augen ein fester Raum aus. Dieser Raum ist; er steht damit, daß
er ist, außerhalb der Zeit, von ihr und damit vom Leben abgelöst.
In ihm herrscht die Dauer, ein Stück abgestorbener Zeit, als erkannte
Eigenschaft von Dingen; und da wir uns selbst als seiend in diesem Raum
erkennen, so wissen wir um unsre Dauer und deren Grenzen, an die der Zeiger
unsrer Uhren unaufhörlich mahnt. Der starre Raum selbst aber, der
ebenfalls vergänglich ist und mit jedem Nachlassen des geistigen
Gespanntseins aus dem farbigen Dehnen unsrer Umwelt verschwindet, ist
eben damit Zeichen und Ausdruck des Lebens selbst, das ursprünglichste
und mächtigste seiner Symbole. (Ebd., S. 224-225).
Denn die
wahllose Deutung der Tiefe, die mit der Wucht eines elementaren Ereignisses
das Wachsein beherrscht, bezeichnet zugleivh mit dem Erwachen des Innenlebens
die Grenze von Kind und - Mensch. Das symbolische Erlebnis der Tiefe ist
es, welches dem Kinde fehlt, das nach dem Monde greift, das noch keinen
Sinn der Außenwelt kennt und gleich der urmenschlichen Seele
in traumhafter Verbundenheit mit allem Empfmdungshaften hindämmert.
Nicht als ob ein Kind keine Erfahrung einfachster Art vom Ausgedehnten
hätte; aber eine Weltanschauung ist noch nicht da; die Ferne
wird empfunden, aber sie redet noch nicht zur Seele. Erst mit dem
Wachwerden der Seele erhebt sich auch die Richtung zum lebendigen Ausdruck.
Und da ist antik das Ruhen in der nahen Gegenwart, das sich allem Fernen
und Künftigen verschließt, faustisch die Richtungsenergie,
die nur für die fernsten Horizonte einen Blick hat, chinesisch das
Wandeln vor sich hin, das doch einmal zum Ziele führt, und ägyptisch
der entschlossene Gang auf dem einmal eingeschlagenen Wege. So offenbart
sich die Schicksalsidee in jedem Lebenszuge. Erst damit gehören wir
einer einzelnen Kultur an, deren Glieder ein gemeinsames Weltgefühl
und aus ihm eine gemeinsame Weltform verbindet. Eine tiefe Identität
verknüpft beides: Das Erwachen der Seele, ihre Geburt zum
hellen Dasein im Namen einer Kultur, und das plötzliche Begreifen
von Ferne und Zeit, die Geburt der Außenwelt durch das Symbol
der Dehnung, die von mun an das Ursymbol dieses Lebens bleibt und
ihm seinen Stil und die Gestalt seiner Geschichte als der fortschreitenden
Verwirklichung seiner inneren Möglichkeiten gibt ().
Erst aus der Art des Gerichtetseins folgt das ausgedehnte Ursymbol, nämlich
für den antiken Weltblick der nahe, fest umgrenzte, in sich geschlossene
Körper, für den abendländischen der unendliche Raum mit
dem Tiefendrang der dritten Dimension, für den arabischen die Welt
als Höhle. Hier löst sich eine alte philosophische Frage in
Nichts auf: Angeboren ist diese Urgestalt der Welt, insofern sie
ursprüngliches Eigentum der Seele dieser Kultur ist, deren Ausdruck
unser ganzes Leben bildet; erworben ist sie, insofern jede einzelne
Seele jenen Schöpfungsakt für sich noch einmal wiederholt und
das ihrem Dasein vorbestimmte Symbol der Tiefe in früher Kindheit,
wie ein ausschlüpfender Schmetterling seine Flügel, entfaltet.
Das erste Begreifen der Tiefe ist ein Geburtsakt, ein seelischer
neben dem leiblichen. Mit ihm wird eine Kultur aus ihrer Mutterlandschaft
geboren, und das wird in ihrem ganzen Verlauf von jeder einzelnen Seele
wiederholt. Dies nannte Plato, indem er an einen hellenischen Urglauben
anknüpfte, die Anamnesis. Die Bestimmtheit der Weltform, die für
jede ertagende Seele plötzlich da ist, wird aus dem Werden
gedeutet, während Kant, der Systematiker, mit seinem Begriff der
apriorischen Form bei der Deutung desselben Rätsels vom toten
Ergebnis, nicht vom lebendigen Wege zu ihm ausgeht. (Ebd., S. 225-226).
Die Art der Ausgedehntheit soll von nun an das Ursymbol einer
Kultur genannt werden. Die gesamte Formensprache ihrer Wirklichkeit,
ihre Physiognomie im Unterscliede von der jeder anderen Kultur und vor
allem von der beinahe physiognomielosen Umwelt des primitiven Menschen
ist aus ihr abzuleiten; denn die Deutung der Tiefe erhebt sich nun zur
Tat, zum gestaltenden Ausdruck in Werken, zur Umgestaltung des
Wirklichen. die nicht mellr wie bei Tieren einer Not des Lebens dient,
sondern ein Sinnbild des Lebens aufrichten soll, das sich aller
Elemente der Ausdehnung, der Stoffe, Linien, Farben, Töne, Bewegungen
bedient, und oft noch nach, Jahrhunderten, indem es im Weltbild späterer
Wesen auftaucht und seinen Zauber übt, von der Art zeugt, wie seine
Urheber die Welt verstanden haben. (Ebd., S. 226).
Aber das Ursymbol selbst verwirklicht sich nicht. Es ist im Formgefühl
jedes Menschen, jeder Gemeinschaft, Zeitstufe und Epoche wirksam und diktiert
ihnen den Stil sämtlicher Lebensäußerungen. Es liegt in
der Staatsform, in den religiösen Mythen und Kulten, den Idealen
der Ethik, den Formen der Malerei, Musik und Dichtung, den Grundbegriffen
jeder Wissenschaft, aber es wird nicht durch sie, dargestellt. Folglich
ist es auch durch Worte nicht begrifflich darstellabr, denn Sprachen und
Erkenntnisformen sind selbst abgeleitete Symbole. Jedes Einzelsymbol
redet von ihm, aber zum inneren Gefühl, nicht zum Verstand.
(Ebd., S. 226-227).
Wenn das Ursymbol der antiken Seele
fortan als der stoffliche Einzelkörper, das der abendländischen
als der reine, unendliche Raum bezeichnet wird, so darf nie übersehen
werden, daß Begriffe das nie zu Begreifende nicht darstellen, daß
vielmehr die Wortklänge nur ein Bedeutungsgefühl davon entwickeln
können. (Ebd., S. 227).
Der unendliche Raum ist das Ideal, welches
die abendländische Seele immer wieder in ihrer Umwelt gesucht
hat. Sie wollte es in ihr unmittelbar verwirklicht sehen, und dies erst
gibt den unzähligen Raumtheorien der letzten Jahrhunderte jenseits
aller vermeintlichen Resultate ihre tiefe Bedeutung als den Symptomen
eines Weltgefühls. Inwiefern liegt die grenzenlose Ausgedehntheit
allem Gegenständlichen zugrunde? Kaum ein zweites Problem
ist so ernsthaft durchdacht worden, und fast hätte man glauben sollen,
es hinge jede andre Weltfrage von dieser einen nach dem Wesen des Raumes
ab. Und ist es nicht für uns in der Tat so? Warum hat
denn niemand bemerkt, daß die gesamte Antike kein Wort darüber
verlor, ja daß sie nicht einmal das Wort besaß, um dies Problem
genau umschreiben zu können? ().
Warum schwiegen die großen Vorsokratiker? Übersahen sie
etwa in ihrer Welt gerade das, was uns als das Rätsel aller Rätsel
erscheint? Hätten wir nicht längst einsehen sollen, daß
in diesem Schweigen gerade die Lösung lag? Wie kommt
es, daß unserem tiefsten Gefühl nach »die Welt«
nichts anderes ist als jener durch das Tiefenerlebnis ganz eigentlich
geborene Weltraum, dessen erhabene Leere durch die in ihm verlorenen
Fixsternsysteme noch einmal bestätigt wird? Hätte man
dies Gefühl einer Welt einem antiken Denker auch nur begreiflich
machen können? Man entdeckt plötzlich, daß dies
»ewige Problem«, das Kant im Namen der Menschheit mit der
Leidenschaft einer symbolischen Tat behandelte, ein rein abendländisches
und im Geiste der andern Kulturen gar nicht vorhanden ist. (Ebd.,
S. 227-228).
Was war es denn, was dem antiken Menschen, dessen Blick in seine
Umwelt sicherlich nicht weniger klar war, als das Urproblem des gesamten
Seins erschien? Das der arce, des stofflichen
Urgrundes aller sinnlich-greifbaren Dinge. Begreift man dies, so wird
man dem Sinn der Tatsache nahekommen nicht des Raumes, sondern
der Frage, weshalb das Raumproblem mit schicksalhafter Notwendigkeit das
der abendländischen Seele und dieser allein werden mußte. (Das
liegt, bisher unerkannt, in dem berühmten Parallelenaxiom Euklids
[»Durch einen Punkt ist zu einer Geraden nur eine Parallele möglich«],
dem einzigen der antiken mathematischen Sätze, der unbewiesen blieb
und der, wie wir heute wissen, unbeweisbar ist. Gerade das aber macht
ihn zum Dogma gegenüber aller Erfahrung und damit zum metaphysischen
Mittelpunkt, zum Träger jenes geometrischen Systems. Alles
andre, Axiome wie Postulate, ist nur Vorbereitung oder Folge. Dieser einzige
Satz ist für den antiken Geist notwendig und allgemeingültig
und doch nicht ableitbar. Was bedeutet das? Daß er ein Symbol
ersten Ranges ist. Er enthält die Struktur der antiken Körperlichkeit.
Gerade dies theoretisch schwächste Glied der antiken Geometrie, gegen
das sich schon in hellenistischer Zeit Widerspruch erhob, offenbart ihre
Seele, und gerade dieser der Alltagserfahrung selbstverständliche
Satz war es, an den sich der Zweifel des aus körperlosen Raumfernen
stammenden faustischen Zahlendenkens knüpfte. Es gehört zu den
tiefsten Symptomen unseres Daseins, daß wir der euklidischen
Geometrie nicht etwa eine, sondern eine Mehrzahl von andern gegenüberstellen,
die für uns gleich wahr, gleich widerspruchslos sind. Die eigentliche
Tendenz dieser als antieuklidische Gruppe aufzufassenden Geometrien
in denen es durch einen Punkt zu einer Geraden keine, zwei oder unzählige
Parallelen gibt liegt darin, daß sie eben durch ihre Mehrzahl
den körperlichen Sinn des Ausgedehnten, den Euklid durch seinen Grundsatz
heilig sprach, gänzlich aufhoben, denn sie widerstrebt der
Anschauung, die alles Körperliche fordert, alles rein Räumliche
aber verneint. Die Frage, welche der drei nichteuklidischen Geometrien
die »richtige«, der Wirklichkeit zugrunde liegende sei
obwohl selbst von Gauß ernsthaft geprüft ist dem Weltgefühl
nach antik, hätte also von einem Denker unserer Kultur nicht gestellt
werden sollen. Sie verschließt den Blick in den wahren Tiefsinn
jener Einsicht: Nicht in der Realität der einen oder andern, sondern
in der Vielheit gleichmäßig möglicher Geometrien
liegt das spezifisch abendländische Symbol. Erst durch die Gruppe
von Raumstrukturen, in deren Fülle die antike Fassung einen bloßen
Grenzfall bildet, wird der Rest von Körperhaftem im reinen Raumgefühl
aufgelöst.) (Ebd., S. 228).
Gerade diese allmächtige Räumlichkeit, welche die Substanz
aller Dinge in sich saugt, aus sich erzeugt unser Eigentlichstes
und Höchstes im Aspekt unseres Weltalls , wird von der antiken
Menschheit, die nicht einmal das Wort und also den Begriff Raum kennt,
einstimmig als to mh on abgetan, als das, was
nicht da ist. Man kann das Pathos dieser Verneinung gar nicht tief genug
fassen. Die ganze Leidenschaft der antiken Seele grenzte durch sie symbolisch
ab, was sie nicht als wirklich empfinden wollte, was nicht Ausdruck ihres
Daseins sein durfte. (Ebd., S. 228-229).
Und nun ziehe ich die Folgerung. Es gibt
eine Vielzahl von Ursymbolen. Das Tiefenerlebnis, durch das die Welt wird,
durch das die Empfindung sich zur Welt dehnt, bedeutsam für die Seele,
der es angehört, und für sie allein, anders im Wachen, Träumen,
Hinnehmen und Beobachten, anders bei Kind und Greis, Städter und
Bauer, Mann und Weib, verwirklicht und zwar mit tiefster Notwendigkeit
für jede hohe Kultur die Möglichkeit der Form, auf der ihr gesamtes
Dasein beruht. Alle Grundworte wie Masse, Substanz, Materie, Ding, Körper,
Ausdehnung und die Tausende in den Sprachen andrer Kulturen aufbewahrten
Wortzeichen entsprechender Art sind wahllose, vom Schicksal bestimmte
Zeichen, welche aus der unendlichen Fülle von Weltmöglichkeiten
im Namen der einzelnen Kultur die einzig bedeutende und deshalb notwendige
herausheben. Keines ist in das Erleben und Erkennen einer andern Kultur
genau übertragbar. Keines dieser Urworte kehrt nochmals wieder. Die
Wahl des Ursymbols in jenem Augenblick, wo die Seele einer Kultur
in ihrer Landschaft zum Selbstbewußtsein erwacht, die für jeden,
der Weltgeschichte so zu betrachten vermag, etwas Erschütterndes
hat, entscheidet alles. (Ebd., S. 233).
Kultur als Inbegriff des sinnlich-gewordenen Ausdrucks der Seele
in Gebärden und Werken, als ihr Leib, sterblich, vergänglich,
dem Gesetz, der Zahl und der Kausalität verfallen; Kultur als historisches
Schauspiel, als Bild im Gesamtbilde der Weltgeschichte; Kultur als Inbegriff
großer Sinnbilder des Lebens, Fühlens und Verstehens: das ist
die Sprache, durch welche allein eine Seele sagen kann, was sie leidet.
(Ebd., S. 233).
Auch der Makrokosmos ist Eigentum einer einzelnen Seele, und wir
werden nie wissen, wie es um den der andern steht. Was über
alle Möglichkeiten begrifflicher Verständigung hinausgreifend
»der unendliche Raum«, diese schöpferische Deutung
des Tiefenerlebnisses durch uns Menschen des Abendlandes und uns allein,
besagen will, diese Art von Ausdehnung, welche die Griechen das Nichts
nannten und wir das All, taucht unsre Welt in eine Farbe, welche die antike,
die indische, die ägyptische Seele nicht auf ihrer Palette hatten.
Die eine Seele erlauscht das Welterlebnis in As-Dur, die andere in F-Moll;
die eine empfindet es euklidisch, die zweite kontrapunktisch, die dritte
magisch. Vom reinsten analytischen Räume und vom Nirwana führt
eine Reihe von Ursymbolen bis zur leibhaftigsten attischen Körperlichkeit,
deren jedes fähig ist, eine vollkommene Weltform aus sich zu bilden.
So fern, seltsam und flüchtig die indische oder babylonische Welt
ihrer Idee nach für die Menschen der fünf oder sechs ihnen folgenden
Kulturen war, so unbegreiflich wird einst die abendländische Welt
für die Menschen noch ungeborener Kulturen sein. (Ebd., S.
234).
Apollinische, faustische, magische Seele
Und nun ziehe ich die Folgerung. Es gibt eine Vielzahl von Ursymbolen.
Das Tiefenerlebnis, durch das die Welt wird, durch das die Empfindung
sich zur Welt dehnt, bedeutsam für die Seele, der es angehört,
und für sie allein, anders im Wachen, Träumen, Hinnehmen und
Beobachten, anders bei Kind und Greis, Städter und Bauer, Mann und
Weib, verwirklicht und zwar mit tiefster Notwendigkeit für jede hohe
Kultur die Möglichkeit der Form, auf der ihr gesamtes Dasein beruht.
Alle Grundworte wie Masse, Substanz, Materie, Ding, Körper, Ausdehnung
und die Tausende in den Sprachen andrer Kulturen aufbewahrten Wortzeichen
entsprechender Art sind wahllose, vom Schicksal bestimmte Zeichen, welche
aus der unendlichen Fülle von Weltmöglichkeiten im Namen der
einzelnen Kultur die einzig bedeutende und deshalb notwendige herausheben.
Keines ist in das Erleben und Erkennen einer andern Kultur genau übertragbar.
Keines dieser Urworte kehrt nochmals wieder. Die Wahl des Ursymbols
in jenem Augenblick, wo die Seele einer Kultur in ihrer Landschaft zum
Selbstbewußtsein erwacht, die für jeden, der Weltgeschichte
so zu betrachten vermag, etwas Erschütterndes hat, entscheidet alles.
(Ebd., S. 233).
Kultur als Inbegriff des sinnlich-gewordenen
Ausdrucks der Seele in Gebärden und Werken, als ihr Leib,
sterblich, vergänglich, dem Gesetz, der Zahl und der Kausalität
verfallen; Kultur als historisches Schauspiel, als Bild im Gesamtbilde
der Weltgeschichte; Kultur als Inbegriff großer Sinnbilder des Lebens,
Fühlens und Verstehens: das ist die Sprache, durch welche allein
eine Seele sagen kann, was sie leidet. (Ebd., S. 233).
Die Nacht entkörpert; der Tag entseelt. (Ebd., S. 240).
Was die Seele des Abendlandes durch einen außergewöhnlichen Reichtum
an Ausdrucksmitteln, in Worten, Tönen, Farben, malerischen Perspektiven,
philosophischen Systemen, Legenden und nicht zum wenigsten in den Räumen
gotischer Dome und den Formeln der Funktionentheorie aussprach, ihr Weltgefühl
nämlich, das hat die ägyptische Seele, fernab von allem theoretischen
und literarischen Ehrgeiz fast allein durch die unmittelbare Sprache des Steins
ausgedrückt. Statt sich über ihre Form des Ausgedehnten, ihren »Raum«
und ihre »Zeit«, in Wortspielen zu ergehen, statt Hypothesen, Zahlensysteme
und Dogmen zu bilden, stellte sie schweigend ihre ungeheuren Symbole in die
Landschaft am Nil. Der Stein ist das große Sinnbild des Zeitlos-gewordnen.
Raum und Tod scheinen in ihm verbunden. »Für die Toten«, sagt
Bachofen in einer Selbstbiographie, »hat man eher gebaut als für
die Lebenden, und wenn für die Spanne Zeit, die diesen gegeben ist, vergängliches
Holzwerk genügt, so verlangt die Ewigkeit jener Behausung den festen Stein
der Erde. An den Stein, der die Grabstätte bezeichnet, knüpft sich
der älteste Kult, an das Grabgebäude der älteste Tempelbau, an
den Grabschmuck der Ursprung der Kunst und der Ornamentik. In den Gräbern
hat sich das Symbol gebildet. Was am Grabe gedacht, empfunden, still gebetet
wird, das kann kein Wort aussprechen, sondern nur das in ewig gleichem Ernste
ruhende Symbol ahnungsreich andeuten.« Der Tote strebt nicht mehr. Er
ist nicht mehr Zeit, sondern nur noch Raum, etwas das verweilt oder auch
verschwunden ist, keinesfalls aber einer Zukunft entgegenreift; und deshalb
das Verweilende im strengsten Sinne, der Stein als Ausdruck davon, wie sich
Totes im Wachsein der Lebenden spiegelt. Die faustische Seele erwartete eine
Unsterblichkeit nach dem leiblichen Ende, gleichsam eine Vermählung mit
dem unendlichen Raum, und sie entkörperte den Stein im gotischen Strebesystem
gleichzeitig mit den Parallelfolgen des Kirchengesangs bis er
nur noch den inbrünstigen Tiefen- und Höhendrang dieses Sichausdehnens
vor Augen stellte. Die apollinische Seele wollte den Toten verbrannt, vernichtet
sehen und sie vermied eben deshalb die ganze Frühzeit hindurch das Bauen
in Stein. Die ägyptische Seele sah sich
wandernd auf einem engen und unerbittlich vorgeschriebenen Lebenspfad,
über den sie einst den Totenrichtern Rechenschaft abzulegen hatte (125.
Kap. des Totenbuchs). Das war ihre Schicksalsidee. Das ägyptische Dasein
ist das eines Wanderers in einer und immer der gleichen Richtung; die
gesamte Formensprache seiner Kultur dient der Versinnlichung dieses einen Motivs.
Sein Ursymbol läßt sich, neben dem unendlichen Raum des Nordens
und dem Körper der Antike, durch das Wort Weg am ehesten
faßlich machen. Es ist dies eine sehr fremdartige und dem abendländischen
Denken schwer zugängliche Art, im Wesen der Ausdehnung die Tiefenrichtung
allein zu betonen. Die Grabtempel des Alten Reiches, vor allem die gewaltigen
Pyramidentempel der 4. Dynastie stellen nicht wie Moschee und Dom einen sinnvoll
gegliederten Raum dar, sondern eine rhythmisch gegliederte Folge von Räumen.
Der heilige Weg führt vom Torbau am Nil durch Gänge, Hallen, Arkadenhöfe
und Pfeilersäle sich stets verengend bis zur Totenkammer (Hölscher,
Grabdenkmal des Königs Chephren; Borchardt, Grabdenkmal des Sahu-rê;
Curtius, Die antike Kunst, S. 45.), und ebenso sind die Sonnentempel
der 5. Dynastie kein »Gebäude«, sondern ein von mächtigem
Gestein eingefaßter Weg. (Vgl. Bd. II, S. 900; Borchardt,
Reheiligtum des Newoserrê; Ed. Meyer, Gesch. d. Altertums I, § 251.)
Die Reliefs und Gemälde erscheinen stets in Reihen, die mit eindringlichem
Zwang den Betrachter in einer bestimmten Richtung geleiten; die Widder- und
Sphinxalleen des Neuen Reiches wollen dasselbe. Für den Ägypter war
das über seine Weltform entscheidende Tiefenerlebnis so streng hinsichtlich
der Richtung betont, daß der Raum gewissermaßen in steter Verwirklichung
begriffen blieb. Diese Ferne ist nicht erstarrt. Nur indem der Mensch sich vorwärts
bewegt und damit selbst zum Symbol des Lebens wird, tritt er in Beziehung zu
dem steinernen Teil dieser Symbolik. »Weg« bedeutet zugleich Schicksal
und dritte Dimension. Die mächtigen Wandflächen, Reliefs, Säulenreihen,
an denen er vorüberführt, sind »Länge und Breite«,
d.h. die bloße Empfindung der Sinne, die das vorwärtsdringende Leben
erst zur Welt dehnt. So erlebt der im Prozessionszuge schreitende Ägypter
den Raum gewissermaßen in seinen noch unvereinigten Elementen, während
ihn der vor dem Tempel opfernde Grieche nicht empfand und er den im Dom
betenden Menschen der gotischen Jahrhunderte in ruhender Unendlichkeit umgibt.
Deshalb will diese Kunst Flächenwirkung und nichts anderes, auch
dort, wo sie sich körperhafter Mittel bedient. Für den Ägypter
war die Pyramide über dem Königsgrab ein Dreieck, eine ungeheure,
den Weg abschließende, die Landschaft beherrschende Fläche
von stärkster Kraft des Ausdrucks, von wo aus er auch sich ihr näherte;
die Säulen der inneren Gänge und Höfe, auf dunklem Hintergrunde,
von dichtester Aufstellung und mit Schmuck überdeckt, wirkten durchaus
als vertikale Flächenstreifen, die den Zug der Priester rhythmisch begleiteten;
das Relief ist peinlich und sehr im Gegensatz zum antiken in eine
Fläche gebannt; in der Entwicklung von der 3. zur 5. Dynastie nimmt es
von Fingerstärke bis zur Papierdünne ab und wird zuletzt in die Fläche
versenkt. (Relief en creux, vgl. H. Schäfer, Von
ägyptischer Kunst (1919), I, S. 41.) Die Herrschaft der Horizontale,
der Vertikale und des rechten Winkels, das Vermeiden jeder Verkürzung unterstützen
das zweidimensionale Prinzip und isolieren das Erlebnis der Raumtiefe, die mit
der Wegrichtung und dem Ziel dem Grabe zusammenfällt.
Diese Kunst gestattet keine die Spannung der Seele erleichternde Ablenkung. (Ebd., S. 241-244).
Trotzdem gab es eine Kultur, deren Seele bei aller tiefinnerlichen
Verschiedenheit zu einem verwandten Ursymbol gelangte: die chinesische
mit dem ganz im Sinne der Tiefenrichtung empfundenen Prinzip des Tao.
().
Aber während der Ägypter den mit eherner Notwendigkeit vorgezeichneten
Weg zu Ende schreitet, wandelt der Chinese durch seine Welt; und
deshalb geleiten ihn nicht steinerne Schluchten mit fugenlos geglätteten
Wänden der Gottheit oder dem Ahnengrabe zu, sondern die freundliche
Natur selbst. Nirgends ist die Landschaft so zum eigentlichen Stoff der
Architektur geworden. .... Der Tempelbau ist kein Einzelbau, sondern eine
Anlage, in welcher Hügel und Wasser, Bäume, Blumen und bestimmt
geformte und angeordnete Steine ebenso wichtig sind wie Tore, Mauern,
Brücken und Häuser. Diese Kultur ist die einzige, in welcher
die Gartenkunst eine religiöse Kunst großen Stils ist. Es gibt
Gärten, die das Wesen bestimmter buddhistischer Sekten widerspiegeln.
Aus der Architektur der Landschaft erst erklärt sich die der Bauten,
ihr flaches Sich-erstrecken und die Betonung des Daches als des eigentlichen
Ausdrucksträgers. Und wie die verschlungenen Wege durch Tore, über
Brücken, um Hügel und Mauern doch endlich zum Ziel führen,
so leitet die Malerei den Betrachter von einer Einzelheit zur anderen,
während das ägyptische Relief ihn herrisch in eine strenge Richtung
verweist. »Das ganze Bild soll nicht mit einem einzigen Blick umfaßt
werden. Die zeitliche Abfolge setzt eine Folge von Raumteilen voraus,
durch die der Blick vom einen zum anderen wandern soll.« Die ägyptische
Architektur überwältigt das Bild der Landschaft, die chinesische
schmiegt sich ihm an; in beiden Fällen aber ist es die Tiefenrichtung,
die das Erlebnis des Raumwerdens immer gegenwärtig erhält.
(Ebd., S. 244-245).
Nachahmen, nachbilden läßt sich nur Lebendiges,
und zwar in Bewegungen, durch die es sich für die Sinne von Künstlern
und Zuschauern offenbart. Insofern gehört die Imitation der Zeit
und Richtung an; all dieses Tanzen, Zeichnen, Darstellen, Schildern für
Auge und Ohr ist unwiderruflich gerichtet, und die höchsten Möglichkeiten
der Imitation liegen deshalb im Nachbilden eines Schicksals, sei es in
Tönen, Versen, im Bildnis oder in einer gespielten Szene. Weil
Nachahmung Leben ist, so ist sie im Augenblick ihrer Vollendung auch schon
vergangen der Vorhang fällt und verfällt entweder
der Vergessenheit oder, wenn ein dauerhaftes Kunstwerk das Ergebnis war,
der Kunstgeschichte. Von den Gesängen und Tänzen alter Kulturen
bleibt nichts erhalten, von ihren Bildern und Dichtungen wenig, und auch
dieses Wenige enthält beinahe nur die ornamentale Seite der ursprünglichen
Imitation, von einem großen Schauspiel nur den Text, nicht das Bild
und den Klang, von einem Gedicht nur die Worte, nicht den Vortrag, von
aller Musik bestenfalls die Noten, nicht die Tonfarben der Instrumente.
Das Wesentliche ist unwiderruflich vergangen, und jede »Wiederholung«
ist etwas Neues und anderes. (Ebd., S. 248).
Ein Symbol dauert; alles Schöne aber vergeht mit dem Lebenspulsschlag
dessen, der es aus dem kosmischen Takt heraus als solches empfindet, sei
es ein einzelner, ein Stand, Volk oder Rasse. Nicht nur ist »die
Schönheit« antiker Bildwerke und Dichtungen in antiken Augen
etwas anderes als für uns, und mit der antiken Seele unwiederbringlich
erloschen denn was wir daran »schön finden«, ist
wiederum ein nur für uns vorhandener Zug; nicht nur ist, was für
eine Art von Leben schön ist, für eine andre gleichgültig
oder häßlich, wie unsre gesamte Musik für Chinesen oder
die mexikanische Plastik für uns; sondern für ein und dasselbe
Leben ist das Gewohnte, das Gewöhnliche, als etwas Dauerndes niemals
schön. (Ebd., S. 250).
Damit erst erscheint der Gegensatz dieser beiden Seiten jeder
Kunst in seiner vollen Tiefe: die Nachahmung beseelt und belebt, die Ornamentik
bannt und tötet. Jene »wird«, diese »ist«.
Jene ist deshalb der Liebe verwandt, vor allem in Lied, Rausch
und Tanz der Geschlechtsliebe, in welcher sich das Dasein
der Zukunft entgegenwendet, diese der Sorge um Vergangenes, der Erinnerung
(daher der ornamentale Charakter der Schrift),
der Bestattung. (Ebd., S. 250).
Der Stein dient im Bau der Lebenden einem weltlichen Zweck; im
Kultbau ist er ein Symbol (vgl. S. 698).
Die Geschichte der großen Architekturen hat durch nichts schwerer
gelitten als dadurch, daß man sie für die Geschichte von Bautechniken
hielt statt für die von Baugedanken, die ihre technischen Ausdrucksmittel
nahmen, wo sie sie fanden. Es ist wie in der Geschichte der Musikinstrumente
(vgl. S. 167 f.), die ebenfalls auf eine
Tonsprache hin entwickelt wurden. (Ebd., S. 251-252).
Es gibt demnach in jeder Frühzeit zwei eigentlich
ornamentale, nicht imitierende Künste, die des Bauens und des Verzierens.
In der voraufgehenden Vorzeit, den Jahrhunderten des Ahnens und der Schwangerschaft,
gehört der Ornamentik im engeren Sinne die Welt des elementaren Ausdrucks
allein. Die Karolingerzeit wird nur durch sie repräsentiert.
Ihre Bauversuche stehen »zwischen den Stilen«. Es fehlt ihnen
die Idee. Und ebenso haben wir mit dem Verlust aller mykenischen Bauten
kunstgeschichtlich nichts verloren (das gilt nicht
weniger von den Bauanlagen der ägyptischen Thinitenzeit und den seleukidisch-persischen
Sonnen- und Feuertempeln der vorchristlichen Jahrhunderte). Mit
dem Anbruch der großen Kultur aber erhebt sich plötzlich der
Bau als Ornament zu einer solchen Gewalt des Ausdrucks, daß
für ein Jahrhundert fast die bloße Verzierung scheu zurückweicht.
Die aus Stein gebildeten Räume, Flächen und Kanten reden allein.
(Ebd., S. 252).
Man
begreift nun, gerade aus dem Unterschied von Dom und Pyramidentempel trotz aller
tiefinnerlichen Verwandtschaft, das gewaltige Phänomen der faustischen Seele,
deren Tiefendrang sich nicht in das Ursymbol des Weges bannen ließ, sondern
von den frühesten Anfängen an über alle Grenzen optisch gebundener
Sinnlichkeit hinausstrebt. Kann etwas dem Sinne des ägyptischen Staates,
dessen Tendenz man als eine erhabene Nüchternheit bezeichnen möchte,
fremder sein als der politische Ehrgeiz der großen Sachsen-, Franken- und
Staufenkaiser, die am Überfliegen aller staatlichen Wirklichkeiten zugrunde
gingen? Die Anerkennung einer Grenze wäre ihnen gleichbedeutend mit
der Herabwürdigung der Idee ihres Herrschertums gewesen. Hier tritt der unendliche
Raum als Ursymbol in seiner ganzen unbeschreiblichen Macht in den Umkreis tätigpolitischen
Daseins, und man könnte zu den Gestalten der Ottonen, Konrads II., Heinrichs
VI. und Friedrichs II., die Normannen als Eroberer Rußlands, Grönlands,
Englands, Siziliens und beinahe auch Konstantinopels, und die großen Päpste
Gregor VII. und Innocenz III. fügen, die alle ihre sichtbare Machtsphäre
mit der damals bekannten Welt gleichsetzen wollten. Dies unterscheidet die homerischen
Helden mit ihrem geographisch so genügsamen Gesichtskreis von den stets im
Unendlichen schweifenden Helden der Grals-, Artus- und Siegfriedsage. Dies unterscheidet
auch die Kreuzzüge, zu denen die Krieger von den Ufern der Elbe und Loire
bis zu den Grenzen der bekannten Welt ausritten, von den geschichtlichen Ereignissen,
welche der Ilias zugrunde liegen und auf deren örtliche Enge und Übersehbarkeit
man aus dem Stil des antiken Seelentums mit Sicherheit schließen darf.
(Ebd., S. 255-256).Eine
Wahlverwandtschaft zwischen der russischen und magischen Seele ()
ist wohl zu fühlen, aber das Ursymbol des Russentums, die unendliche Ebene,
findet wie religiös, so auch architektonisch noch keinen sicheren Ausdruck.
Das Kirchendach hebt sich hügelartig kaum von der Landschaft ab, und auf
ihm sitzen die Zeltdachspitzen mit den »Koschnicks«, welche das Aufstreben
verschleiern und aufheben sollen. Sie steigen nicht auf wie gotische Türme
und decken nicht zu wie die Kuppeln der Moschee, sondern sie »sitzen«
und betonen damit das Horizontale des Baus, der lediglich von außen
aufgefaßt sein will. Als der Synod um 1670 die Zeltdächer verbot und
die orthodoxen Zweibelkuppeln vorschrieb, wurden die schweren Kuppeln auf schlanke
Zylinder aufgesetzt, die in beliebiger Zahl (auf der Kirche in Kishi sind es 22)
auf der Dachebene »sitzen«. Das ist noch kein Stil, aber das Versprechen
eines Stils, der erst mit der eigentlich russischen Religion erwachen wird.
(Ebd., S. 259-260).
Das Meisterwerk aber, die früheste
aller Moscheen, ist der Neubau des Pantheon durch Hadrian, der hier
sicherlich, weil es seinem Geschmack entsprach, Kultbauten nachahmen wollte,
die er im Orient gesehen hatte ().
(Ebd., S. 273).
Es ist wahr: alle Kulturen mit Ausnahme der ägyptischen,
mexikanischen und chinesischen haben unter der Vormundschaft älterer
Kultureindrücke gestanden; fremde Züge erscheinen in jeder dieser
Formen weiten. (Ebd., S. 276).
Man kann, um die ganze Bedeutung dieser architektonischen Grundform
der arabischen Kunst herauszuheben, die Verbindung von Säule und
Architrav das apollinische, die von Säule und Rundbogen das magische,
die von Pfeiler und Spitzbogen das faustische Leitmotiv nennen.
(Ebd., S. 276).
Musik und Plastik (S. 282-380): I. Die
bildenden Künste (S. 282-330) Musik
eine bildende Kunst [S. 282] Einteilung nach andern als historischen Gesichtspunkten
unmöglich [S. 284] Die Auswahl der Künste als Ausdrucksmittel
höherer Ordnung [S. 286] Apollinische und faustische Kunstgruppe [S.
288] Die Stufen der abendländischen Musik [S. 294] Die Renaissance
als antigotische (antimusikalische) Bewegung [S. 300] Charakter des Barock
[S. 307] Der Park [S. 310] Symbolik der Farben. Farben der Nähe
und Ferne [S. 317] Goldgrund und Atelierbraun [S. 320] Patina [S.
327] II. Akt
und Portrait (S. 330-380) Arten der Menschendarstellung
[S. 330] Portrait, Bußsakrament, Satzbau [S. 335] Die Köpfe
antiker SStatuen [S. 338] Kinder- und Frauenbildnisse [S. 341] Hellenistische
Bildnisse [S. 343] Das Barockbildnis [S. 345] Lionardo, Raffael
und Michelangelo als Überwinder der Renaissance [S. 351] Sieg der
Instrumentalmusik über die Ölmalerei um 1670 (entsprechend dem Sieg
der Rundplastik über das Fresko um 460 v. Chr.) [S. 361] Impressionismus
[S. 366] Pergamon und Bayreuth: Ausgang der Kunst [S. 374].
Die bildenden Künste
Das Weltgefühl des höheren Menschen hat seinen symbolischen
Ausdruck, wenn man von den mathematisch-naturwissenschaftlichen Vorstellungskreisen
und der Symbolik ihrer Grundbegriffe absieht, am deutlichsten in den bildenden
Künsten gefunden, deren es unzählige gibt. Auch die Musik
gehört dazu, und hätte man ihre sehr verschiedenen Arten
in die Untersuchungen über den Gang der Kunstgeschichte einbezogen,
statt sie vom Gebiet der malerisch-plastischen Künste zu trennen,
so wäre man im Verstehen dessen, um was es sich in dieser Entwicklung
handelt, sehr viel weiter gekommen. Aber man wird den Gestaltungsdrang
der in den wortlosen ()
Künsten am Werke ist, niemals begreifen, wenn man die Unterscheidung
optischer und akustischer Mittel für mehr als äußerlich
hält.* Das ist es nicht, was Künste von einander scheidet.
(* Sobald das Wort, ein Mitteilungszeichen
des Verstehens, zum Ausdrucksmittel von Künsten wird, hört das
menschliche Wachsein auf, als Ganzes etwas auszudrücken oder Eindrücke
zu empfangen. Auch die künstlerisch gebrauchten Wortklänge -
um vom gelesenen Wort hoher Kulturen, dem Medium der eigentlichen
Literatur, zu schweigen - trennen unvermerkt Hören und Verstehen,
denn die gewohnte Wortbedeutung spielt mit, und unter der immer zunehmenden
Macht dieser Kunst sind auch die wortlosen Künste zu Ausdrucksweisen
gelangt, welche die Motive mit Wortbedeutungen verknüpfen. So entsteht
die Allegorie, ein Motiv, das ein Wort bedeutet, wie in
der Barockskulptur seit Bernini; so wird die Malerei sehr oft zu einer
Art Bilderschrift wie in Byzanz seit dem 2. Konzil von Nikäa (787),
das den Künstlern Auswahl und Anordnung der Bilder entzog, und so
unterscheidet sich auch die Arie Glucks, deren Melodie aus dem Sinn des
Textes emporblüht, von derjenigen des Allessandro Scarlatti, dessen
an sich gleichgültige Texte die Singstimme nur tragen sollen. Ganz
frei von der Wortbedeutung ist der hochgotische Kontrapunkt des 13. Jahrhunderts,
eine reine Architektur von Menschenstimmen, in welcher mehrere
Texte, selbst verschiedensprachige, geistliche und weltliche, gleichzeitig
gesungen wurden. )
(Ebd., S. 282-283).
Künste sind Lebenseinheiten, und Lebendiges läßt
sich nicht zerstückeln. Nach den aller äußerlichsten Kunstmitteln
und Techniken das unendliche Gebiet in vermeintlich ewige Einzelstücke
mit unwandelbaren Formprinzipien! zu zerlegen, das war immer
der erste Schritt gelehrter Pedanten. Man trennte »Musik«
und »Malerei«, »Musik« und »Drama«,
»Malerei« und »Plastik«, dann definierte man »die«
Malerei, »die« Plastik, »die« Tragödie. Aber
die technische Formensprache ist nicht viel mehr als die Maske
des eigentlichen Werkes. (Ebd., S. 284).
Wenn eine Kunst Grenzen hat Grenzen ihrer formgewordenen
Seele , so sind es historische, nicht technische oder
physiologische. (Die Folge unserer gelehrten Methoden
ist eine Kunstgeschichte unter Ausschluß der Musikgeschichte. Jene
gehört zum Bestand der höheren Bildung, diese ist eine Angelegenheit
von Fachkreisen geblieben. Das ist nicht anders, als wollte man eine griechische
Geschichte unter Ausschluß Spartas schreiben. Aber damit wird die
Theorie »der« Kunst zu einer gutgläubigen Fälschung.)
Eine Kunst ist ein Organismus, kein System. Es gibt keine Kunstgattung,
die durch alle Jahrhunderte und Kulturen geht. (Ebd., S. 285).
Jede Einzelkunst, die chinesische Landschaft wie die ägyptische
Plastik und der gotische Kontrapunkt, ist einmal da und kehrt mit ihrer
Seele und Symbolik nie wieder. (Ebd., S. 285).
Es war gleich zu Anfang auf die flache Vorstellung einer linienhaften
Fortentwicklung »der Menschheit« durch Altertum, Mittelalter
und Neuzeit hingewiesen worden, die uns für das wahre Bild der Geschichte
hoher Kulturen und seine Struktur blind gemacht hat. Die Kunstgeschichte
ist ein besonders deutliches Beispiel. Nachdem man das Vorhandensein einer
Anzahl konstanter und wohldefinierter Kunstgebiete als selbstverständlich
angenommen hatte, entwarf man die Geschichte dieser Einzelgebiete nach
dem ebenso selbstverständlichen Schema Altertum Mittelalter
Neuzeit, wobei denn die indische und ostasiatische Kunst, die Kunst
von Axum und Saba, die Kunst der Sassaniden und Rußlands keinen
Platz fanden und als Anhang oder gar nicht behandelt wurden, ohne daß
jemandem an dieser Folge die Sinnlosigkeit der Methode aufgegangen wäre:
dieses Schema wollte und mußte nun mit Tatsachen um jeden Preis
ausgefüllt sein. (Ebd., S. 287).
Aber gerade die Frage, weshalb eine große Kunst das
attische Drama mit Euripides, die florentinische Plastik mit Michelangelo,
die Instrumentalmusik mit Liszt, Wagner und Bruckner mit einer
als Symbol wirkenden Plötzlichkeit zu enden pflegt, ist geeignet,
das Organische dieser Künste zu erleuchten. Man sehe genau zu und
man wird sich überzeugen, daß von der »Wiedergeburt«
auch nur einer bedeutenden Kunst noch nie die Rede gewesen ist (Ebd.,
S. 285).
Alle antike Baukunst beginnt außen,
alle abendländische innen. Auch die arabische beginnt im Innern,
aber sie hält sich auch dort. Einzig und allein die faustische Seele
bedurfte eines Stils, der durch die Mauern in den grenzenlosen Weltraum
dringt und Innen- wie Außenseite zu entsprechenden Bildern ein und
desselben Weltgefühls macht. Basilika und Kuppelbau können draußen
architektonisch verziert sein, aber sie sind dort nicht Architektur.
Was man sieht, wenn man sich ihnen nähert, wirkt wie schützend
und ein Geheimnis verdeckend. Die Formensprache in der höhlenhaften
Dämmerung ist nur für die Gemeinde da, und darin besteht die
Verwandtschaft zwischen den höchsten Beispielen dieses Stils und
den einfachsten Mithräen und Katakomben. Das war der erste starke
Ausdruck einer neuen Seele. Sobald der germanische Geist diesen basilikalen
Typus in Besitz nimmt, beginnt eine wunderbare Veränderung aller
Bauelemente nach Lage und Sinn. Hier im faustischen Norden bezieht sich
von nun an die äußere Gestalt des Bauwerkes, und zwar vom Dom
bis zum schlichten Wohnhause, auf den Sinn, in welchem die Gliederung
des Innenraumes erfolgt ist. Die Moschee verschweigt sie, der Tempel
kennt sie nicht. Der faustische Bau hat ein »Gesicht«,
nicht nur eine Fassade - dagegen ist die Frontseite eines Peripteros eben
nur eine Seite, und der Zentralkuppelbau besitzt der Idee nach nicht einmal
eine Front -, und zum Gesicht, zum Haupt gesellt sich ein gegliederter
Rumpf, der durch die weite Ebene zieht wie der Dom von Speyer oder sich
zum Himmel aufreckt wie der von Reims mit den zahllosen Turmspitzen des
ursprünglichen Entwurfs. Das Motiv der Fassade, die den Betrachter
anblickt und vom inneren Sinn des Hauses zu ihm redet, beherrscht nicht
nur unsre großen Einzelbauten, sondern das gesamte fensterreiche
Bild unsrer Straßen, Plätze und Städte. (Ebd., S.
288-289).
Ein bleibendes Zeugnis für die Herkunft der freien Plastik
aus der Malerei ist die polychrome Behandlung des Marmors von welcher
Renaissance und Klassizismus nichts wußten und die sie als barbarisch
empfunden haben würden (gerade die entschiedene
Vorliebe für den weißen Stein ist für den Gegensatz von
antikem und Renaissance-Empfinden bezeichnend) , und ebenso
die Statuen aus Gold und Elfenbein und die Emailverzierungen der im natürlichen
Goldton leuchtenden Bronzen. (Ebd., S. 291-292).
Die große Aufgabe war nunmehr die Dehnung des Tonkörpers
ins Unendliche, seine Auflösung vielmehr in einen unendlichen
Raum von Tönen. Die Gotik hatte die Instrumente zu Familien von
bestimmter Klangfarbe entwickelt; jetzt entsteht das »Orchester«,
das nicht mehr den Bedingungen der Menschenstimme gehorcht, sondern sie
den übrigen Stimmen einordnet. Das entspricht dem gleichzeitigen
Schritt von der geometrischen Analysis Fermats zur rein funktionalen des
Descartes (vgl. S. 100). In Zarlinos Harmonielehre
(1558) erscheint eine echte Perspektive des reinen Tonraums. Man beginnt,
Ornament- und Fundamentinstrumente zu unterscheiden. Aus Melodik und Verzierung
entsteht das neue »Motiv«, und dessen Durchführung leitet
zu einer Neugeburt kontrapunktischen Geistes hinüber, dem Fugenstil,
dessen erster Meister Frescobaldi und dessen Gipfel Bach ist. Der vokalen
Messe und Motette gegenüber entstehen die großen rein instrumental
gedachten Barockformen des Oratoriums (Carissimi), der Kantate (Viadana),
der Oper (Monteverdi). Mag nun die Baßmelodie gegen die Oberstimmen,
oder die Oberstimmen auf dem Hintergrunde des basso continuo gegeneinander
»konzertieren«, es sind stets Klangwelten von charakteristischem
Ausdruck, die im Unendlichen des Tonraums einander entgegenwirken, sich
stützen, steigern, aufheben, beleuchten, bedrohen, überschatten,
ein Spiel, das man beinahe nur durch Vorstellungen der gleichzeitigen
Analysis anschaulich machen kann. (Ebd., S. 297).
Aus diesen Formen des frühen malerischen Barock gehen im
17. Jahrhundert die Arten der Sonate hervor, Suite, Sinfonie, Concerto
grosso, mit einer immer festeren inneren Struktur der Sätze und Satzfolgen,
der thematischen Durchführung und Modulation. Damit ist die große
Form gefunden, in deren gewaltiger Dynamik Corelli, Händel und Bach
die vollkommen körperlos gewordene Musik zur herrschenden Kunst des
Abendlandes erhoben. Als Leibniz und (Jahre nach
ihm auch) Newton um 1670 die Infinitesimalrechnung entdeckten,
war der fugierte Stil vollendet. Und um 1740, als Euler begann, die endgültige
Fassung der funktionalen Analysis zu formulieren, wurde durch Stamitz
und seine Generation die letzte und reifste Form der musikalischen Ornamentik
gefunden, die des vierteiligen Satzes als einer reinen unendlichen Bewegtheit.
Denn ein Schritt war damals noch zu tun: das Thema der Fuge »ist«;
das des neuen Satzes »wird«. Die Durchführung ergibt
dort ein Bild, hier ein Drama. Statt einer Bilderreihe entsteht eine zyklische
Folge. (Alfred Einstein, Geschichte der Musik,
S. 67.) Der Ursprung dieser Tonsprache liegt in den endlich erreichten
Möglichkeiten unsrer tiefsten und innerlichsten, der Streichmusik,
und so gewiß die Geige das edelste aller Instrumente ist, welche
die faustische Seele ersann und ausbildete, um von ihren letzten Geheimnissen
reden zu können, so gewiß liegen ihre jenseitigsten, heiligsten
Augenblicke völliger Verklärung im Streichquartett und der Violinsonate.
Hier, in der Kammermusik, erreicht die abendländische Kunst überhaupt
ihren Gipfel. Das Ursymbol des unendlichen Raumes ist hier ebenso
vollkommen zum Ausdruck gelangt, wie das der gesättigten Körperlichkeit
im Doryphoros des Polyklet. Wenn eine dieser unsagbar sehnsüchtigen
Geigenmelodien durch den Raum irrt, den die Klänge des begleitenden
Orchesters um sie breiten, bei Tartini, Nardini, Haydn, Mozart und Beethoven,
so befindet man sich der Kunst gegenüber, die allein den Werken der
Akropolis an die Seite zu stellen ist. (Ebd., S. 297-298).
Damit beherrscht die faustische Musik alle andern Künste.
Sie verbannt die Plastik der Statue und duldet nur die vollkommen musikalische,
raffiniert unantike und renaissancewidrige Kleinkunst des Porzellans,
das erfunden wurde, als die Kammermusik zur entscheidenden Geltung gelangte.
Während die gotische Plastik durchaus architektonisches Ornament
ist, menschliches Rankenwerk, ist die des Rokoko das merkwürdige
Beispiel einer Scheinplastik, die in der Tat der Formensprache der Musik
vollkommen erliegt. Hier erkennt man, bis zu welchem Grade die den Vordergrund
des Kunstlebens beherrschende Technik der dahinter verborgenen eigentlichen
Ausdruckssprache widersprechen kann. Man vergleiche die kauernde Venus
des Coyzevox (1686) im Louvre mit ihrem antiken Vorbild im Vatikan. Das
ist Plastik als Musik und Plastik in ihrem eigenen Namen. Man kann hier
die Art der Bewegtheit, den Fluß der Linien, das Fließende
im Wesen des Steines selbst, der wie das Porzellan gewissermaßen
den festen Aggregatzustand verloren hat, am besten durch musikalische
Wendungen: staccato, accelerando, andante, allegro beschreiben. Daher
das Gefühl, als ob der körnige Marmor hier nicht am Platze sei.
Daher die ganze unantike Berechnung auf Licht und Schatten hin. Das entspricht
dem leitenden Prinzip der Ölmalerei seit Tizian. Was man im 18. Jahrhundert
Farbigkeit einer Radierung, einer Zeichnung, einer plastischen
Gruppe nennt, bedeutet Musik. Sie beherrscht die Malerei Watteaus
und Fragonards und die Kunst der Gobelins und Pastelle. Sprechen wir nicht
seitdem von Farbentönen und Tonfarben? Ist damit nicht die endlich
erreichte Gleichartigkeit zweier oberflächlich so verschiedener Künste
anerkannt? Und sind diese Bezeichnungen nicht angesichts jeder antiken
Kunst sinnlos? Aber diese Musik schuf nun auch die Architektur des berninischen
Barock in ihrem Geiste um, zum Rokoko, über dessen transzendenter
Ornamentik Lichter Töne »spielen«, um Decken,
Wände, Bögen, alles Konstruktive und Wirkliche in Polyphonie
und Harmonie aufzulösen, dessen architektonische Triller, Kadenzen
und Passagen die Identität der Formensprache dieser Säle und
Galerien und der für sie erdachten Musik zu Ende führen. Dresden
und Wien sind die Heimat dieser späten und rasch verlöschenden
Wunderwelt einer sichtbaren Kammermusik, der geschweiften Möbel,
Spiegelzimmer, Schäferpoesien und Porzellangruppen. Sie ist der letzte,
herbsthaft sonnige, vollkommene Ausdruck großen Stils der abendländischen
Seele. Im Wien der Kongreßzeit starb er dahin. (Ebd., S. 298-299).
Der Renaissance als einer antigotischen und dem Geiste der polyphonen
Musik feindlichen Bewegung entspricht in der Antike die dionysische als
eine antidorische und dem plastisch-apollinischen Weltgefühl entgegengesetzte.
Sie ist nicht aus dem thrakischen Dionysoskult »hervorgegangen«.
Sie hat ihn erst als Waffe und Gegensymbol zur olympischen Religion herangezogen,
ganz ebenso wie man in Florenz den Kult der Antike erst zur Rechtfertigung
und Stärkung des eigenen Gefühls zu Hilfe rief. Die große
Auflehnung erfolgte dort im 7. und also hier im 15. Jahrhundert.
Es handelt sich in beiden Fällen um einen Zwiespalt im Untergrunde
der Kultur, der seinen physiognomischen Ausdruck in einer ganzen Epoche
des Geschichtsbildes, vor allem in deren künstlerischer Formenwelt
gefunden hat, um einen Widerstand der Seele gegen ihr Schicksal, das sie
nunmehr in seinem vollen Umfange begreift. Die innerlich widerstrebenden
Mächte, Fausts zweite Seele, die sich von der andern trennen will,
suchen den Sinn der Kultur umzubiegen; die unausweichliche Notwendigkeit
soll verleugnet, aufgehoben, umgangen werden; es ist Angst vor der Vollendung
der historischen Geschicke durch Ionik und Barock darin. Dort knüpft
sie sich an den Dionysoskult mit seinem musikalischen, entwirklichenden,
den Körper vergeudenden Orgiasmus, hier an die Tradition des »Altertums«
und an dessen Kultus des Körperhaft-Plastischen, die beide als fremde
Ausdrucksmittel bewußt herangezogen werden, um durch die Kraft ihrer
gegensätzlichen Formensprache dem unterdrückten Gefühl
einen Schwerpunkt, ein eigenes Pathos zu verleihen und damit der Strömung
in den Weg zu treten, welche dort von Homer und dem geometrischen Stil
zu Phidias, hier von den gotischen Domen über Rembrandt zu Beethoven
geht. (Ebd., S. 301-302).
Gerade damals führte auch Nikolaus Cusanus, Kardinal und
Bischof von Brixen (14011464), das Infinitesimalprinzip, diese kontrapunktische
Methode der Zahlen, in die Mathematik ein, die er aus der Idee Gottes
als des unendlichen Wesens ableitete. Leibniz verdankt ihm die entscheidende
Anregung zur Durchführung seiner Differentialrechnung. Aber damit
hatte er bereits der dynamischen, der Barockphysik Newtons die Waffe geschmiedet,
mit der sie die statische Idee einer südlichen Physik, die an Archimedes
anknüpfte und noch in Galilei wirksam war, endgültig überwand.
(Ebd., S. 305).
Die Renaissance hat die wirkliche Antike nicht einmal berührt,
geschweige denn verstanden und »wiederbelebt«. Das ganz unter
literarischen Eindrücken stehende Bewußtsein des Florentiner
Kreises hat den verführerischen Namen geprägt, um dem Verneinenden
der Bewegung eine Wendung ins Bejahende zu geben. Er beweist, wie wenig
solche Strömungen von sich selbst wissen. (Ebd., S. 307).
Und trotzdem ist für Augenblicke etwas Wunderbares erreicht
worden, das durch Musik nicht wiederzugeben war, ein Gefühl
für das Glück der vollkommenen Nähe, für reine,
ruhende, erlösende Raumwirkungen von lichter Gliederung, frei
von der leidenschaftlichen Bewegtheit der Gotik und des Barock. Das ist
nicht antik, aber es ist ein Traum von antikem Dasein, der einzige, den
die faustische Seele träumen, in dem sie sich vergessen konnte.
(Ebd., S. 308).
Und nun erst, mit dem 16. Jahrhundert, geschieht in der abendländischen
Malerei die entscheidende Wandlung. Die Vormundschaft der Architektur
im Norden, der Skulptur in Italien erlischt. Die Malerei wird polyphon,
»malerisch«, ins Unendliche schweifend. Die Farben werden
Töne. Die Kunst des Pinsels verschwistert sich mit dem Stil der Kantate
und des Madrigals. Die Ölfarbentechnik wird zur Grundlage einer Kunst,
die den Raum erobern will, an den die Dinge sich verlieren. Mit
Lionardo und Giorgione beginnt der Impressionismus. (Ebd., S. 308).
m Gemälde vollzieht sich damit eine Umwertung aller Elemente.
Der bis dahin gleichgültig entworfene, als Füllung angesehene,
als Raum fast verheimlichte Hintergrund gewinnt entscheidende Bedeutung.
Eine Entwicklung setzt ein, die in keiner andern Kultur, auch nicht in
der sonst vielfach nahe verwandten chinesischen, ihresgleichen hat: der
Hintergrund als Zeichen des Unendlichen überwindet den sinnlich-greifbaren
Vordergrund. Es gelingt endlich das ist der malerische im Gegensatz
zum zeichnerischen Stil , das Tiefenerlebnis der faustischen Seele
in die Bildbewegung zu bannen. Das »Raumrelief« Mantegnas
mit seinen Flächenschichten löst sich zur Richtungsenergie bei
Tintoretto. Der Horizont taucht im Bilde auf als großes Symbol
des grenzenlosen Weltraums, der die sichtbaren Einzeldinge als Zufälle
in sich begreift. Man hat seine Darstellung im Landschaftsgemälde
als so selbstverständlich empfunden, daß man nie die entscheidende
Frage gestellt hat, wo überall er fehlt und was dieses Fehlen
bedeutet. Man wird aber weder im ägyptischen Relief noch im byzantinischen
Mosaik noch auf antiken Vasenbildern und Fresken, nicht einmal denen des
Hellenismus mit ihrer Vordergrundsräumlichkeit, eine Andeutung des
Horizontes finden. Diese Linie, in deren unwirklichem Duft Himmel und
Erde verschwimmen, der Inbegriff und das stärkste Symbol der Ferne,
enthält das malerische Infinitesimalprinzip. Von der Ferne des Horizonts
strömt die Musik des Bildes aus, und die großen Landschafter
Hollands malen deshalb ganz eigentlich nur Hintergründe, nur Atmosphäre,
wie umgekehrt »antimusikalische« Meister wie Signorelli und
vor allem Mantegna nur Vordergründe »Reliefs«
gemalt hatten. Im Horizont siegt die Musik über die Plastik,
die Leidenschaft der Ausdehnung über ihre Substanz.
Man darf sagen, daß es in keinem Gemälde Rembrandts ein »vorn«
gibt. Im Norden, in der Heimat des Kontrapunkts, ist ein tiefes Verständnis
für den Sinn des Horizontes und hell belichteter Fernen schon früh
zu finden, während im Süden der flach abschließende Goldgrund
arabisch-byzantinischer Bilder noch lange herrschend bleibt. In den gegen
1416 entstandenen Stundenbüchern des Herzogs von Berry dem
von Chantilly und dem von Turin und bei frührheinischen Meistern
taucht das reine Raumgefühl zuerst auf und erobert sich langsam das
Tafelbild. (Ebd., S. 308-309).
Im Unendlichen liegt der Punkt, in dem die perspektivischen Linien
zusammentreffen. Weil sie ihn vermied, weil sie die Ferne nicht anerkannte,
besaß die antike Malerei keine Perspektive. Folglich ist
auch der Park, die bewußte Gestaltung der Natur im Sinne räumlicher
Fernwirkung, innerhalb der antiken Künste unmöglich. Es gab
in Athen und Rom keine irgendwie bedeutende Gartenkunst. Erst die Kaiserzeit
fand an orientalischen Anlagen Geschmack, deren kurze und betonte Abschlüsse
jeder Blick auf die erhaltenen Pläne offenbart. (Ebd., S. 310).
Wir waren es und nicht die Hellenen, nicht die Menschen
der Hochrenaissance, welche die unbegrenzten Fernsichten vom Hochgebirge
aus schätzten und suchten. Das ist eine faustische Sehnsucht. Man
will allein mit dem unendlichen Räume sein. (Ebd., S.
311).
Aber Ferne das ist zugleich eine historische Empfindung.
In der Ferne wird der Raum zur Zeit. Der Horizont bedeutet die Zukunft.
.... Hier, im Erlebnis des Horizontes als der Zukunft, tritt die Identität
der Zeit mit der »dritten Dimension« des erlebten Raumes,
des lebendigen Sichdehnens, unmittelbar zutage. (Ebd., S. 311-312).
Der Horizont sammelt von nun an die tiefere Form, die volle metaphysische
Bedeutung des Bildes in sich. Der greifbare und durch die Überschrift
wiederzugebende Inhalt, der von der Renaissancemalerei betont und
anerkannt worden war, wird nun zum Mittel, zum bloßen Träger
der mit Worten nicht mehr zu erschöpfenden Bedeutung. Bei Mantegna
und Signorelli hätte der gezeichnete Entwurf, auch ohne die farbige
Ausführung, als Bild bestehen können. In einzelnen Fällen
möchte man wünschen, es wäre bei den Kartons geblieben.
In statuenhaften Entwürfen ist die Farbe lediglich eine Zugabe; Tizian
aber mußte von Michelangelo den Vorwurf hören, daß er
nicht zu zeichnen verstünde. Der »Gegenstand«, eben das,
was sich durch Umrißzeichnung festhalten läßt, das Nahe,
Stoffliche, hat seine künstlerische Wirklichkeit verloren, und von
nun an herrscht in der Kunsttheorie, die unter Eindrücken der Renaissance
stehen blieb, jener seltsame, nie endende, Streit um »Form«
und »Inhalt« im Kunstwerk. Die Formulierung beruht auf einem
Mißverständnis und hat den sehr bedeutenden Sinn der Frage
verdeckt. Ob die Malerei plastisch oder musikalisch aufgefaßt werden
solle, als Statik von Dingen oder als Dynamik des Raumes denn darin
liegt der tiefere Gegensatz von Fresko- und Öltechnik , ist
das erste, der Gegensatz apollinischen und faustischen Formgefühls
das zweite, was zu erwägen war. Umrisse begrenzen Stoffliches, Farbentöne
interpretieren Raum. (In der antiken Malerei sind
Licht und Schatten zuerst von Zeuxis einheitlich angewandt worden, aber
nur als Schattierung der Dinge selbst, um die Plastik der gemalten
Leiber vom Reliefmäßigen zu befreien, und also ganz ohne die
Beziehung des Schattens zur Tageszeit. Dagegen sind schon bei den frühesten
Niederländern Licht und Schatten Farbentöne und haften
am Atmosphärischen.) Aber das eine ist von unmittelbar sinnlicher
Natur. Es erzählt. Der Raum ist seinem Wesen nach transzendent. Er
spricht zur Einbildungskraft. Für eine Kunst, die unter seiner Symbolik
steht, ist die erzählende Seite eine Herabsetzung und Verdunkelung
der tieferen Tendenz, und ein Theoretiker, der hier ein geheimes Mißverständnis
fühlt, aber nicht begreift, klammert sich an den oberflächlichen
Gegensatz von Inhalt und Form. Das Problem ist ein rein abendländisches
und es enthüllt in seltener Weise die vollkommene Umkehrung, die
sich in der Bedeutung der Bildelemente mit dem Abschluß der Renaissance
und der Heraufkunft einer instrumentalen Musik großen Stils vollzogen
hat. Die Antike konnte ein Problem wie das von Form und Inhalt in diesem
Sinne gar nicht besitzen. Für eine attische Statue ist beides vollkommen
identisch: der menschliche Leib. Der Fall der Barockmalerei wird noch
verwickelter durch den Widerstreit des volkstümlichen und des
höheren Empfindens. Alles Euklidisch-Greifbare ist auch populär,
und das »Altertum« mithin die populäre Kunst im eigentlichen
Sinne. Die Ahnung davon ist nicht zum wenigsten der unbeschreibliche Reiz,
den alles Antike auf faustische Geister ausübt, die ihren Ausdruck
erkämpfen, ihn der Welt abringen müssen. Für uns
ist der Anblick des antiken Kunstwollens die große Erholung.
Hier braucht nichts erobert zu werden. Es gibt sich von selbst. Und etwas
Verwandtes hat der antigotische Zug in Florenz wirklich hervorgerufen.
Raffael ist in manchen Seiten seines Schaffens populär, Rembrandt
kann es nicht sein. Seit Tizian ist die Malerei immer esoterischer geworden,
auch die Dichtung, auch die Musik. Die Gotik Dante, Wolfram
war es von Anfang an gewesen. Die große Menge der Kirchenbesucher
war niemals imstande, die Messen Ockeghems, Palestrinas oder gar Bachs
zu verstehen. Sie langweilt sich bei Mozart und Beethoven. Sie läßt
Musik lediglich auf die Stimmung wirken. In Konzerten und Galerien redet
man sich nur Interesse an diesen Dingen ein, seit die Aufklärung
die Phrase von der Kunst für alle geprägt hat. Aber eine faustische
Kunst ist nicht für alle. Das gehört zu ihrem innersten Wesen.
Wenn die neuere Malerei sich nur noch an einen kleinen Kreis von Kennern
wendet, der immer enger wird, so entspricht das der Abwendung vom gemeinverständlichen
Gegenstande. Damit ist dem »Inhalt« der Eigenwert aberkannt
und die eigentliche Wirklichkeit dem Räume zugesprochen, durch
den nach Kant erst die Dinge sind. Es ist seitdem
ein schwer zugängliches metaphysisches Element in die Malerei gekommen,
das sich dem Laien nicht preisgibt. Aber bei Phidias würde das Wort
Laie keinen Sinn haben. Seine Plastik wendet sich ganz an das leibliche,
nicht an das geistige Auge. Eine raumlose Kunst ist a priori unphilosophisch.
(Ebd., S. 312-314).
Hiermit hängt ein wichtiges Prinzip der Komposition
zusammen. Man kann im Gemälde die einzelnen Dinge unorganisch über-,
neben-, hintereinander stellen, ohne Perspektive und wechselseitiges Verhältnis,
das heißt, ohne die Abhängigkeit ihrer Wirklichkeit von der
Struktur des Raumes zu betonen, womit nicht gesagt ist, daß man
sie leugnet. So zeichnen Naturmenschen und Kinder, bevor das Tiefenerlebnis
die sinnlichen Welteindrücke einer tieferen Ordnung unterwirft. Aber
diese Ordnung ist dem Ursymbol gemäß in jeder Kultur eine andere.
Die uns selbstverständliche Art perspektivischer Zusammenfassung
ist ein Einzelfall und von der Malerei anderer[314] Kulturen weder anerkannt
noch gewollt. Die ägyptische Kunst liebte die Darstellung gleichzeitiger
Vorgänge in Reihen übereinander. So wurde die dritte Dimension
aus dem Bildeindruck ausgeschaltet. Die apollinische Kunst stellte vereinzelte
Figuren und Gruppen unter absichtlicher Vermeidung räumlicher und
zeitlicher Beziehungen in die Bildfläche. Polygnots Fresken in der
Lesche von Delphi waren ein berühmtes Beispiel. Ein Hintergrund,
der die einzelnen Szenen verbunden hätte, fehlt. Er würde die
Bedeutung der Dinge als des allein Wirklichen gegenüber dem
Raum als dem Nichtseienden in Frage gestellt haben. Die Giebel
des Tempels von Ägina, der Götterzug der Françoisvase
und der Gigantenfries von Pergamon enthalten eine mäandrische Aufreihung
vertauschbarer Einzelmotive, keinen Organismus. Erst der Hellenismus
der Telephosfries des Altars von Pergamon ist das früheste erhaltene
Beispiel bringt das unantike Motiv der einheitlichen Reihe. Auch
hierin empfand die Renaissance rein gotisch. Sie hat die Komposition von
Gruppen sogar auf eine Höhe erhoben, die für alle folgenden
Jahrhunderte vorbildlich blieb, aber diese Ordnung ging vom Räume
aus und war in ihren letzten Gründen eine stille Musik der farbig
durchleuchteten Ausdehnung, die alle aus ihr geborenen Widerstände
des Lichts, die das verstehende Auge als Dinge und Wesen begreift,
durch ihren unsichtbaren Takt und Rhythmus in die Ferne geleitet. Aber
mit dieser Ordnung im Raum, welche unvermerkt die Linienperspektive durch
die Perspektive von Luft und Licht ersetzt, war die Renaissance innerlich
schon überwunden. (Ebd., S. 314-315).
Und nun folgt von ihrem Ende, von Orlando di Lasso und Palestrina
bis auf Wagner, eine dichte Reihe großer Musiker und von Tizian
bis auf Manet, Marées und Leibl eine Reihe großer Maler aufeinander,
während die Plastik zur völligen Bedeutungslosigkeit herabsinkt.
Ölmalerei und instrumentale Musik durchlaufen eine organische Entwicklung,
deren Ziel in der Gotik begriffen und im Barock erreicht wurde. Beide
Künste faustisch im höchsten Sinne sind innerhalb
dieser Grenzen Urphänomene. Sie haben eine Seele, eine Physiognomie
und also eine Geschichte, und zwar sie allein. Die Bildhauerei beschränkt
sich auf ein paar schöne Zufälle im Schatten der Malerei, Gartenkunst
oder Architektur. Aber sie sind im Bilde der abendländischen Kunst
entbehrlich. Es gibt keinen plastischen Stil mehr in dem Sinne, wie es
einen malerischen und musikalischen Stil gibt. Es gibt sowenig eine geschlossene
Tradition wie einen notwendigen Zusammenhang der Werke eines Maderna,
Goujon, Puget und Schlüter untereinander. Schon in Lionardo entsteht
allmählich eine wahre Verachtung der Bildhauerei. Er läßt
höchstens den Bronzeguß seiner malerischen Vorzüge wegen
gelten, im Gegensatz zu Michelangelo, dessen eigentliches Element damals
noch der weiße Marmor war. Aber auch ihm will im hohen Alter keine
plastische Arbeit mehr gelingen. Keiner der späteren Bildhauer ist
groß in dem Sinne, wie Rembrandt und Bach groß sind, und man
wird zugeben, daß sich wohl eine tüchtige und geschmackvolle
Leistung, aber kein Werk denken läßt, das im Range neben der
Nachtwache oder der Matthäuspassion steht und in gleicher Weise die
Tiefe eines ganzen Menschentums erschöpft. Diese Kunst hat aufgehört,
das Schicksal ihrer Kultur zu sein. Ihre Sprache bedeutet nichts mehr.
Es ist völlig unmöglich, das, was in einem Bildnis Rembrandts
liegt, in einer Büste wiederzugeben. Wenn einmal ein Bildhauer von
Bedeutung auftaucht wie Bernini, die Meister der gleichzeitigen spanischen
Schule, Pigalle oder Rodin es ist naturgemäß keiner
unter ihnen, der über das Dekorative hinaus zu einer großen
Symbolik gelangte , so erscheint er als verspäteter Nachahmer
der Renaissance (Thorwaldsen), als verkappter Maler (Houdon, Rodin), Architekt
(Bernini, Schlüter) oder Dekorateur (Coyzevox), und er beweist durch
sein Erscheinen nur noch deutlicher, daß diese eines faustischen
Gehaltes nicht fähige Kunst keine Aufgabe, mithin keine Seele und
keine Lebensgeschichte im Sinne einer geschlossenen Stilentwicklung mehr
besitzt. Dasselbe gilt dementsprechend von der antiken Musik, die nach
vielleicht bedeutenden Ansätzen in der frühesten Dorik in den
reifen Jahrhunderten der Ionik (650 bis 350) den beiden echt apollinischen
Künsten, Plastik und Freskomalerei, das Feld räumen und mit
dem Verzicht auf Harmonie und Polyphonie auch auf den Rang einer organisch
sich entwickelnden höheren Kunst verzichten mußte. (Ebd.,
S. 315-316).
Die antike Malerei strengen Stils beschränkte ihre Palette
auf gelb, rot, schwarz und weiß. Diese merkwürdige Tatsache
ist früh bemerkt worden und hat, da man andere als oberflächliche
und ausgesprochen materialistische Gründe gar nicht in Betracht zog,
zu törichten Hypothesen wie der von einer angeblichen Farbenblindheit
der Griechen geführt. Auch Nietzsche hat davon geredet (Morgenröte
426 ).
(Ebd., S. 317).
Aber aus welchem Grunde vermied diese Malerei in ihrer großen
Zeit das Blau und sogar noch das Blaugrün und ließ erst bei
den grüngelben und bläulichroten Tönen die Skala der erlaubten
Farben beginnen? (Das Blau und seine Wirkung war
den antiken Künstlern wohl bekannt. Die Metopen vieler Tempel hatten
blauen Hintergrund, weil sie den Triglyphen gegenüber als Tiefe erscheinen
sollten. Und die Handwerksmalerei hat alle technisch herstellbaren Farben
verwendet; blaue Pferde sind unter den archaischen Werken der Akropolis
und in etruskischen Grabgemälden nachgewiesen. Eine grell blaue Färbung
des Haares war ganz gewöhnlich.) Ohne Zweifel kommt das Ursymbol
der euklidischen Seele in dieser Beschränkung zum Ausdruck.
(Ebd., S. 317).
Blau und grün sind die Farben des Himmels, des Meeres, der
fruchtbaren Ebene, der Schatten an südlichen Mittagen, des Abends
und der entfernten Gebirge. Sie sind wesentlich atmosphärische, nicht
gegenständliche Farben. Sie sind kalt; sie entkörpern
und rufen die Eindrücke des Weiten, Fernen und Grenzenlosen hervor.
(Ebd., S. 317).
Deshalb geht, während das Fresko Polygnots sie streng vermeidet,
ein »infinitesimales« Blau und Grün von den Venezianern
an bis ins 19. Jahrhundert als raumschaffendes Element durch die ganze
Geschichte der perspektivischen Ölmalerei. Und zwar als Grundton
von ganz überwiegendem Range, der den Gesamtsinn der Farbengebung
trägt, als Generalbaß, während die warmen gelben
und roten Töne sparsam und erst danach gestimmt sind. Es ist nicht
das satte, freudige, nahe Grün gemeint, das Raffael oder Dürer
bei Gewändern gelegentlich und selten genug verwenden,
sondern ein unbestimmbares, in tausend Schattierungen ins Weiße,
Graue, Braune spielendes Blaugrün, etwas tief Musikalisches, in das
die ganze Atmosphäre vor allem auch der Gobelins getaucht ist. Was
man im Gegensatz zur Linearperspektive Luftperspektive genannt hat und
im Gegensatz zur Renaissanceperspektive Barockperspektive hätte nennen
können, beruht fast ausschließlich auf ihm. Man findet es in
Italien mit steigender Kraft der Tiefenwirkung bei Lionardo, Guercino,
Albani, in Holland bei Ruysdael und Hobbema, vor allem aber bei den großen
Franzosen, von Poussin, Lorrain und Watteau an bis zu Corot. Das Blau,
ebenfalls eine perspektivische Farbe, steht immer in Beziehung zum Dunklen,
Lichtlosen, Unwirklichen. Es dringt nicht ein, sondern zieht in die Ferne.
»Ein reizendes Nichts«, hat es Goethe in seiner Farbenlehre
genannt. Blau und Grün sind transzendente, geistige, unsinnliche
Farben. Sie fehlen im strengen Freskogemälde attischen Stils und
also herrschen sie in der Ölmalerei. Gelb und Rot, die antiken
Farben, sind die der Materie, der Nähe und der Sprache des Blutes.
Rot ist die eigentliche Farbe der Geschlechtlichkeit; deshalb ist es die
einzige, die auf Tiere wirkt. Sie steht dem Symbol des Phallus
und also der Statue und der dorischen Säule am nächsten,
wie andrerseits ein reines Blau den Mantel der Madonna verklärt.
Diese Beziehung hat sich mit tiefgefühlter Notwendigkeit in allen
großen Schulen von selbst eingestellt. Violett ein Rot, das
vom Blau überwunden wird ist die Farbe der Frauen, die nicht
mehr fruchtbar sind, und der im Zölibat lebenden Priester.
(Ebd., S. 317-318).
Gelb und Rot sind die populären Farben, die der Menge,
der Kinder, der Frauen und der Wilden. Bei den Spaniern und Venezianern
wählt der Vornehme aus dem unbewußten Gefühl einer
abweisenden Distanz ein prächtiges Schwarz oder Blau. Gelb
und Rot sind endlich als die euklidischen, apollinischen, polytheistischen
Farben die des Vordergrundes, auch im sozialen Sinne, also die
einer lärmenden Geselligkeit, des Marktes, der Volksfeste, die des
naiven Vorsichhinlebens, des antiken Fatums und des blinden Zufalls, des
punktförmigen Daseins. Blau und Grün faustische, monotheistische
Farben sind die der Einsamkeit, der Sorge, der Beziehung des Augenblicks
auf Vergangenheit und Zukunft, die des Schicksals als der dem Weltall
innewohnenden Fügung (Ebd., S. 318).
Die Beziehung des shakespearischen Schicksals zum Räume,
des sophokleischen zum einzelnen Körper war oben festgestellt worden.
Alle Kulturen von tiefer Transzendenz, alle, deren Ursymbol eine Überwindung
des Augenscheins, ein Leben als Kampf, nicht als Hinnahme von Gegebenem
fordert, haben zum Räume wie zum Blau und Schwarz denselben metaphysischen
Hang. Tiefe Beobachtungen über das Verhältnis zwischen der Idee
des Raumes und dem Sinn der Farbe finden sich in Goethes Studien über
die entoptischen Farben in der Atmosphäre. Mit der von ihm in seiner
Farbenlehre gegebenen Symbolik stimmt die hier aus den Ideen von Raum
und Schicksal abgeleitete vollkommen überein. (Ebd., S. 319).
ie bedeutendste Verwendung eines düsteren Grüns als
der Farbe des Schicksals findet sich bei Grünewald, dessen Nächte
von einer unbeschreiblichen Mächtigkeit des Raumes nur von Rembrandt
noch erreicht werden. Hier gewinnt man den Eindruck, als ob dies bläuliche
Grün, dieselbe Farbe, in welche das Innere der großen Dome
oft gehüllt ist, als die spezifisch katholische Farbe bezeichnet
werden dürfe, vorausgesetzt, daß man allein jenes durch das
lateranische Konzil von 1215 begründete und im Tridentinum vollendete
faustische Christentum mit der Eucharistie als Mittelpunkt katholisch
nennt. Diese Farbe steht in ihrer schweigsamen Größe sicherlich
dem prunkvollen Goldgrund altchristlich-byzantinischer Bildwerke ebenso
fern wie den geschwätzig-heitren, »heidnischen« Farben
bemalter hellenischer Tempel und Statuen. Man beachte, daß die Wirksamkeit
dieser Farbe Innenräume zur Aufstellung der Kunstwerke voraussetzt,
im Gegensatz zum Gelb und Rot; die antike Malerei ist eine ebenso entschieden
öffentliche wie die abendländische eine Atelierkunst. Die gesamte
große Ölmalerei von Lionardo bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
ist nicht für das grelle Tageslicht gedacht. Hier kehrt der Gegensatz
von Kammermusik und freistehender Statue wieder. Die oberflächliche
Begründung dieser Tatsache durch das Klima wird, wenn es überhaupt
nötig wäre, durch das Beispiel der ägyptischen Malerei
widerlegt. Da der unendliche Raum für das antike Lebensgefühl
ein vollkommenes Nichts ist, so würden Blau und Grün mit ihrer
entwirklichenden und Fernen schaffenden Kraft die Alleinherrschaft des
Vordergrundes, der vereinzelten Körper und damit den eigentlichen
Sinn apollinischer Kunstwerke in Frage gestellt haben. Dem Auge eines
Atheners wären Gemälde in den Farben Watteaus wesenlos und von
einer schwer in Worte zu fassenden inneren Leere und Unwahrheit erschienen.
Durch diese Farben wird die sinnlich empfundene, das Licht zurückstrahlende
Fläche nicht als Zeugnis und Grenze eines Dinges, sondern als die
des umgebenden Raumes gewertet. Deshalb fehlen sie dort und herrschen
sie hier. (Ebd., S. 319-320).
Die Seele dreier Kulturen ist hier an einer nahe verwandten Aufgabe
zu prüfen. Die apollinische erkannte nur das in Ort und Zeit unmittelbar
Gegenwärtige als wirklich an und sie verleugnete den Hintergrund
in ihren Bildwerken; die faustische strebte über alle sinnlichen
Schranken ins Unendliche und sie verlegte den Schwerpunkt des Bildgedankens
mittels der Perspektive in die Ferne; die magische empfand alles Geschehende
als Ausdruck rätselhafter, die Welthöhle mit ihrer geistigen
Substanz durchdringenden Mächte und sie schloß die Szene
durch einen Goldgrund ab, das heißt durch ein Mittel, das jenseits
alles Farbig-Natürlichen steht. (Ebd., S. 320).
Der Goldgrund jener Gemälde im Bereich der westlichen Kirche
hat also eine ausgesprochene dogmatische Bedeutung. Er drückt Wesen
und Walten des göttlichen Geistes aus. Er repräsentiert die
arabische Gestalt des christlichen Weltbewußtseins, und es
hängt tief damit zusammen, daß diese Behandlung des Hintergrundes
für Darstellungen aus der christlichen Legende tausend Jahre lang
als die einzige metaphysisch, selbst ethisch mögliche und würdige
erscheint. Als die ersten »wirklichen« Hintergründe in
der frühen Gotik auftauchen, mit blaugrünem Himmel, weitem Horizont
und Tiefenperspektive, wirken sie zunächst profan, weltlich, und
man hat den dogmatischen Wandel, der sich hier verriet, wohl gefühlt,
wenn auch nicht erkannt. Das zeigen jene Teppichhintergründe, durch
welche die eigentliche Tiefe mit heiliger Scheu verdeckt wird. Man ahnt
sie, aber man wagt nicht, sie zur Schau zu stellen. Wir sahen, wie gerade
damals, als das faustische germanisch-katholische
Christentum durch die Ausbildung des Sakraments der Buße zum Bewußtsein
seiner selbst gelangt war, eine neue Religion im alten Gewande, in der
Kunst der Franziskaner die perspektivische und farbige, den Luftraum erobernde
Tendenz den ganzen Sinn der Malerei umgestaltete. Das abendländische
Christentum verhält sich zum morgenländischen wie das Symbol
der Perspektive zu dem des Goldgrundes, und das endgültige Schisma
tritt in Kirche und Kunst fast gleichzeitig ein. Man begreift den landschaftlichen
Hintergrund der Bildszene zugleich mit der dynamischen Unendlichkeit
Gottes; und zugleich mit den Goldgründen der kirchlichen Gemälde
verschwinden aus den abendländischen Konzilen jene magischen, ontologischen
Gottheitsprobleme, welche alle orientalischen wie die von Nikäa,
Ephesus und Chalcedon leidenschaftlich bewegt hatten. (Ebd., S.
321-322).
Vor jeder großen Landschaft eines Barockmeisters darf man
das Wort »historisch« aussprechen, um einen Sinn in ihr zu
fühlen, der einer attischen Statue gänzlich fremd ist. Das ewige
Werden, die gerichtete Zeit, das dynamische Weltenschicksal ruht auch
in der Melodik dieser ruhelosen und grenzenlosen Striche. Malerischer
und zeichnerischer Stil: das bedeutet, von dieser Seite gesehen, den Gegensatz
von historischer und ahistorischer Form, von Betonung oder Verleugnung
der inneren Entwicklung, von Ewigkeit und Augenblick. Ein antikes Kunstwerk
ist ein Ereignis, ein abendländisches eine Tat. Das eine symbolisiert
ein punktförmiges Jetzt, das andere einen organischen Verlauf. Die
Physiognomik der Pinselführung, eine völlig neue, unendlich
reiche und persönliche, keiner andern Kultur bekannte Art von Ornamentik
ist rein musikalisch. (Ebd., S. 323).
Zugleich erscheint von nun an ein Symbol höchsten Ranges
im abendländischen Gemälde, das »Atelierbraun«,
und beginnt die Wirklichkeit aller Farben mehr und mehr zu dämpfen.
Die älteren Florentiner kannten es noch nicht, so wenig wie die alten
niederländischen und rheinischen Meister. Pacher, Dürer, Holbein
sind, so leidenschaftlich ihre Tendenz zur räumlichen Tiefe erscheint,
ganz frei davon. Erst das endende 16. Jahrhundert gehört ihm. Dies
Braun verleugnet seine Herkunft aus dem »infinitesimalen«
Grün der Hintergründe Lionardos, Schongauers und Grünewalds
nicht, aber es besitzt die größere Macht über die Dinge.
Es führt den Kampf des Raumes gegen das Stoffliche zu Ende. Es überwindet
auch das primitivere Mittel der Linearperspektive mit ihrem an architektonische
Bildmotive gebundenen Renaissancecharakter. Es steht mit der impressionistischen
Technik der sichtbaren Pinselstriche dauernd in einer geheimnisvollen
Verbindung. Beide lösen das greifbare Dasein der sinnlichen Welt
der Welt des Augenblicks und der Vordergründe endgültig
in atmosphärischen Schein auf. Die Linie verschwindet aus dem tonigen
Bilde. Der magische Goldgrund hatte nur von einer rätselhaften Macht
geträumt, welche die Gesetzlichkeit der Körperwelt in dieser
Welthöhle beherrscht und durchbricht; das Braun dieser Gemälde
öffnet den Blick in eine reine formvolle Unendlichkeit. Im Werden
des abendländischen Stils bezeichnet seine Entdeckung einen Höhepunkt.
Diese Farbe hat im Gegensatz zu dem vorhergehenden Grün etwas
Protestantisches. Der nordische, im Grenzenlosen schweifende Pantheismus
des 18. Jahrhunderts, wie ihn die Verse der Erzengel im Prolog von Goethes
Faust ausdrücken, ist in ihm vorweggenommen. Die Atmosphäre
des König Lear und Macbeth ist ihm verwandt. Das gleichzeitige Streben
der instrumentalen Musik nach immer reicheren Enharmonien, bei de Rore
und Luca Marenzio, die Herausbildung des Tonkörpers der Streicher
und Bläserchöre entspricht durchaus der neuen Tendenz in der
Ölmalerei, von den reinen Farben aus durch die Unzahl bräunlicher
Schattierungen und die Kontrastwirkung unvermittelt nebeneinander gesetzter
Farbenstriche eine malerische Chromatik zu schaffen. Beide Künste
breiten nun durch ihre Ton- und Farbenwelten Farbentöne und
Tonfarben eine Atmosphäre reinster Räumlichkeit aus,
die nicht mehr den Menschen als Gestalt, als Leib, sondern die hüllenlose
Seele selbst umgibt und bedeutet. Eine Innerlichkeit wird erreicht, der
in den tiefsten Werken Rembrandts und Beethovens kein Geheimnis sich mehr
verschließt eine Innerlichkeit allerdings, welche der apollinische
Mensch durch seine streng somatische Kunst gerade hatte abwehren
wollen. (Ebd., S. 323-325).
Die alten Vordergrundfarben, Gelb und Rot die antiken Töne-,
werden von nun an seltener und immer als bewußte Kontraste zu Fernen
und Tiefen gebraucht, die sie steigern und betonen sollen (außer
bei Rembrandt vor allem bei Vermeer). Dies der Renaissance vollkommen
fremde atmosphärische Braun ist die unwirklichste Farbe, die es gibt.
Es ist die einzige »Grundfarbe«, die dem Regenbogen fehlt.
Es gibt weißes, gelbes, grünes, rotes, blaues Licht von vollkommenster
Reinheit. Ein reines braunes Licht liegt außerhalb der Möglichkeiten
unsrer Natur. Alle die grünlichbraunen, silbrigen, feuchtbraunen,
tiefgoldigen Töne, die bei Giorgione in prachtvollen Spielarten erscheinen,
bei den großen Niederländern immer kühner werden und sich
gegen Ende des 18. Jahrhunderts verlieren, entkleiden die Natur ihrer
greifbaren Wirklichkeit. Darin liegt beinahe ein religiöses Bekenntnis.
Man spürt die Nähe der Geister von Port Royal, die Nähe
von Leibniz. Bei Constable, dem Begründer einer zivilisierten
Malweise, ist es ein andres Wollen, das nach Ausdruck sucht, und dasselbe
Braun, das er bei den Holländern studiert hatte und das damals Schicksal,
Gott, den Sinn des Lebens bedeutete, bedeutet nun ihm etwas andres, nämlich
bloße Romantik, Empfindsamkeit, Sehnsucht nach etwas Entschwundenem,
Erinnerung an die große Vergangenheit der sterbenden Ölmalerei.
Auch den letzten deutschen Meistern, Lessing, Marees, Spitzweg, Diez,
Leibl (sein Bildnis der Frau Gedon, ganz in Braun
getaucht, ist das letzte altmeisterliche Porträt des Abendlandes,
vollkommen im Stile der Vergangenheit gemalt), deren verspätete
Kunst ein Stück Romantik, ein Rückblick und Ausklang ist, erschien
das tonige Braun als das kostbare Erbe der Vergangenheit, und sie setzten
sich in Widerspruch zu den bewußten Tendenzen ihrer Generation
dem seelenlosen, entseelenden Freilicht der Generation Haeckels ,
weil sie innerlich sich von diesem letzten Zuge des großen Stils
noch nicht trennen konnten. In diesem noch heute nicht verstandenen Kampf
zwischen dem Rembrandtbraun der alten und dem Freilicht der neuen Schule
erscheint der hoffnungslose Widerstand der Seele gegen den Intellekt,
der Kultur gegen die Zivilisation, der Gegensatz von symbolisch notwendiger
Kunst und weltstädtischem Kunstgewerbe, mag es bauen, malen, meißeln
oder dichten. Von hier aus wird die Bedeutung dieses Braun, mit dem eine
ganze Kunst stirbt, fühlbar. (Ebd., S. 325-326).
Die innerlichsten unter den großen Malern haben diese Farbe
am besten verstanden, Rembrandt vor allem. (Ebd., S. 326).
Braun war nunmehr die eigentliche Farbe der Seele, einer
historisch gestimmten Seele geworden. (Ebd., S. 326).
Ich glaube, Nietzsche hat einmal von der braunen Musik Bizets
gesprochen. Aber das Wort gilt eher von der Musik, die Beethoven für
Streichinstrumente geschrieben hat, und noch zuletzt von dem Orchesterklang
Bruckners, der so oft den Raum mit einem bräunlichen Golde füllt.
(Der Streichkörper repräsentiert im Orchesterklang
die Farben der Ferne. Das bläuliche Grün Watteaus findet sich
schon im bei canto der Neapolitaner um 1700, bei Couperin, bei Mozart
und Haydn, das Bräunliche der Holländer bei Corelli, Händel
und Beethoven. Auch die Holzbläser rufen helle Fernen herauf. Gelb
und Rot dagegen, die Farben der Nähe, die populären Farben,
gehören zum Klang der Blechinstrumente, der körperhaft bis zum
Ordinären wirkt. Der Ton einer alten Geige ist vollkommen körperlos.
Es verdient bemerkt zu werden, daß die hellenische Musik, so unbedeutend
sie ist, von der dorischen Lyra zur ionischen Flöte Aulos
und Syrinx überging und daß die strengen Dorer diese
Tendenz zum Weichlichen und Niedrigen noch zur Zeit des Perikles getadelt
haben.) Alle andern Farben sind in eine dienende Rolle verwiesen,
das helle Gelb und der Zinnober Vermeers, die mit wahrhaft metaphysischem
Nachdruck wie aus einer andern Welt ins Räumliche hereinragen, und
die gelbgrünen und blutroten Lichter, die bei Rembrandt mit der Symbolik
des Raumes beinahe zu spielen scheinen. Bei Rubens, der ein glänzender
Künstler, aber kein Denker war, ist das Braun fast ideenlos, eine
Schattenfarbe. (Das »katholische« Blaugrün macht bei
ihm und Watteau dem Braun den Rang streitig.) Man sieht, wie dasselbe
Mittel, das in den Händen tiefer Menschen Symbol wird und dann die
ungeheure Transzendenz der Landschaften Rembrandts hervorrufen kann, daneben
großen Meistern als bloße technische Handhabe zu Gebote steht,
daß also, wie wir eben sahen, die künstlerisch-technische »Form«,
als Gegensatz zu einem »Inhalt« gedacht, nichts mit der wahren
Form großer Werke zu tun hat. (Ebd., S. 326-327).
Ich hatte das Braun eine historische Farbe genannt. Es macht die
Atmosphäre des Bildraumes zu einem Zeichen des Gerichtetseins, der
Zukunft. Es übertönt die Sprache des Augenblicklichen in
der Darstellung. Diese Bedeutung erstreckt sich auch auf die übrigen
Farben der Ferne und führt zu einer weiteren, sehr bizarren Bereicherung
der abendländischen Symbolik. Die Hellenen hatten die oft noch vergoldete
Bronze zuletzt dem bemalten Marmor vorgezogen, um durch das Strahlende
der Erscheinung unter tiefblauem Himmel die Idee der Einzigkeit alles
Körperhaften zum Ausdruck zu bringen. (Man
verwechsle die Tendenz, welche dem Goldglanz eines auf freiem Platze stehenden
Körpers zugrunde liegt, nicht mit der des flimmernden arabischen
Goldgrundes, der in dämmernden Innenräumen hinter den Figuren
abschließt.) Die Renaissance grub diese Statuen aus, von
einer vielhundertjährigen Patina überzogen, schwarz und grün;
sie genoß das Historische des Eindrucks voller Ehrfurcht und Sehnsucht
und unser Formgefühl hat seitdem dieses »ferne«
Schwarz und Grün heilig gesprochen. Es ist heute für den Eindruck
der Bronze auf unser Auge unentbehrlich, wie um die Tatsache schalkhaft
zu illustrieren, daß diese ganze Kunstgattung uns nichts mehr angeht.
Was bedeutet uns eine Domkuppel, ein Bronzefigur ohne Patina, die das
nahe Glänzen in den Ton des Dort und Einst verwandelt? Sind wir nicht
endlich dahin gekommen, diese Patina künstlich zu erzeugen?
(Ebd., S. 327-328).
Aber in der Erhebung des Edelrostes zu einem Kunstmittel von selbständiger
Bedeutung liegt viel mehr. Man frage sich, ob ein Grieche die Bildung
der Patina nicht als Zerstörung des Kunstwerkes empfunden hätte.
Es ist nicht die Farbe allein, das raumferne Grün, das er aus seelischen
Gründen vermied; die Patina ist ein Symbol der Vergänglichkeit
und sie erhält damit eine merkwürdige Beziehung zu den Symbolen
der Uhr und der Bestattungsform. Es war an einer früheren Stelle
die Rede von der Sehnsucht der faustischen Seele nach Ruinen und den Zeugnissen
einer fernen Vergangenheit, einem Hange, wie er im Sammeln von Altertümern,
Handschriften, Münzen, den Pilgerfahrten nach dem Forum Romanum und
Pompeji, in Ausgrabungen und philologischen Studien schon zur Zeit Petrarcas
zutage tritt. Wann wäre es je einem Griechen eingefallen, sich um
die Ruinen von Knossos und Tiryns zu kümmern? Jeder kannte die Ilias,
aber nicht einem kam der Gedanke, den Hügel von Troja aufzugraben.
Die Aquädukte der Campagna, die etruskischen Gräber, die Ruinen
von Luxor und Karnak, zerfallende Burgen am Rhein, der römische Limes,
Hersfeld und Paulinzella werden mit einer geheimen Ehrfurcht vor dem Trümmerhaften
erhalten als Ruinen, denn man hat ein dunkles Gefühl davon,
daß bei einem Wiederaufbau etwas schwer in Worte zu Fassendes, Unwiederbringliches
verloren ginge. Nichts lag dem antiken Menschen ferner als diese Ehrfurcht
vor verwitterten Zeugen eines Einst und Ehemals. Man räumte aus den
Augen, was nicht mehr von der Gegenwart sprach. Nie wurde das Alte erhalten,
weil es alt war. Als die Perser Athen zerstört hatten, warf man Säulen,
Statuen, Reliefs, ob zertrümmert oder nicht, von der Akropolis herunter,
um von vorn anzufangen, und diese Schutthalde ist unsre reichste Fundgrube
für die Kunst des 6. Jahrhunderts geworden. Das entsprach dem Stil
einer Kultur, welche die Leichenverbrennung zum Symbol erhob und die Bindung
des täglichen Lebens an eine Zeitrechnung verschmähte. Wir haben
auch hier das Gegenteil gewählt. Die heroische Landschaft im Stile
Lorrains ist ohne Ruinen nicht denkbar, und der englische Park mit seinen
atmosphärischen Stimmungen, der den französischen um 1750 verdrängte
und dessen großgedachte Perspektive zugunsten der empfindsamen »Natur«
Addisons und Popes aufgab, fügte noch das Motiv der künstlichen
Ruine hinzu, die das Landschaftsbild historisch vertieft. (Home,
ein englischer Philosoph des 18. Jahrhunderts, erklärt in einer Betrachtung
über englische Parkanlagen, daß gotische Ruinen den Triumph
der Zeit über die Kraft, griechische den der Barbarei über
den Geschmack darstellen. Damals erst wurde die Schönheit des Rheins
mit seinen Ruinen entdeckt. Er war von nun an der historische Strom
der Deutschen.) Etwas Bizarreres ist kaum je ersonnen worden. Die
ägyptische Kultur restaurierte die Bauten der Frühzeit, aber
sie würde niemals den Bau von Ruinen als Symbolen der Vergangenheit
gewagt haben. Aber wir lieben eigentlich auch nicht die antike Statue,
sondern den antiken Torso. Er hat ein Schicksal gehabt; etwas in
die Ferne Weisendes umgibt ihn, und das Auge sucht gern den leeren Raum
der fehlenden Glieder mit dem Takt und Rhythmus unsichtbarer Linien zu
erfüllen. Eine gute Ergänzung und der geheimnisvolle
Zauber unendlicher Möglichkeiten ist zu Ende. Ich wage zu behaupten,
daß die Reste der antiken Skulptur erst durch diese Transposition
ins Musikalische uns nähertreten konnten. Die grüne Bronze,
der geschwärzte Marmor, die zertrümmerten Glieder einer Figur
heben für unser inneres Auge die Schranken von Ort und Zeit auf.
Man hat das malerisch genannt »fertige« Statuen,
Bauten, nicht verwilderte Parks sind unmalerisch und in
der Tat entspricht es der tieferen Bedeutung des Atelierbrauns (das
Nachdunkeln alter Gemälde erhöht für unser Gefühl
deren Gehalt, mag der Kunstverstand tausendmal dagegen sprechen; hätten
die verwendeten Öle die Bilder zufällig blasser werden lassen,
so wäre das als Zerstörung empfunden worden), aber man
meinte im letzten Grunde den Geist der instrumentalen Musik. Man frage
sich, ob der Doryphoros Polyklets, in funkelnder Bronze vor uns stehend,
mit Emailaugen und vergoldetem Haar, dieselbe Wirkung tun könnte
wie der vom Alter geschwärzte, ob der vatikanische Torso des Herakles
nicht seinen mächtigen Eindruck einbüßte, wenn eines Tages
die fehlenden Glieder gefunden würden, ob die Türme und Kuppeln
unsrer alten Städte nicht ihren tiefen metaphysischen Reiz verlören,
wenn man sie mit neuem Kupfer beschlüge. Das Alter adelt für
uns wie für die Ägypter alle Dinge. Für den antiken Menschen
entwertet es sie. (Ebd., S. 328-330).
Hiermit hängt endlich die Tatsache zusammen, daß die
abendländische Tragödie »historische«, nicht
etwa nachweisbar wirkliche oder mögliche das ist nicht der
eigentliche Sinn des Wortes sondern entfernte, patinierte
Stoffe aus demselben Gefühl vorzog: daß nämlich ein Ereignis
von reinem Augenblicksgehalt, ohne Raum- und Zeitferne, ein antikes tragisches
Faktum, ein zeitloser Mythos nicht das ausdrücken könne, was
die faustische Seele ausdrücken wollte und mußte. Wir haben
also Tragödien der Vergangenheit und Tragödien der Zukunft
zu letzteren, in denen der kommende Mensch Träger eines Schicksals
ist, gehören in einem gewissen Sinne Faust, Peer Gynt, die Götterdämmerung
, aber Tragödien der Gegenwart besitzen wir nicht, wenn man
von der belanglosen Sozialdramatik des 19. Jahrhunderts absieht. Shakespeare
wählte, wenn er einmal in Gegenwärtigem Bedeutendes ausdrücken
wollte, immer wenigstens fremde Länder, in denen er nie gewesen war,
am liebsten Italien; deutsche Dichter gern England und Frankreich
alles das aus einer Abweisung der örtlichen und zeitlichen Nähe,
welche das attische Drama selbst im Mythos noch betonte. (Ebd.,
S. 330).
Akt und Portrait
Man hat die Antike eine Kultur des Leibes, die nordische eine
Kultur des Geistes genannt, nicht ohne den Hintergedanken, damit die eine
zugunsten der andern zu entwerten. So trivial der im Renaissancegeschmack
gehaltene Gegensatz von antik und modern, heidnisch und christlich zumeist
gemeint ist, so hätte er doch zu entscheidenden Aufschlüssen
führen können, vorausgesetzt, daß man hinter der Formel
ihren Ursprung zu finden verstand. (Ebd., S. 330).
Die apollinische Seele, euklidisch, punktförmig, empfand
den empirischen, sichtbaren Leib als den vollkommenen Ausdruck ihrer Art,
zu sein; die faustische, in alle Fernen schweifend, fand diesen Ausdruck
nicht in der Person, dem soma, sondern in der Persönlichkeit,
dem Charakter oder wie man es nennen will. »Seele«
das war für den echten Hellenen zuletzt die Form seines Leibes.
So hat Aristoteles sie definiert. »Leib« das war für
den faustischen Menschen das Gefäß der Seele. So empfand Goethe.
(Ebd., S. 331).
Hätte nicht die Renaissance mit dem vollen Pathos ihrer Theorie
und einer gewaltigen Täuschung über ihre eignen Tendenzen unser
Urteil bis heute beherrscht, während uns die Plastik selbst innerlich
ganz fremd geworden war, so hätten wir das Absonderliche des attischen
Stils längst bemerkt. Der ägyptische und chinesische Bildhauer
dachten gar nicht daran, den anatomischen Außenbau zur Grundlage
des von ihnen gewollten Ausdrucks zu machen. Für gotische Bildwerke
endlich kommt die Sprache der Muskeln nirgends in Frage. Dies menschliche
Rankenwerk, das in unzähligen Statuen und Reliefgestalten
an der Kathedrale von Chartres sind es mehr als zehntausend das
gewaltige Steingefüge umspinnt, ist nicht nur Ornament; es
dient schon gegen 1200 zum Ausdruck von Entwürfen, vor denen selbst
das Größte verschwindet, was die antike Plastik geschaffen
hat. Denn diese Scharen von Wesen bilden eine tragische Einheit.
Hier hat, noch vor Dante, der Norden das historische Gefühl der faustischen
Seele, wie es im Ursakrament der Buße ()
den geistigen Ausdruck und zugleich in der Beichte die große
Schule findet, zu einem Weltendrama verdichtet. Was Joachim von Floris
eben jetzt in seinem apollinischen Kloster schaute: das Bild der Welt
nicht als Kosmos, sondern als Heilsgeschichte in der Folge von drei Weltaltern,
das entstand in Chartres, Reims, Amiens und Paris als Bilderfolge vom
Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht. Jede der Szenen und der
großen symbolischen Gestalten erhielt ihren bedeutsamen Platz an
dem heiligen Bau. Jede spielte ihre Rolle in dem ungeheuren Weltgedicht.
Und ebenso empfand nun jeder einzelne Mensch, wie sein Lebenslauf als
Ornament dem Plan der Heilsgeschichte eingefügt war, und er erlebte
diesen persönlichen Zusammenhang in den Formen der Buße und
Beichte. Deshalb standen diese Körper aus Stein nicht nur im Dienste
der Architektur; sie bedeuteten noch etwas Tiefes und Einziges für
sich selbst, das auch die Grabdenkmäler seit den Königsgräbern
von St. Denis mit immer wachsender Innerlichkeit zum Ausdruck bringen:
sie reden von einer Persönlichkeit. Was dem antiken Menschen
die vollkommene Durchbildung der körperlichen Oberfläche bedeutete
denn das ist der letzte Sinn allen anatomischen Ehrgeizes der griechischen
Künstler: das Wesen der lebendigen Erscheinung durch die Gestaltung
ihrer Grenzflächen zu erschöpfen , das wurde für
den faustischen Menschen folgerichtig das Porträt, der eigentlichste
und einzig erschöpfende Ausdruck seines Lebensgefühls.
(Ebd., S. 333-334).
Um aber die Bedeutung des abendländischen Porträts selbst
noch im Gegensatz zum ägyptischen und chinesischen zu erkennen, muß
man eine tiefe Wandlung in den Sprachen des Abendlandes betrachten, die
seit der Merowingerzeit die Heraufkunft eines neuen Lebensgefühls
ankündigt. Sie erstreckt sich gleichmäßig auf das
Altgermanische und das Vulgärlatein, für beide aber nur auf
die Sprachen innerhalb der Mutterlandschaft der nahenden Kultur, also
auf Norwegisch und Spanisch, aber nicht auf das Rumänische. Aus dem
Geist der Sprachen und der »Einwirkung« der einen auf die
andre kann das nicht erklärt werden, nur aus dem Geist des Menschentums,
das den Wortgebrauch zum Symbol erhebt. Statt sum, gotisch im,
sagt man: ich bin, I am, je suis; statt fecisti heißt
es: tu habes factum, tu as fait, du habes gitân, und weiterhin:
daz wîp, un homme, man hat. Das war bis jetzt ein Rätsel
(vgl. Friedrich Kluge, Deutsche Sprachgeschichte,
1920, S. 202 ff.), weil man Sprachfamilien als Wesen ansah. Es
verliert das Geheimnisvolle, wenn man im Satzbau das Abbild einer Seele
entdeckt. Hier beginnt die faustische Seele grammatische Zustände
verschiedenster Herkunft für sich umzuprägen. Dies hervortretende
»Ich« enthält die erste Morgenröte jener Idee der
persönlichkeit, die viel später das Sakrament der Buße
und persönlichen Lossprechung schuf. Dieses
»ego habeo factum«, die Einschaltung der Hilfszeitwörter
haben und sein zwischen einen Täter und eine Tat an Stelle des feci,
eines bewegten Leibes, ersetzt die Welt von Körpern durch eine
solche von Funktionen zwischen Kraftmittelpunkten, die Statik des Satzes
durch Dynamik. Und dieses »Ich« und »Du« löst
das Geheimnis des gotischen Porträts. Ein hellenistisches Bildnis
ist der Typus einer Haltung, kein »Du«, keine Beichte vor
dem, der es schafft oder versteht. Unsre Bildnisse schildern etwas Einzigartiges,
das einmal war und nie wiederkehrt, eine Lebensgeschichte im Ausdruck
eines Augenblicks, eine Weltmitte, für die alles andre ihre
Welt ist, so wie das »Ich« zur Kraftmitte des faustischen
Satzes wird. (Ebd., S. 335-336).
Es war gezeigt worden, wie das Erlebnis des Ausgedehnten
seinen Ursprung in der lebendigen Richtung, der Zeit, dem
Schicksal hat. Im vollendeten Sein des freistehenden nackten Körpers
wird das Tiefenerlebnis abgeschnitten; der »Blick« eines Bildnisses
leitet es ins Übersinnlich-Unendliche. Deshalb ist die antike Plastik
eine Kunst der Nähe, des Betastbaren, des Zeitlosen. Deshalb liebt
sie Motive der kurzen, allerkürzesten Ruhe zwischen zwei Bewegungen,
den letzten Augenblick vor dem Wurf des Diskos, den ersten nach
dem Flug der Nike des Paionios, wo der Schwung des Leibes zu Ende ist
und die wehenden Gewänder noch nicht fallen, eine Haltung, die gleichweit
von Dauer und Richtung entfernt ist, abgesetzt gegen Zukunft und
Vergangenheit. Veni, vidi, vici das ist solch eine
Haltung. Ich kam, ich sah, ich siegte: da wird
etwas noch einmal im Aufbau des Satzes. (Ebd., S. 336).
Das Tiefenerlebnis ist ein Werden und bewirkt ein Gewordenes;
es bedeutet Zeit und ruft den Raum hervor; es ist kosmisch und historisch
zugleich. Die lebendige Richtung geht zum Horizont wie zur Zukunft.
(Ebd., S. 336).
Das abendländische Porträt ist unendlich in jedem
Sinne .... (Ebd., S. 337).
Beichten heißt nicht eine Tat eingestehen, sondern die innere
Geschichte dieser Tat dem Richter vorlegen. Die Tat ist offenkundig;
ihre Wurzeln sind das persönliche Geheimnis. Wenn der Protestant
und der Freigeist sich gegen die Ohrenbeichte auflehnen, so kommt es ihnen
nicht zum Bewußtsein, daß sie nicht die Idee, sondern nur
ihre äußere Fassung verwerfen. Sie weigern sich, dem Priester
zu beichten, aber sie beichten sich selbst, dem Freunde oder der Menge.
Die gesamte nordische Poesie ist eine laute Bekenntniskunst. Das Porträt
Rembrandts und die Musik Beethovens sind es auch. Was Raffael, Calderon
und Haydn dem Priester mitteilten, haben jene in die Sprache ihrer Werke
übertragen. Wer schweigen muß, weil ihm die Größe
der Form versagt blieb, um auch das letzte aufzunehmen, geht zugrunde
wie Hölderlin. Der abendländische Mensch lebt mit dem Bewußtsein
des Werdens, mit dem ständigen Blick auf Vergangenheit und Zukunft.
Der Grieche lebt punktförmig, unhistorisch, somatisch. Kein Grieche
wäre einer echten Selbstkritik fähig gewesen. Auch das liegt
in der Erscheinung der nackten Statue, dem vollkommen unhistorischen
Abbild eines Menschen. Ein Selbstporträt ist das genaue Seitenstück
der Selbstbiographie in der Art des »Werther« und »Tasso«,
und das eine der Antike so fremd wie das andre. Es gibt nichts Unpersönlicheres
als die griechische Kunst. Daß Skopas oder Lysippos ein Bildnis
von sich selbst gemacht hätten, kann man sich gar nicht vorstellen.
(Ebd., S. 337-338).
Ich fasse jetzt den Gegensatz von apollinischem und faustischem
Menschheitsideal zusammen. Akt und Porträt verhalten sich wie Körper
und Raum, wie Augenblick und Geschichte, Vordergrund und Tiefe, wie die
euklidische zur analytischen Zahl, wie Maß und Beziehung. Die Statue
wurzelt im Boden, die Musik und das abendländische Porträt
ist Musik, aus Farbentönen gewebte Seele durchdringt den
grenzenlosen Raum. Das Freskogemälde ist mit der Wand verbunden,
verwachsen; das Ölgemälde, als Tafelbild, ist frei von den Schranken
eines Ortes. Die apollinische Formensprache offenbart ein Gewordnes, die
faustische vor allem auch ein Werden. (Ebd., S. 340-341).
Deshalb zählt die abendländische Kunst Kinderporträts
und Familienbildnisse zu ihren besten und innerlichsten Leistungen.
(Ebd., S. 341).
In der Idee des Muttertums ist das unendliche Werden begriffen.
Das mütterliche Weib ist die Zeit, ist das Schicksal. Wie der mystische
Akt des Tiefenerlebnisses aus dem Sinnlichen das Ausgedehnte und also
die Welt bildet, so entsteht durch die Mutterschaft der leibliche
Mensch als einzelnes Glied dieser Welt, in der er nun ein Schicksal hat.
Alle Symbole der Zeit und Ferne sind auch Symbole des Muttertums. Die
Sorge ist das Urgefühl der Zukunft und alle Sorge ist mütterlich.
Sie spricht sich in den Bildungen und Ideen von Familie und Staat aus
und in dem Prinzip der Erblichkeit, das beiden zugrunde liegt.
Man kann sie bejahen oder verneinen; man kann sorgenvoll leben oder sorglos.
Und man kann also auch die Zeit im Zeichen der Ewigkeit auffassen oder
in dem des Augenblicks, und deshalb das Schauspiel der Zeugung und Geburt
oder das der Mutter mit dem Kinde an der Brust als Symbole des Lebens
im Räume durch alle Mittel der Kunst versinnlichen. Das erste haben
Indien und die Antike, das letzte Ägypten und das Abendland getan.
(Vgl. S. 177 []
und S. 912). Phallus und Lingam haben etwas rein Gegenwärtiges, Beziehungsloses,
und etwas davon liegt auch in der Erscheinung der dorischen Säule
wie der attischen Statue. Die stillende Mutter verweist in die Zukunft
und sie ist es, welche der antiken Kunst vollkommen fehlt. Man möchte
sie nicht einmal im Stil des Phidias gebildet sehen. Man fühlt, daß
diese Form dem Sinn der Erscheinung widerspricht. (Ebd., S. 341-342).
In der religiösen Kunst des Abendlandes gab es keine erhabnere
Aufgabe. Mit der anbrechenden Gotik wird die Maria Theotokos der byzantinischen
Mosaiken zur Mater dolorosa, zur Mutter Gottes, zur Mutter überhaupt.
Im germanischen Mythos erscheint sie, ohne Zweifel erst seit der Karolingerzeit,
als Frigga und Frau Holle. Wir finden das gleiche Gefühl in schönen
Wendungen der Minnesänger wie Frau Sonne, Frau Weite, Frau Minne
ausgedrückt. Etwas Mütterliches, Sorgendes, Duldendes durchzieht
das ganze Weltbild der frühgotischen Menschheit, und als das germanisch-katholische
Christentum zum vollen Bewußtsein seiner selbst herangereift war,
in der endgültigen Fassung der Sakramente und gleichzeitig des
gotischen Stils, da hat es nicht den leidenden Erlöser, sondern
die leidende Mutter in die Mitte seines Weltbildes gestellt. Um 1250
wird in dem großen Statuenepos der Kathedrale von Reims der herrschende
Platz an der Mitte des Hauptportals, den in Paris und Amiens noch Christus
erhalten hatte, der Madonna eingeräumt, und um dieselbe Zeit beginnt
die toskanische Schule zu Arezzo und Siena (Guido da Siena), in den byzantinischen
Bildtypus der Theotokos den Ausdruck mütterlicher Liebe zu legen.
Die Madonnen Raffaels leiten dann zu dem weltlichen Typus des Barock hinüber,
der mütterlichen Geliebten, zu Ophelia und Gretchen, deren Geheimnis
sich in der Verklärung am Schlusse des zweiten Faust, in der Verschmelzung
mit der frühgotischen Maria erschließt. (Ebd.,
S. 342-343).
Ihr stellte die hellenische Einbildungskraft Göttinnen gegenüber,
die Amazonen wie Athene oder Hetären wie Aphrodite
waren. Das ist der antike Typus vollkommener Weiblichkeit, aus
dem Grundgefühl pflanzenhafter Fruchtbarkeit erwachsen. Auch hier
erschöpft das Wort soma den ganzen Sinn der Erscheinung. Man
denke an das Meisterwerk dieser Art, die drei mächtigen Frauenkörper
im Ostgiebel des Parthenon, und vergleiche damit das erhabenste Bildnis
einer Mutter, die sixtinische Madonna Raffaels. In ihr ist nichts Körperhaftes
mehr. Sie ist ganz Ferne, ganz Raum. Die Helena der Ilias, an der mütterlichen
Gefährtin Siegfrieds, Kriemhild, gemessen, ist Hetäre; Antigone
und Klytämnestra sind Amazonen. Es ist auffallend, wie selbst Aischylos
in der Tragödie seiner Klytämnestra die Tragik der Mutter mit
Schweigen übergeht. Und die Gestalt der Medea ist vollends die mythische
Umkehrung des faustischen Typus der Mater dolorosa. Nicht um der Zukunft,
nicht um der Kinder willen ist sie da; mit dem Geliebten, dem Symbol des
Lebens als einer reinen Gegenwart, versinkt ihr alles. Kriemhild rächt
ihre ungeborenen Kinder. Diese Zukunft hatte man ihr gemordet.
Medea rächt nur ein vergangenes Glück. (Ebd., S. 343).
Die Pygmalionsage erschließt das ganze Wesen dieser apollinischen
Kunst. (Ebd., S. 353).
(Ich erinnere an die Geschichte von Tartinis
Geige, die beim Tode des Meisters zerspringt. Es gibt hundert ähnliche.
Sie sind das faustische Gegenstück zur Pygmalionsage. Es sei auch
auf E.T.A. Hoffmanns Gestalt des Kapellmeisters Kreisler aufmerksam gemacht,
die ebenbürtig neben dem Faust, Werther und Don Juan steht. Um ihren
symbolischen Rang und ihre innere Notwendigkeit zu fühlen, vergleiche
man sie mit den theatralischen Malergestalten der gleichzeitigen Romantiker,
die zur Idee der Malerei in keinerlei Beziehung stehen. Ein Maler kann
gar nicht, und das spricht das Urteil über die Künstlerromane
des 19. Jahrhunderts, das Schicksal der faustischen Kunst repräsentieren.)
(Ebd., S. 354).
Es ist noch übrig, die Vollendung der abendländischen
Kunst in großen Zügen zu verfolgen. Die innerste Notwendigkeit
aller Geschichte ist hier am Werke. Wir haben gelernt, Künste als
Urphänomene zu begreifen. Wir suchen nicht mehr nach Ursachen und
Wirkungen im physikalischen Sinne, um ihrer Entwicklung Zusammenhang zu
geben. Wir haben den Begriff des Schicksals einer Kunst in sein
Recht eingesetzt. Wir haben endlich Künste als Organismen
erkannt, die in dem größeren Organismus einer Kultur ihre bestimmte
Stellung einnehmen, geboren werden, reifen, altern und für immer
sterben. (Ebd., S. 361).
Eine Spätzeit, das Barock wie die Ionik, weiß, was
die Formensprache der Kunst zu bedeuten hat. Sie war bis dahin eine philosophische
Religion, jetzt wird sie eine religiöse Philosophie. Sie wird städtisch
und weltlich. An die Stelle namenloser Schulen treten die großen
Meister. Es erscheint auf der Höhe jeder Kultur das Schauspiel einer
prachtvollen Gruppe großer Künste, wohlgeordnet und
durch das zugrunde liegende Ursymbol zu einer Einheit verknüpft.
Die apollinische Gruppe, zu welcher die Vasenmalerei, das Fresko,
das Relief, die Architektur der Säulenordnungen, das attische Drama,
der Tanz gehören, hat die Skulptur der nackten Statue zur Mitte.
Die faustische Gruppe bildet sich um das Ideal reiner räumlicher
Unendlichkeit. Ihren Mittelpunkt bildet die instrumentale Musik. Von ihr
aus spinnen sich feine Fäden in alle geistigen Formensprachen hinüber
und verweben die infinitesimale Mathematik, die dynamische Physik, die
Propaganda des Jesuitenordens und die Dynamik der berühmten Schlagworte
der Aufklärung, die moderne Maschinentechnik, das Kreditsystem und
die dynastisch-diplomatische Staatsorganisation zu einer ungeheuren Totalität
seelischen Ausdrucks. (Ebd., S. 361-362).
Ölmalerei und Instrumentalmusik, die Künste des Raumes,
treten ihre Herrschaft an. In der Antike waren es folglich die
stofflich-euklidischen Künste: das streng flächenhafte Fresko
und die freistehende Statue, die gleichzeitig um 600 in
den Vordergrund treten. Und zwar sind es die beiden Arten von Malerei,
die, in ihrer Formensprache gemäßigter, zugänglicher,
zuerst heranreifen. Dem Ölgemälde gehört die Zeit
von 15501650 ebenso unbestritten wie dem Fresko und Vasenbild das
6. Jahrhundert. Die Symbolik von Raum und Körper, ausgedrückt
durch das Kunstmittel hier der Perspektive und dort der Proportion,
erscheint in der mittelbaren Sprache des Gemäldes nur angedeutet.
Diese Künste, welche das jeweilige Ursymbol, also Möglichkeiten
des Ausgedehnten, in der Bildfläche nur vorzutäuschen vermögen,
konnten das antike und abendländische Ideal wohl bezeichnen und heraufrufen,
aber nicht vollenden. Auf dem Wege der Spätzeit erscheinen sie als
Vorstufen der letzten Höhe. Je mehr der große Stil sich seiner
Vollendung nähert, desto entschiedener wird der Drang nach einer
ornamentalen Sprache von unerbittlicher Klarheit der Symbolik. Die Malerei
genügte nicht mehr. Die Gruppe der hohen Künste wurde weiterhin
vereinfacht. Um 1670, gerade damals, als Leibniz und Newton die Differentialrechnung
entdeckten, war die Ölmalerei an der Grenze ihrer Möglichkeiten
angelangt. (Ebd., S. 362-363).
Die Formen der letzten Reife treten hervor, das Concerto grosso,
die Suite und die dreiteilige Sonate für Soloinstrumente. Die Musik
befreit sich von dem Rest des Körperlichen im Klange der menschlichen
Stimme. Sie wird absolut. Das Thema verwandelt sich aus einem Bilde in
eine prägnante Funktion, deren Dasein in Entwicklung besteht;
den Fugenstil Bachs kann man nur als eine unendliche Differentation und
Integration bezeichnen. Die Marksteine des Sieges der reinen Musik über
die Malerei sind die im höchsten Alter entstandenen Passionen von
Heinrich Schütz, in denen die neue Formensprache am Horizont erscheint,
die Sonaten dall' Abacos und Corellis, die Oratorien Händels und
die barocke Polyphonie Bachs. Von nun an ist diese Musik die faustische
Kunst, und man darf Watteau einen malenden Couperin, Tiepolo einen malenden
Händel nennen. (Ebd., S. 363).
Dieselbe Wendung erfolgt in der Antike um 460, als der letzte
der großen Freskomaler, Polygnot, das Erbe des erhabenen Stils an
Polyklet und damit an die freie Rundplastik abtritt. (Ebd., S. 363).
Mit dieser Musik und dieser Plastik ist das Ziel erreicht. Eine
reine Symbolik von mathematischer Strenge ist möglich geworden: das
bedeutet der Kanon, jene Schrift Polyklets über die Proportionen
des menschlichen Körpers und als Gegenstück dazu die »Kunst
der Fuge« und das »Wohltemperierte Klavier« seines »Zeitgenossen«
Bach. Diese beiden Künste leisten das Äußerste und Letzte
an Deutlichkeit und Intensität der reinen Form. Man vergleiche doch
den Tonkörper der faustischen Instrumentalmusik und in ihm wieder
den Streichkörper und bei Bach auch noch den als Einheit wirkenden
Körper der Blasinstrumente mit dem Körper attischer Statuen;
man vergleiche, was Haydn und was Praxiteles eine Figur nannten, nämlich
die eines rhythmischen Motivs im Gewebe der Stimmen oder die eines Athleten,
eine Bezeichnung, welche der Mathematik[364] entnommen ist und verrät,
daß dieses jetzt endlich erreichte Ziel das einer Vereinigung künstlerischen
und mathematischen Geistes ist, denn zugleich mit Musik und Plastik haben
die Analysis des Unendlichen und die euklidische Geometrie ihre Aufgabe
und den letzten Sinn ihrer Zahlensprache mit voller Deutlichkeit begriffen.
Die Mathematik des Schönen und die Schönheit des Mathematischen
sind nicht mehr zu trennen. Der unendliche Raum der Töne und der
völlig freistehende Körper von Marmor oder Bronze sind eine
unmittelbare Interpretation des Ausgedehnten. Sie gehören zur Zahl
als Beziehung und zur Zahl als Maß. (Ebd., S. 364-365).
Mit dem Ausgang der Fresko- (apolinisch;
HB) und Ölmalerei (faustisch; HB)
beginnt die dichte Reihe großer Meister der absoluten Plastik (apolinisch;
HB) und Musik (faustisch; HB). Auf
Polyklet folgen Phidias, Paionios, Alkamenes, Skopas, Praxiteles, Lysippos,
auf Bach und Händel Gluck, Stamitz, die Söhne Bachs, Haydn,
Mozart, Beethoven. Jetzt erscheint die Menge wunderbarer, heute längst
verschollener Instrumente, eine ganze Zauberwelt abendländischen
Entdecker- und Erfindergeistes, um immer neue Klänge und Tonfarben
für den Dienst und die Steigerung des Ausdrucks heranzuziehen, jetzt
die Fülle großer, feierlicher, zierlicher, leichter, spöttischer,
lachender, schluchzender Formen von strengstem Bau, auf die sich heute
niemand mehr versteht; es gab damals, vor allem im Deutschland des 18.
Jahrhunderts, eine wirkliche Kultur der Musik, die das ganze Leben durchdrang
und erfüllte, deren Typus Hoffmanns Kapellmeister Kreisler wurde
und von der uns kaum die Erinnerung mehr geblieben ist. (Ebd., S.
365).
Endlich, mit dem 18. Jahrhundert, stirbt auch die Architektur.
Sie löst sich, sie ertrinkt in der Musik des Rokoko. Alles, was man
an dieser letzten wundervollen, fragilen Blüte der abendländischen
Baukunst getadelt hat weil man ihre Entstehung aus dem Geist der
Fuge nicht verstand : das Maßlose, Formlose, Verschwebende,
Wogende, Funkelnde, die Zerstörung der Fläche und Gliederung[365]
für das Auge, alles das ist nur ein Sieg der Töne und Melodien
über Linien und Wände, der Triumph des reinen Raumes über
den Stoff, des absoluten Werdens über das Gewordne. Es sind nicht
mehr Baukörper, diese Abteien, Schlösser, Kirchen mit ihren
geschwungenen Fassaden, Portalen und Höfen mit Muschelinkrustation,
mächtigen Treppenhäusern, Galerien, Sälen, Kabinetten,
sondern steingewordene Sonaten, Menuette, Madrigale, Präludien; Kammermusik
in Stuck, Marmor, Elfenbein und edlen Hölzern; Kantilenen von Voluten
und Kartuschen, Kadenzen von Freitreppen und Firsten. Der Dresdner Zwinger
ist das vollkommenste Stück Musik in der gesamten Weltarchitektur,
mit Ornamenten wie der Ton einer edlen alten Geige, ein allegro fugitivo
für kleines Orchester. (Ebd., S. 365-366).
Deutschland hat die großen Musiker und also auch die großen
Baumeister Pöppelmann, Schlüter, Bahr, Neumann, Fischer
von Erlach, Dinzenhofer (Dientzenhofer; HB)
dieses Jahrhunderts hervorgebracht. In der Ölmalerei spielt
es keine, in der Instrumentalmusik die entscheidende Rolle. (Ebd.,
S. 366).
»Der Raum ist die Form a priori der Anschauung«,
die Formel Kants klingt das nicht wie ein Programm dieser Bewegung,
die mit Lionardo anhebt? (Ebd., S. 367).
Der Impressionismus ist die Umkehrung des euklidischen Weltgefühls.
Er sucht sich von der Sprache des Plastischen so weit als möglich
zu entfernen und der des Musikalischen zu nähern. (Ebd., S.
367).
Der Impressionismus ist der umfassende Ausdruck eines Weltgefühls,
und es versteht sich, daß er die gesamte Physiognomie unser späten
Kultur durchdringt. (Ebd., S. 367).
Malerisch und musikalisch handelt es sich um die Kunst, mit ein
paar Strichen, Flecken oder Tönen ein in seinem Gehalte unerschöpfliches
Bild, einen Mikrokosmos für Auge und Ohr eines faustischen Menschen
zu schaffen, das heißt die Wirklichkeit des unendlichen Raumes durch
die flüchtigste, fast körperlose Andeutung von etwas Gegenständlichem,
das ihn gewissermaßen zwingt in Erscheinung zu treten, künstlerisch
zu bannen. (Ebd., S. 367-368).
1800, ... Grenze von Kultur und Zivilisation. (Ebd., S.
370).
Das Freilicht, das jetzt eine neue Farbenskala entfaltet, bezeichnet
demgegenüber die Irreligion. Der Impressionismus ist aus den Sphären
Beethovenscher Musik und Kantischer Sternenräume auf die Erdoberfläche
zurückgekehrt. Dieser Raum ist erkannt, nicht erlebt, gesehen, nicht
geschaut; es ist Stimmung darin, nicht Schicksal; es ist das mechanische
Objekt der Physik und nicht die gefühlte Welt der pastoralen Musik,
was Courbet und Manet in ihre Landschaften bringen. Was Rousseau mit tragisch
treffendem Ausdruck als Rückkehr zur Natur prophezeit hatte, vollzieht
sich in dieser sterbenden Kunst. So kehrt ein Greis von Tag zu Tag »zur
Natur zurück«. Der neue Künstler ist Arbeiter, nicht Schöpfer.
(Ebd., S. 371).
Der malerische Stil von Rottmann, Wasmann, K.D. Friedrich und
Runge bis zu Marées und Leibl setzt alle Glieder der Entwicklung
voraus; sie liegen dem Technischen zugrunde, und wo auch eine Schule den
neuen Stil pflegen will, bedarf sie einer geschlossenen inneren Tradition.
.... Alle großen Deutschen des 18. Jahrhunderts waren, als Künstler,
Musiker geworden. Daß diese Musik, ohne ihr innerstes Wesen
zu verändern, seit Beethoven doch noch einmal in Malerei umschlug,
ist eine Seite der deutschen Romantik. Hier hat sie am längsten
geblüht, hier ihre liebenswürdigsten Früchte getragen.
Denn diese Köpfe und Landschaften sind eine heimliche, sehnsuchtsvolle
Musik. Etwas von Eichendorff und Mörike ist noch in Thoma und Böcklin
zu finden. (Ebd., S. 372).
Im »Tristan« stirbt die letzte der faustischen Künste.
Dies Werk ist der riesenhafte Schlußstein der abendländischen
Musik. Die Malerei hat es nicht zu einem so mächtigen Finale gebracht.
Manet, Menzel und Leibl, in deren Freilichtstudien die Ölmalerei
alten Stils noch einmal wie aus dem Grabe hervorkommt, wirken dagegen
klein. Die apollinische Kunst ging »gleichzeitig« mit der
pergamenischen Plastik zu Ende. Pergamon
ist das Seitenstück von Bayreuth. Der berühmte Altar selbst
ist zwar ein späteres und vielleicht nicht das bedeutendste Werk
der Epoche. Man muß (etwa 330-220) eine lange, verschollene Entwicklung
voraussetzen. Aber alles, was Nietzsche gegen Wagner und Bayreuth, den
»Ring« und den »Parsifal« vorbrachte, läßt
sich, unter Gebrauch ganz derselben Ausdrücke wie Dekadenz und Schauspielerei,
auf diese Plastik anwenden, von der uns im Gigantenfries des großen
Altars - auch einem »Ring« - ein Meisterwerk erhalten ist.
Dieselbe Theatralik, dieselbe Anlehnung an alte, mythische, nicht mehr
geglaubte Motive, dieselbe rücksichtslose Massenwirkung auf die Nerven,
aber auch dieselbe sehr bewußte Wucht, Größe und Erhabenheit,
die dennoch einen Mangel an innerer Kraft nicht ganz zu verbergen weiß.
Der farnesische Stier und das ältere Vorbild der Laokoongruppe stammen
sicherlich aus diesem Kreise. (Ebd., S. 374).
Es war die überpersönliche Regel, die absolute Mathematik
der Form, das Schicksal der langsam gereiften Sprache einer großen
Kunst, hier wie dort, was man nicht mehr ertrug. Lysipp (ca. 380-310)
steht darin hinter Polyklet (5. Jh v. Chr.), und die Schöpfer der
Galliergruppen hinter Lysipp zurück. Das entspricht dem Wege von
Bach (1685-1750) über Beethoven (1770-1827) zu Wagner (1813-1883).
Die frühen Künstler fühlen sich als Meister der großen
Form, die späten als deren Sklaven. Was noch Praxiteles (5./4. Jh.)
und Haydn (1732-1809) innerhalb der strengsten Konvention in vollkommener
Freiheit und Heiterkeit zu sagen vermochten, brachten Lysipp und Beethoven
nur unter Vergewaltigungen zustande ().
Noch Mozart (1756-1791) und Cimarosa (1749-1801) beherrschten die
Muttersprache ihrer Kunst. Von da an beginnt man ihr radezubrechen, aber
niemand empfindet das, weil niemand mehr fließend sprechen kann.
Freiheit und Notwendigkeit waren einst identisch. Jetzt versteht man unter
Freiheit Mangel an Zucht. In der Zeit Rembrandts und Bachs ist das uns
allzubekannte Schauspiel, »an seiner Aufgabe zu scheitern«,
gar nicht denkbar. Das Schicksal der Form lag in der Rasse, in der Schule,
nicht in privaten Tendenzen des Einzelnen. Im Banne einer großen
Tradition gelingt selbst dem kleinen Künstler das Vollkommene, weil
die lebendige Kunst ihn und die Aufgabe zusammenführt. Heute müssen
diese Künstler wollen, was sie nicht mehr können, und dort mit
dem Kunstverstand arbeiten, rechnen, kombinieren, wo der geschulte Instinkt
erloschen ist. (Ebd., S. 375-376).
Wagner
wußte, daß er nur dann die Höhe erreichte, wenn er seine ganze
Energie zusammennahm und aufs peinlichste die besten Augenblicke seiner künstlerischen
Begabung ausnützte. (Ebd., S. 376).Zwischen
Wagner (1813-1883) und Manet (1832-1883) besteht eine tiefe Verwandtschaft, die
wenigen fühlbar sein wird, die aber ein Kenner alles Dekadenten wie Baudelaire
(1821-1867) schon früh herausfand. Aus farbigen Strichen und Flecken eine
Welt im Raume hervorzuzaubern, das war die letzte, sublimste Kunst der Impressionisten.
Wagner leistet das mit drei Takten, in denen sich eine ganze Welt von Seele zusammendrängt.
Die Farben der sternhellen Mitternacht, der ziehenden Wolken, des Herbstes, der
schaurig-wehmütigen Morgenfrühe, überraschende Blicke auf sonnenbelichtete
Fernen, die Weltangst, das nahe Verhängnis, das Verzagen, das verzweifelte
Durchbrechen, die jähe Hoffnung, Eindrücke, die vorher kein Musiker
für erreichbar gehalten hätte, malt er in vollkommener Deutlichkeit
mit ein paar Tönen eines Motivs. Hier ist der äußerste Gegensatz
zur griechischen Plastik erreicht. Alles versinkt in körperlose Unendlichkeit;
selbst eine linienhafte Melodie ringt sich nicht mehr aus den vagen Tonmassen
los, die in seltsamen Wogen einen imaginären Raum heraufrufen. Das Motiv
taucht aus dunkler und furchtbaerer Tiefe auf, flüchtig von einem großen
Licht überstrahlt; plötzlich steht es in schrecklicher Nähe; es
lächelt, es schmeichelt, es droht; bald ist es im Reiche der Streichinstrumente
verschwunden, bald nähert es sich wieder aus endlosen Fernen, von einer einzelnen
Oboe leise variiert, mit einer immer neuen Fülle seelischer Farben.
(Ebd., S. 376-377).Alles,
was Nietzsche von Wagner gesagt hat, gilt auch von Manet. Scheinbar eine Rückkehr
zum Elementarischen, zur Natur gegenüber der Inhaltsmalerei und der absoluten
Musik, bedeutet ihre Kunst ein Nachgeben vor der Barbarei der großen Städte.
(Ebd., S. 377).
Eine künstliche Kunst ist keiner organischen Fortentwicklung fähig.
Sie bezeichnet das Ende. Daraus folgt - eine bittere Erkenntnis -, daß es
mit der abendländischen bildenden Kunst unwiderruflich zu Ende ist. Die Krisis
des 19. Jahrhunderts war der Todeskampf. .... Was heute als Kunst betrieben wird,
ist Ohnmacht und Lüge, die Musik nach Wagner (1813-1883) so gut wie die Malerei
nach Manet (1832-1883), Cézanne (1839-1906), Leibl (1844-1900) und Menzel
(1815-1905). Man suche doch die großen Persönlichkeiten, welche die
Behauptung rechtfertigen, daß es noch eine Kunst von schicksalhafter Notwendigkeit
gebe. Man suche nach der selbstverständlichen und notwendigen Aufgabe,
die auf sie wartet. Man gehe durch die Ausstellungshallen, Konzerte, Theater und
man wird nur betriebsame Macher und lärmende Narren finden, die sich daran
gefallen, etwas - innerlich längst als überflüssig Empfundenes
- für den Markt herzurichten. Auf welcher Stufe der innern und äußern
Würde steht heute alles, was Kunst und Künstler heißt! In
der Generalversammlung irgendeiner Aktiengesellschaft oder unter Ingenieuren der
erstbesten Maschinenfabrik wird man mehr Intelligenz, Geschmack, Charakter und
Können bemerken als in der gesamten Malerei und Musik des gegenwärtigen
Europa. (Ebd., S. 377-378).Man
könnte heute alle Kunstanstalten schließen, ohne daß die Kunst
davon auch nur berührt würde. Wir dürfen uns nur in das Alexandria
des Jahres 200 v. Chr. versetzen, um den Kunstlärm kennen zu lernen, mit
dem eine weltstädtische Zivilisation sich über den Tod ihrer Kunst zu
täuschen versteht. Dort, wie heute in den Weltstädten Westeuropas, eine
Jagd nach den Illusionen einer künstlerischen Fortentwicklung, der persönlichen
Eigenart, des »neuen Stils«, der »ungeahnten Möglichkeiten«,
ein theoretisches Geschwätz, eine anspruchsvolle Haltung tonangebender Künstler
wie die von Akrobaten, die mit Zentnergewichten von Pappe hantieren (»hodlern«
), der Literat statt des Dichters, die scharmlose Farce des Expressionismus als
ein Stück Kunstgeschichte, das der Kunsthandel organisiert hat, das Denken,
Fühlen und Formen als Kunstgewerbe. Auch Alexandria hatte seine Problemdramatiker
und Regiekünstler, die man Sophokles (ca. 496-406) vorzog, und seine Maler,
die neue Richtungen erfanden und ihr Publikum verblüfften. (Ebd., S.
378).
Jede Modernität hält Abwechslung für Entwicklung.
Die Wiederbelebungen und Verschmelzungen alter Stile treten an die Stelle
wirklichen Werdens. Auch Alexandria hatte seine prärafaelitischen
Hanswurste, mit Vasen, Stühlen, Bildern und Theorien, seine Symbolisten,
Naturalisten und Exprssionisten. In Rom gibt man sich bald gräko-asiatisch,
bald gräko-ägyptisch, bald archaisch, bald - nach Praxiteles
(5./4. Jh.) - neuattisch. Das Relief der 19. Dynastie (1345-1200), der
ägyptischen Modernität, das massenhaft, sinnlos anorganisch
Wände, Statuen, Säulen überzieht, wirkt wie eine Parodie
auf die Kunst des Alten Reiches. Der ptolemäische Horustempel in
Edfu endlich ist in der Leerheit willkürlich gehäufter Formen
nicht mehr zu überbieten. Das ist der prahlerische und aufdringliche
Stil unsrer Straßen, monumentalen Plätze und Ausstellungen,
obwohl wir uns erst am Anfang dieser Entwicklung befinden. (Ebd.,
S. 379).
Endlich erlischt auch die Kraft, etwas anderes auch nur zu wollen.
Schon der große Ramses eignete sich Bauten seiner Vorgänger
an, indem er in Inschriften und Reliefszenen die Namen ausmeißeln
und durch den eigenen ersetzen ließ. Es ist dasselbe Eingeständnis
künstlerischer Ohnmacht, das Konstantin veranlaßte, seinen
Triumphbogen in Rom mit Skulpturen zu schmücken, die von andern Bauwerken
abgenommen waren. Viel früher, seit 150 v. Chr. etwa, beginnt im
Bereich der antiken Kunst die Technik der Kopien nach alten Meisterwerken,
nicht, weil man diese noch irgend verstanden hätte, sondern weil
man Originale nicht mehr selbständig hervorzubringen verstand. Denn
man bemerke wohl: diese Kopisten waren die Künstler der Zeit.
Ihre Arbeiten, je nach der Mode in diesem oder jenem Stil ausgeführt,
bezeichnen das Maximum der damals vorhandenen Gestaltungskraft.
(Ebd., S. 379-380).
Das letzte Ergebnis ist ein feststehender, unermüdlich kopierter
Formenschatz. (Ebd., S. 380).
Seelenbild und Lebensgefühl (S. 381-481): I.
Zur
Form der Seele (S. 381-434) Das Seelenbild
eine Funktion des Weltbildes [S. 381] Psychologie eine Gegenphysik [S.
384] Apollinisches, magisches, faustisches Seelenbild [S. 386] Der
Wille im gotischen Seelenraum [S. 393] Die innere
Mythologie [S. 398] Wille und Charakter [S. 401] Antike Haltungs-
und faustische Charaktertragödie [S. 406] Symbolik des Bühnenbildes
[S. 413] Tages- und Nachtkunst [S. 416] Popularität und Esoterik
[S. 419] Das astronomische Bild [S. 424] Der geographische Horizont
[S. 427] II. Buddhismus,
Stoizismus, Sozialismus (S. 434-481)
Die faustische Moral rein dynamisch [S. 434] Jede Kultur besitzt eine eigne
Form von Moral [S. 439] Haltungs- und Willensmoral [S. 441] Buddha,
Sokrates, Rousseau als Wortführer anbrechender Zivilisationen [S. 448]
Tragische und Plebejermoral [S. 452] Rückkehr zur Natur, Irreligion,
Nihilismus [S. 455] Der ethische Sozialismus [S. 462] Gleicher Bau
der Philosophiegeschichte in jeder Kultur [S. 467] Die zivilisierte Philosophie
des Abendlandes [S. 471].
Zur Form der SeeleJeder Philosoph von Beruf ist gezwungen,
ohne ernstliche Nachprüfung an das Dasein eines Etwas zu glauben, das sich
in seinem Sinne verstandesmäßig behandeln läßt, denn seine
ganze geistige Existenz hängt von dieser Möglichkeit ab. Es gibt deshalb
für jeden noch so skeptischen Logiker und Psychologen einen Punkt, an welchem
die Kritik schweigt und der Glaube beginnt, wo selbst der strengste Analytiker
aufhört, seine Methode - gegen sich selbst nämlich und auf die Frage
der Lösbarkeit, selbst des Vorhandenseins seiner Aufgabe - anzuwenden. Den
Satz: Es ist möglich, durch das Denken die Formen des Denkens festzustellen,
hat Kant nicht bezweifelt, so zweifelhaft er dem Nichtphilosophen erscheinen mag.
Den Satz: es gibt eine Seele, deren Struktur wissenschaftlich zugänglich
ist; was ich durch kritische Zerlegung bewußter Daseinsakte in Gestalt von
psychischen »Elementen«, »Funktionen«, »Komplexen«
feststelle, das ist meine Seele - hat noch kein Psychologe bezweifelt.
Gleichwohl hätten die stärksten Zweifel sich hier einstellen sollen.
Ist eine abstrakte Wissenschaft vom Seelischen überhaupt möglich? Ist,
was man auf diesem Wege findet, identisch mit dem, was man sucht? Warum
ist alle Psychologie, nicht als Menschenkenntnis und Lebenserfahrung, sondern
als Wissenschaft genommen, von jeher die flachste und wertloseste aller philosophischen
Disziplinen geblieben, in ihrer völligen Leerheit ausschließlich der
Jagdgrund mittelmäßiger Köpfe und unfruchtbarer Systematiker?
Der Grund ist leicht zu finden. Die »empirische« Psychologie hat das
Unglück, nicht einmal ein Objekt im Sinne irgend einer wissenschaftlichen
Technik zu besitzen. Ihr Suchen und Lösen von Problemen ist ein Kampf mit
Schatten und Gespenstern. Was ist das - Seele? Könnte der bloße
Verstand darauf eine Antwort geben, so wäre die Wissenschaft bereits überflüssig.
(Ebd., S. 381-382).Keiner
der tausend Psychologen unsrer Tage hat eine wirkliche Analyse oder Definition
»des« Willens, der Reue, der Angst, der Eifersucht, der Laune, der
künstlerischen Intuition geben können. Natürlich nicht, denn man
zergliedert nur systematisches und man definiert nur Begriffe durch Begriffe.
Alle Feinheitem des geistigen Spiels mit begrifflichen Distinktionen, alle vermeintlichen
Beobachtungen vom Zusammenhang sinnlich-körperlicher Befunde mit »inneren
Vorgängen« berühren nichts von dem, was hier in Frage steht. Wille
- das ist kein Begriff, sondern ein Name, ein Urwort wie Gott, ein Zeichen für
etwas, dessen wir innerlich unmittelbar gewiß sind, ohne es jemals beschreiben
zu können. (Ebd., S. 382).
Dasjenige, was hier gemeint ist, bleibt der gelehrten Forschung
für immer unzugänglich. Nicht umsonst warnt jede Sprache mit
ihren tausendfach sich verwirrenden Bezeichnungen davor, Seelisches theoretisch
aufteilen, es systematisch ordnen zu wollen. Hier ist nichts zu ordnen.
Kritische - »scheidende« - Methoden beziehen sich allein auf
die Welt als Natur. (Ebd., S. 382).
Der Urmensch erlebt »die Seele« zuerst in andern Menschen
und dann auch in sich als numen, wie er in der Außenwelt
kennt, und er legt seine Eindrücke in mythischer Weise aus. Die Worte
dafür sind Symbole, Klänge, die dem Verstehenden etwas Unbeschreibliches
bedeuten. Sie rufen Bilder herauf, Gleichnisse, und in einer andern
Sprache haben wir auch heute noch nicht gelernt, uns über Seelisches
mitzuteilen. (Ebd., S. 382).
»Die Seele« ist für den Menschen, sobald er nicht
nur lebt und fühlt, sondern aufmerksam wird und beobachtet, ein Bild,
das aus ganz ursprünglichen Erfahrungen von Tod und Leben stammt.
Es ist so alt, wie das durch die Wortsprachen vom Sehen abgelöste
und ihm folgende Nach-denken überhaupt. Die Umwelt sehen wir;
da jedes freibewegliche Wesen sie auch verstehen muß, um nicht unterzugehen,
so entwickelt sich aus der täglichen kleinen, technischen, tastenden
Erfahrung ein Inbegriff bleibender Merkmale, der sich für den wortgewohnten
Menschen zu einem Bilde des Verstandenen zusammenschließt,
der Welt als Natur.1 Was nicht äußere Welt ist, sehen
wir nicht; aber wir spüren seine Gegenwart, in andern und in uns
selbst. »Es« weckt durch seine Art, sich physiognomisch bemerkbar
zu machen, Angst und Wißbegier, und so entsteht das nachdenkliche
Bild einer Gegenwelt, durch das wir uns vorstellen, sichtbar vor
uns hinstellen, was dem Auge selbst ewig fremd bleibt. Das Bild der Seele
ist mythisch und ein Gegenstand von Seelenkulten, solange das Bild der
Natur religiös erschaut wird; es verwandelt sich in eine wissenschaftliche
Vorstellung und wird der Gegenstand gelehrter Kritik, sobald man »die
Natur« kritisch beobachtet. (Ebd., S. 383).
Wie »die Zeit« ein Gegenbegriff
zum Raum (),
so ist »die Seele« eine Gegenwelt zur »Natur«
und von deren Auffassung in jedem Augenblick mitbestimmt. Es war gezeigt
worden (),
wie »die Zeit« aus dem Gefühl der Richtung des ewig bewegten
Lebens, aus der inneren Gewißheit eines Schicksals heraus als gedankliches
Negativ zu einer positiven Größe entstand, als Inkarnation
dessen, was nicht Ausdehnung ist, und daß sämtliche
»Eigenschaften« der Zeit, durch deren abstrakte Zerlegung
die Philosophen das Zeitproblem lösen zu können glauben, als
Umkehrung der Eigenschaften des Raumes im Geiste allmählich gebildet
und geordnet worden sind. Genau auf demselben Wege ist die Vorstellung
vom Seelischen als Umkehrung und Negativ der Weltvorstellung unter
Zuhilfenahme der räumlichen Polarität »außen-innen«
und durch entsprechende Umdeutung der Merkmale entstanden. Jede Psychologie
ist eine Gegenphysik. (Ebd., S. 383-384 ).
Ein »exaktes Wissen« von der ewig geheimnisvollen Seele
erhalten zu wollen, ist sinnlos. (Ebd., S. 384).
Aber der späte städtische Trieb, abstrakt zu denken, zwingt den
»Physiker der inneren Welt« gleichwohl dazu, eine Scheinwelt von Vorstellungen
durch immer neue Vorstellungen, Begriffe durch Begriffe zu erklären. Er enkt
das Nichtausgedehnte in Ausgedehntes um, er erbaut als Ursache dessen, was nur
physiognomisch in Erscheinung tritt, ein System, und in diesem glaubt er, die
Struktur »der Seele« vor Augen zu haben. Aber schon die Worte, welche
in allen Kulturen gewählt werden, um diese Ergebnisse gelehrter Arbeit mitzuteilen,
verraten alles. Da ist von Funktionen, Gefühlskomplexen, Triebfedern, Bewußtseinsschwellen,
von Verlauf, Breite, Intensität, Parallelismus der seelischen Prozesse die
Rede. Aber alle diese Worte stammen aus der Vorstellungsweise der Naturwissenschaft.
»Der Wille bezieht sich auf Gegenstände« - das ist doch ein Raumbild.
Bewußtes und Unbewußtes - da liegt allzu deutlich das Schema von überirdisch
und unterirdisch zugrunde. In den modernen Theorien des Willens wird man die ganze
Formensprache der Elektrodynamik finden. Wir reden von Willensfunktionen und Denkfunktionen
in genau demselben Sinne wie von Funktionen eines Kräftesystems. Ein Gefühl
analysieren, heißt ein raumartiges Schattenbild an seiner Stelle mathematisch
behandeln, es abgrenzen, teilen und messen. Jede Seelenforschung dieses Stils,
sie mag sich über Gehirnanatomie noch so erhaben dünkeln, ist voll von
mechanischen Lokalisationen und bedient sich, ohne es zu bemerken, eines eingebildeten
Koordinatensystems in einem eingebildeten Seelenraum. Der »reine«
Psychologe merkt gar nicht, daß er den Physiker kopiert. Kein Wunder, daß
sein Verfahren mit den albernsten Methoden der experimentellen Psychologie so
verzweifelt gut übereinstimmt. Gehirnbahnen und Assoziationsfasern entsprechen
der Vorstellungsweise nach durchaus dem optischen Schema: »Willens-«
oder »Gefühlsverlauf« ; sie behandelm beide verwandte, nämlich
räumliche Phantome. Es ist kein großer Unterschied, ob ich ein
psychisches Vermögen begrifflich oder eine entsprechende Region der Großhirnrinde
graphisch abgrenze. Die wissenschaftliche Psychologie hat ein geschlossenes System
von Bildern herausgearbeitet und bewegt sich mit vollkommener Selbstverständlichkeit
in ihm. Man prüfe jede einzelne Aussage jedes einzelnen Psychologen und man
wird nur Variationen dieses Systems im Stile der jeweiligen Außenwelt finden.
(Ebd., S. 384-385).
Das klare, vom Sehen abgezogene Denken setzt den Geist einer Kultursprache
als Mittel voraus, das, vom Seelentum einer Kultur als Teil und Träger
ihres Ausdrucks geschaffen, nun eine »Natur« der Wortbedeutungen,
einen sprachlichen Kosmos bildet, innerhalb dessen die abstrakten Begriffe,
Urteile, Schlüsse - Abbilder von Zahl, Kausalität, Bewegung
- ihr mechanisch bestimmtes Dasein führen. (Ursprachen
bilden keine Unterlage für abstrakte Gedankengänge. Am Anfang
jeder Kultur erfolgt aber eine innere Wandlung der vorhandenen Sprachkörper,
die sie zu den höchsten symbolischen Aufgaben der Kulturentwicklung
fähig macht. So entstehen zugleich mit dem romanischen Stil
das Deutsche und Englische aus den germanischen Sprachen der Frankenzeit,
und das Französische, Italienische, Spanische aus der lingua rustica
der ehemaligen Römerprovinzen, trotz so verschiedener Herkunft Sprachen
von identischem metaphysischem Gehalt.) Das jeweilige Bild
der Seele ist also vom Wortgebrauch und dessen tiefer Symbolik
abhängig. Die abendländischen - faustischen - Kultursprachen
besitzen sämtlich den Begriff »Wille« - eine mythische
Größe, die gleichzeitig durch die Umbildung des Verbums versinnlicht
wird, die einen entscheidenden Gegensatz zum aniken Sprachgebrauch und
also Seelenbilde schafft. Ego habeo factum statt feci
()
- da erscheint ein numen der inneren Welt. Mithin erscheint, von
der Sprache bestimmt, im wissenschaftlichen Seelenbilde aller abendländischen
Psychologien die Gestalt des Willens als ein wohlumgrenztes Vermögen,
das man in den einzemen Schulen wohl verschieden bestimmt, dessen Vorhandensein
an sich aber keiner Kritik unterworfen ist. (Ebd., S. 385).
Ich behaupte also, daß die gelehrte Psychologie,
weit entfernt, das Wesen der Seele aufzudecken oder auch nur zu berühren
- es ist hinzuzufügen, daß jeder von uns, ohne es zu wissen,
Psychologie dieser Art treibt, wenn er sich eigne oder fremde Seelenregungen
»vorzustellen« sucht -, zu allen Symbolen, die den Makrokosmos
des Kultmenschen bilden, ein weiteres hinzufügt. Wie alles Vollendete,
nicht sich Vollendende, stellt es einen Mechanismus an Stelle eines
Organismus dar. Man vermißt im Bilde, was unser Lebensgefühl
erfüllt und was doch gerade »Seele« sein sollte: das
Schicksalhafte, die wahllose Richtung des Daseins, das Mögliche,
welches das Leben in seinem Ablauf verwirklicht ().
Ich glaube nicht, daß in irgend einem psychologischen System das
Wort Schicksal vorkommt, und man weiß, das nichts in der Welt weiter
von wirklicher Lebenserfahrung und Menschenkenntnis entfernt ist als ein
solches System. Assoziationen, Apperzeptionen, Affekte, Triebfedern, Denken,
Fühlen, Wollen - alles das sind tote Mechanismen, deren Topographie
den belanglosen Inhalt der Seelenwissenschaft bildet. Man wollte das Leben
finden und traf auf eine Ornamentik von Begriffen. Die Seele blieb, was
sie war, das weder gedacht noch vorgestellt werden kann, das Geheimnis,
das ewig Werdende, das reine Erlebnis. (Ebd., S. 386).
Dieser imaginäre Seelenkörper das sei
hier zum ersten Male ausgesprochen ist niemals etwas andres als
das getreue Spiegelbild der Gestalt, in welcher der gereifte Kulturmensch
seine äußere Welt erblickt. Das Tiefenerlebnis verwirklicht
hier wie dort die ausgedehnte Welt. ().
Das mit dem Urwort Zeit angedeutete Geheimnis schafft aus dem Empfinden
des Außen wie aus dem Vorstellen des Innen den Raum. Auch das Seelenbild
hat seine Tiefenrichtung, seinen Horizont, seine Begrenztheit oder Unendlichkeit.
Ein »inneres Auge« sieht, ein »inneres Ohr« hört.
Es gibt eine deutliche Vorstellung einer inneren Ordnung, die wie die
äußere das Merkmal kausaler Notwendigkeit trägt.
(Ebd., S. 386).
Und damit ergibt sich nach allem, was in diesem Buch über
die Erscheinung der hohen Kulturen gesagt worden ist, eine ungeheure Erweiterung
und Bereicherung der Seelenforschung. Alles, was von Psychologen heute
gesagt und geschrieben wird es ist nicht allein von systematischer
Wissenschaft, sondern auch von physiognomischer Menschenkenntnis im weitesten
Sinne die Rede , bezieht sich allein auf den gegenwärtigen
Zustand der abendländischen Seele, während die bisher
selbstverständliche Meinung, diese Erfahrungen seien für die
»menschliche Seele« überhaupt gültig, ohne Prüfung
hingenommen worden ist. (Ebd., S. 387).
Ein Seelenbild ist immer nur das Bild einer ganz bestimmten Seele.
Kein Beobachter wird je aus den Bedingungen seiner Zeit und seines Kreises
heraustreten, und was er auch »erkennen« möge: jede dieser
Erkenntnisse ist bereits ein Ausdruck seiner eignen Seele, nach Auswahl,
Richtung und innerer Form. Schon der primitive Mensch legt sich aus Tatsachen
seines Lebens ein Seelenbild zurecht, wobei die Urerfahrungen des
Wachseins: der Unterschied von Ich und Welt, von Ich und Du, und die des
Daseins: der Unterschied von Leib und Seele, von Sinnenleben und Nachdenken,
von Geschlechtsleben und Empfindung gestaltend wirken. Weil es nachdenkliche
Menschen sind, die darüber denken, so wird immer ein inneres numen:
Geist, Logos, Ka, Ruach zum übrigen in Gegensatz gerückt. Wie
aber Einteilung und Verhältnis im einzelnen liegen und wie man sich
die seelischen Elemente vorstellt, als Schichten, Kräfte, Substanzen,
als Einheit, Polarität oder Vielheit, das kennzeichnet den Nachdenkenden
schon als Glied einer bestimmten Kultur. (Ebd., S. 387).
Nach allem wird man über die hohe Bedeutung der einzelnen,
in der Weltgeschichte des Denkens auftauchenden Seelenbilder nicht mehr
im Zweifel sein. Der antike apollinische, dem punktförmigen,
euklidischen Sein hingegebene Mensch blickte auf seine Seele wie
auf einen zur Gruppe schöner Teile geordneten Kosmos. Plato nannte
sie nouV, qumoV, epiqumia
und verglich sie mit Mensch, Tier und Pflanze, einmal sogar mit dem südlichen,
nördlichen und hellenischen Menschen. Was hier nachgebildet erscheint,
ist die Natur, wie sie sich vor den Blicken antiker Menschen entfaltet:
eine wohlgeordnete Summe greifbarer Dinge, denen gegenüber der Raum
als das Nichtseiende empfunden wird. Wo findet sich in diesem Bilde der
»Wille«? Wo die Vorstellung funktioneller Zusammenhänge?
Wo sind die übrigen Schöpfungen unserer Psychologie? Glaubt
man, daß Plato und Aristoteles sich auf die Analyse schlechter verstanden
haben und etwas nicht sahen, was sich bei uns jedem Laien aufdrängt?
Oder fehlt hier der Wille, weil in der antiken Mathematik der Raum, in
der antiken Physik die Kraft fehlt? (Ebd., S. 388).
Dagegen nehme man unter den abendländischen Psychologien
welche man will. Man wird immer eine funktionale, nie eine körperhafte
Ordnung finden; y = f (x): das ist die Urgestalt aller Eindrücke,
die wir von unserm Innern empfangen, weil sie unsrer Außenwelt zugrunde
liegt. Denken, Fühlen, Wollen aus dieser Dreiheit kommt kein
westeuropäischer Psychologe heraus, so gern er möchte, aber
schon der Streit der gotischen Denker um den Primat des Willens oder der
Vernunft lehrt, daß man hier eine Beziehung zwischen Kräften
erblickt ob diese Lehren als eigne Erkenntnis vorgetragen oder
aus Augustin und Aristoteles herausgelesen werden, ist ganz bedeutungslos.
Assoziationen, Apperzeptionen, Willensvorgänge und wie die Bildelemente
sonst heißen mögen, sind ohne Ausnahme vom Typus mathematisch-physikalischer
Funktionen und der Form nach gänzlich unantik. Da es sich nicht um
physiognomisch zu deutende Lebenszüge, sondern um »die Seele«
als Objekt handelt, so ist die Verlegenheit der Psychologen wiederum das
Bewegungsproblem. Es gibt für die Antike auch ein inneres Eleatenproblem,
und in dem scholastischen Streit um den funktionalen Vorrang von Vernunft
oder Wille kündigt sich die gefährliche Schwäche der Barockphysik
an, zwischen Kraft und Bewegung ein zweifelfreies Verhältnis nicht
finden zu können. Die Richtungsenergie wird im antiken und indischen
Seelenbilde verneint da ist alles gelagert und gerundet ,
im faustischen und ägyptischen bejaht es gibt da Wirkungskomplexe
und Kraftmitten , aber eben um dieses zeithaften Gehaltes willen
gerät das zeitfremde Denken mit sich selbst in Widerspruch.
(Ebd., S. 388-389).
Das faustische und das apollinische Seelenbild stehen einander
schroff gegenüber. Alle früheren Gegensätze tauchen wieder
auf. Man darf die imaginäre Einheit hier als Seelenkörper,
dort als Seelenraum bezeichnen. Der Körper besitzt Teile,
im Raum verlaufen Prozesse. Der antike Mensch empfindet seine Innenwelt
plastisch. Das verrät schon der Sprachgebrauch bei Homer, in dem
vielleicht uralte Tempellehren durchschimmern, darunter die von den Seelen
im Hades, die ein wohl erkennbares Abbild des Körpers sind. So sieht
sie auch die vorsokratische Philosophie. Ihre drei schön geordneten
Teile logistikon, epitumetikon, tumoieides
erinnern an die Gruppe des Laokoon. Wir stehen unter einem musikalischen
Eindruck: die Sonate des inneren Lebens hat den Willen als Hauptthema;
Denken und Fühlen sind die Nebenthemen; der Satz unterliegt den strengen
Regeln eines seelischen Kontrapunkts, die zu finden Aufgabe der Psychologie
ist. Die einfachsten Elemente unterscheiden sich wie antike und abendländische
Zahlen: dort sind sie Größen, hier Beziehungen. Der seelischen
Statik des apollinischen Daseins dem stereometrischen ideal der
swfrosunh und ataraxia steht
die Seelendynamik des faustischen gegenüber. (Ebd.,
S. 389).
Das magische Seelenbild trägt die Züge eines strengen
Dualismus zweier rätselhafter Substanzen, Geist und Seele.
(Ebd., S. 390).
Die Zukunft wird sich an die schwierige Aufgabe wagen müssen,
in der Weltanschauung und Philosophie gotischen Stils die gleiche Sonderung
der letzten Elemente vorzunehmen wie in der Ornamentik der Kathedralen
und in der primitiven damaligen Malerei, die zwischen dem flachen Goldgrund
und weiträumigen landschaftlichen Hintergründen der magischen
und der faustischen Art, Gott in der Natur zu sehen noch keine
Entscheidung zu treffen wagt. Es vermischen sich im frühen Seelenbilde,
wie es in dieser Philosophie zum Vorschein kommt, in zaghafter Unreife
die Züge christlich-arabischer Metaphysik, des Dualismus von Geist
und Seele, mit nordischen Ahnungen von funktionalen Seelenkräften,
die man sich noch nicht eingesteht. Dieser Zwiespalt liegt dem Streit
um den Primat des Willens oder der Vernunft zugrunde, dem Grundproblem
der gotischen Philosophie, das man bald im alten arabischen, bald
im neuen abendländischen Sinne zu lösen sucht. Es ist derselbe
begriffliche Mythos, welcher in stets sich ändernder Fassung den
Gang unserer gesamten Philosophie bestimmt hat und diese von jeder anderen
scharf unterscheidet. Der Rationalismus des späten Barock hat sich,
mit dem ganzen Stolz des seiner selbst sicher gewordnen städtischen
Geistes, für die größere Macht der Göttin Vernunft
entschieden, bei Kant und bei den Jakobinern. Aber schon das 19. Jahrhundert
hat, vor allem in Nietzsche, wieder die stärkere Formel gewählt:
voluntas superior intellectu, die uns allen im Blute liegt. (Wenn
deshalb auch in diesem Buche Zeit, Richtung und Schicksal den Vorrang
vor Raum und Kausalität erhalten, so sind es nicht Beweise des Verstandes,
welche die Überzeugung herbeiführen, sondern ganz unbewußt
Tendenzen des Lebensgefühls, welche sich Beweise verschafften.
Eine andre Art der Entstehung philosophischer Gedanken gibt es nicht.)
Schopenhauer, der letzte große Systematiker, hat das auf die Formel
»Die Welt als Wille und Vorstellung« gebracht, und nicht seine
Metaphysik, nur seine Ethik ist es, die gegen den Willen entscheidet.
(Ebd., S. 393).
Hier tritt der geheimste Grund und Sinn allen Philosophierens
innerhalb einer Kultur unmittelbar zutage. Denn es ist die faustische
Seele, die in vielhundertjährigem Mühen ein Selbstbildnis
zu zeichnen versucht, ein Bild, das zugleich mit dem Bilde der Welt einen
tiefgefühlten Einklang aufweist. Die gotische Weltanschauung mit
ihrem Ringen zwischen Vernunft und Wille ist in der Tat ein Ausdruck des
Lebensgefühls jener Menschen der Kreuzzüge, der Stauferzeit
und der großen Dombauten. Man sah die Seele so, weil man so war.
(Ebd., S. 393-394).
Wollen und Denken im Seelenbilde das ist Richtung und
Ausdehnung, Geschichte und Natur, Schicksal und Kausalität im Bilde
der äußeren Welt. Daß unser Ursymbol die unendliche
Ausgedehntheit ist, tritt in diesen Grundzügen beider Aspekte zutage.
Der Wille knüpft die Zukunft an die Gegenwart, das Denken das Grenzenlose
an das Hier. Die historische Zukunft ist die werdende, der unendliche
Welthorizont die gewordene Ferne: dies ist der Sinn des faustischen
Tiefenerlebnisses. Das Richtungsgefühl wird als »Wille«,
das Raumgefühl als »Verstand« wesenhaft, beinahe mythisch
vorgestellt: so entsteht das Bild, welches unsre Psychologen mit Notwendigkeit
aus dem Innenleben abstrahieren. (Ebd., S. 394).
Daß die faustische Kultur Willenskultur ist, ist
nur ein andrer Ausdruck für die eminent historische Veranlagung ihrer
Seele. Das »Ich« im Sprachgebrauch ego habeo factum
, der dynamische Satzbau also gibt durchaus den Stil des
Handelns wieder, welcher aus dieser Anlage folgt und mit seiner Richtungsenergie
nicht nur das Bild der »Welt als Geschichte«, sondern unsere
Geschichte selbst beherrscht. Dieses »Ich« steigt in der gotischen
Architektur empor; die Turmspitzen und Strebepfeiler sind »Ich«,
und deshalb ist die gesamte faustische Ethik ein »Empor«;
Vervollkommnung des Ich, sittliche Arbeit am Ich, Rechtfertigung des Ich
durch Glauben und gute Werke, Achtung des Du im Nächsten um des eignen
Ich und seiner Seligkeit willen, von Thomas von Aquino bis zu Kant, und
endlich das Höchste: Unsterblichkeit des Ich. (Ebd., S. 394).
Es ist genau das, was der echte Russe als eitel empfindet und
verachtet. (Ebd., S. 394).
Die russische, willenlose Seele, deren Ursymbol die unendliche
Ebene ist, sucht in der Brüderwelt, der horizontalen, dienend, namenlos,
sich verlierend aufzugeben. .... Etwas davon liegt auch dem magischen
Seelenbild ()
zugrunde. (Ebd., S. 394).
Der reine Raum des faustischen Weltbildes ist nicht bloße
Dehnung, sondern Ausdehnung in die Ferne als Wirksamkeit, als Überwindung
des Nur-Sinnlichen, als Spannung und Tendenz, als geistiger Wille zur
Macht.Ich weiß wohl, wie unzulänglich diese Umschreibungen
sind. Es ist vollständig unmöglich, durch exakte Begriffe den
Unterschied anzugeben zwischen dem, was wir und was die Menschen der arabischen
oder indischen Kultur Raum nennen und bei diesem Worte denken, empfinden
und vorstellen. Daß es etwas durchaus Verschiedenes ist, beweisen
die sehr verschiedenen Grundanschauungen der jeweiligen Mathematik und
bildenden Kunst, vor allem die unmittelbaren Äußerungen des
Lebens. Wir werden sehen, wie die Identität von Raum und Wille in
den Taten des Kopernikus und Kolumbus so gut wie in denen der Hohenstaufen
und Napoleons zum Ausdruck kommt Beherrschung des Weltraums ,
aber sie liegt in andrer Weise auch in den physikalischen Begriffen des
Kraftfeldes und Potentials, die man keinem Griechen hätte verständlich
machen können. Raum als die Form a priori der Anschauung,
die Formel, in welcher Kant endgültig aussprach, was die Barockphilosophie
unablässig gesucht hatte das bedeutet einen Herrschaftsanspruch
der Seele über das Fremde. Das Ich regiert vermittelst der Form die
Welt. (Ebd., S. 396-397).
Das bringt die Tiefenperspektive der Ölmalerei zum Ausdruck,
die den unendlich gedachten Bildraum vom Betrachter abhängig macht,
der ihn von der gewählten Entfernung aus im wörtlichen Sinne
beherrscht. Es ist jener Zug in die Ferne, der zum Typus der heroischen,
historisch empfundenen Landschaft im Gemälde wie im Park der
Barockzeit führt, dasselbe, was der mathematisch-physikalische Begriff
des Vektors zum Ausdruck bringt. Jahrhunderte hindurch hat die Malerei
leidenschaftlich nach diesem großen Symbol gestrebt, in dem alles
liegt, was die Worte Raum, Wille, Kraft ausdrücken möchten.
Ihm entspricht die ständige Tendenz der Metaphysik, durch Begriffspaare
wie Erscheinung und Ding an sich, Wille und Vorstellung, Ich und Nicht-Ich,
die sämtlich von rein dynamischem Gehalte sind, sehr im Gegensatz
zur Lehre des Protagoras vom Menschen als dem Maß, also nicht
dem Schöpfer aller Dinge, die funktionelle Abhängigkeit
der Dinge vom Geist zu formulieren. Der antiken Metaphysik gilt der Mensch
als Körper unter Körpern, und Erkennen ist hier eine Art von
Berührung, die vom Erkannten zum Erkennenden hinüberging,
nicht umgekehrt. Die optischen Theorien des Anaxagoras und Demokrit sind
weit entfernt, dem Menschen eine Aktivität in der Sinneswahrnehmung
zuzugestehen. Plato empfindet das Ich niemals als Mittelpunkt einer
transzendenten Wirkungssphäre, wie es Kant ein inneres Bedürfnis
war. Die Gefangenen in seiner berühmten Höhle sind wirklich
Gefangene, Sklaven äußerer Eindrücke, nicht ihre
Herren, von der allgemeinen Sonne beschienen, nicht selbst Sonnen, die
das All durchleuchten. (Ebd., S. 397-398).
Der physikalische Begriff der Raumenergie die gänzlich
unantike Vorstellung, daß bereits die räumliche Distanz
eine Energieform, sogar die Urform aller Energie ist, denn das ist die
Grundlage der Begriffe Kapazität und Intensität beleuchtet
auch das Verhältnis des Willens zum imaginären Seelenraum. Wir
fühlen, daß beides, das dynamische Weltbild Galileis und Newtons
und das dynamische Seelenbild mit dem Willen als Schwerpunkt und Beziehungszentrum,
ein und dasselbe bedeuten. Sie sind beide Barockgebilde, Symbole der zur
vollen Reife gelangten faustischen Kultur. (Ebd., S. 398).
Was für uns »Gott« ist, Gott als Weltatem, als
die Allkraft, als die allgegenwärtige Wirkung und Vorsehung, das
ist, aus dem Weltraum in den imaginären Seelenraum zurückgespiegelt
und von uns mit Notwendigkeit als wirklich vorhanden empfunden, »Wille«.
Zum mikrokosmischen Dualismus der magischen Kultur, zu ruach und
nephesch, pneuma und psyche gehört mit Notwendigkeit
der makrokosmische Gegensatz von Gott und Teufel, persisch Ormuzd und
Ahriman, jüdisch Jahwe und Beelzebub, islamisch Allah und Iblis,
dem absolut Guten und dem absolut Bösen, und man wird bemerken, daß
im abendländischen Weltgefühl beide Gegensätze zugleich
verblassen. In demselben Grade wie aus dem gotischen Streit um den Vorrang
von intellectus oder voluntas sich der Wille als Mittelpunkt
eines seelischen Monotheismus herausbildet, entschwindet die Gestalt des
Teufels aus der wirklichen Welt. Zur Barockzeit hat der Pantheismus der
Außenwelt einen inneren unmittelbar zur Folge, und was in
welcher Bedeutung auch der Gegensatz Gott und Welt
bezeichnen soll, das bezeichnet jedesmal das Wort Wille gegenüber
der Seele überhaupt: die allbewegende Kraft in ihrem Reich. (Es
versteht sich, daß der Atheismus keine Ausnahme bildet. Wenn der
Materialist oder Darwinist von »der Natur« redet, die etwas
zweckmäßig anordnet, die eine Auslese trifft, die etwas hervorbringt
oder vernichtet, so hat er dem Deismus des 18. Jahrhunderts gegenüber
nur ein Wort verändert und das Weltgefühl unverändert bewahrt.)
Sobald das religiöse Denken in ein streng wissenschaftliches übergeht,
besteht auch ein doppelter Begriffsmythos in Physik und Psychologie. Der
Ursprung der Begriffe Kraft, Masse, Wille, Leidenschaft beruht nicht auf
objektiver Erfahrung, sondern auf einem Lebensgefühl. Der Darwinismus
ist nichts anderes als eine außergewöhnlich flache Fassung
dieses Gefühls. Kein Grieche würde das Wort Natur im Sinne einer
absoluten und planmäßigen Aktivität so gebraucht haben,
wie die moderne Biologie es tut. Der »Wille Gottes« ist für
uns ein Pleonasmus. Gott (oder »die Natur«) ist nichts als
Wille. So gut der Gottesbegriff seit der Renaissance unmerklich mit dem
Begriff des unendlichen Weltraums identisch wird und die sinnlichen, persönlichen
Züge verliert Allgegenwart und Allmacht sind beinahe mathematische
Begriffe geworden , so gut wird er zum unanschaulichen Weltwillen.
Die reine Instrumentalmusik überwindet deshalb um 1700 die
Malerei als das einzige und letzte Mittel, dies Gefühl von Gott zu
verdeutlichen. (Ebd., S. 398-400).
Das rätselhafte Etwas im Seelenbild, welches das Wort Wille
bezeichnet, die Leidenschaft der dritten Dimension, ist also ganz
eigentlich eine Schöpfung des Barock, wie die Perspektive der Ölmalerei,
wie der Kraftbegriff der neueren Physik, wie die Tonwelt der reinen Instrumentalmusik.
In allen Fällen hatte die Gotik vorgedeutet, was diese Jahrhunderte
der Durchgeistigung zur Reife brachten. Halten wir hier, wo es sich um
den Stil des faustischen Lebens im Gegensatz zu jedem andern handelt,
daran fest, daß die Urworte Wille, Kraft, Raum, Gott, vom faustischen
Bedeutungsgefühl getragen und durchseelt, Sinnbilder sind, schöpferische
Grundzüge großer, einander verwandter Formenwelten, in denen
dieses Sein sich zum Ausdruck bringt. Man war bis jetzt des Glaubens,
hier »an sich seiende«, ewige Tatsachen mit Händen zu
greifen, die irgendwann einmal auf dem Wege kritischer Forschung endgültig
gesichert, »erkannt«, bewiesen sein würden. Diese Illusion
der Naturwissenschaft war in gleicher Weise die der Psychologie. Die Einsicht,
daß diese »allgemeingültigen« Grundlagen lediglich
zum Barockstil des Schauern und Verstehens gehören, als Ausdrucksformen
von vorübergehender Bedeutung und »wahr« nur für
die westeuropäische Geistesart, verändert den ganzen Sinn dieser
Wissenschaften, die nicht allein Subjekte eines systematischen Erkennens,
sondern in viel höherem Grade Objekte einer physiognomischen Betrachtung
sind. (Ebd., S. 400-401).
Die faustische Tragödie ist biographisch, die apollinische
ist anekdotisch, das heißt, jene umfaßt das Gerichtetsein
eines ganzen Lebens, diese den für sich stehenden Augenblick; denn
welche Beziehung hat die gesamte innere Vergangenheit des Ödipus
oder Orest zu dem vernichtenden Ereignis, das ihnen plötzlich in
den Weg tritt? ().
Der Anekdote antiken Stils gegenüber kennen wir den Typus der charakteristischen,
persönlichen, antimythischen Anekdote es ist die Novelle,
deren Meister Cervantes, Kleist, Hoffmann, Storm sind , die um so
bedeutender ist, je mehr man fühlt, daß ihr Motiv nur einmal
und nur zu dieser Zeit und unter diesen Menschen möglich
war, während der Rang der mythischen Anekdote der Fabel
durch die Reinheit der gegenteiligen Eigenschaften bestimmt wird.
Wir haben da also ein Schicksal, das wie der Blitz trifft, gleichgültig
wen, und ein andres, das sich wie ein unsichtbarer Faden durch ein Leben
spinnt und dieses eine vor allen andern auszeichnet. Es gibt im vergangenen
Dasein Othellos, diesem Meisterstück einer psychologischen Analyse,
nicht den geringsten Zug, der ganz ohne Beziehung zur Katastrophe wäre.
Der Rassenhaß, das Alleinstehen des Emporkömmlings unter den
Patriziern, der Mohr als Soldat, als Naturmensch, als der vereinsamte
ältere Mann nichts von diesen Momenten ist ohne Bedeutung.
Man versuche doch, die Exposition des Hamlet oder Lear im Vergleich zu
der sophokleischer Stücke zu entwickeln. Sie ist durchaus psychologisch,
nicht eine Summe äußerer Daten. Von dem, was wir heute einen
Psychologen nennen, nämlich einen gestaltenden Kenner innerer Epochen,
was für uns beinahe mit dem Begriff eines Dichters identisch geworden
ist, hatten die Griechen keine Ahnung. So wenig sie Analytiker in der
Mathematik waren, so wenig waren sie es im Seelischen, und antiken Seelen
gegenüber konnte es nicht wohl anders sein. »Psychologie«
das ist das eigentliche Wort für die abendländische
Art von Menschengestaltung. Das paßt auf ein Porträt Rembrandts
so gut wie auf die Musik des Tristan, auf Stendhals Julien Sorel wie auf
Dantes Vita Nuova. Keine andre Kultur kennt Ähnliches. Gerade das
ist es, was von der Gruppe antiker Künste mit Strenge ausgeschlossen
blieb. »Psychologie« ist die Form, in welcher der Wille,
der Mensch als verkörperter Wille, nicht der Mensch als soma,
kunstfähig wird. Wer hier Euripides nennt, der weiß gar nicht,
was Psychologie ist. Welche Fülle des Charakteristischen liegt schon
in der nordischen Mythologie mit ihren schlauen Zwergen, tölpischen
Riesen, neckischen Elben, mit Loki, Baldr und den andern Gestalten, und
wie typisch wirkt daneben der homerische Olymp! Zeus, Apollon, Poseidon,
Ares sind einfach »Männer«, Hermes ist »der Jüngling«,
Athene eine reifere Aphrodite, die kleineren Götter wie auch
die spätere Plastik beweist nur dem Namen nach unterscheidbar.
Das gilt im vollen Umfange auch von den Gestalten der attischen Szene.
Bei Wolfram von Eschenbach, Cervantes, Shakespeare, Goethe entwickelt
sich das Tragische des Einzellebens von innen heraus, dynamisch, funktional,
und die Lebensläufe sind wieder nur aus dem geschichtlichen Hintergrund
des Jahrhunderts ganz begreiflich; bei den drei großen Tragikern
Athens kommt es von außen, statisch, euklidisch. Um eine früher
auf die Weltgeschichte angewandte Bezeichnung zu wiederholen: das vernichtende
Ereignis macht dort Epoche, hier bewirkt es eine Episode.
Selbst der tödliche Ausgang ist nur die letzte Episode eines aus
lauter Zufälligkeiten zusammengesetzten Daseins. (Ebd., S.
408-409).
Alles Sinnlich-nahe aber ist gemeinverständlich. Damit wurde
unter allen Kulturen, die es bisher gab, die antike in den Äußerungen
ihres Lebensgefühls am meisten, die abendländische am wenigsten
populär. Gemeinverständlichkeit ist das Merkmal einer Schöpfung,
die sich jedem Betrachter auf den ersten Blick mit all ihren Geheimnissen
preisgibt; einer Schöpfung, deren Sinn sich in der Außenseite
und Oberfläche verkörpert. Gemeinverständlich ist in jeder
Kultur das, was von urmenschlichen Zuständen und Bildungen her unverändert
geblieben ist, was der Mann von den Tagen der Kindheit an fortschreitend
begreift, ohne eine ganz neue Betrachtungsweise erkämpfen
zu müssen, überhaupt das, was nicht erkämpft werden
muß, was sich von selbst gibt, was im sinnlich Gegebenen unmittelbar
zutage liegt, nicht durch dasselbe nur angedeutet ist und nur von
wenigen, unter Umständen von ganz vereinzelten gefunden werden
kann. Es gibt volkstümliche Ansichten, Werke, Menschen, Landschaften.
(Ebd., S. 419).
Jede
Kultur hat ihren ganz bestimmten Grad von Esoterik und Popularität, der ihren
gesamten Leistungen innewohnt, soweit sie symbolische Bedeutung haben. (Ebd.,
S. 419).
Das Gemeinverständliche hebt
den Unterschied zwischen Menschen auf, hinsichtlich des Umfangs wie der
Tiefe ihres Seelischen. Die Esoterik betont ihn, verstärkt ihn. Endlich,
auf das ursprüngliche Tiefenerlebnis der zum Selbstbewußtsein
erwachenden Menschen angewandt und damit auf das Ursymbol seines Denkens
und den Stil seiner Umwelt bezogen: zum Ursymbol des Körperhaften
gehört die rein populäre, »naive«, zum Symbol
des unendlichen Raumes die ausgesprochen unpopuläre Beziehung zwischen
Kulturschöpfungen und den dazugehörigen Kulturmenschen.
(Ebd., S. 419-420).
Die antike Geometrie ist die des
Kindes, die eines jeden Laien. Der Alltagsverstand wird sie stets für
die einzig richtige und wahre halten. Alle anderen Arten natürlicher
Geometrie, die möglich sind und die - in angestrengter Überwindung
des populären Augenscheins - von uns gefunden wurden, sind nur einem
Kreis berufener Mathematiker verständlich. Die berühmten vier
Elemente des Empedokles sind die jedes naiven Menschen und seiner »angebornen
Physik«. Die von der radioaktiven Forschung entwickelte Vorstellung
von isotopen Elementen ist schon den Gelehrten der Nachbarwissenschaften
kaum verständlich. (Ebd., S. 420).
Alles Antike ist mit einem Blick zu umfassen, sei es der dorische
Tempel, die Statue, die Polis, der Götterkult; es gibt keine Hintergründe
und Geheimnisse. Aber man vergleiche daraufhin eine gotische Domfassade
mit den Propyläen, eine Radierung mit einem Vasengemälde, die
Politik des athenischen Volkes mit der modernen Kabinettspolitik. Man
bedenke, wie jedes unserer epochemachenden Werke der Poesie, der Politik,
der Wissenschaft eine ganze Literatur von Erklärungen hervorgerufen
hat, mit sehr zweifelhaftem Erfolge dazu. Die Parthenonskulpturen waren
für jeden Hellenen da, die Musik Bachs und seiner Zeitgenossen war
eine Musik für Musiker. Wir haben den Typus des Rembrandtkenners,
des Dantekenners, des Kenners der kontrapunktischen Musik, und es ist
- mit Recht - ein Einwand gegen Wagner, daß der Kreis der Wagnerianer
allzu weit werden konnte, daß allzu wenig von seiner Musik nur
dem gewiegten Musiker zugänglich bleibt. Aber eine Gruppe von Phidiaskennern?
Oder gar Homerkennern? Hier wird eine Reihe von Erscheinungen als
Symptome des abendländischen Lebensgefühls verständlich,
die man bisher geneigt war als allgemein menschliche Beschränktheiten
moralphilosophisch oder wohl richtiger melodramatisch aufzufassen. Der
»unverstandene Künstler«, der »verhungernde Poet«,
der »verhöhnte Erfinder«, der Denker, »der erst
in Jahrhunderten begriffen wird« - das sind Typen einer esoterischen
Kultur. Das Pathos der Distanz, in dem sich der Hang zum Unendlichen und
also der Wille zur Macht verbirgt, liegt diesen Schicksalen zugrunde.
Sie sind im Umkreise faustischen Menschentums ... ebenso notwendig, als
sie unter apollinischen Menschen undenkbar sind. (Ebd., S. 420-421
).
Alle hohen Schöpfer des Abendlandes waren von Anfang bis
zu Ende in ihren eigentlichen Absichten nur einem kleinen Kreise verständlich.
Michelangelo hat gesagt, das sein Stil dazu berufen sei, Narren zu züchten.
Gauß hat dreißig Jahre lang seine Entdeckungen der nichteuklidischen
Geometrien verschwiegen, weil er das »Geschrei der Böoter«
fürchtete. Die großen Meister der gotischen Kathedralplastik
findet man heute erst aus dem Durchschnitt heraus. Aber das gilt von jedem
Maler, jedem Staatsmann, jedem Philosophen. Man vergleiche doch Denker
beider Kulturen, Anaximander, Heraklit, Protagoras mit Giordano Bruno,
Leibniz oder Kant. Man denke daran, daß kein deutscher Dichter,
der überhaupt Erwähnung verdient, von Durchschnittsmenschen
verstanden werden kann und daß es in keiner abendländischen
Sprache ein Werk vom Range und zugleich der Simplizität des Homer
gibt. Das Nibelungenlied ist eine spröde und verschlossene Dichtung,
und Dante zu verstehen, ist wenigstens in Deutschland selten mehr als
eine literarische Pose. Was es in der Antike nie gab, hat es im Abendland
immer gegeben: die exklusive Form. Ganze Zeitalter wie die der provenzalischen
Kultur und des Rokoko sind im höchsten Grade gewählt und abweisend.
Ihre Ideen, ihre Formensprache sind nur für eine wenig zahlreiche
Klasse höherer Menschen da. Gerade daß die Renaissance, diese
vermeintliche Wiedergeburt der so gar nicht exklusiven, in ihrem
Publikum so gar nicht wählerischen Antike keine Ausnahme macht;
daß sie durch und durch die Schöpfung eines Kreises
und einzelner erlesener Geister war, ein Geschmack, der die Menge
von vornherein abwies, daß im Gegenteil das Volk von Florenz gleichgültig,
erstaunt oder unwillig zusah und gelegentlich, wie im Falle Savonarolas,
mit Vergnügen die Meisterwerke zerschlug und verbrannte, beweist,
wie tief diese Seelenferne geht. Denn die attische Kultur besaß
jeder Bürger. Sie schloß keinen aus und sie kannte deshalb
den Unterschied von tief und flach, der für uns von entscheidender
Bedeutung ist, überhaupt nicht. Populär und flach sind für
uns Wechselbegriffe, in der Kunst wie in der Wissenschaft; für antike
Menschen sind sie es nicht. »Oberflächlich aus Tiefe«
hat Nietzsche die Griechen einmal genannt. (Ebd., S. 421-422 ).
Man betrachte daraufhin unsere Wissenschaften,
die alle, ohne Ausnahme, neben elementaren Anfangsgründen »höhere«,
dem Laien unverständliche Gebiete haben - auch dies ein Symbol des
Unendlichen und der Richtungsenergie. Es gibt bestenfalls tausend Menschen
auf der Welt, für welche heute die letzten Kapitel der theoretischen
Physik geschrieben werden. Gewisse Probleme der modernen Mathematik sind
nur einem noch viel engeren Kreis zugänglich. Alle volkstümlichen
Wissenschaften sind heute von vornherein wertlose, verfehlte, verfälschte
Wissenschaften. Wir haben nicht nur eine Kunst für Künstler,
sondern auch eine Mathematik für Mathematiker, eine Politik für
Politiker - von der das profanum vulgus der Zeitungsleser keine
Ahnung hat (die große Masse der Sozialisten
würde sofort aufhören es zu sein, wenn sie den Sozialismus der
neun oder zehn Menschen, die ihn heute in seinen äußersten
historischen Konsequenzen begreifen, auch nur von fern verstehen könnte),
während die antike Politik niemals über den geistigen Horizont
der Agora hinausging - eine Religion für das »religiöse
Genie« und eine Poesie für Philosophen. Man kann den beginnenden
Verfall der abendländischen Wissenschaft, der deutlich fühlbar
ist, allein an dem Bedürfnis nach einer Wirkung ins Breite ermessen;
daß die strenge Esoterik der Barockzeit als drückend empfunden
wird, verrät die sinkende Kraft, die Abnahme des Distanzgefühls,
das diese Schranke ehrfürchtig anerkennt. Die wenigen Wissenschaften,
die heute noch ihre ganze Feinheit, Tiefe und Energie des Schließens
und Folgerns bewahrt haben und nicht vom Feuilletonismus angegriffen sind
- es sind nicht mehr viele: die theoretische Physik, die Mathematik, die
katholische Dogmatik, vielleicht noch die Jurisprudenz -, wenden sich
an einen ganz engen, gewählten Kreis von Kennern. Der Kenner aber
ist es, der mit seinem Gegensatz, dem Laien, der Antike fehlt, wo jeder
alles kennt. Für uns hat diese Polarität von Kenner
und Laie den Rang eines großen Symbols, und wo die Spannung dieser
Distanz nachzulassen beginnt, da erlischt das faustische Lebensgefühl.
(Ebd., S. 422-423).
Dieser Zusammenhang gestattet für die letzten Fortschritte
der abendländischen Forschung - also für die nächsten zwei,
vielleicht nicht einmal zwei Jahrhunderte - den Schluß, daß,
je höher die weltstädtische ()
Leere und Trivialität der öffentlich und »praktisch«
gewordenen Künste und Wissenschaften steigt, desto strenger sich
der postume Geist der Kultur in sehr enge Kreise flüchten und dort
ohne Zusammenhang mit der Öffentlichkeit an Gedanken und Formen wirken
wird, die nur einer äußerst geringen Anzahl von bevorzugten
Menschen etwas bedeuten können. (Ebd., S. 423).
(Das Berauschende großer Zahlen ist
ein bezeichnendes Erlebnis, das nur der Mensch des Abendlandes kennt.
In der gegenwärtigen Zivilisation spielt gerade dies Symbol, die
Leidenschaft für Riesensummen, für unendlich große und
unendlich kleine Messungen, für Rekorde und Statistiken eine ungewöhnliche
Rolle.) (Ebd., S. 427).
Die altnordischen Stämme, in deren urmenschlicher Seele das
Faustische ()
sich bereits zu regen begann, haben in grauer Vorzeit eine Segelschiffahrt
erfunden, die sich vom Festland befreite. (Sie reichte
im 2. Jahrtausend v. Chr. von Island und der Nordsee über Kap Finisterre
(spanische Nordwestküste) nach den Kanarischen Inseln und Westafrika,
wovon die Antlantissagen der Griechen eine Erinnerung bewahrten. Das Reich
von Tartessos an der Mündung des Guadalquivir scheint ein Mittelpunkt
gewesen zu sein. Sie reichte im 2. vorchristl. Jahrtausend von Island
und der Nordsee über Kap Finisterre nach den Kanarischen Inseln und
Westafrika, wovon die Atlantissagen der Griechen eine Erinnerung bewahrten.
Das Reich von Tartessos an der Mündung des Guadalquivir scheint ein
Mittelpunkt dieses Verkehrs gewesen zu sein. Vgl. Leo Frobenius (1873-1938
),
Das unbekannte Afrika, S. 139. In irgendeinem Zusammenhang damit
müssen die »Seevölker« gestanden haben. Wikingerschwärme,
die nach langer Länderwanderung von Nord nach Süd im Schwarzen
oder Ägäischen Meer wieder Schiffe zimmerten und seit Ramses
II. (1292-1225) gegen Ägypten vorbrachen.)
Die Ägypter kannten das Segel, aber sie zogen nur den Vorteil der
Arbeitsersparnis daraus. Sie fuhren wie früher mit ihren Ruderschiffen
die Küste entlang nach Punt und Syrien, ohne die Idee der
Hochseefahrt, das Befreiende und Symbolische in ihr zu empfinden. Denn
die Segelschiffahrt überwindet den euklidischen Begriff des
Landes. Im Anfang des 14. Jahrhunderts erfolgt beinahe gleichzeitig
und gleichzeitig mit der Ausbildung der Ölmalerei und des Kontrapunkts!
die Erfindung des Schießpulvers und des Kompasses,
der Fernwaffe und des Fernverkehrs also, die beide mit tiefer
Notwendigkeit auch innerhalb der chinesischen Kultur erfunden worden sind.
Es war der Geist der Wikinger, der Hanse, der Geist jener Urvölker,
welche die Hünengräber als Male einsamer Seelen auf weiter Ebene
aufschütteten statt der häuslichen Aschenurne der Hellenen
, die ihre toten Könige auf brennendem Schiff in die hohe See
treiben ließen, ein erschütterndes Zeichen jener dunklen Sehnsucht
nach dem Grenzenlosen, die sie trieb, auf ihren winzigen Kähnen um
900,[428] als die Geburt der abendländischen Kultur sich ankündigte,
die Küste Amerikas zu erreichen, während die von Ägyptern
und Karthagern bereits ausgeführte Umschiffung Afrikas die antike
Menschheit völlig gleichgültig ließ. Wie statuenhaft deren
Dasein auch hinsichtlich des Verkehrs war, bezeugt die Tatsache, daß
die Nachricht vom ersten Punischen Kriege, einem der gewaltigsten der
antiken Geschichte, nur wie ein dunkles Gerücht von Sizilien nach
Athen drang. Selbst die Seelen der Griechen waren im Hades versammelt,
ohne sich zu regen, als Schattenbilder (eidola),
ohne Kraft, Wunsch und Empfindung. Die nordischen Seelen aber gesellten
sich dem »wütenden Heere« zu, das rastlos durch die Lüfte
schweift. (Ebd., S. 428).
Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus
Damit ist
endlich das Phänomen der Moral als geistige Interpretation
des Lebens durch sich selbst verständlich geworden. Hier ist die Höhe
erreicht, von der aus ein freier Umblick über dies weiteste und bedenklichste
aller Gebiete menschlichen Nachdenkens möglich ist. Aber gerade hier tut
eine Objektivität not, zu der sich bisher niemand ernstlich verstanden hat.
Mag Moral zunächst sein, was sie will; ihre Analyse darf nicht selbst
der Teil einer Moral sein. Nicht was wir tun, was wir erstreben, wie wir werten
sollen, führt auf das Problem, sondern die Einsicht, daß diese Fragestellung
ihrer Form nach bereits ein Symptom ausschließlich des abendländischen
Weltgefühls ist. (Ebd., S. 434).Der
westeuropäische Mensch steht hier unter dem Einfluß einer ungeheuren
optischen Täuschung, jeder ohne Ausnahme. Alle fordern etwas von den andern.
Ein »Du sollst« wird ausgesprochen in der Überzeugung, daß
hier wirklich etwas in einheitlichem Sinne verändert, gestaltet, geordnet
werden könne und müsse. Der Glaube daran und an das Recht dazu ist unerschütterlich.
Hier wird befohlen und Gehorsam verlangt. Das erst heißt uns Moral.
Im Ethischen des Abendlandes ist alles Richtung, Machtanspruch, gewollte Wirkung
in die Ferne. In diesem Punkte sind Luther und Nietzsche, Päpste und Darwinisten,
Sozialisten und Jesuiten einander völlig gleich. Ihre Moral tritt mit dem
Anspruch auf allgemeine und dauernde Gültigkeit auf. Das gehört zu den
Notwendigkeiten faustischen Seins. Wer anders denkt, lehrt, will, ist sündhaft,
abtrünnig, ein Feind. Man bekämpft ihn ohne Gnade. Der Mensch soll.
Der Staat soll. Die Gesellschaft soll. Diese Form der Moral ist uns selbstverständlich;
sie repräsentiert uns den eigentlichen und einzigen Sinn aller Moral. Aber
das ist weder in Indien noch in China noch in der Antike so gewesen. Buddha gab
ein freies Vorbild, Epikur erteilte einen guten Rat. Auch das sind Formen hoher
willensfreier Moralen. (Ebd., S. 434-435).Wir
haben das Einzigartige einer moralischen Dynamik gar nicht bemerkt. Gesetzt,
daß der Sozialismus, ethisch, nicht wirtschaftlich verstanden, das Weltgefühl
ist, welches die eigne Meinung im Namen aller verfolgt, so sind wir ohne Ausnahme
Sozialisten, ob wir es wissen und wollen oder nicht. Selbst der leidenschaftlichste
Gegner aller »Herdenmoral«, Nietzsche, ist gar nicht fähig, in
antikem Sinne seinen Eifer auf sich selbst zu beschränken. Er denkt nur an
»die Menschheit«. Er greift jeden an, der es anders meint. Aber Epikur
war es herzlich gleichgültig, was andre meinten und taten. Eine Umgestaltung
der Menschheit daran hat er keinen Gedanken verschwendet. Er und seine
Freunde waren zufrieden, daß sie so und nicht anders waren. Das antike Lebensideal
war die Interesselosigkeit (apateia) am Lauf der Welt,
gerade an dem, dessen Beherrschung dem faustischen Menschen der ganze Lebensinhalt
ist. Der wichtige Begriff der adiafora gehört
hierher. Es gibt auch einen moralischen Polytheismus in Hellas. Das friedfertige
Nebeneinander von Epikuräern, Kynikern, Stoikern beweist das. Aber der ganze
Zarathustra angeblich jenseits von Gut und Böse stehend atmet
die Pein, die Menschen so zu sehen, wie man sie nicht haben will, und die tiefe,
so ganz unantike Leidenschaft, das Leben auf ihre Änderung, im eignen, einzigen
Sinne natürlich, zu verwenden. Und eben das, die allgemeine Umwertung,
ist ethischer Monotheismus, ist das Wort in einem neuen, tieferen Sinne
genommen Sozialismus. Alle Weltverbesserer sind Sozialisten. Folglich gibt
es keine antiken Weltverbesserer. (Ebd., S. 435-436).Der
moralische Imperativ als Form der Moral ist faustisch und nur faustisch. Es ist
völlig belanglos, ob Schopenhauer theoretisch den Willen zum Leben verneint
oder ob Nietzsche ihn bejaht sehen will. Diese Unterscheidungen liegen an der
Oberfläche. Sie bezeichnen einen persönlichen Geschmack, ein Temperament.
Wesentlich ist, daß auch Schopenhauer die ganze Welt als Willen fühlt,
als Bewegung, Kraft, Richtung; darin ist er der Ahnherr der gesamten ethischen
Modernität. Dies Grundgefühl ist bereits unsre ganze Ethik. Alles andre
sind Abarten. Was wir Tat, nicht nur Tätigkeit nennen, ist ein durch und
durch historischer, von Richtungsenergie gesättigter Begriff. Es ist die
Daseinsbestätigung, die Daseinsweihe einer Art Mensch, dessen Ich die Tendenz
auf Zukünftiges besitzt, der die Gegenwart nicht als gesättigtes Sein,
sondern stets als Epoche in einem großen Zusammenhang des Werdens empfindet,
und zwar sowohl im persönlichen Leben als im Leben der gesamten Geschichte.
Die Stärke und Deutlichkeit dieses Bewußtseins bestimmt den Rang eines
faustischen Menschen, aber selbst der unbedeutendste besitzt etwas davon, das
seine geringsten Lebensakte nach Art und Gehalt von denen jedes antiken
Menschen unterscheidet. Es ist der Unterschied von Charakter und Haltung, von
bewußtem Werden und einfach hingenommenem statuenhaften Gewordensein, von
tragischem Wollen und tragischem Dulden. (Ebd., S. 436).Vor
den Augen des faustischen Menschen, in seiner Welt ist alles Bewegtheit einem
Ziele zu. Er selbst lebt unter dieser Bedingung. Leben heißt für
ihn kämpfen, überwinden, sich durchsetzen. Der Kampf ums Dasein als
ideale Form des Daseins gehört schon der gotischen Zeit an und liegt ihrer
Architektur deutlich genug zugrunde. Das 19. Jahrhundert hat ihm nur eine mechanistisch-utilitarische
Fassung gegeben. In der Welt des apollinischen Menschen gibt es keine zielvolle
»Bewegung« das Werden Heraklits, ein absichts- und zielloses
Spiel, h odoV anw katw, kommt hier nicht in Frage ,
keinen »Protestantismus«, keinen »Sturm und Drang«, keine
ethische, geistige, künstlerische »Umwälzung«, die das Bestehende
bekämpfen und vernichten will. Der ionische und korinthische Stil treten
ohne den Anspruch auf Alleingeltung neben den dorischen. Aber die Renaissance
hat den gotischen, der Klassizismus den Barockstil verworfen, und alle Literaturgeschichten
des Abendlandes sind voll von wilden Kämpfen um die Probleme der Form. Selbst
das Mönchtum, wie es Ritterorden, Franziskaner und Dominikaner darstellen,
erscheint in Gestalt einer Ordensbewegung, sehr im Gegensatz zur frühchristlichen,
einsiedlerischen Form der Askese. (Ebd., S. 436-437).Es
ist dem faustischen Menschen gar nicht möglich, diese Grundgestalt seines
Daseins zu verleugnen, geschweige zu ändern. Jede Auflehnung dagegen setzt
sie schon voraus. Wer den »Fortschritt« bekämpft, hält diese
Wirksamkeit doch selbst für einen Fortschritt. Wer für eine »Umkehr«
agitiert, meint damit eine Weiterentwicklung. »Immoral« das
ist nur eine neue Art von Moral, und zwar mit dem gleichen Anspruch des Vorrangs
vor allen andern. Der Wille zur Macht ist intolerant. Alles Faustische will Alleinherrschaft.
Für das apollinische Weltgefühl das Nebeneinander vieler Einzeldinge
ist Toleranz selbstverständlich. Sie gehört zum Stil der willensfremden
Ataraxia. Für die abendländische Welt den einen grenzenlosen
Seelenraum, den Raum als Spannung ist sie Selbsttäuschung oder ein
Zeichen des Erlöschens. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts war tolerant,
das heißt gleichgültig gegen die Unterschiede der christlichen
Bekenntnisse; für sich selbst im Verhältnis zur Kirche überhaupt
war sie es, sobald sie zur Macht gelangt war, durchaus nicht mehr. Der faustische
Instinkt, tätig, willensstark, mit der Vertikaltendenz gotischer Dome und
jener bedeutsamen Umprägung des feci zu ego habeo factum, in
die Ferne und Zukunft gerichtet, fordert Duldung, das heißt Raum
für die eigne Wirksamkeit, aber nur für sie. Man bedenke etwa,
welches Maß davon die großstädtische Demokratie der Kirche gegenüber
in deren Handhabung religiöser Machtmittel anzuwenden willens ist, während
sie für sich selbst schrankenlose Anwendung der eignen fordert und, wenn
sie kann, die »allgemeine« Gesetzgebung daraufhin stimmt. Jede »Bewegung«
will siegen; jede antike »Haltung« will nur da sein und kümmert
sich wenig um das Ethos der andern. Für oder gegen die Zeitströmung
kämpfen, Reform oder Umkehr betreiben, aufbauen, umwerten oder zertrümmern
das ist gleichmäßig unantik und unindisch. Und gerade das ist
der Unterschied zwischen sophokleischer und shakespearescher Tragik, der Tragik
des Menschen, der nur da sein, und des Menschen, der siegen will. (Ebd.,
S. 437-438).Es
ist falsch, »das« Christentum mit dem moralischen Imperativ in Verbindung
zu bringen. Nicht das Christentum hat den faustischen Menschen, er hat das Christentum
umgeformt, und zwar nicht nur zu einer neuen Religion, sondern auch in der Richtung
einer neuen Moral. Das »es« wird zum Ich mit dem vollen Pathos eines
Weltmittelpunktes, wie es die Voraussetzung des Sakraments der persönlichen
Buße bildet. Der Wille zur Macht auch im Ethischen, die Leidenschaft, seine
Moral zur allgemeinen Wahrheit zu erheben, sie der Menschheit aufzwingen, alle
andersgearteten umdeuten, überwinden, vernichten zu wollen, ist unser eigenstes
Eigentum. In diesem Sinne ist ein tiefer und noch nie begriffener Vorgang
die Moral Jesu, ein ruhend-geistiges, aus dem magischen Weltgefühl
heraus als heilkräftig empfohlenes Verhalten, dessen Kenntnis als eine besondere
Gnade verliehen wird, in der gotischen Frühzeit innerlich in eine befehlende
umgeprägt worden. (Ebd., S. 438).Jedes
ethische System, ob religiöser oder philosophischer Herkunft, gehört
damit in die Nachbarschaft der großen Künste, vor allem der Architektur.
Es ist ein Bau von Sätzen kausaler Prägung. Jede Wahrheit, die zu praktischer
Anwendung bestimmt ist, wird mit einem »weil« oder »damit«
vorgeschrieben. Es ist mathematische Logik darin, in Buddhas vier Wahrheiten wie
in Kants Kritik der praktischen Vernunft und in jedem volkstümlichen Katechismus.
Nichts liegt diesen als wahr erkannten Lehren ferner als die unkritische Logik
des Blutes, die aus jeder gewachsenen und nur durch Verstöße gegen
sie zum Bewußtsein gelangenden Sitte von Ständen und Tatsachenmenschen
redet, wie sie uns in der ritterlichen Zucht der Kreuzzugszeiten am deutlichsten
vor Augen steht. Eine systematische Moral ist wie ein Ornament und offenbart sich
nicht nur in Sätzen, sondern auch im tragischen Stil, selbst im künstlerischen
Motiv. Der Mäander z.B. ist ein stoisches Motiv; in der dorischen Säule
verkörpert sich geradezu das antike Lebensideal. Sie ist deshalb die einzige
der antiken Säulenformen, welche der Barockstil unbedingt ausschließen
mußte. Man wird sie aus einem sehr tief liegenden seelischen Grunde selbst
in der Renaissancekunst vermieden finden. Die Umsetzung des magischen Kuppelbaues
in den russischen mit dem Symbol der Dachebene, die chinesische Landschaftsarchitektur
mit ihren verschlungenen Pfaden, der gotische Turm der Kathedralen sind ebensoviele
Sinnbilder der aus dem Wachsein einer und nur dieser einen Kultur entstandenen
Moral. (Ebd., S. 439).etzt
lösen sich uralte Rätsel und Verlegenheiten. Es gibt so viel Moralen,
als es Kulturen gibt, nicht mehr und nicht weniger. Niemand hat hier eine frei
Wahl. So gewiß es für jeden Maler und Musiker etwas gibt, das ihm infolge
der Wucht einer inneren Notwendigkeit gar nicht zum Bewußtsein kommt, das
die Formensprache seiner Werke von vornherein beherrscht und sie von den künstlerischen
Leistungen aller anderen Kulturen unterscheidet, so gewiß hat jede
Lebensauffassung eines Kulturmenschen von vornherein, a priori in Kants strengstem
Sinne, eine Beschaffenheit, die noch tiefer liegt als alles augenblickliche Urteilen
und Streben und die ihren Stil als den einer bestimmten Kultur erkennen läßt.
Der einzelne kann moralisch oder unmoralisch handeln, »gut« oder »böse«
aus dem Urgefühl seiner Kultur heraus, aber die Theorie seines Handelns ist
schlechthin gegeben. Jede Kultur hat dafür ihren eigenen Maßstab, dessen
Gültigkeit mit ihr beginnt und endet. Es gibt keine allgemein menschliche
Moral. (Ebd., S. 439-440).
Es gibt also im tiefsten Sinne auch
keine wahre Bekehrung und kann keine geben. Jede bewußte Art des
Sichverhaltens auf Grund von Überzeugungen ist ein Urphänomen,
die zur »zeitlosen Wahrheit« gewordene Grundrichtung eines
Daseins. Unter was für Worten und Bildern man sie zum Ausdruck bringt,
ob als Satzung einer Gottheit oder als Ergebnis philosophischen Nachdenkens,
ob in Sätzen oder Symbolen, ob als Verkündung eigner Gewißheit
oder als Widerlegung einer fremden, macht wenig aus; genug, daß
sie vorhanden ist. Man kann sie wecken und theoretisch in eine Lehre fassen,
ihren geistigen Ausdruck verändern und verdeutlichen; erzeugen kann
man sie nicht. So wenig wir imstande sind, unser Weltgefühl zu ändern
- so wenig, daß selbst der Versuch einer Änderung schon in
seinem Stile verläuft und es bestätigt, statt es zu überwinden
-, so wenig haben wir Gewalt über die ethische Grundform unsres Wachseins.
Man hat in den Worten einen gewissen Unterschied gemacht und die Ethik
eine Wissenschaft, die Moral eine Aufgabe genannt, aber es gibt in diesem
Sinne keine Aufgabe. So wenig die Renaissance fähig war, die Antike
wieder heraufzurufen, und so sehr sie mit jedem antiken Motiv nur das
Gegenteil apollinischen Weltgefühls zum Ausdruck brachte, eine versüdlichte,
eine »antigotische Gotik« nämlich, so unmöglich
ist die Bekehrung eines Menschen zu einer seinem Wesen fremden Moral.
Mag man heute von einer Umwertung aller Werte reden, mag man als moderner
Großstädter zum Buddhismus, zum Heidentum oder zu einem romantischen
Katholizismus »zurückkehren«, mag der Anarchist für
individualistische, der Sozialist für Gesellschaftsethik schwärmen,
man tut, will, fühlt trotzdem dasselbe. Die Bekehrung zur Theosophie
oder zum Freidenkertum, die heutigen Übergänge von einem vermeintlichen
Christentum zu einem vermeintlichen Atheismus und umgekehrt sind eine
Veränderung der Worte und Begriffe, der religiösen oder intellektuellen
Oberfläche, nicht mehr. Keine unsrer »Bewegungen« hat
den Menschen verändert. (Ebd., S. 440-441).
Eine strenge Morphologie aller Moralen ist die Aufgabe
der Zukunft. Nietzsche hat auch hier das Wesentliche, den ersten, für
den neuen Blick entscheidenden Schritt getan. Aber seine Forderung an
den Denker, sich jenseits von Gut und Böse zu stellen, hat er selbst
nicht erfüllt. Er wollte Skeptiker und Prophet, Moralkritiker und
Moralverkünder zugleich sein. Das verträgt sich nicht. Man ist
nicht Psycholog ersten Ranges, solange man noch Romantiker ist. Und so
ist er hier, wie in all seinen entscheidenden Einsichten, bis zur Pforte
gelangt, aber vor ihr stehen geblieben. Indes hat es noch niemand besser
gemacht. Wir waren bisher blind für den unermeßlichen Reichtum
auch der moralischen Formensprache. Wir haben ihn weder übersehen
noch begriffen. Selbst der Skeptiker verstand seine Aufgabe nicht; er
erhob im letzten Grunde die eigene, durch persönliche Anlage, durch
den privaten Geschmack bestimmte Fassung der Moral zur Norm und maß
danach die andern. Die modernsten Revolutionäre, Stirner, Ibsen,
Strindberg, Shaw, haben nichts andres getan. Sie verstanden es nur, diese
Tatsache - auch vor sich selbst - hinter neuen Formeln und Schlagworten
zu verstecken. Aber eine Moral ist wie eine Plastik, Musik oder Malerei
eine in sich geschlossene Formenwelt, die ein Lebensgefühl zum Ausdruck
bringt, schlechthin gegeben, in der Tiefe unveränderlich, von innerer
Notwendigkeit. Sie ist innerhalb ihres geschichtlichen Kreises immer wahr,
außerhalb seiner immer unwahr. Es war gezeigt worden (vgl. a.a.O.),
daß, wie für den einzelnen Dichter, Maler, Musiker seine einzelnen
Werke, so für die großen Individuen der Kulturen die Kunstgattungen
als organische Einheiten, die ganze Ölmalerei, die ganze Aktplastik,
die kontrapunktische Musik, die Reimlyrik Epoche machen und den Rang großer
Symbole des Lebens einnehmen. In beiden Fällen,
in der Geschichte einer Kultur wie im Einzeldasein, handelt es sich um
die Verwirklichung von Möglichem ().
Das innerlich Seelische wird zum Stil einer Welt. Neben diesen
großen Formeinheiten, deren Werden, Vollendung und Abschluß
eine vorbestimmte Reihe menschlicher Generationen umfaßt und die
nach einer Dauer von wenigen Jahrhunderten unwiderruflich dem Tode verfallen,
steht die Gruppe der faustischen, die Summe der apollinischen Moralen,
ebenfalls als Einheit höherer Ordnung aufgefaßt. Ihr Vorhandensein
ist Schicksal, das man hinzunehmen hat; nur die bewußte Fassung
ist das Ergebnis einer Offenbarung oder wissenschaftlichen Einsicht.
(Ebd., S. 441-442).
Es gibt etwas schwer zu Beschreibendes, das von Hesiod
und Sophokles bis zu Plato und der Stoa alle Lehren zusammenfaßt
und sie allem gegenüberstellt, was von Franz von Assisi und
Abaelard bis auf Ibsen und Nietzsche gelehrt worden ist, und auch die
Moral Jesu ist nur der edelste Ausdruck einer allgemeinen Moral, deren
andere Fassungen sich bei Marcion und Mani, Philo und Plotin, Epiktet,
Augustinus und Proklos finden. Jede antike Ethik ist eine Ethik der Haltung,
jede abendländische eine Ethik der Tat. Und endlich bildet die Summe
aller chinesischen und aller indischen Systeme wiederum je eine Welt für
sich. (Ebd., S. 442).
Jede
überhaupt denkbare antike Ethik gestaltet den einzelnen ruhenden Menschen,
als Körper unter Körpern. Alle Wertungen des Abendlandes beziehen sich
auf den Menschen, sofern er Wirkungszentrum einer unendlichen Allgemeinheit
ist. Ethischer Sozialismus - das ist die Gesinnung der Tat, welche durch den Raum
in die Ferne wirkt, das moralische Pathos der dritten Dimension, als deren Zeichen
das Urgefühl der Sorge, für die Mitlebenden wie für die Kommenden,
über dieser ganzen Kultur schwebt. So kommt es, daß im Anblick der
ägyptischen Kultur für uns etwas Sozialistisches liegt. Auf der andern
Seite erinnert die Tendenz auf ruhevolle Haltlmg, Wunschlosigkeit, statische Abgeschlosscnheit
des einzellen für sich an die indische Ethik und den von ihr gestalteten
Menschen. Man denke an die sitzenden, »ihren Nabel beschauenden« Buddhastatuen,
denen Zenons Ataraxia nicht ganz fremd ist. Das ethische Ideal des antiken Menschen
war das, zu welchem die Tragödie hinleitete. Die Katharsis, die Entladung
der apollinischen Seele von dem, was nicht apollinisch, nicht frei von »Feme«
und Richtung war, offenbart hier ihren tiefsten Sinn. Man versteht sie nur, wenn
man den Stoizismus als ihre reife Form erkennt. Was das Drama in einer feierlichen
Stunde bewirkte, wünschte die Stoa über das ganze Leben zu verbreiten:
die statuenhafte Ruhe, das willensfreie Ethos. Und weiter: Eben jenes buddhistische
Ideal des Nirwana, eine sehr späte Formel, aber ganz indisch und schon von
den vedischen Zeiten an zu verfolgen: ist das nicht der Katharsis nahe verwandt?
Rücken vor diesem Begriff der ideale antike und der ideale indische Mensch
nicht eng zusammen, sobald man sie mit dem faustischen Menschen vergleicht, dessen
Ethik sich ebenso deutlich aus der Tragödie Shakespeares und ihrer dynamischen
Entwicklung und Katastrophe begreifen läßt? In der Tat: Sokrates, Epikur
und vor allem Diogenes am Ganges - das wäre sehr wohl vorzustellen. Diogenes
in einer der westeuropäischen Weltstädte wäre ein bedeutungsloser
Narr. Und andrerseits, Friedrich Wilhelm I., das Urbild eines Sozialisten in großem
Sinne, ist in dem Staatswesen am Nil immerhin denkbar. Im perikleischen Athen
ist er es nicht. (Ebd., S. 442-443).Hätte
Nietzsche vorurteilsfreier und weniger von einer romantischen Schwärmerei
für gewisse ethische Schöpfungen bestimmt seine Zeit beobachtet, so
würde er bemerkt haben, daß eine vermeintlich spezifisch christliche
Mitleidsmoral in seinem Sinne auf dem Boden Westeuropas gar nicht besteht. Man
muß sich durch den Wortlaut humaner Formeln nicht über ihre tatsächliche
Bedeutung täuschen lassen. Zwischen der Moral, die man hat, und derjenigen,
die man zu haben glaubt, besteht ein sehr schwer aufzufindendes und sehr schwankendes
Verhältnis. Eben hier wäre eine unbestechliche Psychologie am Platze
gewesen. Mitleid ist ein gefährliches Wort. Es fehlt, trotz der Meisterschaft
gerade Nietzsches, noch an einer Untersuchung darüber, was man zu verschiedenen
Zeiten darunter verstand und darunter gelebt hat. (Ebd., S. 443-444).
Auch das Geld kann Ideen entwickeln
und Geschichte machen. So hat Rhodes, in dem sich ein sehr beutungsvoller
Typus des 21. Jahrhunderts ankündigt, sein Vermögen testamentarisch
angelegt. Es ist flach und beweist die Unfähigkeit, Geschichte innerlich
zu begreifen, wenn man das literarische Geschwätz populärer
Sozialethiker und Humanitätsapostel nicht von den tiefen ethischen
Instinkten der westeuropäischen Zivilisation zu unterscheiden weiß.
(Ebd., S. 447-448).
Als Nietzsche das Wort »Umwertung
aller Werte« zum ersten Male niederschrieb, hatte endlich die seelische
Bewegung dieser Jahrhunderte, in deren Mitte wir leben (*
Spengler schrieb dies 1911 bis 1917), ihre Formel gefunden. Umwertung
aller Werte - das ist der innerste Charakter jeder Zivilisation.
Sie beginnt damit, alle Formen der voraufgegangenen Kultur umzuprägen,
anders zu verstehen, anders zu handhaben. Sie erzeugt nicht mehr, sie
deutet nur um. Darin liegt das Negative aller Zeitalter dieser Art. Sie
setzen den eigentlichen Schöpfungsakt voraus. Sie treten nur eine
Erbschaft von großen Wirklichkeiten an. .... Die Kultur wird dialektisch
vernichtet. Lassen wir die großen Namen des 19. Jahrhunderts vorüberziehen,
an die sich für uns dies mächtige Schauspiel knüpft: Schopenhauer,
Hebbel, Wagner, Nietzsche, Ibsen, Strindberg, so überblicken wir
das, was Nietzsche in dem fragmentarischen Vorwort zu seinem unvollendeten
Hauptwerk beim Namen nannte, die Heraufkunft des Nihilismus. Sie
ist keiner der großen Kulturen fremd. Sie gehört mit innerster
Notwendigkeit zum Ausgang dieser mächtigen Organismen. Sokrates war
Nihilist; Buddha war es. Es gibt eine ägyptische,
arabische, chinesische so gut wie eine westeuropäische Entseelung
des Menschlichen. Es handelt sich nicht um politische und wirtschaftliche,
nicht einmal um eigentlich religiöse oder künstlerische Verwandlungen.
Es handelt sich überhaupt nicht um Greifbares, nicht um Tatsachen,
sondern um das Wesen einer Seele, die ihre Möglichkeiten restlos
verwirklicht hat ().
Man wende nicht die gewaltigen Leistungen gerade des Hellenismus und der
westeuropäischen Modernität ein. Sklavenwirtschaft und Maschinenindustrie,
»Fortschritt« und Ataraxia, Alexandrinismus und moderne Wissenschaft,
Pergamon und Bayreuth, soziale Zustände, wie sie die »Politeia«
des Aristoteles und »Das Kapital« von Marx voraussetzen, sind
lediglich Symptome im historischen Oberflächenbilde. Es
handelt sich nicht um das äußere Leben, um Lebenshaltung, Institutionen,
Sitten, sondern um das Tiefste und Letzte, das innere Fertigsein
des Weltstadtmenschen und des Provinzlers. Für die Antike
trat es zur Römerzeit ein. Für uns gehört es der Zeit nach
2000 an. (Ebd., S. 448-450).
Kultur
und Zivilisation - das ist der lebendige Leib eines Seelentums und seine Mumie.
So unterscheidet sich das westeuropäische Dasein vor und nach 1800, das Leben
in Fülle und Selbstverständlichkeit, dessen Gestalt von innen heraus
gewachsen und geworden ist, und zwar in einem mächtigen Zuge von den Kindertagen
der Gotik an bis zu Goethe und Napoleon, und jenes späte, künstliche,
wurzellose Leben unsrer großen Städte, dessen Formen der Intellekt
entwirft. Kultur und Zivilisation - das ist ein aus der Landschaft geborener Organismus
und der aus seiner Erstarrung hervorgegangene Mechanismus. Der Kulturmensch lebt
nach innen, der zivilisierte Mensch nach außen, im Raume, lmter Körpern
und »Tatsachen«. Was der eine als Schicksal fühlt, versteht der
andere als Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Man ist von nun an Materialist
in einem nur innerhalb einer Zivilisation gültigen Sinne, ob man es will
oder nicht, und ob buddhistische, stoische, sozialistische Lehren sich in religiösen
Formen geben oder nicht. (Ebd., S. 450-451).Dem
gotischen und dorischen Menschen, dem Menschen der Ionik und des Barock wird die
ganze ungeheure Formenwelt von Kunst, Religion, Sitte, Staat, Wissen, Gesellschaft
leicht. Er trägt und verwirklicht sie, ohne sie zu »kennen«.
Er besitzt dem Symbolischen der Kultur gegenüber dieselbe ungezwungene Meisterschaft,
wie sie Mozart in seiner Kunst besaß. Kultur ist das Selbstverständliche.
Das Gefühl einer Fremdheit unter diesen Formen, das einer Last, welche die
Freiheit des Schaffens aufhebt, die Nötigung, das Vorhandene verstandesmäßig
zu prüfen, um es bewußt anzuwenden, der Zwang eines für alles
geheimnisvoll Schöpferische verhängnisvollen Nachdenkens sind die ersten
Symptome einer ermattenden Seele. Erst der Kranke fühlt seine Glieder. Daß
man eine unmetaphysische Religion konstruiert und sich gegen Kulte und Dogmen
auflehnt, daß ein Naturrecht den historischen Rechten entgegengestellt wird,
daß man in der Kunst Stile »entwirft«, weil der Stil nicht mehr
ertragen und gemeistert wird, daß man den Staat als »Gesellschaftsordnung«
auffaßt, die man ändern könne, sogar ändern müsse (neben
Rousseaus »Contrat social« stehen völlig gleichbedeutende Erzeugnisse
der Zeit des Aristoteles), das alles beweist, daß etwas endgültig zerfallen
ist. Die Weltstadt selbst liegt als Extrem von Anorganischem inmitten der Kulturlandschaft
da, deren Menschentum sie von seinen Wurzeln löst, an sich zieht und verbraucht.
(Ebd., S. 451).Wissenschaftliche
Welten sind oberflächliche Welten, praktische, seelenlose, rein extensive
Welten. Sie liegen den Anschauungen des Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus
gleichmäßig zugrunde. Das Leben nicht mehr mit kaum bewußter,
wahlloser Selbstverständlichkeit leben, es als gottgewolltes Schicksal hinnehmen,
sondern es als problematisch betrachten, es auf Grund intellektueller Einsichten
in Szene setzen, »zweckmäßig«, »vernunftgemäß«
das ist in allen drei Fällen der Hintergrund. Das Gehirn regiert,
weil die Seele abdankte. Kulturmenschen leben unbewußt, zivilisierte Menschen
leben bewußt. Das im Boden wurzelnde Bauerntum vor den Toren der großen
Städte, die jetzt skeptisch, praktisch, künstlich allein
die Zivilisation repräsentieren, zählt nicht mehr mit. »Volk«
das ist jetzt Stadtvolk, anorganische Masse, etwas Fluktuierendes. Der
Bauer ist nicht Demokrat denn auch dieser Begriff gehört zum mechanischen
und städtischen Dasein , folglich übersieht, belächelt, verachtet,
haßt man ihn. Er ist nach dem Schwinden der alten Stände, Adel und
Priestertum, der einzige organische Mensch, ein Überbleibsel der frühen
Kultur. Er findet weder im stoischen noch im sozialistischen Denken einen Platz.
(Ebd., S. 451-452).So
ruft der Faust des ersten Teiles der Tragödie, der leidenschaftliche Forscher
in einsamen Mitternächten, folgerichtig den des zweiten Teiles und des neuen
Jahrhunderts hervor, den Typus einer rein praktischen, weitschauenden, nach außen
gerichteten Tätigkeit. Hier hat Goethe psychologisch die ganze Zukunft Westeuropas
vorweggenommen. Das ist Zivilisation an Stelle von Kultur, der äußere
Mechanismus statt des inneren Organismus, der Intellekt als das seelische Petrefakt
an Stelle der erloschenen Seele selbst. So wie Faust am Anfang und Ende der Dichtung,
stehen sich innerhalb der Antike der Hellene zur Zeit des Perikles und der Römer
zur Zeit Cäsars gegenüber. (Ebd., S. 452).Solange
der Mensch einer in Vollendung begriffenen Kultur einfach vor sich hin lebt, natürlich
und selbstverständlich, hat sein Leben eine wahllose Haltung. Das ist seine
instinktive Moral, die sich in tausend umstrittene Formeln verkleiden mag,
die man aber selbst nicht bestreitet, weil man sie hat. Sobald das Leben ermüdet,
sobald man auf dem künstlichen Boden großer Städte, die
jetzt geistige Welten für sich sind eine Theorie braucht, um es zweckmäßig
in Szene zu setzen, sobald das Leben Objekt der Betrachtung geworden ist, wird
die Moral zum Problem. Kulturmoral ist die Moral, welche man hat, zivilisierte
die, welche man sucht. Die eine ist zu tief, um auf logischem Wege erschöpft
zu werden, die andre ist eine Funktion der Logik. Noch bei Kant und Plato ist
die Ethik bloße Dialektik, ein Spiel mit Begriffen, die Abrundung eines
metaphysischen Systems. Man hätte sie im Grunde nicht nötig gehabt.
Der kategorische Imperativ ist lediglich die abstrakte Fassung dessen, was für
Kant gar nicht in Frage stand. Von Zenon und Schopenhauer an gilt das nicht mehr.
Da mußte als Regel des Seins gefunden, erfunden, erzwungen werden, was instinktiv
nicht mehr gesichert war. An dieser Stelle beginnt die zivilisierte Ethik, die
nicht der Reflex des Lebens auf die Erkenntnis, sondern der Reflex der Erkenntnis
auf das Leben ist. Man fühlt etwas Künstliches, Seelenloses und Halbwahres
in all diesen erdachten Systemen, welche die ersten Jahrhunderte aller
Zivilisationen füllen. Das sind nicht mehr innerlichste, beinahe überirdische
Schöpfungen, die ebenbürtig neben den großen Künsten stehen.
Jetzt verschwindet alle Metaphysik großen Stils, alle reine Intuition vor
dem einen, was plötzlich nottut, vor der Grundlegung einer praktischen
Moral, die das Leben regeln soll, weil es sich selbst nicht mehr regeln kann.
Die Philosophie war bis auf Kant, Aristoteles und die Lehren des Yoga und Vedanta
eine Folge mächtiger Weltsysteme gewesen, in denen die formale Ethik
einen bescheidnen Platz fand. Sie wird jetzt Moralphilosophie, mit einer Metaphysik
als Hintergrund. Die erkenntnistheoretische Leidenschaft tritt den Vorrang an
die praktische Notdurft ab: Sozialismus, Stoizismus, Buddhismus sind Philosophien
dieses Stils. (Ebd., S. 452-453).Die
Welt statt aus der Höhe, wie Aischylos, Plato, Dante, Goethe, unter dem Gesichtspunkt
der alltäglichen Notdurft und andrängenden Wirklichkeit betrachten:
das nenne ich die Vogelperspektive des Lebens mit der Froschperspektive vertauschen.
Und eben das ist der Abstieg von einer Kultur zur Zivilisation. Jede Ethik formuliert
den Blick der Seele auf ihr Schicksal: heroisch oder praktisch, groß oder
gemein, männlich oder greisenhaft. Und so unterscheide ich denn eine tragische
und eine Plebejermoral. Die tragische Moral einer Kultur kennt und begreift
die Schwere des Seins, aber sie zieht daraus das Gefühl des Stolzes, es zu
tragen. So empfanden Aischylos, Shakespeare und die Denker der brahmanischen Philosophie,
so Dante und der germanische Katholizismus. Das liegt in dem wilden Schlachtchoral
des Luthertums: »Ein' feste Burg ist unser Gott«, und das klingt selbst
noch in der Marseillaise nach. Die Plebejermoral des Epikur und der Stoa, der
Sekten der Buddhazeit, des 19. Jahrhunderts macht einen Schlachtplan zurecht,
das Schicksal zu umgehen. Was Aischylos groß tat, das tat die Stoa klein.
Das war nicht mehr Fülle, sondern Armut, Kälte und Leere des Lebens,
und die Römer haben diese intellektuelle Kälte und Leere nur zum Großartigen
gesteigert. Und dasselbe Verhältnis besteht zwischen dem ethischen Pathos
der großen Meister des Barock, Shakespeare, Bach, Kant, Goethe, dem männlichen
Willen, innerlich Herr der natürlichen Dinge zu sein, weil man sie
tief unter sich weiß, und dem Willen der europäischen Modernität,
sie sich in Gestalt der Fürsorge, der Humanität, des Weltfriedens,
des Glückes der meisten äußerlich aus dem Wege zu
schaffen, weil weil man sich mit ihnen auf derselben Ebene sieht. Auch das ist
Wille zur Macht im Gegensatz zur antiken Duldung des Unabwendbaren; auch darin
liegt Leidenschaft und Hang zum Unendlichen, aber es ist ein Unterschied zwischen
metaphysischer und materieller Größe im Überwinden. Die Tiefe
fehlt, das, was der frühere Mensch Gott nannte. Das faustische Weltgefühl
der Tat, wie es von den Staufen und Welfen bis auf Friedrich den Großen,
Goethe und Napoleon in jedem großen Menschen wirksam war, verflachte zu
einer Philosophie der Arbeit, wobei es für den inneren Rang gleichgültig
ist, ob man sie verteidigt oder verurteilt. Der Kulturbegriff der Tat und der
zivilisierte Begriff der Arbeit verhalten sich wie die Haltung des aischyleischen
Prometheus zu der des Diogenes. Der eine ist ein Dulder, der andere ist faul.
Galilei, Kepler, Newton brachten es zu wissenschaftlichen Taten, der moderne Physiker
leistet gelehrte Arbeit. Plebejermoral auf der Grundlage des alltäglichen
Daseins und des »gesunden Menschenverstandes« ist es, was trotz aller
großen Worte von Schopenhauer bis zu Shaw jeder Lebensbetrachtung zugrunde
liegt. (Ebd., S. 453-454).Jede
Kultur hat ihre eigene Art, seelisch zu verlöschen, und nur die eine,
die aus ihren ganzen Leben mit tiefster Notwendigkeit folgt. Deshalb sind Buddhismus,
Stoizismus, Sozialismus morphologisch gleichwertige Ausgangserscheiningen.
(Ebd., S. 455).Der
faustische Nihilist, Ibsen wie Nietzsche, Marx wie Wagner, zertrümmert die
Ideale; der apollinische, Epikur wie Antisthenes und Zenon, läßt sie
vor seinen Augen zerfallen; der indische zieht sich vor ihnen in sich selbst zurück.
Der Stoizismus ist auf ein Sichverhalten des einzelnen gerichtet, auf ein
statuenhaftes, rein gegenwärtiges Sein, ohne Beziehung auf Zukunft und Vergangenheit,
oder auf andre. Der Sozialismus ist die dynamische Behandlung des gleichen Themas:
dieselbe Verteidigung nicht auf die Haltung, sondern die Auswirkung des Lebens,
aber mit einem mächtig angreifenden Zug ins Ferne auf die gesamte Zukunft
und die gesamte Masse der Menschen erstreckt, die einer einzigen Methode unterworfen
werden sollen; der Buddhissmus, den nur ein Dilletant mit dem Christentum
verwechseln kann (),
ist durch die Worte abendländischer Sprachen kaum wiederzugeben. Aber es
ist erlaubt, von einem stoischen Nirwana zu reden und auf die Gestalt des Diogenes
zu verweisen; auch der Begriff eines sozialistischen Nirwana ist zu rechtfertigen,
sofern man die Flucht vor dem Kampf ums Dasein ins Auge faßt, wie die europäische
Müdigkeit sie in Schlagworte Weltfriede, Humanität und Verbrüderung
aller Menschen kleidet. (Ebd., S. 456-457).Jede
Seele hat Religion. Das ist nur ein anderes Wort für ihr Dasein. Alle lebendigen
Formen, in denen sie sich ausspricht, alle Künste, Lehren, Bräuche,
alle metaphysischen und mathematischen Formenwelten, jedes Ornament, jede Säule,
jeder Vers, jede Idee ist im Tiefsten religiös und muß es sein. Von
nun an kann sie es nicht mehr sein. (Ebd., S. 458).Das
Wesen aller Kultur ist Religion; folglich ist das Wesen aller Zivilisation
Irreligion. Auch das sind zwei Worte für ein und dieselbe Erscheinung.
Wer das nicht im Schaffen Manets gegen Velasquez, Wagners gegen Haydn, Lysippos
gegen Phidias, Theokrits gegen Pindar herausfühlt, der weiß nichts
vom Besten der Kunst. Religiös ist noch die Baukunst des Rokoko selbst in
ihren weltlichsten Schöpfungen. Irreligiös sind die Römerbauten,
auch die Tempel der Götter. Mit dem Pantheon, jener Urmoschee mit dem eindringlich
magischen Gottgefühl ihres Innenraums, ist das einzige Stück echt religiöser
Baukunst in das alte Rom geraten. Die Weltstädte selbst sind den alten Kulturstädten
gegenüber, Alexandria gegen Athen, Paris gegen Brügge, Berlin gegen
Nürnberg, in allen Einzelheiten bis in das Straßenbild, die Sprache,
den trocken intelligenten Zug der Gesichter ()
hinein irreligiös (was man nicht mit antireligiös zu verwechseln hat).
Und irreligiös, seelenlos sind demnach auch diese ethischen Weltstimmungen,
die durchaus zur Formensprache der Weltstädte gehören. Der Sozialismus
ist das irreligiös gewordene faustische Lebensgefühl; das besagt auch
das vermeintliche (»wahre«) Christentum, das der englische Sozialist
so gern im Munde führt und unter dem er etwas wie eine »dogmenlose
Moral« versteht. Irreligiös sind Stoizismus und Buddhismus im Verhältnis
zur orphischen und vedischen Religion, und es ist ganz Nebensache, ob der römische
Stoiker den Kaiserkult billigt und ausübt, der spätere Buddhist seinen
Atheismus mit Überzeugung bestreitet, der Sozialist sich freireligiös
nennt oder auch »weiterhin an Gott glaubt«. (Ebd., S. 458-459).
Dies Erlöschen der lebendigen inneren
Religiosität, das allmählich auch den unbedeutendsten Zug des Daseins
gestaltet und erfüllt, ist es, was im historischen Weltbild als die Wendung
der Kultur zur Zivilisation erscheint, als das Klimakterium der Kultur,
wie ich es früher nannte, als die Zeitwende, wo die seelische Fruchtbarkeit
einer Art von Mensch für immer erschöpft ist und die Konstruktion an
Stelle der Zeugung tritt. Faßt man das Wort Unfruchtbarkeit in seiner ganzen
ursprünglichen Schwere, so bezeichnet es das volle Schicksal des weltstädtischen
Gehirnmenschen, und es gehört zum Bedeutsamsten der geschichtlichen Symbolik,
daß diese Wendung sich nicht nur im Erlöschen der großen Kunst,
der gesellschaftlichen Formen, der großen Denksysteme, des großen
Stils überhaupt, sondern auch ganz körperlich in der Kinderlosigkeit
und dem Rassetod der zivilisierten, vom Lande abgelösten Schichten ausspricht,
eine Erscheinung, die in der römischen und chinesischen Kaiserzeit viel bemerkt
und beklagt, aber notwendigerweise nicht gemildert worden ist. ().
(Ebd., S. 459).Nichts
ist für diese entschiedene Wendung zum äußeren Leben, das allein
übrig geblieben ist, zur biologischen Tatsache, der gegenüber das Schicksal
nur noch in der Form von Kausalitätsbeziehungen erscheint, bezeichnender
als das ethische Pathos, mit dem man sich nun einer Philosophie der Verdauung,
der Ernährung, der Hygiene zuwendet. Alkoholfragen und Vegetarismus werden
mit religiösem Ernst behandelt, augenscheinlich das Gewichtigste an Problemen,
wozu der »neue Mensch« sich aufschwingen kann. So entspricht es der
Froschperspektive dieser Generationen. Religionen, wie sie an der Schwelle großer
Kulturen entstehen, die orphische und vedische, das magische Christentum Jesu
und das faustische der ritterlichen Germanen hätten es unter ihrer Würde
gefunden, zu Fragen der Art auch nur für Augenblicke herabzusteigen. Jetzt
steigt man zu ihnen hinauf. Der Buddhismus ist ohne eine leibliche neben seiner
Seelendiät nicht denkbar. Im Kreise der Sophisten, des Antisthenes, der Stoiker
und Skeptiker gewinnt dergleichen immer größere Bedeutung. Schon Aristoteles
hat über die Alkoholfrage geschrieben, eine ganze Reihe von Philosophen über
den Vegetarismus, und es besteht zwischen der apollinischen und der faustischen
Methode nur der Unterschied, daß der Zyniker die eigne Verdauung, Shaw die
Verdauung aller »Menschen« in sein theoretisches Interesse zieht.
Der eine entsagt, der andere verbietet. Man weiß, wie selbst Nietzsche sich
im »Ecce homo« in Fragen dieser Art gefällt. (Ebd., S.
462).Überblicken
wir noch einmal den Sozialismus, unabhängig von der gleichnamigen Wirtschaftsbewegung,
als das faustische Beispiel einer zivilisierten Ethik. Was seine Freunde und Feinde
von ihm sagen, daß er die Gestalt der Zukunft oder daß er ein Zeichen
des Niedergangs sei, ist gleich richtig. Wir alle sind Sozialisten, ob wir es
wissen und wollen oder nicht. Selbst der Widerstand gegen ihn trägt seine
Form. Alle antiken Menschen der späten Zeit waren mit der gleichen inneren
Notwendigkeit Stoiker, ohne es zu wissen. Das ganze römische Volk, als Körper,
hat eine stoische Seele. Der echte Römer, gerade der, welcher es am entschiedensten
bestritten hätte, ist in einem strengeren Grade Stoiker; als es je ein grieche
hätte sein können. Die lateinische Sprache des letzten vorchristlichen
Jahrhunderts ist die mächtigste Schöpfung des Stoizismus geblieben.
(Ebd., S. 462-463).
Der ethische Sozialismus ist das überhaupt
erreichbare Maximum eines Lebensgefühls unter dem Aspekt von Zwecken.
().
Denn die bewegte Richtung des Daseins in den Worten Zeit und Schicksal fühlbar,
bildet sich, sobald sie starr, bewußt erkannt ist, in den geistigen Mechanismus
der Mittel und Zwecke um. Richtung ist das Lebendige, Zweck das Tote. Faustisch
überhaupt ist die Leidenschaft des Vordringens, sozialistisch im besonderen
der mechanische Rest, der »Fortschritt«. Sie verhalten sich wie der
Leib zum Skelett. Dies ist zugleich der Unterschied des Sozialismus vom Buddhismus
und Stoizismus, die mit ihren Idealen des Nirwana und der Ataraxia ebenso mechanisch
gestimmt sind, aber nicht die dynamische Leidenschaft der Ausdehnung, den Willen
zum Unendlichen, das Pathos der dritten Dimension kennen. (Ebd., S. 463).
Der etische Sozialismus ist - trotz seiner Vordergrund illusionen
- kein System des Mitleids, der Humanität, des Friedens und der Fürsorge,
sondern des Willens zur Macht. Alles andere ist Selbsttäuschung. Das Ziel
ist durchaus imperialistisch: Wohlfahrt, aber im expansiven Sinne, nicht der Kranken,
sondern der Tatkräftigen, denen man die Freiheit des Wirkens geben will,
und zwar mit Gewalt, ungehemmt durch die Widerstände des Besitzes, der Geburt
und der Tradition. Gefühlsmoral, Moral auf das »Glück« und
den Nutzen hin ist bei uns nie der letzte Instinkt, so oft es sich die
Träger dieser Instinkte einreden. (Ebd., S. 463).
Man wird immer an die Spitze der
moralischen Modernität Kant ... stellen müssen, dessen Ethik
das Motiv des Mitleids ablehnt und die Formel prägt: »Handle
so, daß -.« Alle Ethik dieses Stils will Ausdruck des
Willens zum Unendlichen sein, und dieser Wille fordert Überwindung
des Augenblicks, der Gegenwart, der Vordergründe des Lebens. ....
Der Stoiker nimmt die Welt, wie sie ist. Der Sozialist will sie der Form,
dem Gehalt nach organisieren, umprägen, mit seinem Geist erfüllen.
Der Stoiker paßt sich an. Der Sozialist befiehlt. Die ganze Welt
soll die Form seiner Anschauung tragen - so läßt sich die Idee
der »Kritik der reinen Vernunft« ins Ethische umsetzen. Das
ist der letzte Sinn des kategorischen Imperativs, den er aufs Politische,
Soziale, Wirtschaftliche anwendet: Handle so, als ob die Maxime deines
Handelns durch deinen Willen zum allgemeinen Gesetz werden sollte.
Und diese tyrannische Tendenz ist selbst den flachsten Erscheinungen der
Zeit nicht fremd. Nicht die Haltung und Gebärde, die Tätigkeit
soll gestaltet werden. Wie in China und Ägypten kommt das Leben nur
in Betracht, insofern es Tat ist. Und erst so entsteht die Arbeit im
heutigen Sprachgebrauch als die zivilisierte Form des faustischen Wirkens.
Diese Moral, der Drang, dem Leben die denkbar aktivste Form zu geben,
ist stärker als die Vernunft, deren Moralprogramme, sie mögen
noch so geheiligt, inbrünstig geglaubt, leidenschaftlich verteidigt
sein, nur insoweit wirken, als sie in der Richtung dieses Dranges
liegen oder in ihr mißverstanden werden. Im übrigen bleiben
sie Worte. Man unterscheide in aller Modernität wohl die volkstümliche
Seite, das süße Nichtstun, die Sorge um Gesundheit, Glück,
Sorglosigkeit, den allgemeinen Frieden, kurz das vermeintlich Christliche
von dem höheren Ethos, das nur die Tat wertet, das den Massen - wie
alles Faustische - weder verständlich noch erwünscht ist, die
großartige Idealisierung des Zweckes und also der Arbeit.
Will man dem römischen »Panem et circenses«, dem letzten
epikuräisch-stoischen und im Grunde auch indischen Lebenssymbol,
das entsprechende Symbol des Nordens und auch wieder des alten China und
Ägypten zur Seite stellen, so muß es das Recht auf Arbeit
sein, das bereits dem durch und durch preußisch empfundenen, heute
europäisch gewordenen Staatssozialismus Fichtes zugrunde liegt und
das in den letzten, furchtbarsten Stadien dieser Entwicklung in der Pflicht
zur Arbeit gipfeln wird. (Ebd., S. 463-465).
Der Sozialist der sterbende Faust des zweiten Teils
ist der Mensch der historischen Sorge, des Künftigen, das er als
Aufgabe und Ziel empfindet, dem gegenüber das Glück des Augenblicks
verächtlich wird. Der antike Geist mit seinen Orakeln und Vogelzeichen
will die Zukunft nur wissen, der abendländische will sie schaffen.
Das dritte Reich ist das germanische Ideal, ein ewiges Morgen, an das
alle großen Menschen ... ihr Leben knüpften. (Ebd., S.
465).
An dieser Stelle greife ich zurück und erinnere noch einmal
daran, wie verschieden die großen Kulturen sich die Weltgeschichte
vorgestellt haben: der antike Mensch sah nur sich, seine Geschicke als
ruhende Nähe, und fragte nicht nach dem Woher und Wohin. Universalgeschichte
ist ihm ein unmöglicher Begriff. Das ist eine statische Geschichtsauffassung.
Der magische Mensch sieht Geschichte als das große Weltdrama zwischen
Schöpfung und Untergang, als das Ringen zwischen Seele und Geist,
Gut und Böse, Gott und Teufel, ein streng begrenztes Geschehen mit
einer einmaligen Peripetie als Höhepunkt: der Erscheinung
des Erlösers. Der faustische Mensch sieht in der Geschichte eine
gespannte Entwicklung auf ein Ziel. Die Reihe: Altertum
Mittelalter Neuzeit ist ein dynamisches Bild. Er kann sich
Geschichte gar nicht anders vorstellen, und wenn dies nicht Weltgeschichte
an sich und überhaupt, sondern lediglich das Bild einer Weltgeschichte
faustischen Stils ist, das mit dem Wachsein der westeuropäischen
Kultur beginnt und aufhört,[465] wahr und vorhanden zu sein, so ist
der Sozialismus im höchsten Sinne die logische und praktische Krönung
dieser Vorstellung. In ihm erhält das Bild den von der Gotik an vorbereiteten
Abschluß. (Ebd., S. 465-466).
Und hier wird der Sozialismus im Gegensatz zum Stoizismus
und Buddhismus tragisch. Es ist von tiefster Bedeutung, daß
Nietzsche vollkommen klar und sicher ist, solange es sich um die Frage
handelt, was zertrümmert, was umgewertet werden soll; er verliert
sich in nebelhafte Allgemeinheiten, sobald das Wozu, das Ziel in Rede
steht. Seine Kritik der Dekadenz ist unwiderleglich, seine Übermenschenlehre
ist ein Luftgebilde. Und dasselbe gilt von Ibsen von Brand und
Rosmersholm, Julian Apostata und Baumeister Solneß , von Hebbel,
von Wagner, von allen. Und darin liegt eine tiefe Notwendigkeit, denn
von Rousseau an gibt es für den faustischen Menschen, was den großen
Stil des Lebens betrifft, nichts mehr zu hoffen. Hier ist etwas zu Ende.
Die nordische Seele hat ihre innern Möglichkeiten erschöpft
und es blieb nur noch der dynamische Sturm und Drang, wie er sich in welthistorischen
Zukunftsvisionen äußert, die mit Jahrtausenden messen, der
bloße Trieb, die nach Schöpfung sich sehnende Leidenschaft,
eine Form ohne Inhalt. Diese Seele war Wille und nichts andres; sie brauchte
ein Ziel für ihre Kolumbussehnsucht; sie mußte einen
Sinn und Zweck ihrer Wirksamkeit sich wenigstens vortäuschen, und
so findet der feinere Beobachter einen Zug von Hjalmar Ekdal in aller
Modernität, auch in ihren höchsten Erscheinungen. Ibsen hat
es die Lebenslüge genannt. Nun, etwas von ihr liegt in der gesamten
Geistigkeit der westeuropäischen Zivilisation, insoweit sie auf eine
religiöse, künstlerische, philosophische Zukunft, ein sozialethisches
Ziel, ein drittes Reich sich richtet, während in der tiefsten Tiefe
ein dumpfes Gefühl nicht schweigen will, daß dieser ganze atemlose
Eifer die verzweifelte Selbsttäuschung einer Seele ist, die nicht
ruhen darf und kann. Aus dieser tragischen Situation der Umkehrung
des Hamletmotivs ist Nietzsches gewaltsame Konzeption der Ewigen
Wiederkunft hervorgegangen, an die er niemals mit gutem Gewissen geglaubt
hat, die er aber trotzdem festhielt, um das Gefühl einer Sendung
in sich zu retten. Auf dieser Lebenslüge ruht Bayreuth, das
etwas sein wollte im Gegensatz zu Pergamon, das etwas war.
Und ein Zug dieser Lüge haftet dem gesamten politischen, wirtschaftlichen,
ethischen Sozialismus an, der gewaltsam über den vernichtenden Ernst
seiner letzten Einsichten schweigt, um die Illusion der geschichtlichen
Notwendigkeit seines Daseins zu retten. (Ebd., S. 467).
Es bleibt noch ein Wort über die Morphologie der Philosophiegeschichte
zu sagen. Es gibt keine Philosophie überhaupt: jede Kultur besitzt
ihre eigne; sie ist Teil ihres symbolischen Gesamtausdrucks und bildet
mit ihren Problemstellungen und Denkmethoden eine geistige
Ornamentik in strenger Verwandtschaft zu derjenigen der Architektur und
bildenden Kunst. Aus der Höhe und Ferne betrachtet, ist es
sehr nebensächlich, zu welchen sprachlich ausgedrückten »Wahrheiten«
diese Denker innerhalb ihrer Schulen überhaupt gelangt sind - denn
Schule, Konvention und Formenschatz sind hier wie in jeder großen
Kunst die grundlegenden Elemente. Unendlich wichtiger als die Antworten
sind die Fragen, und zwar hinsichtlich ihrer Auswahl und inneren Form,
denn die besondere Art, wie ein Makrokokosmos vor dem verstehenden
Auge des Menschen einer bestimmeten Kultur daliegt, gestaltet im voraus
die gesamte Not und Art des Fragens. (Ebd., S. 467).
Die antike und faustische Kultur haben nicht weniger wie die indische
und chinesische ihre eigne Art, und zwar werden ihre großen Fragen
alle am Anfang gestellt. Es gibt kein modernes Problem, das nicht schon
die Gotik gesehen und in Form gebracht hätte. Es gibt kein hellenistisches,
das nicht in den altorphischen Tempellehren zuerst aufgetaucht sein muß.
(Ebd., S. 467).
Es ist Nebensache, ob diese Sitte des grüblerischen Denkens
in mündlicher Tradition oder in Büchern zum Ausdruck kommt,
ob diese Schriften persönliche Schöpfungen eines Ich
sind wie in unserer Literatur, oder eine anonyme, beständig schwankende
Textmasse wie in der indischen, ob eine Reihe begrifflicher Systeme entsteht
oder die letzten Einsichten in den Ausdruck von Kunst und Religion verkleidet
bleiben wie in Ägypten. Aber der Gang dieser Lebensläufe von
Denkweisen ist überall der gleiche. Am Anfang jeder Frühzeit,
verschwistert mit der großen Architektur und Religion, ist Philosophie
der geistige Widerhall eines gewaltigen metaphysischen Erlebens und dazu
bestimmt, die heilige Kausalität des gläubig geschauten Weltbildes
kritisch zu bestätigen. (Vgl. S. 881 ff., 927
ff..) Nicht nur die naturwissenschaftlichen, sondern schon die
philosophischen Grundunterscheidungen sind abhängig und abgelöst
von den Elementen der zugehörigen Religion. In dieser Frühzeit
sind die Denker Priester, nicht nur dem Geist, sondern selbst dem
Stande nach. Das gilt von Scholastik und Mystik der gotischen und vedischen
wie der homerischen64 und früharabischen Jahrhunderte. (Vgl.
S. 903 f. Vielleicht ist der seltsame Stil Heraklits, welcher aus einem
Priestergeschlecht des Tempels von Ephesus stammte, eine Probe der Form,
in welcher die altorphische Weisheit mündlich überliefert wurde.)
Erst mit Anbruch der Spätzeit wird die Philosophie städtisch
und weltlich. Sie befreit sich aus der Dienstbarkeit der Religion und
wagt es, diese selbst zum Objekt erkenntniskritischer Methoden zu machen.
Denn das große Thema der brahmanischen, ionischen und Barockphilosophie
ist das Erkenntnisproblem. Der städtische Geist wendet sich seinem
eigenen Bilde zu, um festzustellen, daß es für das Wissen keine
höhere Instanz gebe als ihn. Deshalb tritt das Denken nunmehr in
die Nachbarschaft der höheren Mathematik, und statt der Priester
finden wir Leute von Welt, Staatsmänner, Kaufherren, Entdecker, in
hohen Stellungen und großen Aufgaben erprobt, deren »Denken
über das Denken« sich auf einer tiefen Lebenserfahrung aufbaut.
Das ist die Reihe großer Gestalten von Thales bis Protagoras, von
Bacon bis Hume, die Reihe der vorkonfuzianischen und vorbuddhistischen
Denker, von denen wir nicht viel mehr wissen, als daß sie dagewesen
sind. (Ebd., S. 467-468).
An ihrem Ende stehen Kant und Aristoteles. ().
Was nach ihnen beginnt, ist Philosophie der Zivilisation. Es gibt in jeder
großen Kultur ein aufsteigendes Denken, das die Urfragen am Anfang
stellt und sie mit steigender Gewalt des geistigen Ausdrucks in immer
neuen Antworten erschöpft, ... und ein absteigendes, für das
die Erkenntnisprobleme irgendwie fertig, überholt, bedeutungslos
geworden sind. Es gibt eine metaphysische Periode, zuerst von religiöser,
zuletzt von rationalistischer Fassung, wo das Denken und Leben noch Chaos
in sich hat und aus einer Überfülle heraus weltgestaltend wirkt,
und eine ethische, in welcher das großstädtisch gewordenen
Leben sich selbst fragwürdig erscheint und den Rest philosophischer
Gestaltungskraft auf seine eigene Haltung und Erhaltung verwenden muß.
In der einen offenbart sich das Leben; die zweite hat das Leben
zum Gegenstand. Die eine ist »theoretisch«, schauend
im großen Sinne, die andre notgedrungen praktisch. Noch das kantische
System ist in seinen tiefsten Zügen geschaut und danach
erst logisch und systematisch formuliert und geordnet worden.
(Ebd., S. 468-469).
Ein Beweis ist Kants Verhältnis zur Mathematik. Wer nicht
in die Formenwelt der Zahlen eingedrungen ist, wer sie nicht als Symbole
in sich erlebt hat, ist kein echter Metaphysiker. In der Tat waren es
die großen Denker des Barock, welche die Analysis geschaffen haben,
und das Entsprechende gilt von den Vorsokratikern und Plato. Descartes
und Leibniz sind neben Newton und Gauß, Pythagoras und Plato neben
Archytas und Archimedes Gipfel der mathematischen Entwicklung. Aber schon
Kant ist als Mathematiker bedeutungslos. Er ist in die letzten Feinheiten
der damaligen Infinitesimalrechnung so wenig eingedrungen, als er Leibnizens
Axiomatik sich zu eigen gemacht hat. Darin gleicht er seinem »Zeitgenossen«
Aristoteles, und von nun an zählt kein Philosoph in der Mathematik
mehr mit. Fichte, Hegel, Schelling und die Romantiker sind völlig
unmathematisch, so gut wie Zenon und Epikur. Schopenhauer ist auf diesem
Gebiet schwach bis zur Borniertheit, von Nietzsche ganz zu schweigen.
Mit der Formenwelt der Zahlen ging eine großen Konvention verloren.
Seitdem fehlt es nicht nur an einer Tektonik der Systeme, es fehlt auch
an dem, was man den großen Stil des Denkens nennen darf. Schopenhauer
hat sich selbst einen Gelegenheitsdenker genannt.. (Ebd., S. 469-470).
Die Ethik ist über ihren Rang als Teil einer abstrakten Theorie
hinausgewachsen. Von nun an ist sie die Philosophie, welche die
andern Gebiete sich einverleibt; das praktische Leben rückt in den
Mittelpunkt der Betrachtung. Die Leidenschaft des reinen Denkens sinkt.
Die Metaphysik, Herrin von gestern, wird zu Dienerin von heute. Sie hat
nur noch das Fundament zu liefern, das eine praktische Gesinnung trägt.
Und das Fundament wird immer überflüssiger. Man vernachlässigt,
man verspottet das Metaphysische, das Unpraktische, die »Steine
statt des Brotes«. Bei Schopenhauer ist es das vierte Buch, um dessentwillen
die drei ersten da sind. Kant glaubte nur, daß es bei ihm ebenso
sei. In der Tat ist ihm noch die reine, nicht die praktische Vernunft
Mittelpunkt der Schöpfung. Genau so scheidet sich die antike Philosophie
vor und nach Aristoteles: dort ein groß aufgefaßter Kosmos,
kaum bereichert durch eine formale Ethik, hier die Ethik selbst als Programm,
als Not, auf der Basis einer nebenher und flüchtig konzipierten Metaphysik.
Und man fühlt, daß die logische Gewissenlosigkeit, mit der
zum Beispiel Nietzsche solche Theorien schnell hinwirft, gar nicht imstande
ist, den Wert seiner eigentlichen Philosophie herabzusetzen. (Ebd.,
S. 470).
.Bekanntlich ist Schopenhauer nicht von seiner Metaphysik zum
Pessimismus, sondern vom Pessimismus, der ihn in seinem 17. Jahre überfiel,
zur Entwicklung seines Systems gekommen. Shaw, ein sehr merkwürdiger
Zeuge, macht im Ibsenbrevier darauf aufmerksam, daß man bei Schopenhauer
wie er sich ausdrückt sehr wohl seine Philosophie annehmen
kann, während man seine Metaphysik ablehnt. Damit ist ganz richtig
das gesondert, wodurch er der erste Denker der neuen Zeit war, und das,
was einer veralteten Tradition nach damals noch zu einer vollständigen
Philosophie gehörte. Niemand würde diese Trennung bei Kant vornehmen.
Sie würde auch nicht gelingen. Bei Nietzsche aber läßt
sich leicht feststellen, daß seine »Philosophie« durchaus
ein inneres, sehr frühes Erlebnis war, während er seinen Bedarf
an Metaphysik an der Hand einiger Bücher schnell und oft mangelhaft
genug deckte und nicht einmal seine ethische Lehre exakt darzustellen
vermocht hat. Genau dieselbe Überlagerung einer lebendigen, zeitgemäßen,
ethischen und einer von der Gewohnheit geforderten, entbehrlichen metaphysischen
Gedankenschicht läßt sich bei Epikur und den Stoikern nachweisen.
Diese Erscheinung gestattet über das Wesen einer zivilisierten Philosophie
keinen Zweifel. (Ebd., S. 470-471).
Die strenge Metaphysik hat ihre Möglichkeiten erschöpft.
Die Weltstadt hat das Land endgültig überwunden, und ihr Geist
bildet sich jetzt eine eigne, notwendigerweise nach außen gerichtete,
mechanistische, seelenlose Theorie. Mit einem gewissen Recht sagt man
von nun an Gehirn statt Seele. Und da im westeuropäischen »Gehirn«
der Wille zur Macht, die tyrannische Richtung auf die Zukunft, auf Organisation
der Gesamtheit nach praktischem Ausdruck verlangt, so nimmt die Ethik,
je mehr sie ihre metaphysische Vergangenheit aus den Augen verliert, sozialethischen
und nationalökonomischen Charakter an. Die
von Hegel und Schopenhauer ausgehende Philosophie - soweit sie den Geist
der Zeit repräsentiert - was Lotze und Herbart z.B. nicht tun -,
ist Gesellschaftskritik. (Ebd., S. 471).
Die Aufmerksamkeit, welche der Stoiker dem eigenen Körper
zuwendet, widmet der abendländische Denker dem Gesellschaftskörper.
Es ist kein Zufall, daß aus der Schule Hegels der Sozialismus (Marx,
Engels), der Anarchismus (Stirner) und die Problematik des sozialen Dramas
(Hebbel) hervorgingen. Es ist kein Zufall, daß aus der Schule Hegels
der Sozialismus (Marx, Engels), der Anarchismus (Stirner) und die Problematik
des sozialen Dramas (Hebbel) hervorgingen. Der Sozialismus ist die ins
Ethische, und zwar ins Imperativische umgewandte Nationalökonomie.
Solange es eine Metaphysik großen Stils gab, bis auf Kant, blieb
die Nationalökonomie eine Wissenschaft. Sobald »Philosophie«
gleichbedeutend mit praktischer Ethik wurde, trat sie an Stelle der Mathematik
als Unterlage des Weltdenkens. Darin liegt die Bedeutung von Cousin,
Bentham, Comte, Mill und Spencer. (Ebd., S. 471).
Es steht dem Philosophen nicht frei, seine
Stoffe zu wählen, so wenig die Philosophie immer und überall
dieselben Stoffe hat. Es gibt keine ewigen Fragen; es gibt nur Fragen,
die aus einem bestimmten Dasein heraus gefühlt und gestellt werden.
»Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis« ()
das gilt auch von jeder echten Philosophie als dem geistigen Ausdruck
dieses Daseins, als der Verwirklichung seelischer Möglichkeiten ()
in einer Formenwelt von Begriffen, Urteilen und Gedankenbauten, zusammengefaßt
in der lebendigen Erscheinung ihres Urhebers. Eine jede ist vom ersten
bis zum letzten Wort, vom abstraktesten Thema bis zum persönlichsten
Charakterzug ein Gewordnes, aus der Seele in die Welt, aus dem Reiche
der Freiheit in das der Notwendigkeit, aus dem unmittelbar Lebendigen
ins Räumlich-Logische hinübergespiegelt und mithin vergänglich,
von bestimmtem Tempo, von bestimmter Lebensdauer. Deshalb liegt eine strenge
Notwendigkeit in der Wahl des Themas. Jede Epoche hat ihr eignes,
das für sie und keine andre bedeutend ist. Hier sich nicht zu vergreifen,
kennzeichnet den geborenen Philosophen. Der Rest der philosophischen Produktion
ist belanglos, bloße Fachwissenschaft, langweilige Häufung
systematischer und begrifflicher Subtilitäten. (Ebd., S. 471-472).
Und deshalb ist die kennzeichnende Philosophie des 19. Jahrhunderts
nur Ethik, nur Gesellschaftskritik in produktivem Sinne und nichts außerdem.
Deshalb sind, von Praktikern abgesehen, Dramatiker das entspricht
der faustischen Aktivität ihre bedeutendsten Vertreter, neben
denen kein einziger Kathederphilosoph mit seiner Logik, Psychologie oder
Systematik in Betracht kommt. Nur dem Umstände, daß diese Unbedeutenden,
bloße Gelehrte, immer auch die Geschichte der Philosophie
und was für eine Geschichte! Eine Sammlung von Daten und »Ergebnissen«
geschrieben haben, verdankt man es, daß niemand heute weiß,
was Geschichte der Philosophie ist und was sie sein könnte.
(Ebd., S. 472).
Die tiefe organische Einheit im Denken dieser Epoche ist deshalb
noch nie durchschaut worden. Man kann ihren philosophischen Kern dadurch
auf eine Formel bringen, daß man sich fragt, inwiefern Shaw der
Schüler und Vollender Nietzsches ist. Diese Beziehung ist durchaus
nicht ironisch gemeint. Shaw ist der einzige Denker von Rang, der konsequent
in der Richtung des echten Nietzsche fortgeschritten ist, nämlich
als produktiver Kritiker der abendländischen Moral, wie er andrerseits
als Dichter die letzten Konsequenzen Ibsens zog und den Rest künstlerischer
Gestaltung in seinen Stücken zugunsten praktischer Diskussionen aufgab.
(Ebd., S. 472-473).
Nietzsche ist in allem und jedem, soweit
nicht der verspätete Romantiker in ihm Stil, Klang und Haltung seiner
Philosophie bestimmt hat, ein Schüler materialistischer Jahrzehnte
gewesen. Was ihn an Schopenhauer leidenschaftlich anzog, ohne daß
es ihm oder irgend jemand anders zum Bewußtsein gekommen wäre,
ist dasjenige Element seiner Lehre, durch welches er die Metaphysik großen
Stils zerstört, durch das er seinen Meister Kant unfreiwillig parodiert
hat, die Wendung aller tiefen Begriffe des Barock ins Handgreifliche und
Mechanistische. Kant redet in unzulänglichen Worten, hinter denen
sich eine gewaltige, schwer zugängliche Intuition verbirgt, von der
Welt als Erscheinung; Schopenhauer nennt das die Welt als Gehirnphänomen.
In ihm vollzieht sich die Wendung der tragischen Philosophie zum philosophischen
Plebejertum. Es genügt, eine Stelle zu zitieren. In der »Welt
als Wille und Vorstellung« (Band II, Kapitel 19)
heißt es: »Der Wille, als das Ding an sich, macht das innere,
wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus: an sich selbst ist
er jedoch bewußtlos. Denn das Bewußtsein ist bedingt durch
den Intellekt, und dieser ist ein bloßes Akzidenz unseres Wesens;
denn er ist eine Funktion des Gehirns, welches, nebst den ihm anhängigen
Nerven und Rückenmark, eine bloße Frucht, ein Produkt, ja insofern
ein Parasit des übrigen Organismus ist, als es nicht direkt eingreift
in dessen inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß
dadurch dient, daß es die Verhältnisse desselben zur Außenwelt
reguliert.« ().
Das ist genau die Grundansicht des seichtesten Materialismus. Nicht umsonst
war Schopenhauer, wie einst Rousseau, zu den englischen Sensualisten in
die Lehre gegangen. Dort lernte er Kant im Geiste der großstädtischen,
aufs Zweckmäßige gerichteten Modernität mißverstehen.
Der Intellekt als Werkzeug des Willens zum Leben (auch der moderne Gedanke,
daß die unbewußten, triebhaften Lebensakte Vollkommenes bewirken,
während es der Intellekt nur zu stümperhaften Leistungen bringt,
findet sich bei ihm [Band II, Kap. 30]),
als Waffe im Kampf ums Dasein, das, was Shaw in eine groteske dramatische
Formel gebracht hat (in »Mensch und Übermensch«, 1903),
dieser Weltaspekt Schopenhauers war es, der ihn beim Erscheinen von Darwins
Hauptwerk (1859) mit einem Schlage zum Modephilosophen machte. Er war
im Gegensatz zu Schelling, Hegel und Fichte der einzige, dessen metaphysische
Formeln dem geistigen Mittelstand ohne Schwierigkeit eingingen. Seine
Klarheit, auf die er stolz war, ist in jedem Augenblick in Gefahr, sich
als Trivialität zu enthüllen. Hier konnte man, ohne auf Formeln
zu verzichten, die eine Atmosphäre von Tiefsinn und Exklusivität
um sich breiteten, die gesamte zivilisierte Weltanschauung sich zu eigen
machen. Sein System ist antizipierter Darwinismus,
dem die Sprache Kants und die Begriffe der Inder nur zur Verkleidung dienten.
In seinem Buche »Über den Willen in der Natur« (1835)
finden wir schon den Kampf um die Selbstbehauptung in der Natur, den menschlichen
Intellekt als die wirksamste Waffe in ihm, die Geschlechtsliebe als die
unbewußte Wahl aus biologischem Interesse. (Im Kapitel »Zur
Metaphysik der Geschlechtsliebe« [in: Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, Band II, Kapitel 44]
ist der Gedanke der Zuchtwahl als des Mittels zur Erhaltung der Gattung
in vollem Umfang vorweggenommen.). Es ist die Ansicht, welche Darwin auf
dem Umweg über Malthus mit unwiderstehlichem Erfolg in das Bild der
Tierwelt hineingedeutet hat. ().
(Ebd., S. 473-474).
Die nationalökonomische Herkunft des Darwinismus wird bewiesen
durch die Tatsache, daß dieses System, von der Menschenähnlichkeit
höherer Tiere aus gedacht, schon auf die Pflanzenwelt nicht mehr
paßt und in Albernheiten ausartet, wenn man es mit seiner Willenstendenz
(Zuchtwahl, mimicry) auch auf primitive organische Formen ernsthaft
anwenden will. Beweisen nennt der Darwinist, eine Auswahl von Tatsachen
so ordnen und bildhaft so erklären, daß sie seinem historisch-dynamischen
Grundgefühl »Entwicklung« entspricht. Der »Darwinismus«,
d.h. jene Summe sehr verschiedenartiger und einander widersprechender
Ansichten, deren Gemeinsames lediglich die Anwendung des Kausalprinzips
auf Lebendiges, also Methode, nicht Resultat ist, war schon im 18. Jahrhundert
in allen Einzelheiten bekannt. Die Affentheorie verteidigt Rousseau schon
1754. Von Darwin stammt nur das manchesterliche System, dessen Volkstümlichkeit
sich aus dem latenten politischen Gehalt erklärt. Hier offenbart
sich die geistige Einheit des Jahrhunderts. Von Schopenhauer bis zu Shaw
haben alle, ohne es zu ahnen, dasselbe Prinzip in Form gebracht. Sie werden
alle vom Entwicklungsgedanken geleitet, auch die, welche wie Hebbel nichts
von Darwin wußten, und zwar nicht in seiner tiefen Goetheschen,
sondern in seiner flachen zivilisierten Fassung, mag sie nun nationalökonomisches
oder biologisches Gepräge tragen. Auch innerhalb der Entwicklungsidee,
die durch und durch faustisch ist, die im strengsten Gegensatz zur zeitlosen
aristotelischen Entelechie einen leidenschaftlichen Drang der unendlichen
Zukunft entgegen offenbart, einen Willen, ein Ziel, die
a priori die Form unserer Naturanschauung darstellt und
als Prinzip gar nicht erst entdeckt zu werden brauchte, weil sie dem faustischen
Geist - und ihm allein - immanent ist, vollzog sich die Wandlung von der
Kultur zur Zivilisation. Bei Goethe ist sie erhaben, bei Darwin flach,
bei Goethe organisch, bei Darwin mechanisch, bei jenem Erlebnis und Sinnbild,
bei diesem Erkenntnis und Gesetz. Dort heißt sie innere Vollendung,
hier »Fortschritt«. Darwins Kampf ums Dasein, den er in die
Natur hinein, nicht aus ihr herauslas, ist nur die plebejische Fassung
jenes Urgefühls, das in Shakespeares Tragödien die großen
Wirklichkeiten gegeneinander bewegt. Was dort als Schicksal innerlich
angeschaut, gefühlt und in Gestalten verwirklicht wurde, das wurde
hier als Kausalzusammenhang begriffen und in ein Oberflächensystem
von Zweckmäßigkeiten gebracht. Und dieses System, nicht jenes
Urgefühl, liegt den Reden Zarathustras, der Tragik der »Gespenster«,
der Problematik des Nibelungenrings zugrunde. Nur daß Schopenhauer,
an den Wagner sich hielt, als der erste der Reihe seine eigne kenntnis
entsetzt wahrnahm - dies ist die Wurzel seines Pessimismus, der in der
Tristanmusik den höchsten Ausdruck fand -, während die Späteren,
Nietzsche voran, sich an ihr, etwas gewaltsam zuweilen, begeisterten.
(Ebd., S. 474-475).
In
Nietzsches Bruch mit Wagner, diesem letzten Ereignis des deutschen Geistes, über
dem Größe liegt, verbirgt sich sein Wechsel des Lehrmeisters, sein
unbewußter Schritt von Schopenhauer zu Darwin, von der metaphysischen zur
physiologischen Formulierung desselben Weltgefühls, von der Verneinung zur
Bejahung des Aspekts, den beide anerkennen, nämlich des Willens zum
Leben, der mit dem Kampf ums Dasein identisch ist. In »Schopenhauer als
Erzieher« bedeutet Entwicklung noch inneres Reifen; der Übermensch
ist das Produkt einer mechanischen »Evolution«. So ist der »Zarathustra«
ethisch aus einem unbewußten Widerspruch gegen den »Parsifal«,
künstlerisch durchaus von diesem bestimmt, aus der Eifersucht eines Verkünders
auf den anderen entstanden. (Ebd., S. 475-476).
Aber Nietzsche war auch Sozialist, ohne es zu wissen. Nicht seine
Schlagworte, seine Instinkte waren sozialistisch, praktisch, auf das physiologische
»Heil der Menschheit« gerichtet, woran Goethe und Kant nie
gedacht hatten. Materialismus, Sozialismus, Darwinismus sind nur künstlich
und an der Oberfläche trennbar. So war es möglich, daß
Shaw den Tendenzen der Herrenmoral und der Züchtung des Übermenschen
nur eine kleine und sogar folgerichtige Wendung zu geben brauchte, um
im dritten Akt von »Mensch und Übermensch«, einem der
wichtigsten und bezeichnendsten Werke am Ausgang der Epoche, die eigentliche
Maxime seines Sozialismus zu erhalten. Shaw hat da nur ausgesprochen,
aber rücksichtlos, klar, mit dem vollen Bewußtsein einer Trivialität,
was ursprünglich, mit aller Theatralik Wagners und aller Verschwommenheit
der Romantik, in den nicht ausgeführten Teilen des Zarathustra gesagt
werden sollte. Man muß nur die notwendigen praktischen, aus
der Struktur des gegenwärtigen öffentlichen Lebens folgenden
Voraussetzungen und Konsequenzen der Gedankengänge Nietzsches zu
finden wissen. Er bewegt sich in unbestimmten Wendungen wie »neue
Werte«, »Übermensch«, »Sinn der Erde«
und hütet oder fürchtet sich, das genauer zu fassen. Shaw tut
es. Nietzsche bemerkt, daß die darwinistische Idee des Übermenschen
den Begriff der Züchtung heraufruft, aber er bleibt bei dem klangvollen
Ausdruck stehen. Shaw fragt weiter - denn es hat keinen Zweck, darüber
zu reden, wenn man nichts tun will -, wie das zu geschehen hat,
und er kommt dazu, die Verwandlung der Menschheit in ein Gestüt zu
verlangen. Aber das ist lediglich die Konsequenz Zarathustras, zu der
er selbst nur nicht den Mut, sei es auch den Mut der Geschmacklosigkeit,
hatte. Wenn man von planmäßiger Züchtung redet, einem
vollkommen materialistischen und utilitarischen Begriff, so ist man eine
Antwort darauf schuldig, wer zu züchten hat, wen, wo und wie. Allein
Nietzsches romantische Abneigung, die sehr prosaischen sozialen Folgerungen
zu ziehen, seine Furcht, poetische Gedanken durch Gegenüberstellung
mit nüchternen Tatsachen einer Kraftprobe auszusetzen, ließen
ihn darüber schweigen, daß seine ganze Lehre, wie sie aus dem
Darwinismus stammt, auch den Sozialismus, und zwar den sozialistischen
Zwang als Mittel voraussetzt; daß jeder systematischen
Züchtung einer Klasse höherer Menschen eine streng sozialistische
Gesellschaftsordnung voraufgehen muß und daß diese »dionysische«
Idee, da es sich um eine gemeinsame Aktion und nicht um eine Privatsache
abseits lebender Denker handelt, demokratisch ist, mag man sie wenden,
wie man will. Damit hat die ethische Dynamik des »Du
sollst« ihren Gipfel erreicht: um der Welt die Form seines Willens
aufzuerlegen, opfert der faustische Mensch sich selbst. (Ebd., S.
476-477).
Die
Züchtung des Übermenschen folgt aus dem Begriff der Zuchtwahl.
Nietzsche war, seit er Aphorismen schrieb, unbewußt ein Schüler Darwins,
aber Darwin selbst hatte den Entwicklungsgedanken des 18. Jahrhunderts durch
nationalökonomische Tendenzen umgeprägt, die er von seinem Lehrer Malthus
nahm und in das höchste Tierreich projizierte. ().
Malthus hatte die Fabrikindustrie von Lancaster studiert, und man findet das ganze
System, statt auf Tiere auf Menschen angewendet, schon in Buckles Geschichte der
englischen Zivilisation (1857). (Ebd., S. 477).Und
so stammt die »Herrenmoral« dieses letzten Romantikers auf einem merkwürdigen,
aber für den Sinn der Zeit bezeichnenden Wege aus der Quelle aller geistigen
Modernität, der Atmosphäre der englischen Maschinenindustrie. Der Macchiavellismus,
den Nietzsche als Renaissance-Erscheinung pries und dessen Verwandtschaft mit
Darwins Begriff der mimicry man nicht übersehen sollte, war tatsächlich
der im »Kapital« von Marx - dem andern berühmten Jünger
von Malthus - behandelte, und die Vorstufe dieses seit 1867 erscheinenden Grundbuches
des politischen (nicht des ethischen) Sozialismus, die Schrift »Zur Kritik
der politischen Ökonomie«, erschien gleichzeitig mit Darwins Hauptwerk.
Das ist die Genealogie der Herrenmoral. Der »Wille zur Macht«, ins
Reale, Politische, Nationalökonomische übersetzt, findet seinen stärksten
Ausdruck in Shaws »Major Barbara« (1905). Sicherlich ist Nietzsche
als Persönlichkeit der Gipfel dieser Reihe von Ethikern, aber hier reicht
Shaw, der Parteipolitiker, als Denker an ihn heran. Der Wille zur Macht ist heute
durch die beiden Pole des öffentlichen Lebens, die Arbeiterklasse und die
großen Geld- und Gehirnmenschen, viel entschiedener vertreten als je durch
einen Borgia. Der Milliardär Undershaft in dieser besten
Komödie Shaws ist Übermensch. Nur hätte Nietzsche, der Romantiker,
sein Ideal nicht wiedererkannt. Er sprach stets von einer Umwertung aller Werte,
von einer Philosophie der Zukunft, also doch zunächst der westeuropäischen
und nicht chinesischen oder afrikanischen Zukunft, aber wenn seine immer in dionysischer
Ferne verschwimmenden Gedanken sich wirklich einmal zu greifbaren Gebilden verdichteten,
so erschien ihm der Wille zur Macht unter dem Bilde von Dolch und Gift und nicht
von Streiks und der Energie des Geldes. Trotzdem hat er erzählt, daß
die Idee ihm zuerst im Kriege von 1870 und beim Anblick preußischer Regimenter,
die zur Schlacht marschierten, aufgegangen sei. (Ebd., S. 477-478). Das
Drama dieser Epoche ist nicht mehr Dichtung im alten, im Kultursinne, sondern
eine Form der Agitation, Debatte und Beweisführung: die Schaubühne wurde
durchaus »als moralische Anstalt« betrachtet. Selbst Nietzsche neigte
wiederholt zu dramatischer Fassung seiner Gedanken. Richard Wagner hat in seiner
Nibdungendichtung, vor allem in der frühesten Fassung um 1850, seine sozialrevolutionären
Ideen niedergelegt, und Siegfried ist auf dem Umweg über künstlerische
und außerkünstlerische Einwirkungen noch im vollendeten »Ring«
ein Sinnbild des vierten Standes, der Fafnirhort eines des Kapitalismus, Brünhilde
das des »freien Weibes« geblieben. Die Musik zur geschlechtlichen
Zuchtwahl, deren Theorie, die »Abstanunung der Arten«, 1859 erschien,
findet sich eben damals im dritten Akte des Siegfried und im Tristan. Es ist kein
Zufall, daß Wagner, Hebbel und Ibsen beinahe gleichzeitig die Dramatisierung
des Nibelungenstoffes unternahmen. Hebbel, als er ... Schriften von Friedrich
Engels kennenlernt, drückt sein Erstaunen darüber aus (Brief vom 2.
April 1844), daß er das soziale Prinzip der Zeit, wie er es eben damals
in einem Drama, »Zu irgend einer Zeit« darstellen wollte, ganz ebenso
aufgefaßt habe wie der Verfasser des kommunistischen Manifestes, und bei
seiner ersten Bekanntschaft mit Schopenhauer (Brief vom 29. März 1857) überrascht
ihn auch die Verwandtschaft der »Welt als Wille und Vorstellung« mit
wichtigen Tendenzen, die er seinem Holofernes und »Herodes und Marianne«
zugrunde gelegt hatte. Hebbels Tagebücher, deren wichtigster Teil zwischen
1835 und 1845 niedergeschrieben wurde, sind eine der tiefsten philosophischen
Leistungen des Jahrhunderts, ohne daß er sich dessen bewußt gewesen
wäre. Man würde nicht erstaunt sein, ganze Sätze von ihm wörtlich
bei Nietzsche zu finden, der ihn nie gekannt und nicht immer erreicht hat.
(Ebd., S. 478-479). Ich
gebe hier eine Übersicht über die wirkliche Philosophie des 19. Jahrhunderts,
deren einziges und eigenstes Thema der Wille zur Macht in einer zivilisiert-intellektuellen,
ethischen oder sozialen Gestalt, als Wille zum Leben, als Lebenskraft, als praktisch-dynamisches
Prinzip, als Begriff oder dramatische Gestalt ist. Die mit Shaw abgeschlossene
Periode entspricht der antiken zwischen 350 und 250. Der Rest ist, mit Schopenhauer
zu reden, Professorenphilosophie von Philosophieprofessoren.1818 | Schopenhauer,»Die
Welt als Wille und Vorstellung«: der Wille zum Leben zum ersten Mal als
einzige Realität (»Urkraft«) in den Mittelpunkt gestellt, aber
noch unter dem Eindruck des voraufgegangenen Idealismus zur Verneinung empfohlen. | 1835 | Schopenhauer,Ȇber
den Willen in der Natur«: Antizipation des Darwinismus, aber metaphysisch
verkleidet. | 1840 |
Proudhon, »Quest-ce que la propriété«:
Grundlage des Anarchismus. - Comte, »Cours de philosophie positive«:
die Formel »ordre et progrès«. | 1841 | Hebbel,
»Judith«: erste dramatische Konzeption des »neuen Weibes«
und des Übermenschen (Holofernes). - Feuerbach, »Wesen des Christentums«. | 1844 | Engels,
»Urnriß einer Kritik der Nationalökonomie«: Grundlage der
materialistischen Geschichtsauffassung. - Hebbel, »Maria Magdalena«:
das erste soziale Drama. | 1847 | Marx,
»Das Elend der Philosophie« (Synthese von Hegel und Malthus). Diese
Jahre sind die entscheidende Epoche, mit welcher die Nationalökonomie die
Sozialethik und Biologie zu beherrschen beginnt. | 1848 | Wagner,
»Siegfrieds Tod«: Siegfried als sozialethischer Revolutionär,
der Fafnirhort als Symbol des Kapitalismus. | 1850 | Wagner,
»Kunst und Klima«: das Sexualproblem. | 1850-'58 | Wagners,
Hebbels und Ibsens Nibelungendichtungen. | 1859 |
ein symbolisches Zusammentreffen: Darwin, »Entstehung
der Arten durch natürliche Zuchtwahl« (Anwendung der Nationalökonomie
auf die Biologie) und Wagner, »Tristan und Isolde«, -
Marx, »Zur Kritik der politischen Ökonomie«. |
1863 |
J. St. Mill, »Utilitarianism«. | 1865 |
Dühring, »Wert des Lebens«, selten genannt, aber von höchstem
Einfluß auf die nächste Generation. | 1867 |
Ibsen, »Brand« und »Das Kapital« von Marx. | 1878 | Wagner,
»Parsifal«: erste Auflösung des Materialismus in Mystizismus. | 1879 | Ibsen,
»Nora«. | 1881 | Nietzsche,
»Morgenröte«: Übergang von Schopenhauer zu Darwin, die Moral
als biologisches Phänomen. | 1883 | Nietzsche,
»Also sprach Zarathustra«: der Wille zur Macht, aber romantisch verkleidet. | 1886 |
Ibsen, »Rosmersholm« (die »Adelsmenschen«) und Nietzsche,
»Jenseits von Gut und Böse«. | 1887/'88 |
Strindberg, »Vater« und »Fräulein Julie«. | 1890 |
der nahende Abschluß der Epoche: die religiösen Werke Strindbergs,
die symbolistischen Ibsens. | 1896 |
Ibsen, »John Gabriel Borkman«: der Übermensch. | 1898 | Strindberg,
»Nach Damaskus«. | Seit
1900 | die letzten Erscheinungen | 1903 |
Weininger, »Geschlecht und Charakter«: der einzige ernste Versuch,
Kant durch Beziehung auf Wagner und Ibsen innerhlb dieser Epoche wiederzubeleben. | 1903 | Shaw,
»Mensch und Übermensch«: letzte Synthese von Darwin und Nietzsche.
| 1905 | Shaw,
»Major Barbara«: der Typus des Übermenschen auf einen wirtschaftspolitischen
Ursprung zurückgeführt. |
Damit hat sich, nach der metaphysischen Periode, auch
die ethische erschöpft. Der ethische Sozialismus, von Fichte, Hegel,
Humboldt vorbereitet, hatte die Zeit seiner leidenschaftlichen Größe
um die Mitte des 19. Jahrhunderts. An dessen Ende war er bereits im Stadium
der Wiederholungen engelangt, und das 20. Jahrhundert hat unter Beibehaltung
des Wortes Sozialismus, an Stelle einer ethischen Philosophie, die
nur Epigonen als unvollendet erscheint, eine Praxis wirtschaftlicher Tagesfragen
gesetzt. Die ethische Weltstimmung des Abendlandes wird eine »sozialistische«
bleiben, aber die Theorie hat aufgehört, Problem zu sein. (Ebd.,
S. 479-481).
Es
besteht die Möglichkeit einer dritten und letzten Stufe westeuropäischer
Philosophie: die eines physiognomischen Skeptizismus. Das Geheimnis der Welt erscheint
nacheinander als Erkenntnisproblem, Wertproblem, Formproblem. Kant sah die Ethik
als Erkenntnisgegenstand, das 19. Jahrhundert sah die Erkenntnis als Gegenstand
der Wertung. Der Skeptiker würde beides lediglich als historischen
Ausdruck einer Kultur betrachten. (Ebd., S. 481).
Faustische und apollinische Naturerkenntnis (S. 482-553):
Die Theorie als Mythos [S. 482] Jede Naturwissenschaft von einer
voraufgegangenen Revolution abhängig [S. 487] Statik, Alchymie, Dynamik
als Theorien dreier Kulturen [S. 489] Atomlehren [S. 492] Unlösbarkeit
des Bewegungsproblems [S. 497] Stil des kausalen Geschehens,
der Erfahrung [S. 502] Gottgefühl und Naturerkenntnis
[S. 506] Der große Mythos [S. 512] Antike, magische, faustische
numina [S. 517] Der Atheismus [S. 525] Die faustische Physik
als das Dogma von der Kraft [S. 530] Grenzen ihrer theoretischen
nicht technischen Fortentwicklung [S. 538] Selbstzerstörung
der Dynamik; Eindringen geschichtlicher Vorstellungen [S. 543] Ausgang
der Theorie: Auflösung in ein System morphologischer Verwandtschaften [S.
547].In einer berühmt gewordenen Rede sagte Helmholtz
()
1869: »Das Endziel der Naturwissenschaft ist, die allen Veränderungen
zugrunde liegenden Bewegungen und deren Triebkräfte zu finden, also sich
in Mechanik aufzulösen.« In Mechanik, das bedeutet die Zurückführung
aller qualitativen Eindrücke auf unveränderliche quantitative Grundwerte,
auf Ausgedehntes also und dessen Ortsveränderung; das bedeutet
weiterhin, wenn man sich des Gegensatzes von Werden und Gewordnem, Erlebtem und
Erkanntem, von Gestalt und Gesetz, Bild und Begriff erinnert, die Zurückführung
des gesehenen Naturbildes auf das vorgestellte Bild einer einheitlichen,
zahlenmäßigen Ordnung von meßbarer Struktur. Die eigentliche
Tendenz aller abendländischen Mechanik geht auf eine geistige Besitzergreifung
durch Messung; sie ist deshalb genötigt, das Wesen der Erscheinung in
einem System konstanter, der Messung restlos zugänglicher Elemente zu suchen,
deren wichtigstes nach der Definition von Helmholtz mit dem - der täglichen
Lebenserfahrung entnommenen - Worte Bewegung bezeichnet wird.
(Ebd., S. 482).Die
heutige Physik, als Wissenschaft ein ungeheures System von Kennzeichen
in Gestalt von Namen und Zahlen, das es gestattet, mit der Natur wie mit einer
Maschine zu arbeiten, mag ein genau bestimmbares Endziel haben; als ein Stück
Geschichte mit allen Schicksalen und Zufällen im Leben der beteiligten
Personen und im Gang des Forschens selbst ist die Physik nach Aufgabe, Methode
und Resultat Ausdruck und Verwirklichung einer Kultur, ein organisch sich entwickelnder
Zug ihres Wesens, jedes ihrer Ergebnisse ein Symbol. (Ebd., S. 483-484).
Die »Natur« des antiken Menschen fand ihr höchstes
künstlerisches Sinnbild in der nackten Statue; aus ihr erwuchs folgerichtig
eine Statik von Körpern, eine Physik der Nähe.
Zur arabischen Kultur gehört die Arabeske und die höhlenhafte
Wölbung der Moschee; aus diesem Weltgefühl ist die Alchymie
entstanden mit der Vorstellung von geheimnisvoll wirkenden Substanzen
wie dem »Merkur der Philosophen«, der weder ein Stoff ist
noch eine Eigenschaft, sondern etwas, das in magischer Weise dem farbigen
Dasein von Metallen zugrunde liegt und ihre Verwandlung ineinander bewirken
kann. Die »Natur« des faustischen Menschen endlich hat eine
Dynamik des unbegrenzten Raumes, eine Physik der Ferne hervorgebracht.
Zur ersten gehören die Vorstellungen von Stoff und Form, zur
zweiten gut spinozistisch die von Substanzen und ihren sichtbaren
oder geheimen Attributen, zur dritten die von Kraft und
Masse. Die apollinische Theorie ist ein ruhiges Betrachten, die
magische ein verschwiegenes Wissen um - man kann auch da den religiösen
Ursprung der Mechanik erkennen - die »Gnadenmittel« der Alchymie,
die faustische von Anfang an Arbeitshypothese. Der Grieche fragte
nach dem Wesen des sichtbaren Seins; wir fragen nach der Möglichkeit,
uns der unsichtbaren Triebkräfte des Werdens zu bemächtigen.
Was für jenen die liebevolle Versenkung in den Augenschein, das ist
für uns die gewaltsame Befragung der Natur, das methodische Experiment.
(Ebd., S. 489-490).
Seit Newton besaß die Annahme einer
konstanten Masse das Gegenstück der konstanten Kraft
unbestrittene Gültigkeit. Die Quantentheorie von Planck und die daraus
entwickelten Schlüsse von Niels Bohr auf die Feinstruktur der Atome,
welche auf Grund von experimentellen Erfahrungen notwendig geworden waren,
haben diese Annahme zerstört. Jedes abgeschlossene System besitzt
neben der kinetischen Energie noch die Energie der strahlenden Wärme,
die nicht von ihr trennbar und deshalb durch den Begriff der Masse nicht
rein darstellbar ist. Denn wird die Masse durch die lebendige Energie
definiert, so ist sie im Hinblick auf den thermo-dynamischen Zustand nicht
mehr konstant. Indessen will die Einordnung des elementaren Wirkungsquantums
in den Kreis von Annahmen der klassischen Barockdynamik nicht gelingen,
und zugleich mit dem Grundsatz der Stetigkeit aller kausalen Zusammenhänge
wird das von ... Leibniz begründete Fundament der Infinitesimalrechnung
bedroht. (M. Planck, Die Entstehung und bisherige
Entwicklung der Quantentheorie (1920), S. 17, 25.) Aber weit
über diese Zweifel hinaus greift die Relativitätstheorie, eine
Arbeitshypothese von zynischer Rücksichtslosigkeit, in den Kern der
Dynamik ein. Auf die Versuche von Michelson gestützt, wonach die
Lichtgeschwindigkeit von der Bewegung des durchdrungenen Körpers
unabhängig bleibt, von Lorentz und Minkowski mathematisch vorbereitet,
enthält sie als ihre eigentliche Tendenz die Zerstörung des
Begriffs der absoluten Zeit. Sie kann, worüber man sich heute
bedenklich täuscht, durch astronomische Befunde weder bestätigt
noch widerlegt werden. Richtig und falsch sind überhaupt nicht Begriffe,
womit man über solche Annahmen zu urteilen hat; es handelt sich darum,
ob sie in dem Chaos verwickelter und künstlicher Vorstellungen, das
sich durch die zahllosen Hypothesen der radioaktiven und thermo-dynamischen
Forschung herausgebildet hat, sich als brauchbar durchsetzt oder
nicht. Aber so, wie sie ist, hat sie die Konstanz aller physikalischen
Größen aufgehoben, in deren Definition die Zeit eingegangen
ist, und die abendländische Dynamik besitzt im Gegensatz zur
antiken Statik nur solche Größen. Absolute Längenmaße
und starre Körper gibt es nicht mehr. Damit fällt auch die Möglichkeit
absoluter quantitativer Bestimmungen und also der klassische Begriff der
Masse als das konstante Verhältnis von Kraft und Beschleunigung
nachdem das elementare Wirkungsquantum, ein Produkt aus Energie und Zeit,
soeben als neue Konstante aufgestellt worden war. (Ebd., S. 540-541).
Macht man sich klar, daß die Atomvorstellungen von Rutherford
und Bohr (die vielfach zu der Einbildung geführt
haben, die »wirkliche Existenz« von Atomen sei nunmehr bewiesen,
ein sonderbarer Rückfall in den Materialismus des vorigen Jahrhunderts)
nichts bedeuten, als daß man das zahlenmäßige Ergebnis
von Beobachtungen plötzlich mit einem Bilde unterlegt, das eine Planetenwelt
im Innern des Atoms darstellt, während man bis jetzt die Vorstellung
von Atomschwärmen vorzog; achtet man darauf, wie schnell heute Kartenhäuser
aus ganzen Hypothesenreihen aufgeführt[541] werden, so daß
man jeden Widerspruch durch eine neue, schnell entworfene Hypothese überdeckt;
bedenkt man, wie wenig Sorge man sich um die Tatsache macht, daß
diese Bildermengen sich untereinander und dem strengen Bild der Barockdynamik
widersprechen, so gelangt man endlich zu der Überzeugung, daß
der große Stil des Vorstellens zu Ende ist und wie in Architektur
und bildender Kunst einer Art Kunstgewerbe der Hypothesenbildung Platz
gemacht hat; nur die äußerste Meisterschaft der experimentellen
Technik, die dem Jahrhundert entspricht, vermag den Verfall der Symbolik
zu verdecken. (Ebd., S. 541-542).
In den Kreis dieser Symbole des Niedergangs gehört nun vor
allem die Entropie, bekanntlich das Thema des zweiten Hauptsatzes der
Thermodynamik. Der erste Hauptsatz, das Prinzip der Erhaltung der Energie,
formuliert einfach das Wesen der Dynamik, um nicht zu sagen, die Struktur
des westeuropäischen Geistes, dem allein die Natur mit Notwendigkeit
in der Form einer kontrapunktisch-dynamischen Kausalität im Gegensatz
zur statisch-plastischen des Aristoteles erscheint. Das Grundelement des
faustischen Weltbildes ist nicht die Haltung, sondern die Tat,
mechanisch betrachtet der Prozeß, und dieser Satz fixiert lediglich
den mathematischen Charakter solcher Prozesse in Form von Variablen und
Konstanten. Der zweite Satz aber greift tiefer und stellt eine einseitige
Tendenz des Naturgeschehens fest, welche durch die begrifflichen Grundlagen
der Dynamik in keiner Weise von vornherein bedingt war. (Ebd., S.
542).
Die Entropie wird mathematisch durch eine Größe dargestellt,
die durch den augenblicklichen Zustand eines in sich abgeschlossenen Systems
von Körpern bestimmt ist und die bei allen überhaupt möglichen
Änderungen physikalischer oder chemischer Art nur zunehmen, niemals
abnehmen kann. Im günstigsten Falle bleibt sie unverändert.
Die Entropie ist wie die Kraft und der Wille etwas, das jedem, der überhaupt
in das Wesen dieser Formenwelt einzudringen vermag, innerlich vollkommen
klar und deutlich ist, das aber von jedem anders und offenbar unzulänglich
formuliert wird. Auch hier versagt der Geist vor dem Ausdrucksbedürfnis
des Weltgefühls. (Ebd., S. 542-543).
Man hat, je nachdem die Entropie sich vermehrt oder nicht, die
Gesamtheit der Naturprozesse in nichtumkehrbare und umkehrbare eingeteilt.
Bei jedem Prozeß der ersten Art wird freie Energie in gebundene
verwandelt; soll diese tote Energie in lebendige zurückverwandelt
werden, so kann es nur dadurch geschehen, daß gleichzeitig in einem
zweiten Prozeß ein weiteres Quantum lebendiger Energie gebunden
wird. Das bekannteste Beispiel ist die Verbrennung von Kohle, d.h. die
Umwandlung der in ihr aufgespeicherten lebendigen Energie in die durch
die Gasform der Kohlensäure gebundene Wärme, wenn die latente
Energie des Wassers in Dampfspannung und weiterhin in Bewegung umgesetzt
werden soll. Daraus folgt, daß die Entropie im Weltganzen beständig
zunimmt, so daß das dynamische System sich offenbar einem wie immer
gearteten Endzustande nähert. Zu den nichtumkehrbaren Prozessen gehören
Wärmeleitung, Diffusion, Reibung, Lichtemission, chemische Reaktionen,
zu den umkehrbaren die Gravitation, elektrische Schwingungen, elektromagnetische
und Schallwellen. (Ebd., S. 543 ).
Was bisher nie empfunden worden ist, und weshalb ich in dem Satz
von der Entropie (1850) den Anfang der Vernichtung dieses Meisterstücks
der westeuropäischen Intelligenz, der Physik dynamischen Stils sehe,
ist der tiefe Gegensatz zwischen Theorie und Wirklichkeit, der hier zum
ersten Mal ausdrücklich in die Theorie selbst hineingetragen wurde.
Nachdem der erste Satz das strenge Bild eines kausalen Naturgeschehens
gezeichnet hatte, bringt der zweite durch die Einführung der Nichtumkehrbarkeit
eine dem unmittelbaren Leben angehörende Tendenz zum Vorschein, die
dem Wesen des Mechanischen und Logischen grundsätzlich widerspricht.
(Ebd., S. 543 ).
Verfolgt man die Konsequenzen der Entropielehre, so ergibt sich
erstens, daß theoretisch alle Prozesse umkehrbar sein müssen.
Das gehört zu den Grundforderungen der Dynamik. Das fordert noch
einmal in aller Schärfe der erste Hauptsatz. Es ergibt sich aber
zweitens, daß in Wirklichkeit sämtliche Naturvorgänge
nicht umkehrbar sind. Nicht einmal unter den künstlichen Bedingungen
des experimentellen Verfahrens kann der einfachste Prozeß exakt
umgekehrt, d.h. ein einmal überschrittener Zustand wiederhergestellt
werden. Nichts ist bezeichnender für die Lage des gegenwärtigen
Systems als die Einführung der Hypothese der »elementaren Unordnung«,
um den Widerspruch zwischen geistiger Forderung und wirklichem Erlebnis
auszugleichen: die »kleinsten Teilchen« der Körper
ein Bild, nicht mehr führen durchweg umkehrbare Prozesse aus;
in den wirklichen Dingen befinden die kleinsten Teilchen sich in Unordnung
und stören einander; infolgedessen ist mit einer mittleren Wahrscheinlichkeit
der natürliche, allein vom Beobachter erlebte, nichtumkehrbare Prozeß
mit einer Zunahme der Entropie verbunden. So wird die Theorie zu einem
Kapitel der Wahrscheinlichkeitsrechnung, und statt exakter Methoden treten
statistische in Wirksamkeit. (Ebd., S. 543-544).
Man hat augenscheinlich nicht bemerkt, was das bedeutet. Die Statistik
gehört wie die Chronologie ins Gebiet des Organischen, zum wechselnd
bewegten Leben, zu Schicksal und Zufall und nicht zur Welt der Gesetze
und der zeitlosen Kausalität. Man weiß, daß sie vor allem
zur Charakteristik politischer und wirtschaftlicher, also geschichtlicher
Entwicklungen dient. In der klassischen Mechanik Galileis und Newtons
wäre für sie kein Platz gewesen. Was hier plötzlich statistisch
erfaßt und erfaßbar wird, mit Wahrscheinlichkeit statt mit
jener apriorischen Exaktheit, die alle Denker des Barock einstimmig gefordert
hatten, ist der Mensch selbst, der diese Natur erkennend durchlebt, der
in ihr sich selbst erlebt; was die Theorie mit innerer Notwendigkeit
hinstellt, jene in Wirklichkeit gar nicht vorhandenen umkehrbaren Prozesse,
repräsentiert den Rest einer strenggeistigen Form, den Rest der großen
Barocktradition, welche die Schwester des kontrapunktischen Stils war.
Die Zuflucht zur Statistik offenbart die Erschöpfung der in dieser
Tradition wirksam gewesenen ordnenden Kraft. Werden und Gewordnes, Schicksal
und Kausalität, historische und naturhafte Elemente beginnen zu verschwimmen.
Formelemente des Lebens: das Wachstum, das Altern, die Lebensdauer, die
Richtung, der Tod drängen herauf. (Ebd., S. 544).
Das hat in diesem Aspekt die Nichtumkehrbarkeit der Weltprozesse
zu bedeuten. Sie ist, im Gegensatz zu dem physikalischen Zeichen t, Ausdruck
der echten, historischen, innerlich erlebten Zeit, die mit dem
Schicksal identisch ist. (Ebd., S. 544-545).
Die Physik des Barock war durch und durch strenge Systematik,
solange Theorien wie diese noch nicht an ihrem Bau rütteln durften,
solange in ihrem Bilde nichts anzutreffen war, was den Zufall und die
bloße Wahrscheinlichkeit zum Ausdruck brachte. Mit dieser Theorie
aber ist sie Physiognomik geworden. Der »Lauf der Welt«
wird verfolgt. Die Idee des Weltendes erscheint in der Verkleidung
von Formeln, die im Grunde ihres Wesens keine Formeln mehr sind. Es kommt
damit etwas Goethesches in die Physik, und man wird das ganze Gewicht
dieser Tatsache ermessen, wenn man sich klarmacht, was zuletzt die leidenschaftliche
Polemik Goethes gegen Newton in der Farbenlehre bedeutete. Hier argumentierte
das Schauen gegen den Verstand, das Leben gegen den Tod, die schöpferische
Gestalt gegen das ordnende Gesetz. Die kritische Formenwelt der Naturerkenntis
war aus dem Naturgefühl, dem Gottgefühl, durch Widerspruch
hervorgegangen. Hier, am Ausgang der Spätzeit, hat sie den Gipfel
der Distanz erreicht, und sie kehrt zum Ursprung zurück. (Ebd.,
S. 545).
Und so beschwört die in der Dynamik wirksame Einbildungskraft
noch einmal die großen Symbole der historischen Leidenschaft des
faustischen Menschen herauf, die ewige Sorge, den Hang zu den fernsten
Fernen von Vergangenheit und Zukunft, die rückschauende Geschichtsforschung,
den vorausschauenden Staat, die Beichten und Selbstbetrachtungen, die
über alle Völker weithinhallenden, das Leben messenden Glockenschläge.
Das Ethos des Wortes Zeit, wie nur wir es empfinden, wie es die instrumentale
Musik im Gegensatz zur Statuenplastik erfüllt, richtet sich auf ein
Ziel. Das war in allen Lebensbildern des Abendlandes als drittes
Reich, als neues Zeitalter, als Aufgabe der Menschheit, als Ausgang einer
Entwicklung versinnlicht worden. Und das bedeutet für das Gesamtdasein
und das Schicksal der faustischen Welt als Natur die Entropie. (Ebd.,
S. 545).
Schon in dem mythischen Begriff der Kraft, der Voraussetzung dieser
ganzen dogmatischen Formenwelt, liegt stillschweigend ein Richtungsgefühl,
eine Beziehung auf Vergangenes und Künftiges; noch deutlicher wird
sie in der Bezeichnung der Naturvorgänge als Prozesse. Es darf also
gesagt werden, daß die Entropie als die geistige Form, in welcher
die unendliche Summe aller Naturereignisse als historische und physiognomische
Einheit zusammengefaßt wird, allen physikalischen Begriffsbildungen
von Anfang an unbemerkt zugrunde lag, und daß sie eines Tages als
»Entdeckung« auf dem Wege wissenschaftlicher Induktion zum
Vorschein kommen und dann durch die übrigen theoretischen Elemente
des Systems »durchaus bestätigt« werden mußte.
Je mehr die Dynamik sich durch Erschöpfung ihrer inneren Möglichkeiten
dem Ziele nähert, desto entschiedener dringen die historischen Züge
des Bildes hervor, desto stärker macht sich neben der anorganischen
Notwendigkeit des Kausalen die organische des Schicksals, neben den Faktoren
der reinen Ausgedehntheit Kapazität und Intensität
die der Richtung geltend. Es geschieht dies durch eine ganze Reihe gewagter
Hypothesen von gleichem Bau, die durch experimentelle Befunde nur scheinbar
gefordert werden, die in Wirklichkeit sämtlich durch das Weltgefühl
und die Mythologie schon der Gotik antizipiert waren. (Ebd., S.
545-546).
Dahin gehört vor allem auch die bizarre Hypothese des Atomzerfalls,
welche die radioaktiven Erscheinungen deutet nach welcher Uran-Atome,
die Jahrmillionen hindurch trotz äußerer Einwirkungen ihr Wesen
unverändert bewahrt haben, plötzlich und ohne nachweisbaren
Anlaß explodieren und ihre kleinsten Teile mit einer Geschwindigkeit,
die Tausende von Kilometern in der Sekunde beträgt, im Weltraum verbreiten.
Dies Schicksal trifft unter einer Menge radioaktiver Atome immer
nur einzelne, während die benachbarten davon ganz unberührt
bleiben. Auch dieses Bild ist Geschichte, nicht Natur, und wenn sich auch
hier die Anwendung der Statistik als notwendig erweist, so möchte
man beinahe vom Ersatz der mathematischen durch die chronologische Zahl
reden. (In der Tat hat die Vorstellung einer Lebensdauer
der Elemente den Begriff der Halbwertszeit von 3,85 Tagen hervorgebracht
[K. Fajans, Radioaktivität, 1919, S. 12].) (Ebd.,
S. 546).
Mit diesen Vorstellungen kehrt die mythische Gestaltungskraft
der faustischen Seele zum Ausgang zurück. Gerade damals, als zu Beginn
der Gotik die ersten mechanischen Uhren konstruiert wurden, Symbole eines
historischen Weltgefühls, entstand der Mythos von Ragnarök,
dem Weltende, der Götterdämmerung. Mag diese Vorstellung, wie
wir sie in der Völuspa und in christlicher Fassung im Muspilli besitzen,
wie alle vermeintlich urgermanischen Mythen nicht ohne das Vorbild antiker
und vor allem christlich-apokalyptischer Motive entstanden sein, sie ist
in dieser Gestalt Ausdruck und Symbol der faustischen und keiner andren
Seele. (Ebd., S. 546-547 ).
Die olympische Götterwelt ist geschichtslos.
Sie kennt kein Werden, keine Epoche, kein Ziel. Faustisch aber ist der
leidenschaftliche Zug in die Ferne. Die Kraft, der Wille hat ein Ziel,
und wo es ein Ziel gibt, gibt es für den forschenden Blick auch ein
Ende. Was die Perspektive der großen Ölmalerei durch den Konvergenzpunkt,
was der Barockpark durch den Point de vue, was die Analysis durch das
Restglied der unendlichen Reihen zum Ausdruck brachte, den Abschluß
einer gewollten Richtung, tritt hier in begrifflicher Form hervor. Der
Faust des zweiten Teils der Tragödie stirbt, weil er sein Ziel erreicht
hat. Das Weltende als Vollendung einer innerlich notwendigen Entwicklung
das ist die Götterdämmerung; das bedeutet also, als letzte,
als irreligiöse Fassung des Mythos, die Lehre von der Entropie. ().
(Ebd., S. 547).
Auch
die Antike starb, aber sie wußte nichts davon. (Ebd., S. 547).Am
Ziele angelangt, enthüllt sich endlich das ungeheure, immer unsinnlicher,
immer durchscheinender gewordene Gewebe, das die gesamte Naturwissenschaft umspinnt:
es ist nichts andres als die innere Struktur des wortgebundenen Verstehens, das
den Augenschein zu überwinden, von ihm »die Wahrheit« abzulösen
glaubte. Darunter aber erscheint wieder das Früheste und Tiefste, der Mythos,
das unmittelbare Werden, das Leben selbst. Je weniger anthropomorph die Naturforschung
zu sein glaubt, desto mehr ist sie es. Sie beseitigt nach und nach die einzelnen
menschlichen Züge des Naturbildes, um endlich als die vermeintliche reine
Natur die Menschlichkeit selbst, rein und ganz, in Händen zu halten. Aus
der gotischen Seele ging, das religiöse Weltgefühl überschattend,
der städtische Geist hervor, das alter ego der irreligiösen Naturerkenntnis.
Heute, in der Abendröte der wissenschaftlichen Epoche, im Stadium des siegenden
Skeptizismus, lösen sich die Wolken und die Landschaft des Morgens ruht wieder
in vollkommener Deutlichkeit. (Ebd., S. 552-553).
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Band II - Welthistorische Perspektiven |
Ursprung und Landschaft |
Städte und Völker |
Probleme der arabischen Kultur |
Der Staat |
Die Formenwelt des Wirtschaftslebens |
Ursprung und Landschaft (S. 557-655): I. Das
Kosmische und der Mikrokosmos (S. 557-579)
Pflanze und Tier [S. 557] Dasein und Wachsein [S. 561] Empfinden,
Verstehen, Denken [S. 564] Bewegungsproblem [S. 573] Massenseele
[S. 577] II. Die
Gruppe der hohen Kulturen (S. 579-617)
Geschichtsbild, Naturbild [S. 579] Menschen- und Weltgeschichte [S. 586]
Zwei Zeitalter: Primitive und hohe Kulturen [S. 593] Überblick
der hohen Kulturen [S. 599] Der geschichtslose Mensch [S. 613] III. Die
Beziehungen zwischen den Kulturen (S. 617-655)
Einwirkung [S. 617] Das römische Recht [S. 624]
Magisches Recht [S. 634] Recht des Abendlandes [S. 644].
Das Kosmische und der MikrokosmosBetrachte
die Blumen am Abend (),
wenn in der sinkenden Sonne eine nach der andern sich schließt: etwas Unheimliches
dringt dann auf dich ein, ein Gefühl von rätselhafter Angst vor diesem
blinden, traumhaften, der Erde verbundenen Dasein. Der stumme Wald, die schweigenden
Wiesen, jener Busch und diese Ranke regen sich nicht. Der Wind ist es, der mit
ihnen spielt. Nur die kleine Mücke ist frei; sie tanzt noch im Abendlichte;
sie bewegt sich, wohin sie will. Eine Pflanze ist nichts
für sich. Sie bildet einen Teil der Landschaft, in der ein Zufall ()
sie Wurzel zu fassen zwang. .... Ein Tier aber kann wählen. Es ist aus der
Verbundenheit der ganzen übrigen Welt gelöst. Jener Mückenschwarm,
der noch am Wege tanzt, ein einsamer Vogel, der durch den Abend fliegt, ein Fuchs,
der ein Nest beschleicht - sie sind kleine Welten für sich in einer andern
großen. Ein Infusor, welches dem menschlichen Auge nicht mehr sichtbar
im Wassertropfen ein Dasein führt, das eine Sekunde dauert und dessen Schauplatz
ein winziger Winkel dieses kleinen Tropfens ist - es ist frei und unabhängig
dem gesamten All gegenüber. Die Rieseneiche, an deren einem Blatt dieser
Tropfen hängt, ist es nicht. Verbundenheit und Freiheit:
das ist der tiefste und letzte Grundzug in allem, was wir als pflanzenhaftes und
tierhaftes Dasein unterscheiden. Doch nur die Pflanze ist ganz, was sie
ist. Im Wesen eines Tieres liegt etwas Zwiespältiges. Eine Pflanze ist nur
Pflanze, ein Tier ist Pflanze und noch etwas außerdem. (Ebd., S. 557-558).Der
Samen einer Blütenpflanze zeigt unter dem Mikroskop zwei Keimblätter,
welche den später dem Licht zugewandten Sproß mit seinen Organen des
Kreislaufs und der Fortpflanzung bilden und schützen, und gleichsam ein drittes,
den Wurzelschoß, welcher das unwiderrufliche Schicksal der Pflanze andeutet,
wieder den Teil einer Landschaft zu bilden. Bei höheren Tieren sehen wir,
wie das befruchtete Ei in den ersten Stunden des sich ablösenden Daseins
ein äußeres Keimblatt bildet, welches das mittlere und innere, die
Grundlage künftiger Kreislauf- und Fortpflanzungsorgane, also des pflanzenhaften
Elements im Tierleib, umschließt und gegen den mütterlichen Leib und
damit die ganze übrige Welt abhebt. Das äußere Keimblatt
ist das Sinnbild des eigentlich tierhaften Daseins. Es unterscheidet die beiden
Arten von Lebendigem, welche in der Erdgeschichte hervorgetreten sind. Es gibt
alte schöne Namen dafür: die Pflanze ist etwas Kosmisches, das
Tier ist außerdem ein Mikrokosmos in bezug auf einen Makrokosmos.
Erst damit, daß ein Lebewesen sich derart aus dem All absondert, daß
es seine Lage zu ihm bestimmen kann, ist es ein Mikrokosmos geworden. Selbst die
Planeten sind in ihrer Bahn an die großen Kreisläufe gebunden; nur
diese kleinen Welten bewegen sich frei im Verhältnis zu einer großen,
deren sie sich als ihrer Umwelt bewußt sind. (Ebd., S. 558).Alles
Kosmische trägt das Zeichen der Periodizität. Es besitzt Takt.
Alles Mikrokosmische hat Polarität, Das Wort »gegen« drückt
sein ganzes Wesen aus. Er besitzt Spannung. .... Kosmischer Takt aber ist
alles, was sich auch mit Richtung, Zeit, Rhythmus, Schicksal, Sehnsucht umschreiben
läßt, ... bis zum schweigenden Sichverstehen zweier Liebender, zum
gefühlten Takt einer vornehmen Gesellschaft und zum Blick des Menschenkenners,
den ich früher schon als physiognomischen Takt bezeichnet habe. Dieser Takt
kosmischer Kreisläufe lebt und webt noch unter jeder Freiheit mikrokosmischer
Bewegungen im Raume und löst zuweilen die Spannung aller wachen Einzelwesen
in einen großen gefühlten Einklang auf. (Ebd., S. 559).Wir
besitzen zwei Kreislauforgane des kosmischen Daseins: den Blutkreislauf
und das Geschlechtsorgan, und zwei Unterscheidungsorgane der mikrokosmischen
Beweglichkeit: Sinne und Nerven. Wir müssen annehmen, daß ursprünglich
der ganze Leib Organ des Kreislaufs und zugleich Tatsorgan gewesen ist.
(Ebd., S. 560).Wie
nun diese Wesen zeugen und empfangen, wie das Pflanzenhafte in ihnen danach drängt,
sich fortzupflanzen, den ewigen Kreislauf über sich selbst hinaus dauern
zu lassen, wie der eine große Pulsschlag durch entfernte Seelen hindurch
anziehend, treibend, hemmend und auch vernichtend wirkt, das ist jenes tiefste
aller Lebensgeheimnisse, das alle religiösen Mysterien und alle großen
Dichtungen zu durchdringen versuchen und dessen Tragik Goethe in dem Gedicht »Selige
Sehnsucht« und in den »Wahlverwandtschaften« angerührt
hat, wo das Kind sterben mußte, weil es aus entfremdeten Kreisen des Blutes
und also gleichsam durch eine kosmische Schuld ins Dasein gezogen worden war.
(Ebd., S. 560-561 ).Tatsachen
und Wahrheiten unterscheiden sich wie Zeit und Raum, wie Schicksal und Kausalität.
().
.... Das wirkliche Leben, die Geschichte kennt nur Tatsachen. Lebenserfahrung
und Menschenkenntnis richten sich nur auf Tatsachen. .... Für den echten
Staatsmann gibt es nur politische Tatsachen, keine politischen Wahrheiten. Die
berühmte Frage des Pilatus ist die eines jeden Tatsachenmenschen. (Ebd.,
S. 569).Es
ist eine der gewaltigsten Leistungen Nietzsches, das Problem vom Werte
der Wahrheit, des Wissens, der Wissenschaft aufgestellt zu haben - eine frivole
Lästerung in den Augen jedes geborenen Denkers und Gelehrten, der damit den
Sinn seines ganzen Daseins angezweifelt sieht. (Ebd., S. 570).Der
Wille zum System ist der Wille, Lebendiges zu töten. Es wird festgestellt,
starr gemacht, an die Kette der Logik gelegt. Der Geist hat gesiegt, wenn
er sein Geschäft des Erstarrenmachens zu Ende geführt hat. (Ebd.,
S. 570).Was
man mit den Worten Vernunft und Verstand zu unterscheiden pflegt, ist das pflanzenhafte
Ahnen und Fühlen, das sich der Sprache des Auges und Wortes nur bedient,
und auf der anderen Seite das tierhafte, sprachgeleitete Verstehen selbst. Die
Vernunft ruft Ideen ins Leben, der Verstand findet Wahrheiten, Wahrheiten sind
leblos und lassen sich mitteilen, Ideen gehören zum lebendigen Selbst ihres
Urhebers und können nur mitgefühglt werden. Das Wesen des Verstandes
ist Kritik, das Wesen der Vernunft ist Schöpfung. Die Vernunft erzeugt das,
worauf es ankommt, der Verstand setzt es voraus. Das besagt jener tiefe Ausspruch
..., daß der Verstand nur ausreiche, um Irrtümer zu entdecken, nicht
um Wahrheiten zu finden. (Ebd., S. 570-571).Erst
mit dem reinen Verstehen, das sich durch die Sprache vom Wachsein des Auges abgelöst
hat, taucht für den Menschen der Tod rings in der Lichtwelt als das große
Rätsel auf. (Ebd., S. 571).
Die Gruppe der hohen Kulturen
Die echt faustische Trennung der eigentlichen
Menschengeschichte von der viel weiteren Weltgeschichte hat zur Folge,
daß seit dem Ausgang des Barock sich in unserem Weltbild mehrere
Horizonte in getrennten Schichten hintereinander lagern, für deren
Untersuchung sich Einzelwissenschaften von mehr oder weniger ausgesprochen
historischem Charakter ausgebildet haben. Die Astronomie, Geologie, Biologie,
Anthropologie verfolgen der Reihe nach die Schicksale der Sternenwelt,
der Erdrinde, der Lebewesen, des Menschen, und erst dann beginnt die heute
noch so genannte »Weltgeschichte« der hohen Kulturen, an welche
sich weiterhin die Geschichte einzelner Kulturelemente, die Familiengeschichte,
zuletzt die gerade im Abendlande sehr ausgebildete Biographie anschließen.
(Ebd., S. 588).
Jede dieser Schichten fordert eine Einstellung für sich,
und mit dem Augenblick dieser Einstellung hören die engeren und weiteren
Schichten auf, lebendiges Werden zu sein, und sind schlechthin gegebene
Tatsachen. Untersuchen wir die Schlacht im Teutoburger Walde, so ist die
Entstehung dieses Waldes innerhalb der Pflanzenwelt Norddeutschlands vorausgesetzt.
Fragen wir nach der Geschichte des deutschen Laubwaldes, so ist die geologische
Schichtung der Erde die Voraussetzung und eine in ihren besonderen Schicksalen
nicht weiter zu untersuchende Tatsache. Fragen wir nach dem Ursprung der
Kreideformation, so ist das Vorhandensein der Erde selbst als eines Planeten
im Sonnensystem kein Problem. Oder anders betrachtet: daß es in
der Sternenwelt eine Erde, daß es auf der Erde das Phänomen
»Leben«, daß es in diesem die Form »Mensch«,
daß es in der Menschengeschichte die organische Form der Kulturen
gibt, ist jedesmal ein Zufall im Bilde der nächst höheren Schicht.
(Ebd., S. 588).
»Entwicklung« .... Leibniz in seiner hochbedeutenden
»Protogäa« (1691), die auf Grund seiner Studien über
die Silbergruben des Harzes eine durch und durch Goethesche Urgeschichte
der Erde entwirft, und Goethe selbst verstanden darunter die Vollendung
im Sinne eines steigenden Formgehaltes. Zwischen den Begriffen der Goetheschen
Formvollendung und der Evolution Darwins liegt der ganze Gegensatz von
Schicksal und Kausalität, aber auch der zwischen deutschem und englischem
Denken und zuletzt deutscher und englischer Geschichte. (Ebd., S.
590).
Was wir vom Menschen wissen, scheidet sich klar in zwei große
Zeitalter seines Daseins. Das erste ()
wird für unsern Blick begrenzt einerseits durch jene tiefe Fuge im
Schicksal des Planeten, die wir heute als Anfang der Eiszeit bezeichnen
und von der wir innerhalb des Bildes der Erdgeschichte nur feststellen
können, daß hier eine kosmische Änderung stattgefunden
hat; andrerseits durch den Beginn der hohen Kulturen am Nil und Euphrat,
womit der ganze Sinn des menschlichen Daseins plötzlich ain anderer
wird. (Ebd., S. 593).
Wir
entdecken überall die scharfe Grenze von Tertiär und Diluvium und wir
finden diesseits den Menschen vor als fertig ausgebildeten Typus, mit Sitte, Mythos,
Kunst, Schmuck, Technik vertraut und von einem Körperbau, der sich seitdem
nicht merklich verändert hat. Wenn wir das erste Zeitalter das der primitiven
Kultur nennen, so ist das einzige Gebiet, auf dem sich diese Kultur, allerdings
in einer sehr späten Form, lebendig und ziemlich unberührt während
des ganzen zweiten Zeitalters und heute noch erhalten hat, das nordwestliche Afrika.
Dies klar erkannt zu haben, ist das große Verdienst von L. Frobenius ().
Die Voraussetzung war, daß hier eine ganze Welt primitiven Lebens
und nicht etwa nur eine Anzahl primitiver Stämme dem Eindruck hoher Kulturen
entzogen blieb. Was die Völkerpsychologen gern in allen fünf Weltteilen
zusammensuchen, sind dagegen Völkerfragmente, deren Gemeinsames in der rein
negativen Tatsache besteht, daß sie mitten unter den hohen Kulturen leben,
ohne innerlich an ihnen beteiligt zu sein. Es sind also teils zurückgebliebene,
teils mindewertige, teils entartete Stämme, deren Äußerungen noch
dazu unterschiedslos vermengt werden. (Ebd., S. 593-594).
Die primitive Kultur war aber etwas Starkes und Ganzes,
etwas höchst Lebendiges und Wirkungsvolles; nur ist sie so verschieden
von allem, was wir Menschen einer hohen Kultur als seelische Möglichkeiten
besitzen, daß man daran zweifeln darf, ob selbst jene Völker,
mit denen das erste Zeitalter noch tief in das zweite hineinreicht, in
ihrer heutigen Art des Daseins und Wachseins Schlüsse auf den alten
Zustand erlauben. (Ebd., S. 594).
Das menschliche Wachsein steht seit Jahrtausenden unter dem Eindruck
der Tatsache, daß die beständige Fühlung der Stämme
und Völker untereinander etwas Selbstverständliches und Alltägliches
ist. Wir haben aber für das erste Zeitalter damit zu rechnen, daß
der Mensch in einer äußerst geringen Anzahl kleiner Scharen
sich in den endlosen Weiten der Landschaft, deren Bild durchaus von den
gewaltigen Massen großer Tierherden beherrscht wird, vollständig
verliert. Die Seltenheit der Funde beweist das mit Sicherheit. Zur Zeit
des Homo Aurignacensis schweiften auf dem Boden Frankreichs vielleicht
ein Dutzend Horden von einigen hundert Köpfen umher, für die
es ein rätselhaftes Ereignis von tiefstem Eindruck war, wenn sie
einmal das Vorhandensein von Mitmenschen bemerkten. Können wir uns
überhaupt vorstellen, wie es sich in einer fast menschenlosen Welt
lebte? Wir, für die die gesamte Natur längst zum Hintergrunde
der massenhaften Menschheit geworden ist? Wie mußte sich das Weltbewußtsein
ändern, als man in der Landschaft außer Wäldern und Tierherden
immer häufiger Menschen »ganz wie wir selbst« antraf!
Die zweifellos wieder sehr plötzliche Zunahme der Zahl, welche den
»Mitmenschen« zu einem beständigen, alltäglichen
Erlebnis machte, den Eindruck des Staunens durch die Gefühle der
Freude oder Feindschaft ersetzte und damit von selbst eine ganz neue Welt
von Erfahrungen und von unwillkürlichen und unvermeidlichen Beziehungen
heraufrief, ist für die Geschichte der Menschenseele vielleicht das
tiefste und folgenreichste Ereignis gewesen. Erst an fremden Lebensformen
wurde man sich nun der eignen bewußt, und zugleich trat zu der Gliederung
innerhalb der Sippe der ganze Reichtum äußerer Beziehungsformen
der Sippen untereinander, der von nun an das primitive Leben und Denken
vollständig beherrscht. Bedenken wir, daß damals aus sehr einfachen
Arten sinnlicher Verständigung die Ansätze von Wortsprachen
(und damit des abstrakten Denkens) entstanden sind und unter diesen einige
sehr glückliche Konzeptionen, von deren Beschaffenheit wir uns keine
Vorstellung machen können, die wir aber als frühesten Ausgangspunkt
der späteren indogermanischen und semitischen Sprachgruppen annehmen
dürfen. (Ebd., S. 594-595).
Aus dieser primitiven Kultur einer durch Beziehungen von Stamm
zu Stamm überall zusammenhängenden Menschheit wächst nun
plötzlich um 3000 die ägyptische und babylonische Kultur auf,
nachdem sich vielleicht während eines weiteren Jahrtausends in beiden
Landschaften etwas vorbereitet hatte (d.h. seit
4000 v. Chr.! HB), das sich in der ganzen Art und Absicht der Entwicklung,
der inneren Einheit sämtlicher Ausdrucksformen und der Richtung alles
Lebens auf ein Ziel vollkommen von jeder primitiven Kultur unterscheidet.
Es ist mir sehr wahrscheinlich, daß sich damals an der Erdoberfläche
überhaupt oder zum mindesten im inneren Wesen des Menschen eine Veränderung
vollzogen hat. Was später noch als primitive Kultur von Rang überall
zwischen den hohen Kulturen besteht und erst nach und nach vor ihnen verschwindet,
wäre dann etwas anderes als die Kultur des ersten Zeitalters. Was
ich aber als Vorkultur bezeichne und was man am Anfang jeder hohen Kultur
in einem durchaus gleichförmigen Verlauf nachweisen kann, ist jeder
Art von primitiver Kultur gegenüber etwas Andersartiges und vollständig
Neues. (Ebd., S. 595).
In allem primitiven Dasein ist das »es«, das Kosmische,
mit so unmittelbarer Gewalt am Werke, daß alle mikrokosmischen Äußerungen
in Mythos, Sitte, Technik und Ornament nur dem ganz augenblicklichen Drange
gehorchen. Es gibt keine für uns erkennbaren Regeln für die
Dauer, das Tempo, den Gang der Entwicklung dieser Äußerungen.
Wir sehen etwa eine ornamentale Formensprache, die man nicht Stil nennen
sollte, die Bevölkerung weiter Gebiete beherrschen, sich verbreiten,
sich verändern und endlich erlöschen. Daneben und vielleicht
mit ganz anderem Verbreitungsgebiet[595] zeigen Art und Gebrauch der Waffen,
Gliederung der Sippen, religiöse Gebräuche je eine eigene Entwicklung
mit selbständigen Epochen und mit Anfang und Ausgang, der durch kein
anderes Formgebiet mitbestimmt wird. Wenn wir in einer prähistorischen
Schicht eine uns genau bekannte Art von Keramik festgestellt haben, so
läßt das auf die Sitte und Religion der zugehörigen Bevölkerung
keine Schlüsse zu. Und wenn einmal zufällig eine gewisse Form
der Ehe und etwa eine Art der Tätowierung ein ähnliches Verbreitungsgebiet
besitzen, so liegt dem nie eine Idee zugrunde, wie sie die Erfindung des
Schießpulvers und der Malperspektive verbindet. Es finden sich keine
notwendigen Beziehungen zwischen Ornament und Altersklassenorganisation,
oder zwischen dem Kult einer Gottheit und der Art des Ackerbaus. Was
sich hier entwickelt, sind immer wieder einzelne Seiten und Züge
der primitiven Kultur, nicht diese selbst. Das ist es, was ich als chaotisch
bezeichnet habe: die primitive Kultur ist weder ein Organismus noch eine
Summe von Organismen. (Ebd., S. 595-596).
Mit dem Typus der hohen Kultur tritt an die
Stelle jenes »es« eine starke und einheitliche Tendenz. Innerhalb
der primitiven Kultur sind außer den einzelnen Menschen nur die
Stämme und Sippen beseelte Wesen. Hier aber ist es die Kultur
selbst. Alles Primitive ist eine Summe, und zwar von Ausdrucksformen
primitiver Verbände. Hohe Kultur ist das Wachsein eines einzigen
ungeheuren Organismus, der nicht nur Sitte, Mythos, Technik und Kunst,
sondern auch die ihm einverleibten Völker und Stände zu Trägern
einer einheitlichen Formensprache mit einheitlicher Geschichte macht.
Die älteste Sprachgeschichte gehört zur primitiven Kultur und
hat ihre eignen regellosen Schicksale, die man aus denen des Ornaments
oder etwa der Geschichte der Ehe nicht ableiten kann. Die Geschichte der
Schrift aber gehört zur Ausdrucksgeschichte der einzelnen hohen Kulturen.
Je eine besondere Schrift hat sich schon in der Vorzeit der ägyptischen,
chinesischen, babylonischen und mexikanischen Kultur ausgebildet. Daß
das in der indischen und antiken nicht geschah, daß man die hochentwickelten
Schriften alter Nachbarzivilisationen erst sehr spät übernahm,
während in der arabischen Kultur jede neue Religion und Sekte alsbald
eine eigne Schrift ausbildet, das steht im tiefsten Zusammenhang mit der
gesamten Formengeschichte dieser Kulturen und deren innerer Bedeutung.
(Ebd., S. 596-597).
Auf diese beiden Zeitalter beschränkt sich unser wirkliches
Wissen vom Menschen und das reicht nicht aus, um irgendwelche Schlüsse
auf mögliche oder gewisse neue Zeitalter oder gar deren Wann und
Wie zu ziehen, ganz abgesehen davon, daß die kosmischen Zusammenhänge,
welche das Schicksal der Gattung Mensch beherrschen, unsrer Berechnung
vollständig entzogen sind. (Ebd., S. 597).
Meine Art zu denken und zu beobachten beschränkt sich auf
die Physiognomik des Wirklichen. Wo die Erfahrung des Menschenkenners
seiner Mitwelt, die Lebenserfahrung eines Tatgewohnten den Tatsachen gegenüber
aufhört, da findet auch dieser Blick seine Grenze. Das Vorhandensein
jener zwei Zeitalter ist eine Tatsache der historischen Erfahrung
und weiterhin besteht unsre Erfahrung von der primitiven Kultur darin,
daß wir hier etwas Abgeschlossenes in seinen Resten übersehen
können, dessen tiefere Bedeutung von uns aus einer innern Verwandtschaft
heraus noch eben erfühlt werden kann. Das zweite Zeitalter aber erlaubt
uns noch eine Erfahrung von ganz andrer Art. (Ebd., S. 597).
Daß
innerhalb der Menschengeschichte plötzlich der Typus der hohen Kultur erscheint,
ist ein Zufall (),
dessen Sinn nicht nachzuprüfen ist. Es ist auch ungewiß, ob nicht ein
plötzliches Ereignis im Dasein der Erde eine ganz andre Form zum Vorschein
bringt. Aber die Tatsache, daß acht solcher Kulturen ()
vor uns liegen, alle von gleichem Bau, gleichartiger Entwicklung und Dauer, gestattet
uns eine vergleichende Betrachtung und damit ein Wissen, das sich über
verschollene Epochen rückwärts und über bevorstehende vorwärts
erstreckt, immer unter der Voraussetzung, daß nicht ein Schicksal anderer
Ordnung diese Formenwelt überhaupt plötzlich durch eine neue ersetzt.
Ein Recht dazu gibt uns die allgemeine Erfahrung vom organischen Dasein.
(Ebd., S. 597).
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Goethes Schema zu den Geistesepochen |
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Die Gruppe der hohen Kulturen ist keine
organische Einheit. Daß sie in dieser Zahl, an diesen Orten und
zu dieser Zeit entstanden, ist für das menschliche Auge ein Zufall
ohne tieferen Sinn. ().
Dagegen tritt die Gliederung der einzelnen mit solcher Deutlichkeit hervor,
daß die chinesische, indische, arabische und abendländische
Geschichtsschreibung und oft schon das übereinstimmende Gefühl
der Gebildeten eine Reihe von Namen geprägt hat, die sich gar nicht
verbessern lassen. Goethe hat in seinem kleinen Aufsatz »Geistesepochen«
()
eine Charakteristik der vier Abschnitte jeder Kultur, der Vorzeit, Frühzeit,
Spätzeit und Zivilisation (bzw. Vor-,
Früh-, Hoch-
und Spätkultur [-Quartale
],
so bei mir; HB), von solcher Tiefe gegeben, daß sich heute
noch nichts hinzufügen läßt. Vgl. die damit genau übereinstimmenden
Tafeln ()
.... (Ebd., S. 598).
Das
historische Denken hat also die doppelte Aufgabe, eine vergleichende Betrachtung
der einzelnen Lebensläufe vorzunehmen, eine Aufgabe, die klar gefordert,
aber bis jetzt nicht beachtet worden ist, und die andere, die zufälligen
und regellosen Beziehungen der Kulturen untereinander auf ihren Sinn zu
prüfen. Das ist bis jetzt in der bequemen und oberflächlichen Weise
geschehen, daß man das ganze Gewirr mit kausaler Erklärung in den »Gang«
einer Weltgeschichte brachte. Damit wird aber die sehr schwierige und aufschlußreiche
Psychologie dieser Beziehungen ebenso unmöglich wie die des Innenlebens der
Kulturen selbst. Diese zweite Aufgabe setzt vielmehr die erste als gelöst
voraus. Die Beziehungen sind sehr verschieden, zunächst schon nach dem räumlichen
und zeitlichen Abstand. In den Kreuzzügen steht eine Frühzeit einer
alten Zivilisation gegenüber, in der kretisch-mykenischen Welt des Ägäischen
Meeres eine Vorkultur einer blühenden Spätzeit. Eine Zivilisation kann
aus unendlicher Ferne herüberstrahlen wie die indische von Osten in die arabische
Welt, oder sich erstickend und greisenhaft über eine Jugend lagern, wie die
Antike vom Westen her. Aber auch nach Art und Stärke: die abendländische
Kultur sucht Beziehungen auf, die ägyptische weicht ihnen aus; jene erliegt
ihnen immer wieder in tragischen Erschütterungen, die Antike nützt sie
aus, ohne zu leiden. Das alles hat aber seine Bedingungen wieder im Seelischen
der Kultur selbst und lehrt diese Seele zuweilen besser kennen als ihre igne Sprache,
die oft mehr verbirgt als mitteilt. (Ebd., S. 598-599).Ein
Blick über die Gruppe der Kulturen erschließt Aufgaben über Aufgaben.
().
.... Die ungeheure Schwierigkeit, der eine gleichmäßige Behandlung
jener großen Lebensläufe heute noch begegnet, besteht darin, daß
es an ernsthaften Bearbeitungen der fernliegenden Gebiete durchaus fehlt.
(Ebd., S. 599).Die
ungeheure Schwierigkeit, der eine gleichmäßige Behandlung jener großen
Lebensläufe heute noch begegnet, besteht darin, daß es an ernsthaften
Bearbeitungen der fernliegenden Gebiete durchaus fehlt. Es zeigt sich wieder der
herrische Blick des Westeuropäers, der nur erfassen will, was von irgend
einem Altertum her über ein Mittelalter sich ihm nähert, und alles,
was seine eignen Wege geht, mit halbem Ernst behandelt. In der chinesischen und
indischen Welt sind soeben einige Gebiete - Kunst, Religion und Philosophie -
in Angriff genommen worden. Die politische Geschichte wird, wenn überhaupt,
im Plauderstil vorgetargen. Niemand denkt daran, die großen staatsrechtlichen
Probleme der chinesischen Geschichte, das Hohenstaufenschicksal des Li-wang (842),
den ersten Fürstenkongreß von 659, den Kampf zwischen den Prinzipien
des von dem »Römerstaate« Tsin vertretenen Imperialismus (lienheng)
und der Völkerbundidee (hohtsung) zwischen 500 und 300, den Aufstieg des
chinesischen Augustus Hoang-ti (221) mit derselben Gründlichkeit zu behandeln,
wie es Mommsen mit dem Prinzipat des Augustus getan hat. Die Staatengeschichte
Indiens mag noch so gründlich von den Indern vergessen sein, aus der Zeit
Buddhas liegt trotzdem mehr Material vor als aus der antiken Geschichte im 9.
und 8. Jahrhundert, aber wir tun noch heute, als hätte »der«
Inder ganz in seiner Philosophie gelebt wie die Athener, welche nach der Ansicht
unsrer Klassizisten ihr Leben, an den Ufern des Ilissos philosophierend, in Schönheit
verbrachten. Aber auch über die ägyptische Politik ist kaum nachgedacht
worden. Hinter den Namen der Hyksoszeit haben die späten ägyptischen
Historiker dieselbe Krisis verborgen, welche die chinesischen als »Zeit
der kämpfenden Staaten« behandeln. Das hat noch niemand untersucht.
Und in der arabischen Welt reicht das Interesse genau so weit wie das antike Sprachgebiet.
Was ist nicht über die Staatsschöpfung Diokletians geschrieben worden!
Und was für ein Material hat man etwa über die ganz gleichgültige
Verwaltungsgeschichte der kleinasiatischen Provinzen zusammengetragen - weil es
griechisch geschrieben war! Aber das Vorbild Diokletians in jeder Beziehung, der
Sassanidenstaat, fällt nur insoweit in den Kreis der Betrachtung, als er
gerade Krieg mit Rom führte. Wie steht es aber mit dessen eigener Verwaltungs-
und Rechtsgeschichte? Was ist über Recht und Wirtschaft in Ägypten,
Indien und China gesammelt worden, das sich neben den Arbeiten über antikes
Recht halten könnte? Es fehlt ebenso an einer Geschichte der Landschaft (also
des Bodens, der Pflanzendecke und der Witterung), in der sich die Menschengeschichte
seit fünftausend Jahren abgespielt hat. Aber die Menschengeschichte ringt
sich so schwer von der Geschichte der Landschaft ab und bleibt mit tausend Wurzeln
mit ihr so tief verbunden, daß man ohne sie das Leben, die Seele, das Denken
gar nicht verstehen kann. Was die Landschaft Südeuropas betrifft, so macht
seit dem Ende der Eiszeit ein unbändiger Überfluß der Pflanzenwelt
allmählich der Dürftigkeit Platz. In der Folge der ägyptischen,
antiken, arabischen und abendländischen Kultur hat sich um das Mittelmeer
herum eine Wandlung des Klimas vollzogen, wonach der Bauer aus dem Kampf gegen
die Pflanzenwelt in den für sie eintreten mußte, erst gegen
den Urwald, dann gegen die Wüste sich behauptend. Die Sahara lag zur Zeit
Hannibals weit im Süden Karthagos, heute dringt sie bereits in das nördliche
Spanien und Italien ein; wo war sie zur Zeit der ägyptischen Pyramidenbauer
mit den Wald- und Jagdbildern auf ihren Reliefs? Als die Spanier die Moriskos
vertreiben, erlosch der nur noch künstlich aufrecht erhaltene Charakter des
Landes als einer Wald- und Ackerlandschaft. Die Städte wurden Oasen in der
Wüste. Zur Römerzeit hätte das keine derartige Folge gehabt.
(Ebd., S. 599-601).Vor
diesem Bilde der Menschenwelt, welches bestimmt ist, das heute noch in den besten
Köpfen befestigte von Altertum, Mittelalter und Neuzeit abzuzlösen,
wird auch eine neue und, wie ich glaube, für unsere Zivilisation endgültige
Antwort auf die alte Frage möglich: Was ist Geschichte? (Ebd., S. 610).
Ranke (im Vorwort zu seiner Weltgeschichte) sagt: »Die
Geschichte beginnt erst, wo die Monumente verständlich werden und
glaubwürdige schriftliche Aufzeichnungen vorliegen.« Das ist
die Antwort eines Sammlers und Ordners von Daten. Ohne Zweifel ist hier
das, was geschehen ist, mit dem verwechselt worden, was innerhalb des
Blickfeldes der jeweiligen Geschichtsforschung geschehen ist. Daß
Mardonios bei Platää geschlagen wurde - das hat aufgeheört
Geschichte zu sein, wenn 2000 Jahre später ein Gelehrter davon nichts
mehr weiß? Ist das Leben nur dann eine Tatsache, wenn in Büchern
davon geredet wird? (Ebd., S. 611).
Der
bedeutendste Historiker seit Ranke, Eduard Meyer, sagt: »Historisch ist,
was wirksam ist oder gewesen ist .... Erst durch die historische Betrachtung wird
der Einzelvorgang, den sie aus der unendlichen Masse gleichzeitiger Vorgänge
heraushebt, zu einem historischen Ereignis«. Das ist ganz im Geschmack und
Geiste Hegels gesagt. Es kommt erstens auf die Tatsachen an und nicht auf unser
zufälliges Wissen davon. (Ebd., S. 611).Gerade
das neue Bild der Geschichte zwingt uns, Tatschen ersten Ranges in großen
Folgen als vorhanden anzunehmen, von denen wir im Gelehrtensinne nie etwas wissen
werden. Wir müssen lernen, im weitesten Umfange mit dem Unbekannten zu rechnen.
Und zweitens: Wahrheiten gibt es für den Geist; Tatsachen gibt es nur in
bezug auf das Leben. Historische Betrachtung, in meiner Ausdrucksweise: physiognomischer
Takt: das ist die Entscheidung des Blutes, die auf die Vergangenheit
und Zukunft erweiterte Menschenkenntnis, der angeborne Blick für Personen
und Lagen, für das, was Ereignis, was notwendig war, was dagewesen sein muß,
und nicht die bloße wissenschaftliche Kritik und Kenntnis von Daten.
Die wissenschaftliche Erfahrung kommt bei jedem echten Historiker nebenher
oder nachher. Sie beweist mit den Mitteln des Verstehens und Mitteilens umständlich
noch einmal, und zwar für das Wachsein, was in einem Augenblick der
Erleuchtung für das Dasein schon bewiesen war. (Ebd., S. 611).Gerade
weil die Gewalt des faustischen Daseins heute einen Umkreis innerer Erfahrungen
herausgebildet hat, wie sie nie ein anderer Mensch und nie eine andere Zeit erwerben
konnten, gerade weil für uns in immer wachsendem Maße fernste Ereignisse
einen Sinn und eine Beziehung erhalten, der für alle andern und auch die
nächsten Miterlebenden nicht vorhanden sein konnte, ist heute für
uns vieles Geschichte, nämlich Leben im Einklang mit unserem Leben geworden,
was es noch vor hundert Jahren nicht war. Für Tacitus hat die Revolution
des Ti. Gracchus, deren Daten er vielleicht »wußte«, keine wirkliche
Bedeutung mehr, wohl aber für uns. Für keinen Bekenner des Islam bedeutet
die Geschichte der Monophysiten und ihre Beziehungen zur Umgebung Mohammeds irgend
etwas; wr lernen da die Entwicklung des englischen Puritanismnus unter andern
Bedingungen noch einmal kennen. Für den Weltblick einer Zivilisation, deren
Schauplatz die ganze Erde geworden ist, gibt es zuletzt nichts ganz Unhistorisches
mehr. Das Schema Altertum-Mittelalter-Neuzeit (),
wie es das 19. Jahrhundert verstand, enthielt nur eine Auswahl handgreiflicher
Beziehungen. Aber die heute beginnende Wirkung frühchinesischer und mexikanischer
Geschichte auf uns ist von feinerer, geistigerer Art: wir machen da Erfahrungen
von den letzten Notwendigkeiten des Lebens überhaupt. Wir lernen dort an
einem andern Lebensverlauf uns selbst kennen, wie wir sind, wie wir sein müssen
und sein werden; das ist die große Schule unserer Zukunft. Wir, die wir
noch Geschichte haben und Geschichte machen, erfahren hier an der äußersten
Grenze der historischen Menschheit, was Geschichte ist. (Ebd., S. 612).
Wenn zwischen zwei Negestämmen des Sudan
oder zwischen Cheruskern und Chatten oder, was wesentlich dasselbe ist,
zwischen zwei Ameisenvölkern eine Schlacht stattfindet, so ist das
lediglich ein Schauspiel der lebendigen Natur. Wenn die Cherusker aber
im Jahre 9 die Römer schlagen, oder die Azteken die Thaskalaner,
so ist das Geschichte. Hier ist das Wann von Bedeutung; hier wiegt
jedes Jahrzehnt, selbst jedes Jahr. Es handelt sich um das Fortschreiten
eines großen Lebenslaufs, in dem jede Entscheidung den Rang einer
Epoche einnimmt. Es ist ein Ziel da, auf das alles Geschehen zutreibt,
ein Dasein, das seine Bestimmung erfüllen will, ein Tempo, eine organische
Dauer, und nicht das regellose Auf und Ab der Skythen, Gallier, Karaiben,
dessen Vorfälle im einzelnen ebenso belanglos sind wie die in einer
Biberkolonie oder einer Steppe voller Gazellenherden. Dies ist zoologisches
Geschehen und gehört in eine Einstellung von ganz andrer Art:
es kommt da nicht auf das Schicksal von einzelnen Völkern und Herden
an, sondern auf das Schicksal des Menschen und das der Gazelle
oder Ameise als Art. Der primitive Mensch hat Geschichte nur im
biologischen Sinne. Auf ihre Ermittlung läuft alle prähistorische
Forschung hinaus. Die zunehmende Vertrautheit mit Feuer, Steinwerkzeugen,
Metallen und den mechanischen Gesetzen der Waffenwirkung kennzeichnet
nur die Entwicklung des Typus und der in ihm ruhenden Möglichkeiten.
Was mit diesen Waffen bei einem Kampf zwischen zwei Stämmen erzielt
wird, ist im Rahmen dieser Art von Geschichte völlig gleichgültig.
Steinzeit und Barock: das sind Altersstufen im Dasein einer Gattung und
einer Kultur, also zweier Organismen, die im Bereich zweier grundverschiedener
Einstellungen liegen. Ich protestiere hier gegen zwei
Annahmen, die alles historische Denken bis jetzt verdorben haben: gegen
die Annahme eines Endziels der gesamten Menschheit und gegen die Leugnung
von Endzielen überhaupt. Das Leben hat
ein Ziel. ().
Es ist die Erfüllung dessen, was mit seiner Zeugung gesetzt war.
Aber der einzelne Mensch gehört durch seine Geburt entweder einer
der hohen Kulturen an oder nur dem menschlichen Typus überhaupt.
Eine dritte große Lebenseinheit gibt es für ihn nicht. Aber
damit liegt sein Schicksal entweder im Rahmen der zoologischen oder der
»Weltgeschichte«. Der »historische Mensch«, wie
ich das Wort verstehe und wie es alle großen Historiker immer gemeint
haben, ist der Mensch einer in Vollendung begriffenen Kultur. Vorher,
nachher und außerhalb ist er geschichtslos. Dann sind die
Schicksale des Volkes, zu dem er gehört, ebenso gleichgültig
wie das Schicksal der Erde, wenn man es nicht im Bilde der Geologie, sondern
der Astronomie betrachtet. (Ebd., S. 612-613).
Und daraus folgt eine ganz entscheidende und
hier zum erstenmal festgestellte Tatsache: daß der Mensch nicht
nur vor dem Entstehen einer Kultur geschichtslos ist, sondern wieder
geschichtslos wird, sobald eine Zivilisation sich zu ihrer vollen
und endgültigen Gestalt herausgebildet und damit die lebendige Entwicklung
der Kultur beendet, die letzten Möglichkeiten eines sinnvollen Daseins
erschöpft hat. Was wir in der ägyptischen Zivilisation seit
Sethos I. (1300) und in der chinesischen, indischen und arabischen noch
heute vor uns sehen, ist wieder das zoologische Auf und Ab des primitiven
Zeitalters, mag es sich auch in noch so durchgeistigte religiöse,
philosophische und vor allem politische Formen hüllen. Ob in Babylon
die Kossäer als wüste Soldatenhorde oder die Perser als feine
Erben sitzen; wann, wie lange und mit welchem Erfolg sie das tun, ist
von Babylon aus gesehen ohne Bedeutung. Für das Behagen der Bevölkerung
war es gewiß nicht gleichgültig, aber an der Tatsache, daß
die Seele dieser Welt erloschen war und deshalb alle Ereignisse einer
tieferen Bedeutung entbehrten, änderte sich damit nichts. Eine neue,
fremde oder einheimische Dynastie in Ägypten, eine Revolution oder
Eroberung in China, eine neues Germanenvolk im römischen Reiche,
das gehört zur Geschichte der Landschaft wie eine Änderung im
Wildbestand oder der Ortswechsel eines Vogelschwarmes. Was
in der wirklichen Geschichte höherer Menschen immer auf dem Spiel
stand und allen tierhaften Machtfragen zugrunde lag, auch wenn der Treibende
oder Getriebene sich nicht im geringsten der Symbolik seiner Taten, Absichten
und Geschicke bewußt wurde, das war die Verwirklichung von etwas
durchaus Seelenhaftem (),
die Überführung einer Idee in eine lebendig historische Gestalt.
Das gilt ebenso von dem Ringen zwischen großen Stilrichtungen in
der Kunst - Gotik und Renaissance -, oder zwischen Philosophen - Stoiker
und Epikuräer -, oder Staatsgedanken - Oligarchie und Tyrannis -,
oder Wirtschaftsformen - Kapitalismus und Sozialismus. (Ebd., S.
613-614).
Von alledem ist nicht mehr die Rede. Was übrig bleibt, ist
der Kampf um die bloße Macht, um den animalischen Vorteil an sich. Und wenn
vorher selbst die scheinbar ideenloseste Macht noch in irgend einer Weise der
Idee dient, so ist in späten Zivilisationen selbst der überzeugendste
Schein einer Idee nur die Maske für rein zoologische Machtfragen. (Ebd.,
S. 614).Was
die indische Philosophie vor und nach Buddha unterscheidet, ist dort die große
Bewegung auf ein mit der indischen Seele und in ihr gesetztes Ziel des indischen
Denkens, und hier das immer neue Hin- und Herwenden eines Denkbestandes, der dadurch
nicht anders wird. Die Lösungen sind da, aber man ändert den Geschmack
in der Art, sie auszusprechen. Und dasselbe gilt von der chinesischen Malerei
vor und nach dem Beginn der Han-Dynastie - mögen wir sie kennen oder nicht
- und von der ägyptischen Architektur vor und nach dem Beginn des Neuen Reiches.
In der Technik steht es nicht anders. Die abendländischen Erfindungen der
Dampfmaschine und Elektrizität kommen unter den Chinesen heute in ganz derselben
Weise - und mit derselben religiösen Scheu - in Aufnahme wie vor viertausend
Jahren die Bronze und der Pflug und noch viel früher das Feuer. Beides
unterscheidet sich seelisch vollständig von den Erfindungen, welche die Chinesen
der Dschouzeit selbst gemacht haben und die für ihre innere Geschichte jedesmal
eine Epoche bedeuteten. ().
Vorher und nachher spielen Jahrhunderte nicht entfernt mehr die Rolle wie die
Jahrzehnte und oft einzelne Jahre innerhalb der Kultur, denn die Zeiträume
der Biologie kommen allmählich wieder zur Geltung. Das gibt diesen sehr
späten Zuständen, welche für ihre Träger etwas ganz Selbstverständliches
haben, den Charakter jener feierlichen Dauer, den echte Kulturmenschen wie Herodot
in Ägypten und seit Marco Polo die Westeuropäer in China im Vergleich
mit dem Tempo der eigenen Entwicklung staunend wahrgenommen haben. Es ist die
Dauer der Geschichtslosigkeit. (Ebd., S. 615).
Ist nicht mit Actium und der pax Romana
die antike Geschichte zu Ende? Große Entscheidungen, in denen sich
der innere Sinn einer ganzen Kultur zusammendrängt, kommen nicht
mehr vor. Der Unsinn, die Zoologie beginnt zu herrschen. Es wird gleichgültig
- für die Welt, nicht für die handelnden Privatpersonen -, ob
ein Ereignis so oder so ausgeht. Alle großen Fragen der Politik
sind gelöst, wie sie in allen Zivilisationen zuletzt gelöst
werden: indem man Fragen nicht mehr als solche empfindet; indem man nicht
mehr fragt. Es dauert nicht lange und man versteht auch nicht mehr, was
bei früheren Katastrophen an Problemen eigentlich zugrunde lag. Was
man nicht an sich selbst erlebt, erlebt man auch nicht an andern. Wenn
die späten Ägypter von der Hyksoszeit, die späten Chinesen
von der entsprechenden »Zeit der kämpfenden Staaten«
reden, so beurteilen sie das äußere Bild nach ihrer Art zu
leben, die keine Rätsel mehr kennt. Sie sehen da bloße Kämpfe
um die Macht; sie sehen nicht, daß diese verzweifelten äußeren
und inneren Kriege, in denen man die Fremden gegen die eigenen Mitbürger
aufrief, um eine Idee geführt wurden. Wir verstehen heute, was um
die Ermordung des Ti. Gracchus und des Clodius in furchtbaren Spannungen
und Entladungen vor sich ging. 1700 konnten wir es noch nicht und 2200
werden wir es nicht mehr verstehen. Genau so steht es mit jenem Chian,
einer napoleonischen Erscheinung, für welche die ägyptischen
Historiker später nur noch die Bezeichnung »Hyksoskönig«
ausfindig machten. Wären die Germanen nicht gekommen, so hätte
die römische Geschichtsschreibung ein Jahrtausend später vielleicht
aus Gracchus, Marius, Sulla und Cicero eine Dynastie gemacht, die von
Cäsar gestützt wurde. (Ebd., S. 615-616).
Man
vergleiche den Tod des Ti. Gracchus mit dem Neros, als die Nachricht von der Erhebung
Galbas nach Rom kam, oder den Sieg Sullas über die Marianer mit dem des Septimius
Severus über Pescennius Niger. Hätte das entgegengesetzte Ergebnis im
zweiten Falle am Gange der Kaiserzeit irgend etwas geändert? Es geht bereits
viel zu weit, wenn Mommsen und Ed. Meyer (Cäsars Monarchie und das Prinzipat
des Pompejus, 1918, S. 501ff.)
einen sorgfältigen Unterschied zwischen der »Monarchie« Cäsars
und dem »Prinzipat« des Pompejus oder Augustus machen. Das sind jetzt
leere staatsrechtliche Formeln; fünfzig Jahre vorher wäre es noch der
Gegensatz zweier Ideen gewesen. Wenn Vindex und Galba 68 »die Republik«
wiederherstellen wollten, so spielten sie mit einem Begriff in einer Zeit, für
die es Begriffe von echter Symbolik nicht mehr gab. Es stand nur noch in Frage,
in wessen Hände die rein materielle Gewalt kommen würde. Die immer negerhafteren
Kämpfe um den Cäsarentitel hätten sich noch durch Jahrhunderte
fortspinnen können, in immer primitiveren und deshalb »ewigeren«
Formen. (Ebd., S. 616-617).Diese
Bevölkerungen haben keine Seele mehr. Sie können deshalb keine eigne
Geschichte mehr haben. Sie können höchstens in der Geschichte einer
fremden Kultur die Bedeutung eines Objektes erhalten und es ist ausschließlich
dieses fremde Leben, welches von sich aus den tieferen Sinn dieser Beziehung bestimmt.
Was auf dem Boden alter Zivilisationen überhaupt noch geschichtsartig wirkt,
ist also nie der Gang der Ereignisse, insofern der Mensch dieses Bodens selbst
in ihnen mitspielt, sondern insofern andre es tun. Aber
damit ist das Gesamtphänomen »Weltgeschichte« wieder in seinen
zwei Elementen sichtbar geworden: Lebensläufe großer Kulturen und die
Beziehungen zwischen ihnen. (Ebd., S. 617).Die
Beziehungen zwischen den KulturenObwohl sie das zweite und
die Kulturen das erste sind, so urteilt das moderne historische Denken doch umgekehrt.
Je weniger es die eigentlichen Lebensläufe erkennt, aus denen sich die scheinbare
Einheit des Weltgeschehens zusammensetzt, desto eifriger sucht es das Leben im
Gewebe der Beziehungen, desto weniger versteht es mithin auch von diesen. Wie
reich ist die Psychologie dieses Aufsuchens, Abwehrens, Wählens, Umdeutens,
Verführens, Eindringens, Sichanbietens, und zwar sowohl zwischen den Kulturen,
die sich unmittelbar berühren, bewundern, bekämpfen, als zwischen einer
lebenden Kultur und der Formenwelt einer toten, deren Reste noch sichtbar in
der Landschaft stehen! Und wie eng und arm sind die Vorstellungen, welche demgegenüber
der Historiker mit den Worten Einfluß, Fortdauer und Fortwirkung verbindet!
(Ebd., S. 617).
Das ist echtes 19. Jahrhundert. Man sieht nur noch eine Kette von
Ursachen und Wirkungen. Alles »folgt«, nichts ist ursprünglich.
Weil überall Formenelemente der Oberfläche älterer Kulturen sich
bei jüngeren wiederfinden, so haben sie »fortgewirkt«, und wenn
man eine Reihe von solchen Fortwirkungen beisammen hat, so glaubt man etwas Rechtes
getan zu haben. (Ebd., S. 617-618).
Zugrunde liegt dieser Betrachtungsweise das Bild der sinnvoll-einheitlichen
Menschengeschichte, wie es einst den großen Gotikern aufging. Da sah man,
wie auf Erden Menschen und Völker wechselten und die Ideen blieben. Der Eindruck
dieses Bildes war gewaltig und hat sich noch heute nicht verloren. Ursprünglich
war es der Plan, den Gott mit dem Menschengeschlecht verfolgte; aber auch später
noch konnte man sehen, solange der Bann des Schemas Altertum-Mittelalter-Neuzeit
()
anhielt und man nur das scheinbar Dauernde, nicht das tatsächlich sich Verändernde
bemerkte. Inzwischen ist unser Blick anders geworden, kühler und weiter,
und unser Wissen hat die Grenzen dieses Schemas längst überschritten.
Wer heute noch so sieht, steht auf der falschen Seite. (Ebd., S. 618).Zwei
Kulturen können sich von Mensch zu Mensch berühren oder der Mensch der
einen die tote Formenwelt der andern in ihren mitteilbaren Resten sich gegenübersehen.
Tätig ist in jedem Falle der Mensch allein. Die gewordene Tat des einen kann
von einem andern nur aus dessen Dasein heraus beseelt werden. Sie wird damit sein
inneres Eigentum, sein Werk und ein Teil seines Selbst. Nicht »der Buddhismus«
ist von Indien nach China gewandert, sondern es wurde aus dem Vorstellungsschatz
der indischen Buddhisten ein Teil von den Chinesen einer besonderen Gefühlsrichtung
angenommen und zu einer neuen Art des religiösen Ausdrucks gemacht,
die ausschließlich für chinesische Buddhisten etwas bedeutete. Es kommt
nie auf den ursprünglichen Sinn der Form an, sondern auf die Form selbst,
in welcher das tätige Empfinden und Verstehen des Betrachters die Möglichkeit
zu eigner Schöpfung entdeckt. Bedeutungen sind unübertragbar.
Die tiefe seelische Einsamkeit, die sich zwischen das Dasein zweier Menschen von
verschiedener Art legt, wird durch nichts gemindert. Mögen sich damals Inder
und Chinesen gemeinsam als Buddhisten empfunden haben, sie standen sich innerlich
deshalb nicht weniger fern. Es sind dieselben Worte, dieselben Bräuche, dieselben
Zeichen - aber zwei verschiedene Seelen, die ihre eigenen Wege gehen. (Ebd.,
S. 620).Man
kann daraufhin alle Kulturen untersuchen .... Wie steht es denn mit der den »ewigen
Errungenschaften« in der Philosophie und Wissenschaft? Wir müssen
immer wieder hören, wieviel von der griechischen Philosophie noch heute fortlebt.
Aber das bleibt eine Redensart ohne eine gründliche Aufstellung dessen, was
erst der magische und dann der faustische Mensch mit der tiefen Weisheit ungebrochener
Instinkte abgelehnt, nicht bemerkt oder unter Beibehaltung der Formeln planmäßig
anders verstanden hat. Der naive Glaube gelehrter Begeisterung täuscht sich
hier. (Ebd., S. 621).Weil
es von vornherein feststand, was man ausdrücken wollte, und man also
von dem toten Bestand, den man vor sich hatte, nur das wenige wirklich sah, was
man wünschte, und zwar so, wie man es wünschte, nämlich in der
Richtung der eignen Absicht und nicht der des Schöpfers, über die kleine
lebendige Kunst je ernstlich nachgedacht hat. Man muß den »Einfluß«
der ägyptischen auf die frühgriechische Plastik Zug um Zug verfolgen,
um endlich zu sehen, daß ein Einfluß gar nicht vorhanden ist, sondern
daß das griechische Formwollen jenen alten Kunstbeständen einige Merkmale
entnahm, die es auch ohne sie in irgend einer Art gefunden hätte. .... Ich
wiederhole: man sieht immer nur die Beziehungen, die zugelassen worden sind. Was
alles ist aber nicht zugelassen worden? Warum befinden sich z.B. die ägyptischen
Pyramiden, Pylonen, Obelisken, die Hieroglyphen- und Keilschrift nicht darunter
? .... Man kann die gänzlich unbewußte Weisheit der Auswahl und der
ebenso entschlossenen Umdeutung gar nicht hoch genug einschätzen. Jede beziehung,
die zugelassen wird, ist nicht nur eine Ausnahme, sondern auch ein Mißverständnis,
und die innere Kraft eines Daseins äußert sich vielleicht nirgends
so deutlich wie in dieser Kunst des planmäßigen Mißverstehens.
(Ebd., S. 621-622 ).Je
lauter man die Prinzipien eines fremden Denkens rühmt, desto gründlicher
hat man sicherlich ihren Sinn verändert. Man gehe doch dem Lobe Platos im
Abendlande einmal genau nach! .... Je demütiger man eine fremde Religion
annimmt, desto vollkommener hat sie bereits die Form der neuen Seele angenommen.
Es sollte wirklich einmal die Geschichte der »drei Aristoteles« geschrieben
werden, nämlich des griechischen, arabischen und gotischen, die nicht einen
Begriff, nicht einen Gedanken gemein haben. Oder die Geschichte der Verwandlung
des magischen in das faustische Christentum! Wir hören und lernen, daß
diese Religion sich im Westen unverändert von der alten Kirche aus über
das Abendland verbreitet hat. In Wirklichkeit entwickelte der magische Mensch
aus der ganzen Tiefe seines dualistischen Weltbewußtseins eine Sprache seines
religiösen Wachseins, die wir »das« Christentum nennen. Was von
diesem Erlebnis mitteilbar war, Worte, Formeln, Gebräuche, nahm der Mensch
der spätantiken Zivilisation als Mitte für sein religiöses
Bedürfnis an; von Mensch zu Mensch ging diese Formensprache bis zu den Germanen
der abendländischen Vorkultur, in den Wortklängen immer dasselbe, in
den Bedeutungen immer etwas anderes. (Ebd., S. 622-623).
Schon das spätantike Recht der kaiserlichen Erlasse vor Konstantin (constitutiones,
placita) gilt, obwohl die römische Form des Stadtrechts streng gewahrt
wird, ganz eigentlich für die Gläubigen der »synkretistischen
Kirche« (vgl. Bd. II, S. 799 ff. Der Ausdruck
kann gewagt werden, weil die Anhänger aller spätantiken Kulte durch
ein frommes Gemeingefühl ebenso zusammengehalten wurden wie die christlichen
Einzelgemeinden), jener Masse von Kulten, die alle von derselben Religiosität
durchdrungen sind. Während im damaligen Rom das Recht von einem großen
Teil der Bevölkerung sicher noch als das Recht eines Stadtstaates empfunden
wurde, verlor sich das Gefühl mit jedem Schritt nach Osten. Die Zusammenfassung
der Gläubigen zu einer Rechtsgemeinschaft geschah in aller Form durch den
Kaiserkult, der durchaus göttliches Recht war. (Ebd., S. 635-636).
Aber hier ist das hochzivilisierte Recht einer greisen Kultur der Frühzeit
einer jungen aufgenötigt worden. Es kam als gelehrte Literatur herüber,
und zwar infolge der politischen Entwicklung, die ganz anders geworden wäre,
wenn Alexander und Cäsar länger gelebt oder Antonius bei Actium gesiegt
hätte. Wir müssen die früharabische Rechtsgeschichte von Ktesiphon
und nicht von Rom aus betrachten. Ist das innerlich längst abgeschlossene
Recht des fernen Westens hier mehr als bloße Literatur gewesen? Welchen
Anteil hatte es am wirklichen Rechtsdenken, der Rechtsschöpfung und Rechtspraxis
dieser Landschaft? Und wieviel Römisches, ja Antikes überhaupt ist
in ihm selbst erhalten geblieben? (Mitteis, Reichsrecht
und Volksrecht, S. 13, hat schon 1891 auf den orientalischen Zug in der
Gesetzgebung Konstantins aufmerksam gemacht. Collinet, Études historiques
sur le droit de Justinien I [1912] führt, übrigens meist auf Grund
deutscher Forschungen, unendlich vieles auf hellenistisches Recht zurück;
aber wieviel von diesem »Hellenistischen« war wirklich griechisch
und nicht nur griechisch geschrieben? Die Ergebnisse der Interpolationenforschung
sind für den »antiken« Geist der Digesten Justinians wahrhaft
vernichtend.) (Ebd., S. 638).
Recht
des Abendlandes. - Und deshalb sei es hier in aller Schärfe gesagt: Das antike
Recht war ein Recht von Körpern, unser Recht ist das von Funktionen.
Die Römer schufen eine juristische Statik, unsere Aufgabe ist eine juristische
Dynamik. .... Für einen Römer war der Sklave eine Sache, die neue Sachen
hervorbrachte. Der Begriff des geistigen Eigentums ist einem Schriftsteller wie
Cicero nie gekommen, geschweige denn der des Eigentums an einer praktischen Idee
oder den Möglichkeiten einer großen Begabung. Für uns aber ist
der Organisator, Erfinder und Unternehmer eine erzeugende Kraft, die auf
andere, ausführende Kräfte wirkt, indem sie ihnen Richtung, Aufgabe
und Mittel zu eigener Wirkung gibt. Beide gehören dem Wirtschaftsleben an
nicht als Besitzer von Sachen, sondern als Träger von Energien. Eine Umstellung
des gesamten Rechtsdenkens nach Analogie der höheren Physik und Mathematik
wird zur Forderung der Zukunft. Das gesamte soziale, wirtschaftliche, technische
Leben wartet darauf, endlich in diesem Sinne begriffen zu werden; wir brauchen
mehr als ein Jahrhundert schärfsten und tiefsten Denkens, um dies Ziel zu
erreichen. Und dazu bedarf es einer ganz andern Art der Vorbildung des Juristen.
Sie fordert 1.) eine unmittelbare ausgedehnte und
praktische Erfahrung im Wirtschaftsleben der Gegenwart, 2.)
eine genaue Kenntnis der Rechtsgeschichte des Abendlandes, unter beständiger
Vergleichung der deutschen, englischen und romanischen Entwicklung, 3.)
die Kenntnis des antiken Rechts, und zwar nicht als eines Musters der heute
geltenden Begriffe, sondern als glänzendes Beispiel dafür, wie ein Recht
sich rein aus dem praktischen Leben der Zeit entwickelt. - Das römische
Recht hat aufgehört, für uns der Ursprung der für immer gültigen
Grundbegriffe zu sein. Aber das Verhältnis zwischen dem römischen Dasein
und den römischen Rechtsbegriffen macht es uns von neuem wertvoll. Wir können
an ihm lernen, wie wir unser Recht aus eignen Erfahrungen herauszubilden
haben. (Ebd., S. 654-655).
Städte und Völker (S. 656-783): I. Die
Seele der Stadt (S. 656-687) Mykene und
Kreta [S. 656] Der Bauer [S. 660] Weltgeschichte ist Stadtgeschichte
[S. 661] Stadtbild [S. 664] Stadt und Geist [S. 669] Geist
der Weltstadt [S. 673] Unfruchtbarkeit und Zerfall [S. 678] II. Völker,
Rassen, Sprachen (S. 688-745) Daseinsströme
und Wachseinsverbindungen [S. 690] Ausdruckssprache und Mitteilungssprache
[S. 691] Totem und Tabu [S. 693] Sprache und Sprechen [S. 694]
Das Haus als Rasseausdruck [S. 698] Burg und Dom [S. 701] Die Rasse
[S. 703] Blut und Boden [S. 708] Die Sprache [S. 712] Mittel
und Bedeutung [S. 717] Wort, Grammatik [S. 721 Sprachgeschichte
731 Schrift [S. 737] Morphologie der Kultursprachen [S. 741]
III. Urvölker,
Kulturvölker, Fellachenvölker (S. 746-783)
Völkernamen, Sprachen, Rassen [S. 746] Wanderungen [S. 750]
Volk und Seele [S. 754] Die Perser [S. 756] Morphologie der
Völker [S. 759] Volk und Nation [S. 761] Antike, arabische,
abendländische Nationen [S. 765].Die
Seele der StadtIn Karl dem Großen tritt jene Mischung
urmenschlichen Seelentums kurz vor dem Erwachen und einer späten darüber
gelagerten Geistigkeit hell zutage. (Ebd., S. 657).Der
ursprüngliche Mensch ist ein schweifendes Tier, ein Dasein, dessen Wachsein
sich ruhelos durch das Leben tastet, ganz Mikrokosmos, ortsfrei und heimatlos,
mit scharfen und ängstlichen Sinnen, immer darauf bedacht, der feindlicllen
Natur etwas abzujagen. Eine tiefe Wandlung beginnt erst mit dem Ackerbau - denn
dies ist etwas Künstliches, wie es Jägern und Hirten durchaus
fern liegt: wer gräbt und pflügt, will die Natur nicht plündern,
sondern abändern. Pflanzen heißt etwas nicht nehmen, sondern
erzeugen. Aber damit wird man selbst zur Pflanze, nämlich Bauer.
Man wurzelt in dem Boden, den man bestellt. Die Seele des Menschen entdeckt eine
Seele in der Landschaft; eine neue Erdverbundenlleit des Daseins, ein neues Fühlen
meldet sich. Die feindliche Natur wird zur Freundin. Die Erde wird zur Mutter
Erde. Zwischen säen und zeugen, Ernte und Tod, Kind und Korn entsteht
eine tiefgefühlte Beziehung. Eine neue Frömmigkeit richtet sich in chtonischen
Kulten auf das fruchttragende Land, das mit den Menschen zusammenwächst.
Und als vollkommener Ausdruck dieses Lebensgefühls entsteht überall
die sinnbildliche Gestalt des Bauernhauses, das in der Anlage seiner Räume
und in jedem Zuge seiner äußeren Form vom Blut der Bewohner redet.
Das Bauernhaus ist das große Symbol der Seßhaftigkeit. Es ist selbst
Pflanze; es senkt seine Wurzeln tief in den »eigenen« Boden.
Es ist Eigentum im heiligsten Sinne. Die guten Geister des Herdes und der Tür,
des Grundstücks und der Räume: Vesta, Janus, die Laren und Penaten haben
ihren festen Ort so gut wie der Mensch selbst. (Ebd., S. 660).Dies
ist die Voraussetzung jeder Kultur, die selbst wieder pflanzenhaft aus ihrer Mutterlandschaft
emporwächst und die seelische Verbundenheit des Menschen mit dem Boden noch
einmal vertieft. Was dem Bauern sein Haus, das ist dem Kulturmenschen die Stadt.
Was dem einzelnen Hause die guten Geister, das ist jeder Stadt ihr Schutzgott
oder Heiliger. Auch die Stadt ist ein pflanzenhaftes Wesen. Alles Nomadenhafte,
alles rein Mikrokosmische liegt ihr ebenso fern wie das Bauerntum. Deshalb ist
jede Entwickllmg einer höheren Formensprache an die Landschaft gebunden.
Weder eine Kunst noch eine Religion können den Ort ihres Wachstums verändern.
Erst die Zivilisation mit ihren Riesenstädten verachtet wieder diese Wurzeln
des Seelentums und löst sich von ihnen. Der zivilisierte Mensch, der intellektuelle
Nomade ist wieder ganz Mikrokosmos, ganz heimatlos, geistig frei wie die Jäger
und Hirten es sinnlich waren. Ubi bene ibi patria - das gilt vor und nach
einer Kultur. Irn Vorfrühling der Völkerwanderung war es die jungfräuliche
und doch schon miitterliche Germanensehnsucht, die im Süden eine Heimat suchte,
um für ihre künftige Kultur ein Nest zu bauen. Heute, am Ende dieser
Kultur, schweift der wurzellose Geist durch alle landschaftlichen und gedanklichen
Möglichkeiten. Dazwischen aber liegt die Zeit, wo der Mensch fiir ein Stück
Erde stirbt. (Ebd., S. 660-661).Es
ist eine ganz entscheidende und in ihrer vollen Bedeutung nie gewürdigte
Tatsache, daß alle großen Kulturen Stadtkulturen sind. Der höhere
Mensch des zweiten Zeitalters ist ein städtebauendes Tier. Das ist
das eigentliche Kriterium der »Weltgeschichte«, das sie von der Menschengeschichte
überhaupt auf das Schärfste abhebt - Weltgeschichte ist die Geschichte
des Stadtmenschen. Völker, Staaten, Politik und Religion, alle Künste,
alle Wissenschaften beruhen auf einem Urphänomen menschlichen Daseins: der
Stadt. Da alle Denker aller Kulturen selbst in Städten leben - auch wenn
sie sich körperlich auf dem Lande befinden -, so wissen sie gar nicht, ein
wie bizarres Ding die Stadt ist. Wir müssen uns ganz in das Erstaunen eines
Urmenschen versetzen, der zum ersten Mal inmitten der Landschaft diese Masse von
Stein und Holz erblickt, mit ihren steinumgebenen Straßen und steinbelegten
Plätzen, ein Gehäuse von seltsamster Form, in dem es von Menschen wimmelt.
(Ebd., S. 661).Das
eigentliche Wunder ist die Geburt der Seele einer Stadt. Als Massenseele
von ganz neuer Art, deren letzte Gründe für uns ein ewiges Geheimnis
bleiben werden, sondert sie sich plötzlich ab aus dem allgemeinen Seelentum
ihrer Kultur. Ist sie erwacht, so bildet sie sich einen sichtbaren Leib. Aus der
dörflichen Sammlung von Gehöften, von denen jedes seine eigene Geschichte
hat, entsteht ein Ganzes. Und diese Ganze lebt, atmet, wächst,
erhält ein Antlitz, eine innere Form und Geschichte. Von nun ist außer
dem einzelnen Hause, dem Tempel, dem Dom, dem Palast auch das Stadtbild als Einheit
der Gegenstand einer Formensprache und Stilgeschichte, welche den ganzen Lebenslauf
einer Kultur begleitet. (Ebd., S. 661-662).Es
versteht sich, daß nicht der Umfang, sondern das Vorhandensein einer Seele
Stadt und Dorf unterscheidet. Es gibt nicht nur in primitiven Zuständen wie
im heutigen Inner-Afrika, sondern auch im späten China und Indien und in
allen Industriegebieten des modernen Europa und Amerika sehr große Siedlungen,
die trotzdem keine Städte sind. Sie sind Mittelpunkte des Landes, aber sie
bilden innerlich keine Welt für sich. Sie haben keine Seele. Jede primitive
Bevölkerung lebt durchaus bäuerlich und landmäßig. Das Wesen
»Stadt« ist für sie nicht vorhanden. Was sich äußerlich
vom Dorfe abhebt, ist nicht eine Stadt, sondern ein Markt, ein bloßer Treffpunkt
ländlicher Lebensinteressen, bei welchem von einem Sonderleben keine Rede
sein kann. Die Bewohner eines Marktes, auch wenn sie Handwerker oder Kaufleute
sind, leben und denken doch als Bauern. Wir müssen genau nachfühlen,
was es heißt, wenn aus einem urägyptischen, urchinesischen oder germanischen
Dorf, einem Pünktchen im weiten Lande, eine Stadt wird, die sich äußerlich
vielleicht durch nichts unterscheidet, die aber seelisch der Ort ist, von dem
aus der Mensch das Land jetzt als »Umgebung« erlebt, als etwas
anderes und Untergeordnetes. Von nun an gibt es zwei Leben, das drinnen und das
draußen, und der Bauer empfindet das ebenso deutlich wie der Bürger.
Der Dorfschmied und der Schmied in der Stadt, der Dorfschulze und der Bürgermeister
leben in zwei verschiedenen Welten. Der Landmensch und der Stadtmensch sind vcrschiedene
Wesen. Zuerst fühlen sie den Unterschied, dann werden sie von ihm beherrscht;
zuletzt verstehen sie sich nicht mehr. Ein märkischer und ein sizilischer
Bauer stehen sich heute näher als der märkische Bauer dem Berliner.
Von dieser Einstellung an gibt es wirkliche Städte und diese Einstellung
ist es, welche dem gesamten Wachsein aller Kulturen mit Selbstverständlichkeit
zugrunde liegt. (Ebd., S. 662).Jede
Frühzeit einer Kultur ist zugleich die Frühzeit eines neuen Städtewesens.
Den Menschen der Vorkultur erfüllt eine tiefe Scheu vor diesen Gebilden,
zu denen er innerlich kein Verhältnis gewinnen kann. Am Rhein und der Donau
siedelten sich die Germanen vielfach - z. B. in Straßburg - vor den Toren
der Römerstädte an, die unbewohnt liegen blieben. (Vgl. Georg Dehio,
Geschichte der deutschen Kunst, 1919, S. 13f.). In Kreta haben die Eroberer
auf dem Trümmerschutt der niedergebrannten Städte wie Gurnia und Knossos
ein Dorf angelegt. Die Orden der abendländischen Vorkultur ... siedeln wie
die Ritter auf freiem Lande. Erst die Franziskaner und Dominikaner bauen sich
in den frühgotischen Städten an: da ist die neue Stadtseele eben erwacht.
Aber auch da liegt in allen Bauten, in der gesamten Franziskanerkunst noch eine
zarte Schwermut, eine fast mystische Furcht des einzelnen vor dem Neuen, Hellen,
Wachen, das von der Gesamtheit noch dumpf hingenommen wird. Man wagt es kaum,
kein Bauer mehr zu sein. Erst die Jesuiten leben mit dem reifen und überlegenen
Wachsein echt großstädtischer Menschen. Es ist ein Symbol der unbedingten
Vorherrschaft des Landes, das die Stadt noch nicht anerkennt, wenn die Herrscher
jeder Frühzeit in wandernden Pfalzen Hof halten. Im ägyptischen Alten
Reiche liegt der stark bevölkerte Verwaltungssitz an der »Weißen
Mauer« beim Ptahtempel im späteren Memphis, aber die Residenzen der
Pharaonen wechseln unaufhörlich wie im sumerischen Babylonien und im Karolingerreich.
(Vgl. Eduard Meyer, Geschichte des Altertums [I], 1884, S. 188). Die frühchinesischen
Herrscher der Dschou-Dynastie haben seit 1109 ihre Pfalz in der Regel zu Loh-yang
(heute Ho-nan-fu), aber erst seit 770, was unserem 16. Jahrhundert entspricht,
wird der Ort zur dauernden Residenzstadt erhoben. (Ebd., S. 662-663).Nirgends
hat sich das Gefühl der Erdverbundenheit, des Pflanzenhaft-Kosmischen so
mächtig ausgesprochen wie in der Architektur dieser winzigen frühen
Städte, die kaum mehr sind als ein paar Straßen um einen Markt, eine
Burg oder ein Heiligtum. Wenn es irgendwo deutlich wird, daß jeder große
Stil selbst eine Pflanze ist, so hier. Die dorische Säule, die ägyptische
Pyramide, der gotische Dom wachsen streng, schicksalhaft, ein Dasein ohne Wachsein
aus dem Boden; die ionische Säule und die Bauten des Mittleren Reiches und
des Barock ruhen voll erwacht, selbstbewußt, frei und sicher auf
ihm. Da ist, von den Mächten der Landschaft abgetrennt, durch das Pflaster
unter den Füßen gleichsam abgeschnitten, das Dasein matter, das Empfinden
und Verstehen immer mächtiger geworden. Der Mensch wird »Geist«,
»frei« und dem Nomaden wieder ähnlicher, aber enger und kälter.
»Geist« ist die spezifisch städtische Form des verstehenden
Wachseins. Alle Kunst, alle Religion und Wissenschaft wird langsam geistig,
dem Lande fremd, dem erdhaften Bauern unverständlich. Mit der Zivilisation
tritt das Klimakterium ein. Die uralten Wurzeln des Daseins sind verdorrt in den
Steinmassen ihrer Städte. Der freie Geist - ein verhängnisvolles Wort!
- erscheint wie eine Flamme, die prachtvoll aufsteigt und jäh in der Luft
verlodert. (Ebd., S. 663-664).Alle
politische und Wirtschaftsgeschichte kann nur begriffen werden, wenn man die vom
Lande sich mehr und mehr absondernde und das Land zuletzt völlig entwertende
Stadt als Gebilde erkennt, welches den Gang und Sinn der höhere Geschichte
überhaupt bestimmt. (Ebd., S. 667).
Weltgeschichte ist Stadtgeschichte. (Ebd., S. 667).Alle
wirkliche Geschichte beginnt damit, daß die Urstände, Adel und Priestertum,
sich als solche bilden und über das Bauerntum erheben. .... Der Bauer
ist geschichtslos. ... Der Bauer ist der ewige Mensch, unabhängig von
aller Kultur, die in den Städten nistet. Er geht ihr vorauf, er überlebt
sie, dumpf und von Geschlecht zu Geschlecht sich fortzeugend, auf erdverbundene
Berufe und Fähigkeiten beschränkt, eine mystische Seele, ein trockener,
am Praktischen haftender Verstand, der Ausgang und die immer fließende Quelle
des Blutes, das in den Städten die Weltgeschichte macht. Was die Kultur dort
in den Städten ersinnt, an Staatsformen und Wirtschaftssitten, Glaubenssätzen,
Werkzeugen, an Wissen und Kunst, nimmt er mißtrauisch und zögern d
endlich hin, ohne deshalb je seine Art zu ändern. .... Seine Götter
sind sind älter als jede höhere Religion. Nehmt den Druck der großen
Städte von ihm und er wird ohne Entbehrung in seinen natürlichen Zustand
zurückkehren. Seine wirkliche Ethik, seine wirkliche Metaphysik, die kein
Stadtgelehrter je der Entdeckung für würdig gehalten hat, leigen außerhalb
aller Religions- und Geistesgeschichte. Sie haben überhaupt keine Geschichte.
(Ebd., S. 668-669).
Die Stadt ist Geist. Die Großstadt ist der »freie Geist«,
Das Bürgertum, der Stand des Geistes, beginnt mit seiner Auflehnung gegen
die - »feudalen« - Mächte des Blutes und der Tradition sich seines
Sonderdaseins bewußt zu werden. .... Der städtische Geist reformiert
die große Religion der Frühzeit und setzt neben die alte ständische
eine bürgerliche Religion, die freie Wissenschaft. (Ebd., S.
669-670).Die
Stadt übernimmt die Leitung der Wirtschaftsgeschichte, indem sie an die Stelle
der Urwerte des Landes, wie sie vom bäuerlichen Leben nie zu trennen sind,
den von den Gütern abgelösten Begriff des Geldes setzt. Das uralte
ländliche Wort für den Güterverkehr ist Tausch. Selbst wo
es sich um die Vertauschung eines Dinges gegen Edelmetall handelt, liegt dem Vorgang
kein »Gelddenken« zugrunde, welches vom Dinge der Wert begrifflich
trennt und in eine fiktive oder metallene Größe bindet, deren Bestimmung
es von da an ist, das »andere«, »die Ware« zu messen.
Karavanenzüge und Wikingerfahrten der Frühzeit erfolgen zwischen ländlichen
Siedlungen und bedeuten Tausch und Beute. Zur Spätzeit erfolgen sie zwischen
Städten und bedeuten »Geld«. (Ebd., S. 670).Eine
Epoche tritt ein, wenn die Stadt sich so gewaltig entwickelt hat, daß sie
sich nicht mehr gegen das Land behaupten muß, gegen Bauerntum und Ritterschaft,
sondern daß das Land mit seinen Urständen eine hoffnungslose Verteidigung
gegen die Alleinherrschaft der Stadt führt, geistig gegen den Rationalismus,
politisch gegen die Demokratie, wirtschaftlich gegen das Geld. In dieser Zeit
ist die Zahl der Städte, welche als historisch führende in Betracht
kommen, schon sehr klein geworden. Es entsteht der tiefe, vor allem seelische
Unterschied von Großstadt und Kleinstadt, welch letztere unter dem
sehr bezeichnenden Namen Landschaft ein Teil des aktiv nicht mehr mitzählenden
Landes wird. Der Gegensatz zwischen dem Landmenschen und Stadtmenschen ist in
diesen kleinen Städten nicht geringer geworden, aber er verschwindet vor
dem neuen Abstand, der sich zwischen sie und die Großstadt legt. Bäuerlich-kleinstädtische
Schlauheit und großstädtische Intelligenz sind zwei Formen verstehenden
Wachseins, zwischen denen eine Verständigung kaum möglich ist. Es ist
klar, daß es sich auch hier nicht um die Einwohnerzahl, sondern um den Geist
handelt. Es ist auch deutlich, daß in allen großen Städten sich
Winkel erhalten, in denein Fragmente einer fast ländlich gebliebenen Menschheit
in ihren Gassen wie auf dem Lande leben, wo die Bewohner über die Straße
weg in fast dörflichen Beziehungen zueinander stehen. Es führt eine
Pyramide von immer städtischer geprägten Wesen von diesen fast bäuerlichen
Menschen über immer engere Schichten bis zu der geringen Zahl echter Großstadtmenschen,
die überall zu Hause sind, wo ihre seelischen Voraussetzungen erfüllt
werden. (Ebd., S. 670-671).
Damit hat auch der Begriff Geld seine volle Abstraktheit erlangt.
Er dient nicht mehr dem Verstehen des wirtschaftlichen Verkehrs; er unterwirft
den Warenumlauf seiner eigenen Entwicklung. Er wertet die Dinge nicht mehr untereinander,
sondern in bezug auf sich. Seine Beziehung zum Boden und den damit verwachsenen
Menschen ist so vollständig verschwunden, daß sie für das wirtschaftliche
Denken der führenden Städte - der »Geldplätze« - nicht
mehr in Betracht kommt. Das Geld ist jetzt eine Macht, und zwar eine rein geistige,
durch das Metall nur repräsentierte Macht im Wachsein der Oberschicht der
wirtschaftlich tätigen Bevölkerung geworden, welche die mit ihm beschäftigten
Menschen ebenso von sich abhängig macht, wie früher die Erde den Bauern.
Es gibt ein »Denken in Geld«, wie es ein mathematisches und juristisches
Denken gibt. (Ebd., S. 671).Aber
der Boden ist etwas Wirkliches und Natürliches, das Geld etwas Abstraktes
und Künstliches, eine bloße Kategorie wie »die Tugend«
im Denken der Aufklärung. Daraus folgt, daß jede ursprüngliche,
also stadtlose Wirtschaft von den kosmischen Mächten, dem Boden, dem Klima,
dem Menschenschlage abhängig und damit in Schranken gehalten ist, während
das Geld als reine Verkehrsform innerhalb des Wachseins einen von der Wirklichkeit
ebensowenig begrenzten Kreis von Möglichkeiten hat wie die Größen
der mathematischen und logischen Welt. Wie kein Blick auf die Tatsachen uns hindert,
nichteuklidische Geometrien in beliebiger Zahl zu konstruieren, liegt innerhalb
der ausgebildeten großstädtischen Wirtschaft kein Hindernis mehr vor,
das »Geld« zu vermehren, gewissermaßen in andem Gelddimensionen
zu denken, was mit der etwaigen Vermehrung des Goldes oder überhaupt der
wirklichen Werte durchaus nichts zu tun hat. Es gibt keinen Maßstab und
keine Art von Gütern, an denen man den Wert eines Talentes zur Zeit der Perserkriege
und in der ägyptischen Beute des Pompejus vergleichen könnte. Das Geld
ist für den Menschen als zwon oikonomikon eine
Form des tätigen Wachseins geworden, die keinerlei Wurzeln im Dasein mehr
besitzt. Darauf beruht seine ungeheure Macht über jede beginnende Zivilisation,
die jedesmal eine unbedingte Diktatur dieses »Geldes« in einer
für jede Kultur versclriedenen Gestalt ist, darin aber auch der Mangel an
Halt, durch den es zuletzt seine Macht und seinen Sinn verliert und aus dem Denken
einer späten Zivilisation wie der Zeit Diokletians völlig verschwindet,
um den bodenständigen Urwerten wieder Platz zu machen. (Ebd., S. 671-672).Es
entsteht zuletzt das ungeheure Symbol und Behältnis des völlig frei
gewordenen Geistes, die Weltstadt, der Mittelpunkt, in dem sich endlich der Gang
der Weltgeschichte vollkommen konzentriert: jene ganz wenigen Riesenstädte
aller reifen Zivilisationen, welche die gesamte Mutterlandschaft ihrer Kultur
durch den Begriff Provinz ächten und entwerten. Provinz ist jetzt alles,
Land, Kleinstadt und Großstadt, mit Ausnahme dieser zwei oder drei Punkte.
Es gibt nicht mehr Adlige und Bürger, nicht mehr Freie und Sklaven, nicht
mehr Hellenen und Barbaren, nicht mehr Rechtgläubige und Ungläubige,
sondern nur noch Weltstädtler und Provinzler. Alle anderen Gegensätze
verblassen vor diesem einen, der alle Ereignisse, Lebensgewohnheiten lmd Weltanschauungen
beherrscht. (Ebd., S. 672).Der
Steinkoloß »Weltstadt« steht am Ende des Lebenslaufes einer
jeden großen Kultur. Der vom Lande seelisch gestaltete Kulturmensch wird
von seiner eigenen Schöpfung, der Stadt, in Besitz genommen, besessen, zu
ihrem Geschöpf, ihrem ausführenden Organ, endlich zu ihrem Opfer gemacht.
Diese steinerne Masse ist die absolute Stadt. Ihr Bild, wie es sich mit seiner
großartigen Schönheit in die Lichtwelt des menschlichen Auges zeichnet,
enthält die ganze erhabene Todessymbolik des endgültig »Gewordenen«.
Der durchseelte Stein gotischer Bauten ist im Verlauf einer tausendjährigen
Stilgeschichte endlich zum entseelten Material dieser dämonischen Steinwüste
geworden. Diese letzten Städte sind ganz Geist. Ihre Häuser sind nicht
mehr wie noch die der ionischen und Barockstädte Abkömmlinge des alten
Bauernhauses, von dem einst die Kultur ihren Ausgang nahm. Sie sind überhaupt
nicht mehr Häuser, in denen Vesta und Janus, die Penaten und Laren irgendeine
Stätte besitzen, sondern bloße Behausungen, welche nicht das Blut,
sondern der Zweck, nicht das Gefühl, sondern der wirtschaftliche Unternehmensgeist
geschaffen hat. Solange der Herd im frommen Sinne der wirkliche, bedeutsame Mittelpunkt
einer Familie ist, solange ist die letzte Beziehung zum Lande nicht geschwunden.
Erst wenn auch das verloren geht und die Masse der Mieter und Schlafgäste
in diesem Häusermeer ein irrendes Dasein von Obdach zu Obdach führt,
wie die Jäger und Hirten der Vorzeit, ist der intellektuelle Nomade völlig
ausgebildet. Diese Stadt ist eine Welt, ist die Welt. Sie hat als Ganzes
die Bedeutung einer menschlichen Wohnung. Die Häuser sind nur die Atome,
welche sie zusammensetzen. Jetzt beginnen die alten gewachsenen Städte mit
ihrem gotischen Kern aus Dom, Rathaus und spitzgiebligen Gassen, um deren Türme
und Tore die Barockzeit einen Ring von gesteigerten, helleren Patrizierhäusern,
Palästen und Hallenkirchen gelegt hatte, nach allen Seiten in formloser Masse
überzuquellen, mit Haufen von Mietskasernen und Zwecklbauten sich in das
verödende Land hineinzufressen, das ehrwürdige Antlitz der alten Zeit
durch Umbauten und Durchbrüche zu zerstören. Wer von einem Turm auf
das Häusermeer herabsieht, erkennt in dieser steingewordenen Geschichte eines
Wesens genau die Epoche, wo das organische Wachstum endet und die anorganische
und deshalb unbegrenzte, alle Horizonte überschreitende Häufung beginnt.
Und jetzt entstehen auch die künstlichen, mathematischen,
vollkommen landfremden Gebilde einer reingeistigen Freude am Zweckmäßigen,
die Städte der Stadtbaumeister, die in allen Zivilisationen dieselbe schachbrettartige
Form, das Symbol der Seelenlosigkeit anstreben. Diese regelmäßigen
Häuserquadrate haben Herodot in Babylon und die Spanier in Tenochtitlan angestaunt.
In der antiken Welt beginnt die Reihe der »abstrakten« Städte
mit Thurioi, das Hippodamos von Milet 441 (v. Chr.) »entwarf«. Priene,
wo das Schachbrettmuster die Bewegtheit der Grundfläche vollkommen ignoriert,
Rhodos, Alexandria folgen als Vorbilder zahlloser Provinzstädte der Kaiserzeit.
Die islamischen Baumeister haben seit 762 Bagdad und ein Jahrhundert später
die Riesenstadt Samarra am Tigris planmäßig angelegt. In der westeuropäisch-amerikanischen
Welt ist das erste Beispiel der Grundriß von Washington (1791). Es kann
kein Zweifel bestehen, daß die Weltstädte der Hanzeit in China und
die der Maurya-Dynastie in Indien dieselben geometrischen Formen besessen haben.
Die Weltstädte der westeuropäisch-amerikanischen Zivilisation haben
noch bei weitem nicht den Gipfel ihrer Entwicklung erlangt. Ich
sehe - lange nach 2000 - Stadtanlagen für zehn bis zwanzig Millionen Menschen,
die sich über weite Landschaften verteilen, mit Bauten, gegen welche die
größten der Gegenwart zwerghaft wirken, und Verkehrsgedanken, die uns
heute als Wahnsinn erscheinen würden. (Ebd., S. 673-675).
Selbst in dieser letzten Gestalt
seines Daseins ist das Formideal des antiken Menschen noch der körperliche
Punkt. Während die Riesenstädte der Gegenwart unseren ganzen
Hang zum Unendlichen zur Schau tragen: die Durchsetzung einer weiten Landschaft
mit Vororten und Villenkolonien, ein mächtiges Netz von Verkehrsmitteln
jeder Art nach allen Seiten und innerhalb des dicht bebauten Geländes
ein geregelter Schnellverkehr in, unter und über breiten Straßenzügen,
will die echt antike Weltstadt sich nicht ausbreiten, sondern immer mehr
verdichten: die Straßen eng und schmal, jeden Eilverkehr
ausschließend, wie er doch auf den römischen Heerstraßen
voll ausgebildet war; keine Neigung, vor der Stadt zu wohnen oder auch
nur die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Die Stadt soll auch jetzt
noch ein Körper sein, dicht und rund, soma im strengsten Sinne.
Der Synoikismos, der in der antiken Frühzeit allenthalben die Landbevölkerung
in die Stadt gezogen und damit erst den Typus der Polis geschaffen hatte,
wiederholt sich am Ende noch einmal in absurder Form: jeder will in der
Mitte der Stadt wohnen, in ihrem dichtesten Kerne, sonst fühlt er
sich nicht als Mensch einer Stadt. Alle diese Städte sind nur City,
nur Innenstadt. Der neue Synoikismos bildet statt der Vorortzone die Welt
der oberen Stockwerke aus. Rom hatte im Jahre 74 trotz der ungeheuren
Kaiserbauten den geradezu lächerlichen Umfang von 19,5 km. Dies führt
dahin, daß diese Körper überhaupt nicht in die Breite,
sondern unablässig in die Höhe wuchsen. Die Mietskasernen Roms,
wie die berüchtigte Insula Feliculae, erreichten bei einer Straßenbreite
von 3-5 Metern Höhen, die im Abendlande noch nirgends und in Amerika
nur in wenigen Städten vorkommen. Beim Capitol hatten unter Vespasian
die Dächer schon die Höhe des Bergsattels erreicht. Ein grauenvolles
Elend, eine Verwilderung aller Lebensgewohnheiten, die schon jetzt zwischen
Giebeln und Mansarden, in Kellern und Hinterhöfen einen neuen Urmenschen
züchten, hausen in jeder dieser prachtvollen Massenstädte. Das
ist in Bagdad und Babylon nicht anders gewesen wie in Tenochtitlan und
heute in London und Berlin. Diodor erzählt von einem abgesetzten
ägyptischen König, der zu Rom in einer jämmerlichen Mietswohnung
in einem hochgelegenen Stockwerk hausen mußte. Aber kein Elend,
kein Zwang, selbst nicht die klare Einsicht in den Wahnsinn dieser Entwicklung
setzt die Anziehungskraft dieser dämonischen Gebilde herab. Das Rad
des Schicksals rollt dem Ende zu; die Geburt der Stadt zieht ihren Tod
nach sich. Anfang und Ende, Bauernhaus und Häuserblock verhalten
sich wie Seele und Intelligenz, wie Blut und Stein. Aber »Zeit«
ist nicht umsonst ein Wort für die Tatsache der Nichtumkehrbarkeit.
Es gibt hier nur ein Vorwärts, kein Zurück. Das Bauerntum gebar
einst den Markt, die Landstadt, und nährte sie mit seinem besten
Blute. Nun saugt die Riesenstadt das Land aus, unersättlich, immer
neue Ströme von Menschen fordernd und verschlingend, bis sie inmitten
einer kaum noch bevölkerten Wüste ermattet und stirbt. Wer einmal
der ganzen sündhaften Schönheit dieses letzten Wunders aller
Geschichte verfallen ist, der befreit sich nicht wieder. Ursprüngliche
Völker können sich vom Boden lösen und in die Ferne wandern.
Der geistige Nomade kann es nicht mehr. Das Heimweh nach der großen
Stadt ist stärker vielleicht als jedes andere. Heimat ist für
ihn jede dieser Städte, Fremde ist schon das nächste Dorf. Man
stirbt lieber auf dem Straßenpflaster, als daß man auf das
Land zurückkehrt. Und selbst der Ekel vor dieser Herrlichkeit, das
Müdesein vor diesem Leuchten in tausend Farben, das taedum vitae,
das zuletzt manche ergreift, befreit sie nicht. Sie tragen die Stadt mit
sich in ihre Berge und an das Meer. Sie haben das Land in sich verloren
und finden es draußen nicht wieder. (Ebd., S. 675-677).
Was
den Weltstadtmenschen unfähig macht, auf einem anderen als diesem künstlichen
Boden zu leben, ist das Zurücktreten des kosmischen Taktes in seinem Dasein,
während die Spannungen des Wachseins immer gefährlicher werden. Man
vergesse nicht, daß in einem Mikrokosmos die tierhafte Seite, das Wachsein,
zum pflanzenhaften Dasein hinzutritt, nicht umgekehrt. Takt und Spannung,
Blut und Geist, Schicksal und Kausalität verhalten sich wie das blühende
Land zur versteinerten Stadt, wie etwas, das für sich da ist, zu einem andern,
das von ihm abhängt. Spannung ohne den kosmischen Takt, der sie durchseelt,
ist der Übergang zum Nichts. Aber Zivilisation ist nichts als Spannung. Die
Köpfe aller zivilisierten Menschen von Rang werden ausschließlich von
dem Ausdruck der stärksten Spannung beherrscht. Intelligenz ist nichts als
Fähigkeit zu angespanntestem Verstehen. Diese Köpfe sind in jeder Kultur
der Typus ihres »letzten Menschen«. Man vergleiche damit Bauernköpfe,
wenn sie im Straßengewühl einer Großstadt auftauchen. Der Weg
von der bäuerlichen Klugheit - der Schlauheit, dem Mutterwitz, dem Instinkt,
die wie bei allen klugen Tieren auf gefühltem Takt beruhen - über den
städtischen Geist zur weltstädtischen Intelligenz - das Wort gibt schon
in dem scharfen Klange die Abnahme der kosmischen Unterlage vortrefflich wieder
- läßt sich auch als die beständige Abnahme des Schicksalsgefühls
und die hemmungslose Zunahme des Bedürfnisses nach Kausalität bezeichnen.
Intelligenz ist der Ersatz unbewußter Lebenserfahrung durch eine meisterhafte
Übung im Denken, etwas Fleischloses, Mageres. Die intelligenten Gesichter
aller Rassen sind einander ähnlich. Es ist die Rasse selbst, die in ihnen
zurücktritt. Je weniger ein Gefühl für das Notwendige und Selbstverständliche
des Daseins besteht, je mehr die Gewohnheit um sich greift, sich alles »klar
zu machen«, desto mehr wird die Angst des Wachseins kausal gestillt. Daher
die Gleichsetzung von Wissen und Beweisbarkeit und der Einsatz des religiösen
Mythos durch den kausalen: die wissenschaftliche Theorie. Daher das abstrakte
Geld als die reine Kausalität des wirtschaftlichen Lebens im Gegensatz zum
ländlichen Güterverkehr, der Takt ist und nicht ein System von Spannungen.
(Ebd., S. 677-678).Die
intellektuelle Spannung kennt nur noch eine, die spezifisch weltstädtische
Form der Erholung; die Entspannung, die »Zerstreuung«. Das
echte Spiel, die Lebensfreude, die Lust, der Rausch sind aus dem kosmischen
Takt geboren und werden in ihrem Wesen gar nicht mehr begriffen. Aber die Ablösung
intensivster praktischer Denkarbeit durch ihren Gegensatz, die mit Bewußtsein
betriebene Trottelei, die Ablösung der geistigen Anspannung durch die körperliche
des Sports, der körperlichen durch die sinnliche des »Vergnügens«
und die geistige der »Aufregung« des Spiels und der Wette, der Ersatz
der reinen Logik der täglichen Arbeit durch die mit Bewußtsein genossene
Mystik - das kehrt in allen Weltstädten aller Zivilisationen wieder. Kino,
Expressionismus, Theosophie, Boxkämpfe, Niggertänze, Poker und Rennwetten
- man wird das alles in Rom wiederfinden, und ein Kenner sollte einmal die Untersuchung
auf die indischen, chinesischen und arabischen Weltstädte ausdehnen. Um nur
eins zu nennen: wenn man das Kamasutram liest, versteht man, was für Leute
am Buddhismus ebenfalls Geschmack fanden; und man wird nun auch die Stierkampfszenen
in den kretischen Palästen mit ganz anderem Auge betrachten. Es liegt ein
Kult zugrunde, ohne Zweifel, aber es ist ein Parfüm darüber gebreitet
wie über den fashionablen stadtrömischen Isiskult in der Nachbarschaft
des Circus Maximus. (Ebd., S. 678).Und
nun geht aus der Tatsache, daß das Dasein immer wurzelloser, das Wachsein
immer angespannter wird, endlich jene Erscheinung hervor, die im stillen längst
vorbereitet war und jetzt plötzlich in das helle Licht der Geschichte rückt,
um dem ganzen Schauspiel ein Ende zu bereiten: die Unfruchtbarkeit des zivilisierten
Menschen. Es handelt sich hier nicht um etwas, das sich mit alltäglicher
Kausalität, etwa physiologisch, begreifen ließe, wie es die moderne
Wissenschaft selbstverständlich versucht hat. Hier liegt eine durchaus metaphysische
Wendung zum Tode vor. Der letzte Mensch der Weltstädte will nicht
mehr leben, wohl als einzelner, aber nicht als Typus, als Menge; in diesem Gesamtwesen
erlischt die Furcht vor dem Tode. Das, was den echten Bauern mit einer tiefen
und unerklärlichen Angst befällt, der Gedanke an das Aussterben der
Familie und des Namens, hat seinen Sinn verloren. Die Fortdauer des verwandten
Blutes innerhalb der sichtbaren Welt wird nicht mehr als Pflicht dieses Blutes,
das Los, der Letzte zu sein, nicht mehr als Verhängnis empfunden. Nicht nur
weil Kinder unmöglich geworden sind, sondern vor allem weil die bis zum äußersten
gesteigerte Intelligenz keine Gründe für ihr Vorhandensein mehr findet,
bleiben sie aus. (Ebd., S. 678-679).Man
versenke sich in die Seele eines Bauern, der von Urzeiten her auf seiner Scholle
sitzt oder von ihr Besitz ergriffen hat, um dort mit seinem Blute zu haften. Er
wurzelt hier als der Enkel von Ahnen und der Ahn von künftigen Enkeln. Sein
Haus, sein Eigentum: das bedeutet hier nicht ein flüchtiges Zusammengehören
von Leib und Gut für eine kurze Spanne von Jahren, sondern ein dauerndes
und inniges Verbundensein von ewigem Land und ewigem Blute: erst
damit, erst aus dem Seßhaftwerden im mystischen Sinne erhalten die großen
Epochen des Kreislaufs, Zeugung, Geburt und Tod jenen metaphysischen Zauber, der
seinen sinnbildlichen Niederschlag in Sitte und Religion aller landfesten Bevölkerungen
findet. Das alles ist für den »letzten Menschen« nicht mehr vorhanden.
Intelligenz und Unfruchtbarkeit sind in alten Familien, alten Völkern, alten
Kulturen nicht nur deshalb verbunden, weil innerhalb jedes einzelnen Mikrokosmos
die über alles Maß angespannte tierhafte Lebensseite die pflanzenhafte
aufzehrt, sondern weil das Wachsein die Gewohnheit einer kausalen Regelung des
Daseins annimmt. Was der Verstandesmensch mit einem äußerst bezeichnenden
Ausdruck Naturtrieb nennt, wird von ihm nicht nur »kausal« erkannt,
sondern auch gewertet und findet im Kreise seiner übrigen Bedürfnisse
den angemessenen Platz. (Ebd., S. 679-680).Die
große Wendung tritt ein, sobald es im alltäglichen Denken einer hochkultivierten
Bevölkerung für das Vorhandensein von Kindern »Gründe«
gibt. (Ebd., S. 680).Die
Natur kennt keine Gründe. Überall, wo es wirkliches Leben gibt, herrscht
eine innere organische Logik, ein »es«, ein Trieb, die vom Wachsein
und dessen kausalen Verkettungen durchaus unabhängig sind und von ihm gar
nicht bemerkt werden. Der Geburtenreichtum ursprünglicher Bevölkerungen
ist eine Naturerscheinung, über deren Vorhandensein niemand nachdenkt,
geschweige denn über ihren Nutzen oder Schaden. Wo Gründe für Lebensfragen
überhaupt ins Bewußtsein treten, da ist das Leben schon fragwürdig
geworden. Da beginnt eine weise Beschränkung der Geburtenzahl - die bereits
Polybios (ca. 200-120)
als das Verhängnis Griechenlands beklagt, die aber schon lange vor ihm in
den großen Städten üblich war und in römischer Zeit einen
erschreckenden Umfang angenommen hat -, die zuerst mit der materiellen Not und
sehr bald überhaupt nicht mehr begründet wird. Da beginnt denn auch
... die Wahl der »Lebensgefährtin« - der Bauer und jeder ursprüngliche
Mensch wählt die Mutter seiner Kinder - ein geistiges Problem zu werden.
Die Ibsenehe, die »höhere geistige Gemeinschaft« erscheint, in
welcher beide »frei« sind, frei nämlich als Intelligenzen, und
zwar vom pflanzenhaften Drange des Blutes, das sich fortpflanzen will; und Shaw
darf den Satz aussprechen, »daß die Frau sich nicht emanzipieren kann,
wenn sie nicht ihre Weiblichkeit, ihre Pflicht gegen ihren Mann, gegen ihre Kinder,
gegen die Gesellschaft, gegen das Gesetz und gegen jeden, außer gegen sich
selbst, von sich wirft«. ().
Das Urweib, das Bauernweib ist Mutter. Seine ganze
von Kindheit an ersehnte Bestimmung liegt in diesem Worte beschlossen. Jetzt aber
taucht das Ibsenweib auf, die Kameradin, die Heldin einer ganz weltstädtischen
Literatur vom nordischen Drama bis zum Pariser Roman. Statt der Kinder haben sie
seelische Konflikte, die Ehe ist eine kunstgewerbliche Aufgabe und es kommt darauf
an, sich »gegenseitig zu verstehen«. Es ist ganz gleichgültig,
ob eine amerikanische Dame für ihre Kinder keinen zureichenden Grund findet,
weil sie keine season versäumen will, eine Pariserin, weil sie fürchtet,
daß ihr Liebhaber davongeht, oder eine Ibsenheldin, weil sie »sich
selbst gehört«. Sie gehören alle sich selbst und sie sind alle
unfruchtbar. Dieselbe Tatsache in Verbindung mit denselben »Gründen«
findet sich in der alexandrinischen und römischen und selbstverständlich
in jeder anderen zivilisierten Gesellschaft, ... und es gibt überall ...
eine Ethik für kinderarme Intelligenzen und eine Literatur über die
inneren Konflikte von Nora und Nana. (Ebd., S. 680-681).Kinderreichtum,
dessen ehrwürdiges Bild Goethe im Werther noch zeichnen konnte, wird etwas
Provinziales. Der kinderreiche Vater ist in Großstädten eine Karikatur
- Ibsen hat sie nicht vergessen; sie steht in seiner »Komödie der Liebe«.
(Ebd., S. 681).Auf
dieser Stufe beginnt in allen Zivilisationen das mehrhundertjährige Stadium
einer entsetzlichen Entvölkerung. Die ganze Pyramide des kulturfähigen
Menschentums verschwindet. Sie wird von der Spitze herab abgebaut, zuerst die
Weltstädte, dann die Provinzstädte, endlich das Land, das durch die
über alles Maß anwachsende Landflucht seiner besten Bevölkerung
eine Zeitlang das Leerwerden der Städte verzögert. Nur das primitive
Blut bleibt zuletzt übrig, aber seiner starken und zukunftreichen Elemente
beraubt. Es entsteht der Typus des Fellachen. (Ebd., S. 681).Wenn
irgend etwas, so beweist der allbekannte »Untergang der Antike«, der
sich lange vor dem Einbruch der germanischen Wandervölker vollendete, daß
Kausalität mit Geschichte nichts zu tun hat. (Zum Folgenden vgl. Eduard Meyer,
Kleine Schriften, 1910, S. 145ff.). Das Imperium genießt den vollkommensten
Frieden; es ist reich; es ist hochgebildet; es ist gut organisiert; es besaß
von Nerva (reg. 96-98) bis Marc Aurel (reg.
161-180) eine Herrscherreihe, wie sie der Cäsarismus keiner zweiten
Zivilisation aufzuweisen hat. Und trotzdem schwindet die Bevölkerung rasch
und in Masse hin, trotz der verzweifelten Ehe- und Kindesgesetzgebung des Augustus
(reg. 27 v. Chr. - 14 n. Chr.), dessen
lex de maritandis ordinibus ()
auf die römische Gesellschaft bestürzender wirkte als die Niederlage
des Varus (9 n. Chr.), trotz der massenhaften Adoptionen,
der ununterbrochenen Ansiedlung von Soldaten barbarischer Herkunft, um Menschen
in die verödende Landschaft zu bringen, trotz der ungeheuren Alimentationsstiftungen
des Nerva (reg. 96-98) und Trajan (reg.
98-117), um die Kinder unbemittelter Eltern aufzuziehen. Italien, dann
Nordafrika und Gallien, endlich Spanien, das unter den ersten Kaisern am dichtesten
von allen Teilen des Reiches bevölkert war, sind menschenleer und verödet.
Das berühmte und bezeichnenderweise in der modernen Volkswirtschaft immer
wiederholte Wort des Plinius: latifundia perdidere Italiam, jam vero et provincias,
verwechselt Anfang und Ende des Prozesses: der Großgrundbesitz hätte
nie diese Ausdehnung gewonnen, wenn das Bauerntum nicht vorher von den Städten
aufgesogen worden wäre und das Land zum mindesten innerlich bereits preisgegeben
hätte. ().
Das Edikt des Pertinax von 193 enthüllt endlich den erschreckenden Stand
der Dinge: In Italien und den Provinzen wird jedem gestattet, verödetes Land
in Besitz zu nehmen. Wenn er es bebaut, soll er Eigentumsrecht darüber erhalten.
Die Geschichtsschreiber brauchten sich den übrigen Zivilisationen nur ernsthaft
zuzuwenden, um die gleiche Erscheinung überall festzustellen. Im Hintergrund
der Ereignisse des Neuen Reiches, vor allem von der 19. Dynastie an (seit
1345 v. Chr.), ist eine gewaltige Abnahme der Bevölkerung deutlich
zu verspüren. Ein Stadtbau, wie ihn Amenophis IV. (reg.
1377-1358) in Tell el Amarna ausführte,
mit Straßenzügen bis zu 45 m Breite, wäre bei der früheren
Bevölkerungsdichte undenkbar gewesen, und ebenso die notdürftige Abwehr
der »Seevölker«, deren Aussichten auf Besitznahme des Reiches
damals sicherlich nicht schlechter waren als die der Germanen vom 4. Jahrhundert
an, und endlich die unaufhörliche Einwanderung der Libyer in das Delta, wo
um 945 v. Chr. einer ihrer Führer (Scheschonk)
- genau wie 476 n. Chr. Odoaker - die Herrschaft über das Reich an sich nahm.
Aber dasselbe fühlt man aus der Geschichte des politischen Buddhismus seit
dem »Cäsar« Asoka (reg. 272-231
in Indien) heraus. (Wir kennen in China im 3. Jh. v. Chr.
- also in der chinesischen Augustuszeit! - Maßnahmen zur
Hebung der Bevölkerungsziffer). Wenn die Mayabevölkerung in ganz kurzer
Zeit nach der spanischen Eroberung geradezu verschwand
und die großen menschenleeren Städte dem Urwald anheimfielen,
so beweist das nicht allein die Brutalität der Eroberer, die in diesem Punkte
einer jungen und fruchtbaren Kulturmenschheit gegenüber wirkungslos gewesen
wäre, sondern ein Erlöschen von innen heraus, das ohne Zweifel
schon längst begonnen hatte. Und wenn wir uns der eigenen Zivilisation zuwenden,
so sind die alten Familien des französischen Adels zum weitaus größten
Teil nicht durch die französische Revolution ausgerottet worden, sondern
seit 1815 ausgestorben; die Unfruchtbarkeit breitete sich von ihm auf das Bürgertum
und seit 1870 auf die gerade durch die Revolution fast neu geschaffene Bauernschaft
aus. In England und noch weit mehr in den Vereinigten Staaten, und zwar gerade
in deren wertvollster, alteingewanderter Bevölkerung im Osten, hat der »Rasseselbstmord«,
gegen den Roosevelt sein bekanntes Buch geschrieben hat, längst im großen
Stile eingesetzt. (Ebd., S. 681-683).Deshalb
finden wir auch in diesen Zivilisationen schon früh die verödeten Provinzstädte
und am Ausgang der Entwicklung die leerstehenden Riesenstädte, in deren Steinmassen
eine kleine Fellachenbevölkerung nicht anders haust als die Menschen der
Steinzeit in Höhlen und Pfahlbauten. Samarra wurde schon im 10. Jahrhundert
verlassen; die Residenz Asokas, Pataliputra, war, als der chinesische Reisende
Hsiuen-tsiang sie um 635 besuchte, eine ungeheure, völlig unbewohnte Häuserwüste,
und viele der großen Mayastädte müssen schon zur Zeit des Cortez
leer gestanden haben. Wir besitzen eine Reihe antiker Schilderungen von Polybios
(ca. 200-120)
an (vgl. Polybios, Strabo, Pausanias, Dio Chrysostomus, Avien
u.a., vgl. dazu: Eduard Meyer, Kleine Schriften, 1910, S. 164ff.):
die altberühmten Städte, deren leerstehende Häuserreihen langsam
zusammenstürzen, während auf dem Forum und im Gymnasium Viehherden weiden
und im Amphitheater Getreide gebaut wird, aus dem noch die Statuen und Hermen
hervorragen. Rom hatte im 5. Jahrhundert die Einwohnerzahl eines Dorfes, aber
die Kaiserpaläste waren noch bewohnbar. (Ebd., S. 683-684).Damit
findet die Geschichte der Stadt ihren Abschluß. Aus dem usprünglichen
Markt zur Kulturstadt und endlich zur Weltstadt herangewachsen, bringt sie das
Blut und die Seele ihrer Schöpfer dieser großartigen Entwicklung und
deren letzter Blüte, dem Geist der Zivilisation zum Opfer und venichtet damit
zuletzt auch sich selbst. (Ebd., S. 684).Bedeutet
die Frühzeit die Geburt der Stadt aus dem Lande, die Spätzeit (bei
mir: Hochzeit; HB)
den Kampf zwischen Stadt und Land, so ist Zivilisation (bei
mir: Spätzeit; HB)
der Sieg der Stadt, mit dem sie sich vom Boden befreit und an dem sie selbst zugrunde
geht. Wurzellos, dem Kosmischen abgestorben und ohne Widerruf dem Stein
und dem Geiste verfallen, entwickelt sie eine Formensprache, die alle Züge
ihres Wesens wiedergibt: nicht die eines Werdens, sondern die eines Gewordenen,
eines Fertigen, das sich wohl verändern, aber nicht entwickeln läßt.
Und deshalb gibt es nur Kausalität, kein Schicksal, nur Ausdehnung, keine
lebendige Richtung mehr. Daraus folgt, daß jede Formensprache einer Kultur
samt der Geschichte ihrer Entwicklung am ursprünglichen Orte haftet, daß
aber jede zivilisierte Form überall zu Hause ist und deshalb, sobald sie
erscheint, auch einer unbegrenzten Verbreitung anheimfällt. Gewiß haben
die Hansestädte in ihren nordrussischen Stapelplätzen gotisch und die
Spanier in Südamerika im Barockstil gebaut, aber es ist unmöglich, daß
auch nur der kleinste Abschnitt der gotischen Stilgeschichte außerhalb
Westeuropas verlaufen wäre, und ebensowenig konnte der Stil des attischen
und englischen Dramas oder die Kunst der Fuge oder die Religion Luthers und der
Orphiker von Menschen fremder Kulturen fortgebildet oder auch nur innerlich angeeignet
werden. (Ebd., S. 684).Was
aber mit dem Alexandrinismus und unserer Romantik entsteht, das gehört allen
Stadtmenschen ohne Unterschied. Mit der Romantik beginnt für uns das, was
Goethe weitschauend die Weltliteratur nannte; es ist die führende weltstädtische
Literatur, der gegenüber sich eine bodenständige, aber belanglose Provinzliteratur
überall nur mit Mühe behauptet. Der Staat Venedigs oder Friedrichs des
Großen oder das englische Parlament, so wie es wirklich ist und arbeitet,
lassen sich nicht wiederholen, aber »moderne Verfassungen« lassen
sich in jedem afrikanischen und asiatischen Lande ... »einführen«.
.... Und ebenso sind nicht echte Kultursprachen wie das Attische des Sophokles
und das Deutsch Luthers, aber die Weltsprachen, die sämtlich wie die griechische
Koine, das Arabische, Babylonische, Englische aus der alltäglichen Praxis
der Weltstädte hervorgegangen sind, überall erlernbar. Deshalb nehmen
in allen Zivilisationen die modernen Städte ein immer gleichförmigeres
Gepräge an. Man kann gehen, wohin man will, man trifft Berlin, London und
New York überall wieder; und wenn ein Römer reiste, konnte er in Palmyra,
Trier, Timgad und in den hellenistischen Städten bis zum Indus und Aralsee
seine Säulenstellungen, statuengeschmückten Plätze und Tempel finden.
Was aber hier verbreitet wird, ist nicht mehr ein Stil, sondern ein Geschmack,
keine echte Sitte, sondern Manieren, und nicht die Tracht, sondern die Mode. Damit
ist es denn möglich, daß ferne Bevölkerungen die »ewigen
Errungenschaften« einer solchen Zivilisation nicht nur annehmen, sondern
in selbständiger Fassung weiterstrahlen. Solche Gebiete einer »Mondlichtzivilisation«
sind Südchina und vor allem Japan, die erst seit dem Ausgang der Hanzeit
(220) »sinaisiert« wurden, Java als Verbreiterin der brahmanischen
Zivilisation und Karthago, das seine Formen von Babylon empfing. (Ebd.,
S. 684-685).Alles
das sind Formen eines extremen, von keiner kosmischen Macht mehr gehemmten und
gebundenen Wachseins, rein geistig und rein extensiv und deshalb von einer solchen
Gewalt der Ausbreitung, daß die letzten und flüchtigsten Austrahlungen
sich fast über die ganze Erde verbreitet und übereinander gelegt haben.
(Ebd., S. 685).Während
aber diese Ausbreitung alle Grenzen überschreitet, vollzieht sich und zwar
in großartigen Verhältnissen die Ausbildung der inneren Form in drei
deutlich unterscheidbaren Stufen: Ablösung von der Kultur - Reinzucht der
zivilisierten Form - Erstarrung. (Ebd., S. 685).Die
letzte, die Idee der Zivilisation selbst, ist im Umriß formuliert und ebenso
sind Technik und Wirtschaft im Problemsinne fertig. Aber damit beginnt
erst die mächtige Arbeit der Ausführung aller Forderungen und der Anwendung
dieser Formen auf das gesamte Dasein der Erde. Erst wenn diese Arbeit getan und
die Zivilisation nicht nur ihrer Gestalt, sondern auch ihrer Masse nach endgültig
festgestellt ist, beginnt das Festwerden der Form. Stil ist in Kulturen der Pulsschlag
des Sicherfüllens. Jetzt entsteht ... der zivilisierte Stil als Ausdruck
des Fertigseins. Er ist vor allem in Ägypten und China zu einer prachtvollen
Vollkommenheit gelangt, die alle Äußerungen eines im Innern von nun
an unveränderlichen Lebens vom Zeremoniell und Ausdruck der Gesichter an
bis zu den äußersten feinen und durchgeistigten Formen einer Kunstübung
erfüllt. (Ebd., S. 686).Von
Geschichte im Sinne des Zutreibens auf ein Formideal kann nicht mehr die Rede
sein, aber es herrscht eine beständige leichte Bewegtheit der Oberfläche,
welche der ein für allemal gegebenen Sprache immer wieder kleine Fragen und
Lösungen artistischer Art ablockt. Darin besteht die gesamte uns bekannte
»Geschichte« der chinesisch-japanischen Malerei und der indischen
Architektur. Und ebenso wie diese Scheingeschichte sich von der wirklichen des
gotischen Stils, so unterscheidet sich der Ritter der Kreuzzüge von dem chinesischen
Mandarin als der werdende von dem fertigen Stand. Der eine ist Geschichte,
der andere hat sie längst überwunden. Denn, wie schon festgestellt wurde,
die Geschichte dieser Zivilisationen ist Schein und ebenso die großen
Städte, deren Antlitz sich fortwährend verändert, ohne anders zu
werden. Und ein Geist dieser Städte ist nicht vorhanden. Sie sind Land in
steinerner Form. (Ebd., S. 686-687).Was
geht hier unter? Und was bleibt? Es ist ein bloßer Zufall, daß
germanische Völker unter dem Druck der Hunnen die romanische Landschaft besetzten
und damit die Entwicklung des »chinesischen« Endzustandes der Antike
abbrachen. Den Seevölkern, die seit 1400 v. Chr. in einer bis ins einzelne
gleichartigen Wanderung gegen die ägyptische Welt vordrangen, glückte
es nur im kretischen Inselgebiet. Ihre mächtigen Züge an der libyschen
und phönikischen Küste unter Begleitung von Wikingerflotten sind ebenso
gescheitert wie die der Hunnen gegen China. So ist die Antike das einzige Beispiel
einer im Augenblick ihrer vollen Reife abgebrochenen Zivilisation. Trotzdem haben
die Germanen nur die Oberfläche der Formen zerstört und durch das Leben
ihrer eigenen Vorkultur ersetzt. Die »ewige« Unterschicht erreicht
man nicht. Sie bleibt, versteckt und durch eine neue Formensprache vollständig
überzogen, im Untergrunde der ganzen folgenden Geschichte bestehen ....
(Ebd., S. 687).Völker
Rassen, Sprachen
Es gibt also Daseinsströme und Wachseinsverbindungen.
Jene besitzen eine Physiognomie, diesen liegt ein System zugrunde.
(Ebd., S. 690).
Sprache nenne ich die gesamte freie Tätigkeit des wachen
Mikrokosmos, insofern sie etwas für andere zum Ausdruck bringt.
Pflanzen besitzen kein Wachsein und keine Beweglichkeit und also keine
Sprache. Das Wachsein tierischer Wesen aber ist durch und durch ein Sprechen,
ob nun der Sinn der einzelnen Akte ein Sprechen sein soll oder nicht und
wenn auch der bewußte oder unbewußte Zweck des Tuns in einer
ganz anderen Richtung liegt. Ein Pfau spricht sicherlich bewußt,
wenn er seinen Schweif entfaltet, aber eine junge Katze, die mit einem
Garnknäul spielt, spricht durch die Zierlichkeit ihrer Bewegungen
unbewußt zu uns. Jeder kennt den Unterschied in seinen Bewegungen,
je nachdem er sich beobachtet weiß oder nicht. Man beginnt plötzlich
mit allem, was man tut, bewußt zu »sprechen«.
(Ebd., S. 690).
Damit ergibt sich aber ein sehr bedeutsamer Unterschied in den
Arten der Sprache: Sprache, die nur Ausdruck für die Welt
ist und deren innere Notwendigkeit in der Sehnsucht alles Lebens liegt,
sich vor Zeugen zu verwirklichen, sein Dasein sich selbst zu bezeugen,
und Sprache, die von bestimmten Wesen verstanden sein will. Es
gibt also Ausdruckssprachen und Mitteilungssprachen. Jene
setzen nur ein Wachsein, diese eine Wachseinsverbindung voraus. Verstehen
heißt mit dem eigenen Bedeutungsgefühl auf den Eindruck eines
Zeichens antworten. Sich verständigen, »Zwiesprache halten«,
zu einem »Du« sprechen, heißt also in ihm ein dem eigenen
entsprechendes Bedeutungsgefühl voraussetzen. Die Ausdruckssprache
vor Zeugen beweist nur das Vorhandensein eines Ich. Die Mitteilungssprache
setzt ein Du. Ich ist das Sprechende. Du ist das, was die Sprache des
Ich verstehen soll. Für den primitiven Menschen kann ein Baum, ein
Stein, eine Wolke ein Du sein. Alle Gottheiten sind Du. Im Märchen
gibt es nichts, was nicht mit dem Menschen Zwiesprache halten könnte.
Und wir brauchen uns nur in Augenblicken zorniger Erregung oder dichterischen
Schwunges zu ertappen, um zu wissen, daß noch heute jedes Ding ein
Du für uns werden kann. Und endlich spricht jeder denkende Mensch
mit sich selbst wie mit einem Du. Erst am Du erwacht auch das Wissen von
einem Ich. »Ich« ist also eine Bezeichnung für die Tatsache,
daß eine Brücke zu einem anderen Wesen vorhanden ist.
(Ebd., S. 691).
Totem und Tabu. Je rätselhafter und vieldeutiger sie
werden, desto mehr hat man gefühlt, daß mit ihnen die letzten
Lebensgründe nicht nur der primitiven Menschheit angerührt wurden.
Und aus der hier vorgelegten Untersuchung folgt nunmehr die eigentliche
Bedeutung beider: Totem und Tabu bezeichnen den letzten Sinn von Dasein
und Wachsein, Schicksal und Kausalität, Rasse und Sprache, Zeit und
Raum, Sehnsucht und Angst, Takt und Spannung, Politik und Religion. Die
Totemseite des Lebens ist pflanzenhaft und gehört allen Wesen an,
die Tabuseite ist tierhaft und setzt die freie Bewegung des Wesens in
einer Welt voraus. Wir besitzen die Totemorgane des Blutkreislaufs und
der Fortpflanzung und die Tabuorgane der Sinne und Nerven. Alles was zum
Totem gehört, besitzt Physiognomie, alles was Tabu ist, hat System.
Im Totemistischen liegt das Gemeingefühl von Wesen, die ein und demselben
Daseinsstrome angehören. Es läßt sich nicht übertragen
und nicht beseitigen, es ist eine Tatsache, die Tatsache im eminenten
Sinne. Alles was Tabu ist, kennzeichnet Wachseinsverbindungen; es ist
erlernbar und übertragbar und eben deshalb ein behütetes Geheimnis
von Kultgemeinden, Denkerschulen und Künstlergilden, die alle eine
Art von Geheimsprache besitzen. (Es versteht sich,
daß totemistische Tatsachen, insofern sie vom Wachsein bemerkt werden,
auch eine Tabubedeutung erhalten, wie vieles im Geschlechtsleben, das
den Menschen mit einer tiefen Angst erfüllt, weil es seinem Verstehenwollen
entzogen bleibt.) (Ebd., S. 693).
Das Haus ist der reinste Rasseausdruck, den
es überhaupt gibt. Von dem Augenblick an, wo der seßhaft werdende
Mensch nicht mehr mit einem Obdach vorlieb nimmt, sondern eine feste Wohnung
für sich baut, ist dieser Ausdruck vorhanden und er unterscheidet
innerhalb der Rasse »Mensch«, welche dem biologischen Weltbilde
angehört, die Menschenrassen der eigentlichen Weltgeschichte, Daseinsströme
von einer viel seelenhafteren Bedeutung. Die Urform des Hauses ist durchaus
gefühlt und gewachsen. Man weiß gar nichts von ihr. Wie die
Schale des Nautilus, wie der Bienenstock, wie die Nester der Vögel
ist sie von innerer Selbstverständlichkeit und alle Züge ursprünglicher
Sitte und Form des Daseins, des Ehe- und Familienlebens, der Stammesordnung
haben im Grundriß und seinen Haupträumen, Diele, Halle, Megaron,
Atrium, Hof, Kemenate, Gynaikeion ihr Ebenbild. Man braucht nur die Anlage
des altsächsischen und des römischen Hauses zu vergleichen,
um zu fühlen, daß die Seele dieser Menschen und die Seele ihres
Hauses ein und dasselbe sind. (Ebd., S. 698).
Die Kunstgeschichte hätte sich dieses Gebietes nie bemächtigen
sollen. Es war ein Irrtum, den Bau des Wohnhauses für einen Teil
der Baukunst zu halten. Diese Form ist aus der dunklen Gewohnheit des
Daseins, nicht für das Auge entstanden, welches Formen im Licht sucht,
und kein Architekt hat je daran gedacht, die Raumverteilung des Bauernhauses
wie die eines Domes zu behandeln. Diese bedeutsame Grenze der Kunst ist
der Forschung entgangen, obwohl gelegentlich Dehio (Geschichte
der Deutschen Kunst, 1919, S. 14)
bemerkt, daß das altgermanische Holzhaus nichts mit der späteren
großen Architektur zu tun habe, die ganz unabhängig davon entstanden
sei. Deshalb besteht eine immerwährende methodische Verlegenheit,
welche die Kunstwissenschaft wohl empfunden, aber nicht begriffen hat.
Sie bringt in allen Vor- und Frühzeiten unterschiedslos Geräte,
Waffen, Keramik, Gewebe, Grabstätten und Häuser und zwar sowohl
der Form als der Verzierung nach zusammen und gewinnt erst mit der organischen
Geschichte der Malerei, Plastik und Architektur, also der in sich geschlossenen
Sonderkünste, festen Boden. Aber hier scheiden sich klar und deutlich
zwei Welten, die des Seelenausdrucks und die der Ausdruckssprache
für das Auge. Das Haus und ebenso die völlig unbewußten
Grund-, d.h. Gebrauchsformen der Gefäße, Waffen, Kleidung
und Geräte gehören zur Totemseite. Sie kennzeichnen nicht einen
Geschmack, sondern die Kampfweise, Wohnweise und Arbeitsweise. Jedes ursprüngliche
Sitzgerät ist der Abdruck einer rassemäßigen Körperhaltung;
jeder Griff eines Gefäßes verlängert den bewegten
Arm. Die Malerei und Schnitzarbeit am Hause, das Kleid als Schmuck, die
Verzierung der Waffen und Geräte dagegen gehören zur Tabuseite
des Lebens. In diesen Mustern und Motiven liegt für den frühen
Menschen auch eine Zauberkraft. Wir kennen die Germanenklingen der Völkerwanderung
mit orientalischem Ornament und die mykenischen Burgen mit minoischer
Kunstarbeit. So unterscheiden sich Blut und Sinne, Rasse und Sprache
Politik und Religion. (Ebd., S. 698-699).
Es gibt also und das wäre eine der dringendsten Aufgaben
künftiger Forschung noch keine Weltgeschichte des Hauses und
seiner Rassen, die mit ganz anderen Mitteln behandelt werden müßte
als die Geschichte der Kunst. Das Bauernhaus ist im Verhältnis zum
Tempo aller Kunstgeschichte »ewig« wie der Bauer selbst. Es
steht außerhalb der Kultur und damit außerhalb der höheren
Menschengeschichte; es kennt ihre örtlichen und zeitlichen Grenzen
nicht und erhält sich der Idee nach unverändert durch alle Wandlungen
der Baukunst, die sich nur an ihm, nicht mit ihm vollziehen. Die
altitalische Rundhütte kennt man noch in der Kaiserzeit. (Bernhard
Walter Altmann, Die italischen Rundbauten,
1906.) Die Form des rechteckigen römischen Hauses, das Existenzzeichen
einer zweiten Rasse, findet sich in Pompeji und sogar in den Kaiserpalästen
auf dem Palatin. Man entlehnt jede Art von Schmuck und Stil aus dem Orient,
aber kein Römer hätte daran gedacht, etwa das syrische Haus
nachzuahmen. Und ebensowenig ist die Megaronform von Tiryns und Mykene
und die des von Galen beschriebenen altgriechischen Bauernhauses von den
Städtebaumeistern des Hellenismus angetastet worden. Das sächsische
und das fränkische Bauernhaus haben ihren Wesenskern vom ländlichem
Gehöft über das Bürgerhaus der alten freien Reichsstädte
bis zu den Patrizierbauten des 18. Jahrhunderts unberührt erhalten,
während der gotische, Renaissance-, Barock- und Empirestil darüber
hingleiten, an der Fassade und in allen Räumen vom Keller bis zum
Dache ihr Wesen treiben, ohne die Seele des Hauses zu beirren. Und dasselbe
gilt von den Möbelformen, die man psychologisch von ihrer
künstlerischen Behandlung sorgfältig trennen sollte. Insbesondere
ist die Entwicklung der nordeuropäischen Sitzmöbel bis zum Klubsessel
ein Stück Rasse- und nicht etwa Stilgeschichte. Jedes andere Kennzeichen
kann über das Schicksal einer Rasse täuschen; der Etruskername
unter den Seevölkern, die Ramses III. schlug, die rätselhafte
Inschrift von Lemnos, die Wandgemälde in den Gräbern von Etrurien
gestatten keinen sicheren Schluß auf den leiblichen Zusammenhang
dieser Menschen. Wenn gegen Ende der Steinzeit in dem weiten Gebiet östlich
der Karpathen eine hochbedeutende Ornamentik entsteht und andauert, so
kann trotzdem Rasse auf Rasse sich hier abgelöst haben. Besäßen
wir in Westeuropa aus den Jahrhunderten von Trajan bis Chlodwig nur die
Keramik, so würden wir von dem Ereignis der Völkerwanderung
nicht das geringste ahnen. Aber das Vorkommen eines Ovalhauses im ägäischen
Gebiet (Heinrich Bulle, Orchomenos, S. 26
ff.; Ferdinand Noack, Ovalhaus und Palast in Kreta, S. 53 ff.;
die in späterer Zeit noch feststellbaren Hausgrundrisse des ägäisch-kleinasiatischen
Gebietes gestatten vielleicht, in den Bevölkerungsstand der vorantiken
Zeit Ordnung zu bringen: die Sprachreste können es nicht),
eines anderen sehr seltsamen Ovalhauses in Rhodesien (Mediaeval
Rhodesia, 1906), die vielbesprochene Übereinstimmung des
sächsischen Bauernhauses mit dem libysch-kabylischen verraten ein
Stück Rassengeschichte. Ornamente verbreiten sich, wenn eine Bevölkerung
sie ihrer Formensprache einverleibt; eine Hausform wird nur mit einer
Rasse verpflanzt. Verschwindet ein Ornament, so hat sich nur eine Sprache
verändert, verschwindet ein Haustyp, so ist eine Rasse erloschen.
(Ebd., S. 699-701).
Daraus ergibt sich nun eine notwendige Berichtigung der Kunstgeschichte.
Man muß auch in ihrem Verlauf die Rasseseite sorgfältig von
der eigentlichen Sprache trennen. Am Anfang einer Kultur erheben sich
über das Bauerndorf mit seinen Rassebauten zwei ausgeprägte
Formen höheren Ranges als Ausdruck des Daseins und als Sprache des
Wachseins, Burgen und Dome. In ihnen steigert sich der Unterschied
von Totem und Tabu, Sehnsucht und Angst, Blut und Geist zu gewaltiger
Symbolik. Die altägyptische, altchinesische, antike, südarabische,
abendländische Burg als Sitz von Geschlechterfolgen steht dem Bauernhaus
nahe. Sie bleiben beide als Abdruck wirklichen Lebens, Zeugens und Sterbens
außerhalb aller Kunstgeschichte. Die Geschichte der deutschen Burgen
ist durchaus ein Stück Rassegeschichte. An beide wagt sich
zwar die frühe Ornamentik heran und verschönert hier das Balkenwerk
und dort das Tor oder Treppenhaus, aber sie kann so oder so gewählt
werden oder überhaupt fehlen. Eine innerlich notwendige Beziehung
zwischen Baukörper und Ornament ist nie vorhanden. Der Dom dagegen
ist nicht ornamentiert; er ist ein Ornament. Seine Geschichte
und ebenso die des dorischen Tempels und aller andern frühen Kultbauten
fällt mit der gotischen Stilgeschichte zusammen und zwar so
vollständig, daß es hier wie in allen frühen Kulturen,
von deren Kunst wir überhaupt noch etwas wissen, niemandem aufgefallen
ist, daß die strenge Architektur, die nichts ist als reine Ornamentik
von höchster Art, sich ausschließlich auf den Kultbau beschränkt.
Alles was an schönen Bauformen in Gelnhausen, Goslar und der Wartburg
erscheint, ist von der Domkunst herübergenommen, ist Verzierung
und nicht von innerer Notwendigkeit. Eine Burg, ein Schwert, ein Tongefäß
können diese Verzierung vollständig entbehren, ohne ihren Sinn
oder auch nur ihre Gestalt zu verlieren; bei einem Dom oder einem ägyptischen
Pyramidentempel läßt sich das nicht einmal vorstellen.
(Ebd., S. 701-702).
Sieht man vom Rasseausdruck des Hauses ab, so bemerkt man erst
die ungeheure Schwierigkeit, dem Wesen der Rasse nahe zu kommen. Nicht
ihrem inneren Wesen, ihrer Seele, denn davon redet unser Gefühl deutlich
genug. Was ein Mensch von Rasse ist, wissen wir alle auf den ersten Blick.
Aber welches sind die Merkmale für unser Empfinden, vor allem fürs
Auge, an denen wir Rassen erkennen und unterscheiden? Ohne Zweifel gehört
dies zur Physiognomik, so gut wie die Einteilung der Sprachen zur Systematik
gehört. (Ebd., S. 703).
Das Kind spricht lange bevor es das erste Wort gelernt hat,
und die Erwachsenen sprechen mit ihm, ohne irgendwie an die gewohnte Wortbedeutung
zu denken; das heißt, die Lautgebilde dienen hier einer ganz anderen
als der Wortsprache. Auch diese Sprachen haben ihre Gruppen und Dialekte;
sie können gelernt, beherrscht und mißverstanden werden; sie
sind für uns so unentbehrlich, daß die Wortsprache den Dienst
versagen würde, wenn wir je den Versuch machten, sie für sich
allein, ohne Ergänzung durch Ton- und Gebärdensprachen anzuwenden.
Selbst unsere Schrift, diese Wortsprache fürs Auge, würde ohne
die Gebärdensprache der Interpunktion fast unverständlich sein.
(Ebd., S. 713-714).
Es ist der Grundfehler der Sprachwissenschaft, daß sie
Sprache überhaupt und menschliche Wortsprache verwechselt, nicht
theoretisch, aber regelmäßig in der Praxis aller Untersuchungen.
(Ebd., S. 714).
Urvölker,
Kulturvölker, FellachenvölkerWeltgeschichte
ist die Geschichte der großen Kulturen. Und Völker sind nur die sinnbildlichen
Formen, in welche zusammengefaßt der Mensch dieser Kulturen sein Schicksal
erfüllt. In jeder dieser Kulturen ... - ob unser Wissen dahin reicht oder
nicht - gibt es eine Gruppe großer Völker von ein und demselben Stil,
die am Eingang der Frühzeit entsteht und die, Staaten bildend und Geschichte
tragend, im ganzen Lauf der Entwicklung auch die ihr zugrunde liegende Form einem
Ziel entgegenführt. (Ebd., S. 761).Gerade
der Tiefe dieser Erlebnisse wegen ist es unmöglich, daß ein ganzes
Volk gleichmäßig ein Kulturvolk, eine Nation ist. In Urvölkern
hat jeder einzelne Mann das gleiche Gefühl volksmäßiger Verbundenheit.
Das Erwachen einer Nation zum Bewußtsein ihrer selbst erfolgt aber ohne
Ausnahme in Stufungen und also vornehmlich in einem einzelnen Stande, dessen Seele
die stärkste ist und die der übrigen durch die Macht ihres Erlebens
im Banne hält. Jede Nation wird vor der Geschichte durch eine Minderheit
repräsentiert. Zu Beginn der Frühzeit ist es der erst hier und zwar
als die Blüte des Volkstums entstehende Adel, in dessen Kreise der nicht
bewußte, aber in seinem kosmischen Takt um so mächtiger gefühlte
Nationalcharakter großen Stil erhält. .... Mit den Städten wird
das Bürgertum zum Träger des Nationalen, und zwar, der wachsenden Geistigkeit
entsprechend, eines Nationalbewußtseins, das es vom Adel empfängt
und zur Vollendung führt. Es sind immer und immer wieder einzelne Kreise
in zahllosen Abstufungen, die im Namen des Volkes leben, fühlen, handeln
und zu sterben wissen, aber diese Kreise werden größer; im 18. Jahrhundert
ist der abendländische Begriff der Nation entstanden, der den Anspruch
erhob und unter Umständen energisch verfolgte, von jedem ohne Ausnahme vertreten
zu werden. In Wirklichkeit waren, wie man weiß, die Emigranten so gut wie
die Jakobiner überzeugt, das Volk, die Repräsentanten der französischen
Nation zu sein. Ein Kulturvolk, das mit »allen« zusammenfällt,
gibt es nicht. Nur unter Urvölkern und Fellachenvölkern, nur in einem
Völkerdasein ohne Tiefe und ohne historischen Rang ist das möglich.
Solange ein Volk Nation ist, das Schicksal einer Nation erfüllt, gibt es
in ihm eine Minderheit, die im Namen aller seine Geschichte vertritt und vollzieht.
(Ebd., S. 764).Im
stadtlosen Lande war es der Adel, welcher zuerst die Nation in einem höheren
Sinne vertrat. Das Bauerntum, geschichtslos und »ewig«, war Volk vor
dem Ausbruch der Kultur; es bleibt in sehr wesentlichen Zügen Urvolk und
es überlebt die Nation. (Ebd., S. 779-780).Es
sind die Weltstädte, in denen neben einer Minderheit, welche Geschichte hat
und die Nation in sich erlebt, vertreten fühlt und führen will, eine
zweite entsteht: zeitlose, geschichtslose, literarische Menschen, Menschen der
Gründe und Ursachen, nicht des Schicksals, welche, dem Blut und dem Dasein
innerlich entfremdet, ganz denkendes Wachsein, für den Begriff der Nation
keinen »vernünftigen« Inhalt mehr entdecken. Sie gehören
ihr wirklich nicht mehr an, denn Kulturvölker sind Formen von Daseinsströmen;
Kosmopolitismus ist eine bloße Wachseinsverbindung von »Intelligenzen«.
Es ist Haß gegen das Schicksal darin, vor allem gegen die Geschichte als
Ausdruck des Schicksals. Alles Nationale ist rassehaft bis zu dem Grade, daß
es keine Sprache findet und in allem, was Denken fordert, ungeschickt und hilflos
bis zum Verhängnis bleibt. Kosmopolitismus ist Literatur und bleibt
es, sehr stark in den Gründen und sehr schwach in ihrer Verteidigung, nicht
mit neuen Gründen, sondern mit dem Blute. (Ebd., S. 780).
Aber
eben deshalb kämpft diese geistig weit überlegene Minderheit mit geistigen
Waffen und sie darf es, weil Weltstädte reiner Geist, wurzellos und an sich
schon zivilisierter Gemeinbesitz sind. Die gebornen Weltbürger und Schwärmer
für Weltfrieden und Völkerversöhnung - im China der kämpfenden
Reiche, im buddhistischen Indien, im Hellenismus und heute - sind die geistigen
Führer des Fellachentums. (Ebd., S. 781).Panem
et circenses - das ist nur eine andere Formel für Pazifismus. (Ebd.,
S. 781).
Ein
antinationales Element ist in der Geschichte aller Kulturen stets vorhanden gewesen.
(Ebd., S. 781)Das
reine auf sich selbst gestellte Denken war immer lebensfremd und also geschichtsfeindlich,
unkriegerisch, rasselos. (Ebd., S. 781).Diese
Fälle mögen noch so verschieden sein, sie gleichen sich darin, daß
das Weltgefühl des Rassemäßigen, der politische und deshalb nationale
Tatsachensinn - rihgt or wrong, my country! -, der Entschluß, Subjekt
oder Objekt der historischen Entwicklung zu sein - denn etwas Drittes gibt es
nicht -, kurz der Wille zur Macht durch eine Neigung überwältigt wird,
deren Führer sehr oft Menschen ohne ursprüngliche Triebe, aber desto
mehr auf Logik versessen sind, in einer Welt der Wahrheiten, Ideale und Utopien
zu Hause, Büchermenschen, welche das Wirkliche durch das Logische, die Gewalt
der Tatsachen durch eine abstrakte Gerechtigkeit, das Schicksal durch die Vernunft
ersetzen zu können glauben. Es fängt an mit den Menscehn der ewigen
Angst, die sich aus der Wirklichkeit in Klöster, Denkstuben und geistige
Gemeinschaften zurückziehen und die Weltgeschichte für gleichgültig
erklären, und endet in jeder Kultur bei den Aposteln des Weltfriedens. Jedes
Volk bringt solchen - geschichtlich betrachtet - Abfall hervor. Schon die Köpfe
bilden physiognomisch eine Gruppe für sich. Sie nehmen in der »Geschichte
des Geistes« einen hohen Rang ein - eine lange Reihe berühmter Namen
ist darunter -, vom Standpunkt der wirklichen Geschichte aus betrachtet, sind
sie minderwertig. (Ebd., S. 781).Allerdings,
mit dem Erlöschen der Nationen ist eine Fellachenwelt über die Geschichte
geistig erhaben, endgültig zivilisert, »ewig«. Sie kehrt im Reich
der Tatsachen in einen natürlichen Zustand zurück, der zwischen langen
Dulden und vorübergehenden Wüten auf und ab schwankt, ohne daß
mit allem Blutvergießen - das durch keinen Weltfrieden je geringer wird
- sich etwas ändert. Einst hatten sie für sich geblutet, jetzt müssen
sie es für andere und oft genug zu deren Unterhaltung - das ist der Unterschied.
Ein handfester Führer, der zehntausend Abenteurer versammelt, kann schalten,
wie er will. Gesetzt, die ganze Welt wäre ein einziges Imperium, so wäre
damit lediglich der Schauplatz für die Heldentaten solcher Eroberer der denkbar
größte geworden. (Ebd., S. 782-783).Lever
doodt als Sklaav: das ist ein altfriesischer Bauernspruch. Die Umkehrung ist der
Wahlspruch jeder späten Zivilisation und jede hat erfahren müssen, wieviel
es kostet. (Ebd., S. 783).
Probleme der arabischen Kultur (S. 784-960): I. Historische
Pseudomorphosen (S. 784-840) Der Begriff
[S. 784] Actium [S. 788] Das Russentum [S. 788] Arabische
Ritterzeit [S. 794] Der Synkretismus [S. 799] Juden, Chaldäer,
Perser der Vorkultur [S. 804] Mission [S. 811] Jesus [S. 814]
Paulus [S. 827] Johannes, Marcion [S. 833] Heidnische und christliche
Kultkirche [S. 837] II. Die
magische Seele (S. 840-880) Dualismus
der Welthöhle [S. 840] Zeitgefühl (Ära, Weltgeschichte,
Gnade) [S. 847] Consensus [S. 854] Das Wort als Substanz,
der Koran [S. 855] Geheime Tora, Kommentar [S. 858] Die Gruppe der
magischen Religionen [S. 862] Der christologische Streit [S. 872]
Dasein als Ausdehnung (Mission) [S. 877] III. Pythagoras,
Mohammed, Cromwell (S. 880-960) Wesen
der Religion [S. 880] Mythos und Kultus [S. 884] Moral als Opfer
[S. 889] Morphologie der Religionsgeschichte [S. 894] Die Vorkultur:
Franken, Russen [S. 897] Ägyptische Frühzeit [S. 900]
Antike [S. 903] China [S. 908] Gotik (Marien- und Teufelsglaube,
Taufe und Buße) [S. 912] Reformation 922] Die Wissenschaft
[S. 927] Puritanismus [S. 930] Rationalismus [S. 935] Zweite
Religiosität [S. 941] Römischer und chinesischer Kaiserkult
[S. 946] Das Judentum [S. 948].Historische
PseudomorphosenHistorische
Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde Kultur so mächtig
über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht
zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen,
sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt.
(Ebd., S. 784).
Alles was aus der Tiefe eines frühen Seelentums
emporsteigt, wird in die Hohlformen des fremden Lebens ergossen; junge Gefühle
erstarren in ältlichen Werken und statt des Sichaufreckens in eigener Gestalungskraft
wächst nur der Haß gegen die ferne Gewalt zur Riesengröße.
Dies ist der Fall der arabischen Kultur. Ihre Vorgeschichte liegt ganz im Bereiche
der uralten (mesopotamisch[-sumerisch]-) babylonischen
Zivilisation, die seit zwei Jahrtausenden die Beute wechselnder Eroberer war.
().
(Ebd., S. 784).Die
magische Kultur ()
ist geographisch und historisch die mittelste in der Gruppe hoher Kulturen (),
die einzige, welche sich räumlich und zeitlich fast mit allen andern berührt
().
(Ebd., S. 785).Der
Aufbau der Gesamtgeschichte in unserem Weltbilde hängt deshalb ganz davon
ab, ob man ihre innere Form erkennt, welche durch die äußere gefälscht
wird; aber gerade sie ist aus philologischen und theologischen Vorurteilen und
mehr noch infolge der Zersplitterung der modernen Fachwissenschaft bis jetzt nicht
erkannt worden. Die abendländische Forschung ist seit langem nicht nur dem
Stoff und der Methode, sondern auch dem Denken nach in eine Anzahl von Fachgebieten
zerfallen, deren widersinnige Abgrenzung es verhindert hat, daß man die
großen Fragen auch nur sah. Wenn irgendwo, so ist das »Fach«
für die Probleme der arabischen Welt zum Verhängnis geworden. Die eigentlichen
Historiker hielten sich an das Interessengebiet der klassischen Philologie, aber
deren Horizont endete an der antiken Sprachgrenze im Osten. Infolgedessen haben
sie die tiefe Einheit der Entwicklung diesseits und jenseits dieser seelisch gar
nicht vorhandenen Schranke nie bemerkt. Das Ergebnis war die Perspektive Altertum-Mittelalter-Neuzeit
(),
die durch den griechisch-lateinischen Sprachgebrauch abgegrenzt und zusammengehalten
wird. ().
(Ebd., S. 785-786).Die
Pseudomorphose ()
beginnt mit Actium - hier hätte Antonius siegen müssen. Es war
nicht der Entscheidungskampf zwischen Römertum und Hellenismus, der
zum Austrag kam; der ist bei Cannä und Zama ausgefochten worden, von Hannibal,
der das tragische Geschick hatte, in Wirklichkeit nicht für sein Land, sondern
für das Hellenentum zu kämpfen. Bei Actium stand die ungeborene arabische
Kultur gegen die greisenhafte antike Zivilisation. (Ebd., S. 788).Peter
der Große ist das Verhängnis des Russentums. .... Es bestand die Möglichkeit,
die russische Welt nach Art entweder der Karolinger oder der Seleukiden zu behandeln,
altrussisch nämlich oder »westlich«, und die Romanows haben sich für das letzte entschieden. (Ebd., S. 789).
Die Gründung
von Petersburg (1703) zwang die primitive russische Seele erst in die fremden
Formen des hohen Barock, dann der Aufklärung, dann des 19. Jahrhunderts.
Der primitive Zarismus von Moskau ist die einzige Form, welche noch heute dem
Russentum gemäß ist, aber er ist in Petersburg in die dynastische Form
Westeuropas umgefälscht worden. Der Zug nach dem heiligen Süden, nach
Byzanz und Jerusalem, der tief in allen rechtgläubigen Seelen lag, wurde
in eine weltmännische Diplomatie mit dem Blick nach Westen verwandelt. Auf
den Brand von Moskau, die großartig symbolische Tat eines Urvolkes, aus
welcher der Makkabäerhaß gegen alles Fremde und Fremdgläubige
redet, folgt der Einzug Alexanders in Paris, die heilige Allianz und die Stellung
im Konzert der westlichen Großmächte. Ein Volkstum, dessen Bestimmung
es war, noch auf Generationen hin geschichtslos zu leben, wurde in eine künstliche
und unechte Geschichte gezwängt, deren Geist vom Urrussentum gar nicht begriffen
werden konnte. Späte Künste und Wissenschaften wurden hereingetragen,
Aufklärung, Sozialethik, weltstädtischer Materialismus, obwohl in dieser
Vorzeit Religion die einzige Sprache war, in der man sich und die Welt verstand;
in das stadtlose Land mit seinem ursprünglichen Bauerntum nisteten sich Städte
fremden Stils wie Geschwüre ein. Sie waren falsch, unnatürlich, unwahrscheinlich
bis in ihr Innerstes. »Petersburg ist die abstrakteste und künstlichste
Stadt, die es gibt«, bemerkt Dostojewski (1821-1881). Er hatte, obwohl er
dort geboren war, ein Gefühl, als ob sie sich eines Morgens mit den Sumpfnebeln
zugleich auflösen könnte. So geisterhaft, unglaubwürdig, lagen
auch die hellenistischen Prunkstädte überall im aramäischen Bauernland.
(Ebd., S. 789-790).
Alles, was rings umher entstand, ist von dem echten
Russentum seitdem als Gift und Lüge empfunden worden. Ein wahrhaft apokalyptischer
Haß richtet sich gegen Europa auf. Und »Europa« war alles, was
nicht russisch war, auch Rom und Athen, ganz wie für den magischen Menschen
damals auch das alte Ägypten und Babylon antik, heidnisch, teuflisch war.
»Die erste Bedingung der Befreiung des russischen Volksgefühls ist:
von ganzem Herzen und aus voller Seele Petersburg zu hassen«, schreibt Aksakow
1863 an Dostojewski. Moskau ist heilig, Petersburg ist der Satan; Peter der Große
erscheint in einer verbreiteten Volkslegende als der Antichrist. Genau so redet
es aus allen Apokalypsen, vom Buche Daniel und Henoch zur Makkabäerzeit bis
auf die Offenbarung Johannis, Baruch und den IV. Esra nach der Zerstörung
Jerusalems (70), gegen Antiochus, den Antichrist, gegen Rom, die babylonische
Hure, gegen die Städte des Westens mit ihrem Geist und Pomp, gegen die gesamte
antike Kultur. Alles, was entsteht, ist unwahr und unrein: diese verwöhnte
Gesellschaft, die durchgeistigten Künste, die sozialen Stände, der fremde
Staat mit seiner zivilisierten Diplomatie, Rechtsprechung und Verwaltung.
(Ebd., S. 790).
Der
eine konnte sich innerlich vom Lande nie befreien, der andere hat es trotz allen
verzweifelten Bemühens niemals gefunden. Tolstoi ist das vergangene, Dostojewski
das kommende Rußland. Tolstoi ist mit seinem ganzen Innern dem Westen
verbunden. Er ist der große Wortführer des Petrinismus, auch wenn er
ihn verneint. Es ist stets eine westliche Verneinung. Auch die Guillotine war
eine legitime Tochter von Versailles. Sein mächtiger Haß redet gegen
das Europa, von dem er selbst sich nicht befreien kann. Er haßt es in sich,
er haßt sich. Er wird damit der Vater des Bolschewismus. Die ganze Ohmacht
dieses Geistes und »seiner« Revolution von 1917 spricht aus
den nachgelassenen Szenen: »Das Licht leuchtet in der Finsternis«.
Diesen Haß kennt Dostojewski nicht. Er hat alles Weltliche mit einer ebenso
leidenschaftlichen Liebe umfaßt. »Ich habe zwei Vaterländer,
Rußland und Europa«. Für ihn hat alles, Petrinismus und Revolution,
bereits keine Wirklichkeit mehr. Aus seiner Zukunft blickt er wie aus weiter
Ferne darüber hin. Seine Seele ist apokalyptisch, sehnsüchtig, verzweifelt,
aber dieser Zukunft gewiß. »Ich werde nach Europa fahren«, sagt
Iwan Karamasoff zu seinem Bruder Aljoscha, »ich weiß es ja, daß
ich nur auf einen Friedhof fahre, doch auf den teuersten, allerteuersten Friedhof,
das weiß ich auch. Teure Tote liegen dort begraben, jeder Stein über
ihnen redet von einem so heißen vergangenen Leben, von so leidenschaftlichem
Glauben an die vollbrachten eigenen Taten, an die eigene Wahrheit, an den eigenen
Kampf und die eigene Erkenntnis, daß ich, ich weiß es im voraus, zur
Erde niederfallen, diese Steine küssen und über ihnen weinen werde.«
(Ebd., S. 792 ).
Der echte Russe
ist ein Jünger Dostojewskis, obwohl er ihn nicht liest, obwohl und
weil er überhaupt nicht lesen kann. Er ist selbst ein Stück
Dostojewski. Wären die Bolschewisten, die in Christus ihresgleichen,
einen bloßen Sozialrevolutionär erblicken, geistig nicht so
eng, sie würden in Dostojewski ihren eigentlichen Feind erkannt haben.
Was dieser Revolution ihre Wucht gab, war nicht der Haß der Intelligenz.
Es war das Volk, das ohne Haß, nur aus dem Trieb, sich von
einer Krankheit zu heilen, die westlerische Welt durch ihren Abhub zerstörte
und diesen selbst ihr nachsenden wird; das stadtlose Volk, das sich nach
seiner eigenen Lebensform, seiner eigenen Religion,
seiner eigenen künftigen Geschichte sehnt. Das Christentum Tolstois
war ein Mißverständnis. Er sprach von Christus und meinte Marx.
Dem Christentum Dostojewskis gehört das nächste Jahrtausend.
(Ebd., S. 794 ).
Die antike Religion lebt in einer
ungeheuren Zahl von Einzelkulten, die, in dieser Gestalt dem apollinischen
Menschen natürlich und selbstverständlich, jedem Fremden in
ihrem eigentlichen Wesen so gut wie verschlossen sind. Sobald Kulte von
solcher Art entstanden, gab es eine antike Kultur. Sobald sie in später
Römerzeit ihr Wesen veränderten, war die Seele dieser Kultur
zu Ende. Außerhalb der antiken Landschaft sind sie niemals echt
und lebendig gewesen. Das Göttliche ist stets an einen einzelnen
Ort gebunden und auf ihn beschränkt. Das entspricht dem statischen
und euklidischen Weltgefühl. Das Verhalten des Menschen zur Gottheit
hat die Form eines ebenfalls ortsgebundenen Kultes, dessen Bedeutung im
Bilde der rituellen Handlung und nicht in deren dogmatischem Hintersinn
liegt. Wie die Bevölkerung in zahllose nationale Punkte, so zerfällt
ihre Religion in diese winzigen Kulte, deren jeder von jedem andern vollständig
unabhängig ist. Nicht ihr Umfang, sondern nur ihre Anzahl kann zunehmen.
Es ist die einzige Form des Wachstums innerhalb der antiken Religion und
sie schließt jede Mission vollständig aus. Denn diese Kulte
übt man aus, aber man gehört ihnen nicht an; es gibt keine antiken
»Gemeinden«. Wenn spätes Denken in Athen etwas Allgemeineres
im Göttlichen und Kultischen annimmt, so ist das nicht Religion,
sondern Philosophie, die sich auf das Denken einzelner beschränkt
und auf das Empfinden der Nation, nämlich der Polis, nicht im geringsten
einwirkt. (Ebd., S. 799).
Im schärfsten Gegensatz dazu
steht die sichtbare Form der magischen Religion, die Kirche, die Gemeinschaft
der Rechtgläubigen, die keine Heimat und keine irdische Grenze kennt.
Von der magischen Gottheit gilt das Wort Jesu: »Wo zwei oder drei
versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.«
Es versteht sich, daß für jeden Gläubigen nur ein Gott
der wahre und gute sein kann, die Götter der andern aber falsch und
böse sind ().
Die Beziehungen zwischen diesem Gott und dem Menschen ruht nicht im Ausdruck,
sondern in der geheimen Kraft, in der Magie gewisser symbolischer Handlungen:
damit sie wirksam sind, muß man ihre Form und Bedeutung genau kennen
und sie danach ausüben. Die Kenntnis dieser Bedeutung ist ein Besitz
der Kirche - sie ist die Kirche selbst als die Gemeinschaft der Kenner
- und damit liegt der Schwerpunkt jeder magischen Religion nicht im Kult,
sondern in einer Lehre, im Bekenntnis. (Ebd., S. 799-800).
Solange
die Antike sich seelisch aufrecht hielt, bestand die Pseudomorphose ()
darin, daß alle östlichen Kirchen zu Kulten westlichen Stils wurden.
Dies ist eine wesentliche Seite des Synkretismus ().
Die persische Religion dringt als Mithraskult ein, die chaldäisch-syrische
in den Kulten der Gestirngötter und Baale (Jupiter, Dolichenus, Sabazios,
Sol Invictus, Atargatis), das Judentum in Gestalt des Jahwekultes, denn die ägyptischen
Gemeinden der Ptolemäerzeit lassen sich nicht anders bezeichnen, und auch
das früheste Christentum, wie die Paulinischen Briefe und die römischen
Katakomben deutlich erkennen lassen, als Jesuskult. Mögen alle diese Kulte,
die etwa seit Hadrian (also seit etwa 117-138) die
der echt antiken Stadtgötter völlig in den Hintergrund drängen,
noch so laut den Anspruch erheben, eine Offenbarung des einzig wahren Glaubens
zu sein - Isis nennt sich deorum dearumque facies uniformis -, so tragen
sie doch sämtliche Merkmale des antiken Einzelkultes: sie vermehren deren
Zahl ins Unendliche; jede Gemeinde steht für sich und ist örtlich begrenzt,
alle diese Tempel, Katakomben, Mithräen, Hauskapellen sind Kultorte, an welche
die Gottheit nicht ausdrücklich, aber gefühlsmäßig gebunden
ist; aber trotzdem liegt magisches Empfinden in dieser Frömmigkeit. ().
Antike Kulte übt man aus, und zwar in beliebiger Zahl, von diesen
gehört man einem einzigen an. Die Mission ist dort undenkbar, hier
ist sie selbstverständlich, und der Sinn religiöser Übungen verschiebt
sich deutlich nach der lehrhaften Seite. (Ebd., S. 800-801)
Mit dem Hinschwinden der apollinischen
und dem Aufblühen der magischen Seele seit dem zweiten Jahrhundert kehrt
sich das Verhältnis um. Das Verhängnis der Pseudomorphose bleibt, aber
es sind jetzt Kulte des Westens, die zu einer neuen Kirche des Ostens werden.
Aus der Summe von Einzelkulten entwickelt sich eine Gemeinschaft derer, welche
an diese Gottheiten und Übungen glauben, und nach dem Vorgange des Persertums
und Judentums entsteht ein neues Griechentum als magische Nation.
Aus der sorgfältig festgelegten Form der Einzelhandlung bei Opfern und Mysterien
wird eine Art Dogma über den Gesamtsinn dieser Akte. Die Kulte können
sich gegenseitig vertreten; man übt sie nicht eigentlich aus, sondern »hängt
ihnen an«. Und aus der Gottheit des Ortes wird, ohne daß jemand
sich der Schwere dieser Wendung bewußt wäre, die am Orte gegenwärtige
Gottheit. (Ebd., S. 800-801).So
sorgfältig der Synkretismus seit Jahrzehnten durchforscht ist, so wenig hat
man doch den Grundzug seiner Entwicklung, zuerst die Verwandlung östlicher
Kirchen in westliche Kulte und dann mit umgekehrter Tendenz die Entstehung der
Kultkirche, erkannt. Infolgedessen erscheint er als formloser Mischmasch aller
denkbaren Religionen. Nichts ist weniger richtig. Die Formenbildung geht erst
von West nach Ost, dann von Ost nach West. (Ebd., S. 801).
Vgl. auch: Pseudomorphose ()
am antik-magischen Beispiel ().
Die magische Seele war erwacht. Was in den prophetischen Religionen
wie eine Ahnung lag, was zur Zeit Alexanders in metaphysischen Umrissen
hervortrat, das erfüllte sich jetzt. Und diese Erfüllung weckte
in unnennbarer Stärke das Urgefühl der Angst. Es gehört
zu den letzten Geheimnissen des Menschentums und des unbeweglichen Lebens
überhaupt, daß die Geburt des Ich und der Weltangst ein und
dasselbe sind. Daß sich vor einem Mikrokosmos ein Makrkosmos auftut,
weit, übermächtig, ein Abgrund von fremdem lichtüberstrahlten
Sein und Treiben, das läßt das kleine, einsame Selbst scheu
in sich zurückweichen. Eine Angst vor dem eigenen Wachsein, wie sie
Kinder zuweilen überfällt, lernt kein Erwachsener in den schwärzesten
Stunden seines Lebens wieder kennen. Diese Todesangst lag auch über
dem Anbruch der neuen Kultur. In dieser Morgenröte magischen Weltbewußtseins,
das verzagt, ungewiß, dunkel über sich selbst war, fiel ein
neuer Blick auf das nahe Ende der Welt. Es ist der erste Gedanke, mit
dem bis jetzt jede Kultur zum Bewußtsein ihrer selbst kam.
(Ebd., S. 815-816).
Man dachte, man lebte nur noch
in apokalyptischen Bildern. Die Wirklichkeit wurde zum Schein. .... Der
Jüngste Tag war nahe herangekommen, Man erwartete ihn. Man wußte,
daß »er« jetzt erscheinen müsse, von dem in allen
Offenbarungen die Rede war. Propheten standen auf. Man schloß sich
zu immer neuen Gemeinden und Kreisen zusammen, in der Überzeugung,
die angeborene Religion nun besser erkannt oder die wahre gefunden zu
haben. In dieser Zeit ungeheuerster, von Jahr zu Jahr wachsender Spannung
ist, ganz nahe der Geburt Jesu, neben zahllosen Gemeinschaften und Sekten
auch die mandäische Erlösungsreligion entstanden (),
deren Stifter oder Ursprung wir nicht kennen. .... Überall ist »er«,
der Menschensohn, der in die Tiefe gesandte Erlöser, der selbst erlöst
werden muß, das Ziel der Erwartung. .... Alle Züge der großen
prophetischen Religionen und der ganze Schatz tiefster Einsichten und
Gestalten, der sich seitdem in der Apokalyptik gesammelt hatte, liegen
hier gemeinsam zugrunde. Von antikem Denken und Fühlen ist in diese
Unterwelt des Magischen nicht ein Hauch gedrungen. Die Anfänge der
neuen Religion sind wohl für immer verschollen. Eine geschichtliche
Gsetalt des Mandäertums aber tritt mit ergreifender Deutlichkeit
hervor, tragisch in ihrem Wollen und Untergang wie Jesus selbst: es ist
Johannes der Täufer. ().
Dem Judentum kaum noch angehörig und von einem mächtigem Hasse
- er entspricht genau dem urrussichen Hasse gegen Petersburg - gegen den
Geist von Jerusalem erfüllt, predigt er das Ende der Welt und des
nahen Barnasha, des Menschensohn, der nicht mehr der verheißene
Messias der Juden, sondern der Bringer des Weltbrandes ist. Zu ihm
ging Jesus und wurde einer seiner Jünger. (Nach Reitzenstein [Das
mandäische Buch des Herrn der Größe, 1919, S. 65]
ist er als Johannesjünger in Jerusalem verurteilt worden. Nach Lidzbarski
[Mandäische Liturgien, 1920, XVI]
und Zimmern [Zeitschrift d. D. Morg. Gesellschaft, 1920, S. 429] weist
der Ausdruck Jesus der Nazaräer oder Nasoräer, der später
von der christlichen Gemeinde auf Nazareth bezogen wurde [Matthäus,
2, 23, mit einem unechten Zitat], auf die Zugehörigkeit zu einem
mandäischen Orden hin [].).
Er war dreißig Jahre alt, als die Erweckung über ihn kam. Die
apokalyptische und im besonderen die mandäische Gedankenwelt erfüllte
von nun an sein ganzes Bewußtsein. Nur scheinhaft, fremd und bedeutungslos
lag die andere Welt der geschichtlichen Wirklichkeit um ihn her. Daß
»er« jetzt kommen und dieser so unwirklichen Wirklichkeit ein
Ende machen werde, war seine große Gewißheit, und für
sie trat er wie sein Meister Johannes als Verkünder auf. Noch jetzt
lassen die ältesten ins Neue Testament aufgenommenen Evangelien diese
Zeit hindurchschimmern, in der er in seinem Bewußtsein nichts war
als ein Prophet (vgl. z.B. Markus 6 und dazu die große Wendung Markus
8, 27ff.. Es gibt keine zweite Religion, aus deren Entstehungszeit Stücke
von so treuherziger Berichterstattung erhalten sind.). (Ebd., S.
816-818).
Als Jesus aber vor Pilatus geführt wurde, da traten sich
die Welt der Tatsachen und die der Wahrheiten unvermittelt und unversöhnlich
gegenüber, in so erschreckender Deutlichkeit und Wucht der Symbolik
wie in keiner zweiten Szene der gesamten Weltgeschichte. Der Zwiespalt,
der allem freibeweglichen Leben von Anfang an zugrunde liegt, schon damit,
daß es ist, daß es Dasein und Wachsein ist, hat hier die höchste
überhaupt denkbare Form menschlicher Tragik angenommen. In der berühmten
Frage des römischen Prokurators: Was ist Wahrheit? das einzige
Wort im Neuen Testament, das Rasse hat liegt der ganze Sinn
der Geschichte, die Alleingeltung der Tat, der Rang des Staates, des
Krieges, des Blutes, die ganze Allmacht des Erfolges und der Stolz auf
ein großes Geschick. Darauf hat nicht der Mund, aber das schweigende
Gefühl Jesu mit der andern, über alles Religiöse entscheidenden
Frage geantwortet: Was ist Wirklichkeit? Für Pilatus war sie
alles, für ihn selbst nichts. Anders kann echte Religiosität
der Geschichte und ihren Mächten niemals gegenüberstehen, anders
darf sie das tätige Leben nie einschätzen, und wenn sie es dennoch
tut, so hat sie aufgehört, Religion zu sein, und ist selbst dem Geist
der Geschichte verfallen. (Ebd., S. 820).
Mein Reich ist nicht von dieser Welt das ist das
letzte Wort, von dem sich nichts abdeuten läßt und an dem jeder
ermessen muß, wohin Geburt und Natur ihn gewiesen haben. Ein Dasein,
das sich des Wachseins bedient, oder ein Wachsein, welches das Dasein
unterwirft; Takt oder Spannung, Blut oder Geist, Geschichte oder Natur,
Politik oder Religion: hier gibt es nur ein Entweder-Oder und keinen ehrlichen
Vergleich. Ein Staatsmann kann tief religiös sein, ein Frommer kann
für sein Vaterland fallen aber sie müssen beide wissen,
auf welcher Seite sie wirklich stehen. Der geborne Politiker verachtet
die weltfremden Betrachtungsweisen des Ideologen und Ethikers mitten in
seiner Tatsachenwelt er hat recht. Für den Gläubigen
sind aller Ehrgeiz und Erfolg der geschichtlichen Welt sündhaft und
ohne ewigen Wert er hat auch recht. Ein Herrscher, der die Religion
in der Richtung auf politische, praktische Ziele verbessern will, ist
ein Tor. Ein Sittenprediger, der Wahrheit, Gerechtigkeit, Frieden, Versöhnung
in die Welt der Wirklichkeit bringen will, ist ebenfalls ein Tor. Kein
Glaube hat je die Welt verändert und keine Tatsache kann je einen
Glauben widerlegen. Es gibt keine Brücke zwischen der gerichteten
Zeit und dem zeitlos Ewigen, zwischen dem Gang der Geschichte und dem
Bestehen einer göttlichen Weltordnung, in deren Bau »Fügung«
das Wort für den höchsten Fall von Kausalität ist. Das
ist der letzte Sinn jenes Augenblicks, in dem Pilatus und Jesus sich gegenüberstanden.
In der einen, der historischen Welt ließ der Römer den Galiläer
ans Kreuz schlagen das war sein Schicksal. In der andern war Rom
der Verdammnis verfallen und das Kreuz die Bürgschaft der Erlösung.
Das war »Gottes Wille«. (Die Betrachtungsweise
dieses Buches ist historisch. Sie erkennt also die entgegengesetzte als
Tatsache an. Dagegen muß die religiöse Betrachtung mit Notwendigkeit
sich selbst als wahr, die andere als falsch erkennen. Dieser Zwiespalt
läßt sich nicht überwinden.) (Ebd., S. 820-821).
Religion
ist Metaphysik, nichts anderes: Credo, quia absurdum. Und zwar ist erkannte,
bewiesene, für bewiesen gehaltene Metaphysik bloße Philosophie oder
Gelehrsamkeit. Hier ist erlebte Metaphysik gemeint, das Undenkbare als
Gewißheit, das Übernatürliche als Ereignis, das Leben in einer
nichtwirklichen, aber wahren Welt. Anders hat Jesus auch nicht einen Augenblick
gelebt. Er war kein Sittenprediger. In der Sittenlehre das letzte Ziel sehen,
heißt sie nicht kennen. Das ist neunzehntes Jahrhundert. »Aufklärung«,
humanes Philistertum. Ihm soziale Absichten zuschreiben, ist eine Lästerung.
Seine gelegentlichen Sittensprüche, soweit sie ihm nicht nur zugeschrieben
sind, dienen lediglich der Erbauung. Sie enthalten gar keine neue Lehre. Seine
Lehre was einzig die Verkündigung der letzten Dinge, deren Bilder
ihn beständig erfüllten: der Anbruch des neuen Weltalters, die Herabkunft
des himmlischen Gesandten, das letzte Gericht, ein neuer Himmel und eine neue
Erde. Einen anderen Begriff von Religion hat er nie gehabt, und einen anderen
besitzt überhaupt keine wahrhaft innerliche Zeit. Religion ist durch und
durch Metaphysik, Jenseitigkeit. Wachsein inmitten einer Welt, in welcher
das Zeugnis der Sinne nur den Vordergrund aufhellt; Religion ist das Leben in
und mit dem Übersinnlichen, und wo die Kraft zu solchem Wachsein, die Kraft,
auch nur daran zu glauben, fehlt, da ist die wirkliche Religion zu Ende. Mein
Reich ist nicht von dieser Welt - nur wer das ganze Gewicht dieser Einsicht
ermißt, kann seine tiefsten Aussprüche begreifen. Erst späte,
städtische Zeiten, die solcher Einblicke nicht mehr fähig waren, haben
den Rest von Religiosität auf die Welt des äußeren Lebens bezogen
und die Religion durch humane Gefühle und Stimmungen, die Metaphysik durch
Sittenpredigt und Sozialethik ersetzt. In Jesus findet man das gerade Gegenteil.
»Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist« - das heißt:
Fügt euch den Mächten der Tatsachenwelt, duldet, leidet und fragt nicht,
ob sie »gerecht« sind. Wichtig ist nur das Heil der Seele. »Sehet
die Lilien auf dem Felde« - das heißt: Kümmert euch nicht um
Reichtum und Armut. Sie fesseln beide die Seele an die Sorgen dieser Welt.
»Man muß Gott dienen oder dem Mammon« - da ist mit dem Mammon
die ganze Wirklichkeit gemeint. Es ist flach und feige, die Größe aus
dieser Forderung fortzudcuten. Zwischen der Arbeit für den eignen Reichtum
und der für die soziale Bequemlichkeit »aller« hätte er
überhaupt keinen Unterschied empfunden. Welm er vor dem Reichtum erschrak
und wenn die Urgemeinde in Jerusalem, die ein strenger Orden war und kein Sozialistenklub,
den Besitz verwarf, so liegt darin der größte überhaupt denkbare
Gegensatz zu aller »sozialen Gesinnung«: nicht weil die äußere
Lage alles, sondern weil sie nichts ist, nicht aus der Alleinschätzung, sondern
aus der unbedingten Verachtung des diesseitigen Behagens gehen solche Überzeugungen
hervor. Aber es muß allerdings etwas da sein, dem gegenüber alles irdische
Glück zu nichts versinkt. Es ist wieder der Unterschied von Tolstoi und Dostojewski.
Tolstoi, der Städter und Westler, hat in Jesus nur einen Sozialethiker erblickt
und wie der ganze zivilisierte Westen, der nur verteilen, nicht verzichten kann,
das Urchristentum zum Range einer sozialrevolutionären Bewegung herabgezogen,
und zwar aus Mangel an metaphysischer Kraft. Dostojewski, der arm war, aber in
gewissen Stunden fast ein Heiliger, hat nie an soziale Verbesserungen gedacht
- was wäre der Seele damit geholfen, wenn man das Eigentum abschafft?
(Ebd., S. 821-823).Die
magische Seele
Die Welt, wie sie sich vor dem magischen Wachsein ausbreitet,
besitzt eine Art von Ausgedehntheit, die höhlenhaft genannt werden
darf (),
so schwer es dem Menschen des Abendlandes auch ist, im Vorrat seiner Begriffe
auch nur ein Wort ausfindig zu machen, mit dem er den Sinn des magischen
»Raumes« wenigstens andeuten könnte. Denn »Raum«
bedeutet für das Empfinden beider Kulturen durchaus zweierlei. Die
Welt als Höhle ist von der faustischen Welt als Weite mit ihrem leidenschaftlichen
Tiefendrang ebenso verschieden wie von der antiken Welt als Inbegriff
körperlicher Dinge. (Ebd., S. 840).
Alle Religionen der magischen Kultur von den Schöpfungen
des Jesaja und Zarathustra bis zum Islam bilden eine vollkommene innere
Einheit des Weltgefühls, und so wenig im Awestaglauben auch nur ein
brahmanischer Zug, im Urchristentum auch nur eine Spur antiken Gefühls
zu finden ist, sondern nur Namen, Bilder und äußere Formen,
so wenig hat das germanisch-katholische Christentum des Abendlandes auch
nur einen Hauch vom Weltgefühl jener Jesusreligion herübernehmen
können, als es deren ganzen Bestand an Sätzen und Bräuchen
übernahm. (Ebd., S. 843).
Wenn man ahnen will, wie fremd das Innenleben Jesu uns allen ist
eine schmerzliche Einsicht für den Christen des Abendlandes,
der seine Frömmigkeit gern auch innerlich an ihn anknüpfen möchte
und wie es heute eigentlich nur von einem frommen Moslim nacherlebt
werden kann, so versenke man sich in diese Märchenzüge eines
Weltbildes, das auch das seinige war. Dann erst wird man erkennen, wie
wenig das faustische Christentum aus dem Reichtum der pseudomorphosen
Kirche herübergenommen hat, nämlich nichts vom Weltgefühl,
wenig von der inneren Form und viel an Begriffen und Gestalten (Ebd.,
S. 846).
Weltgeschichte ist das Bild der lebendigen Welt, in das der Mensch
sich durch seine Geburt, durch Vorfahren und Nachkommen hineinverwebt
sieht und das er aus seinem Weltgefühl heraus zu begreifen sucht.
Das Geschichtsbild des antiken Menschen drängt sich um das rein Gegenwärtige
zusammen. Es enthält ein Sein, kein eigentliches Werden, und als
abschließenden Hintergrund den zeitlosen Mythos, rationalisiert
als goldenes Zeitalter. Dieses Sein aber war ein buntes Gewimmel von Aufstieg,
Niedergang, Glück und Unglück, ein blindes Ungefähr, eine
ewige Veränderung, aber in allem Wechsel doch immer dasselbe, ohne
Richtung, ohne Ziel, ohne »Zeit«. Das Höhlengefühl
fordert eine übersehbare Geschichte mit Weltanfang und Weltende,
die zugleich Anfang und Ende der Menschheit sind, als den Akten
einer zaubergewaltigen Gottheit und dazwischen, in die Grenzen der Höhle
gebannt und von vorbestimmter Dauer, das Ringen des Lichtes mit der Finsternis,
der Engel und Jazatas mit Ahriman, Satan, Iblis, in das der Mensch mit
Geist und Seele verwickelt ist. Die gegenwärtige Höhle kann
von Gott zertrümmert und durch eine neue Schöpfung ersetzt werden.
Die persisch-chaldäischen Vorstellungen und die Apokalyptik gewährten
den Blick über eine Reihe solcher Aionen, und Jesus wie seine ganze
Zeit erwartete das Ende des bestehenden. (Vgl. M.
Horten, Die religiöse Gedankenwelt des Volkes im heutigen Islam,
1917, S. XXVI.) Daraus ergibt sich ein historischer Blick über
die gegebene Zeit, wie er heute noch dem Menschen des Islam durchaus natürlich
ist. »Die Weltanschauung des Volkes zerfällt naturgemäß
in die großen Teile: Weltentstehung, Weltentwicklung, Weltuntergang.
Für den so tief ethisch empfindenden Moslim ist in der Weltentwicklung
das Wesentlichste die Heilsgeschichte und der ethische Lebensweg, die
als Menschenleben zusammengefaßt werden. Dasselbe mündet
in den Weltuntergang, der die Sanktion der sittlichen Menschheitsgeschichte
enthält.« Es ist eine große Lücke in unserer Forschung, daß wir
eine Reihe von Werken über die antike Religion und besonders ihre
Götter und Kulte besitzen, aber keines über antike Religiosität
und ihre Geschichte.) (Ebd., S. 849).
Für das magische Menschendasein aber ergibt sich aus dem
Gefühl von dieser Zeit und dem Erblicken dieses Raumes
eine ganz einzige Art von Frömmigkeit, die ebenfalls höhlenhaft
genannt werden darf, eine willenlose Ergebung, die das geistige
Ich überhaupt nicht kennt und das geistige Wir, das in den beseelten
Leib eingegangen ist, als bloßen Widerschein des göttlichen
Lichtes empfindet. Das arabische Wort hierfür ist »islam«,
Ergebung, aber »islam« war auch die beständige
Fühlweise Jesu und die jeder andern Persönlichkeit von religiösem
Genie, die in dieser Kultur hervorgetreten ist. Antike Frömmigkeit
ist etwas ganz anderes (es ist eine große
Lücke in unserer Forschung, daß wir eine Reihe von Werken über
die antike Religion und besonders ihre Götter und Kulte besitzen,
aber keines über antike Religiosität und ihre Geschichte),
und wenn man aus der Frömmigkeit der heiligen Teresia, Luthers oder
Pascals das Ich fortdenken wollte, das sich gegen das Göttlich-Unendliche
behaupten, sich vor ihm beugen oder in ihm erlöschen will,
so wird nichts übrig bleiben. Das faustische Ursakrament der Buße
setzt ein starkes und freies Wollen voraus, das sich selbst überwindet.
Aber »islam« ist gerade die Unmöglichkeit eines Ich
als einer freien Macht dem Göttlichen gegenüber. Jeder Versuch,
der Wirkung Gottes mit einer eigenen Absicht oder auch nur Ansicht entgegenzutreten,
ist »masija«, das heißt nicht ein böses Wollen,
sondern der Beweis, daß die Mächte der Finsternis und des Bösen
Besitz von einem Menschen ergriffen und das Göttliche daraus verdrängt
haben. Das magische Wachsein ist der bloße Schauplatz eines Kampfes
zwischen beiden Mächten und nicht etwa eine Macht für sich.
In dieser Art von Weltgeschehen gibt es auch keine einzelnen Ursachen
und Wirkungen mehr und vor allem keine das All durchherrschende
dynamische Kausalverkettung, mithin auch keine notwendige Verknüpfung
von Schuld und Strafe, keinen Anspruch auf Lohn, keine altisraelitische
»Gerechtigkeit«. Dergleichen sieht die echte Frömmigkeit
dieser Kultur tief unter sich. Die Naturgesetze sind nichts für immer
Gegebenes, das Gott nur durch ein Wunder aufheben kann, sondern gewissermaßen
der Gewohnheitszustand des selbstherrlichen göttlichen Wirkens und
ohne innere logische, faustische Notwendigkeit. Es gibt
in der ganzen Welthöhle nur eine Ursache, die allen sichtbaren Wirkungen
unmittelbar zugrunde liegt, die Gottheit, die selbst keine Gründe
für ihre Handlungen mehr hat. Über solche Gründe auch nur
nachzudenken, ist Sünde. Aus diesem Grundgefühl ergibt sich
die rein magische Idee der Gnade. Sie liegt allen Sakramenten dieser Kultur,
vor allem dem magischen Ursakrament der Taufe zugrunde und bildet den
innerlichsten Gegensatz zur Buße im faustischen Sinne. Die Buße
setzt den Willen eines Ich voraus, die Gnade kennt ihn gar nicht. Es war
ein großes Verdienst Augustins, diesen vollkommen islamischen Gedanken
mit unerbittlicher Logik entwickelt zu haben so eindringlich, daß
die faustische Seele seit Pelagius auf jedem Wege versucht hat, diese
für sie an Selbstvernichtung streifende Gewißheit zu umgehen,
und den Ausdruck ihres eigenen Gottbewußtseins jedesmal in einem
tiefen und innigen Mißverstehen augustinischer Sätze fand.
In Wirklichkeit ist Augustin der letzte große Denker der früharabischen
Scholastik und nichts weniger als ein abendländischer Geist. (»Er
ist in Wahrheit Abschluß und Vollendung der christlichen Antike,
ihr letzter und größter Denker, ihr geistlicher Praktiker und
Volkstribun. Von hier aus muß er zuerst verstanden werden. Was dann
spätere Zeiten aus ihm gemacht haben, ist eine andere Frage. Seinen
eigentlichen, antike Kultur, kirchlich-episkopale Autorität und innerlichste
Mystik zusammenfassenden Geist können sie gar nicht fortgesetzt haben,
da sie, von anderen Verhältnissen umgeben, andere praktische Aufgaben
vor sich hatten.« (E. Troeltsch, Augustin, die christliche Antike
und das Mittelalter [1915], S. 7.) Seine Macht beruht wie die Tertullians
auch darauf, daß seine Schriften nicht ins Lateinische übersetzt,
sondern in dieser heiligen Sprache der abendländischen Kirche gedacht
waren. Eben das schließt beide von dem Gebiet aramäischen Denkens
aus. Vgl. Bd. II, S. 832 f..) (Ebd., S. 849-850).
Das folgt mit Notwendigkeit aus dem Weltgefühl der magischen
Menschen und führt zur Verwandlung der Herrscher in Kalifen - Beherrscher
vor allem der Gläubigen, nicht eines Gebietes - und damit zur Auffassung
der Rechtgläubigkeit als der Voraussetzung wirklicher Staatsangehörigkeit,
zur Pflicht der Verfolgung falscher Religionen - der heilige Krieg des
Islam ist so alt wie diese Kultur selbst und hat ihre ersten Jahrhunderte
vollkommen erfüllt -, zur Stellung der im Staate nur geduldeten Ungläubigen
unter eigenes Recht und Verwaltung - denn das göttliche Recht ist
Ketzern versagt - und damit zur Wohnweise des Ghetto. (Ebd., S.
868).
Mit dem Ende der arabischen Frühzeit tritt der endgültige
Zerfall des Christentums in drei Religionen ein, die sich symbolisch mit
den Namen Paulus, Petrus und Johannes bezeichnen lassen und von denen
keine mehr die eigentliche und wahre genannt werden darf, wenn man nicht
historischen und theologischen Vorurteilen nachgibt. Sie sind zugleich
drei Nationen im Stammgebiet der älteren griechischen, jüdischen
und persischen Nation, und sie bedienen sich der von diesen entlehnten
Kirchensprachen des Griechischen, Aramäischen und Pehlewi.
(Ebd., S. 875).
Den Islam muß man als den Puritanismus der gesamten Gruppe
frühmagischer Religionen betrachten, der nur in Form einer neuen
Religion aufgetreten ist und zwar im Bereich der Südkirche und des
talmudischen Judentums. In dieser tieferen Bedeutung und nicht allein
in der Wucht des kriegerischen Ansturms liegt das Geheimnis seiner märchenhaften
Erfolge (Ebd., S. 878-879).
Jeder Blick in irgendein Buch über Religionsgeschichte lehrt,
daß »das« Christentum zwei Zeitalter großer Gedankenbewegung
kennengelernt hat, 0500 im Orient und 10001500 im Okzident.
(Ein drittes »gleichzeitiges«, wird
in der ersten Hälfte des nächsten Jahrtausends in der russischen
Welt folgen.) (Ebd., S. 868).
Pythagoras,
Mohammed, Cromwell
Auch der Schlaf erlöst. Der Tod selbst ist der Bruder des
Schlafs. (Ebd., S. 881).
Das Verstehen von Ursachen erlöst. Der Glaube an die gefundenen
Zusammenhänge bringt die Weltangst zum Weichen. Gott ist die Zuflucht
des Menschen vor dem Schicksal, das sich fühlen, erleben, aber nicht
denken, vorstellen, nennen läßt, das versinkt, solange das
»kritische« scheidende furchtgeborne
Verstehen Ursachen hinter Ursachen greifbar, d.h. für das äußere
oder innere Auge in optischer Aufreihung feststellt, aber auch nur so
lange. Es ist die verzweifelte Lage des höheren Menschen, daß
sein mächtiges Verstehenwollen sich in beständigem Widerspruch
zu seinem Dasein befindet. Es dient dem Leben nicht mehr; herrschen kann
es auch nicht; so bleibt etwas Ungelöstes in allen bedeutenden Lagen.
»Es darf sich einer nur für frei erklären, so fühlt
er sich den Augenblick als bedingt. Wagt er es, sich für bedingt
zu erklären, so fühlt er sich frei.« (Goethe) (Ebd.,
S. 883-884).
Das erste und vielleicht das einzige Ergebnis des menschlichen
Verstehenwollens ist der Glaube. »Ich glaube« ist das
große Wort gegen die metaphysische Angst und zugleich ein Bekenntnis
der Liebe. Mag das Forschen und Kennenlernen seinen Gipfel in einer plötzlichen
Erleuchtung oder einer erfolgreichen Berechnung haben, so wäre doch
alles eigene Empfinden und Begreifen ohne Sinn, wenn nicht die innere
Gewißheit von »etwas« sich einstellte, das als das Andre
und Fremde und zwar genau in der ermittelten Gestalt in der Verkettung
von Ursache und Wirkung »ist«. Der Mensch als Wesen des sprachgeleiteten
Denkens kennt also als seinen höchsten geistigen Besitz den endlich
errungenen festen Glauben an dieses der Zeit und dem Schicksal entrückte
Etwas, das er schauend abgesondert und durch Name und Zahl gezeichnet
hat. Aber was das ist, bleibt zuletzt dennoch dunkel. Wurde die geheime
Logik des Alls damit selbst berührt oder nur ein Schattenbild? Das
ganze Ringen und Leiden, die ganze Angst des grübelnden Menschen
richtet sich auf diesen neuen Zweifel, der Verzweiflung werden kann. Er
braucht in seinem geistigen Tiefendrang den Glauben an ein letztes
Etwas, das sich denkend erreichen, ein Ende des Zertrennens, das keinen
Rest von Geheimnis mehr übrig läßt. Die Winkel und Abgründe
seiner geschauten Welt müssen sämtlich durchleuchtet sein
nichts anderes kann ihn erlösen. (Ebd., S. 886).
Hier geht der Glaube über in das aus dem Mißtrauen
erwachsene »Wissen« oder, was wahrer ist, in den Glauben
an ein solches Wissen. Denn diese Form des Verstehens ist durchaus abhängig
von jener, später, künstlicher und fragwürdiger. Es kommt
hinzu, daß die religiöse Theorie das gläubige Schauen
zu einer priesterlichen Praxis führt, die wissenschaftliche
Theorie aber sich umgekehrt durch[886] jene aus der Praxis, dem technischen
Wissen des alltäglichen Lebens ablöst. (Vgl. S. 580 f..)
Der feste Glaube, der sich aus Erleuchtungen, Offenbarungen, plötzlichen
Tiefblicken ergibt, kann kritischer Arbeit entbehren. Das kritische Wissen
aber setzt den Glauben voraus, daß seine Methoden genau zu dem führen,
was man sucht, nicht zu neuen Bildern, sondern zu »Wirklichem«.
Aber die Geschichte lehrt, daß der Zweifel am Glauben zum Wissen
führt und der Zweifel am Wissen nach einer Zeit des kritischen Optimismus
wieder zurück zum Glauben. Je mehr das theoretische Wissen sich vom
gläubigen Hinnehmen befreit, desto näher kommt es der Selbstaufhebung.
Was übrig bleibt, ist einzig und allein die technische Erfahrung.
(Ebd., S. 886-887).
Wahr ist nur das Zeitlose. Wahrheiten liegen jenseits der
Geschichte und des Lebens; dafür ist das Leben selbst etwas jenseits
aller Ursachen, Wirkungen und Wahrheiten. Beides, die Kritik am Wachsein
und am Dasein, ist geschichtswidrig und lebensfremd. Aber im ersten Falle
entspricht das durchaus der kritischen Absicht und der inneren Logik des
Gegenstandes, den man meint, im letzten nicht. Der Unterschied von Glauben
und Wissen oder Furcht und Neugier oder Offenbarung und Kritik ist also
nicht der letzte. Wissen ist nur eine späte Form des Glaubens. Aber
Glaube und Leben, Liebe aus der geheimen Furcht vor der Welt und
Liebe aus dem geheimen Haß der Geschlechter, die Kenntnis der anorganischen
und das Fühlen der organischen Logik, Ursachen und Schicksale
das ist der tiefste aller Gegensätze. Hier entscheidet es sich nicht,
was für eine Art zu denken man hat ob religiös oder kritisch
oder worüber man denkt, sondern ob man ein Denker ist
gleichviel über was oder ein Täter. (Ebd.,
S. 889).
Es gibt nur kausale Moral, d.h. eine sittliche Technik
auf dem Hintergrunde einer gläubigen Metaphysik. (Ebd., S.
890).
Zeugung und Tod begrenzen das Leben des Leibes im Raume. Daß
es der Leib ist, macht das eine zur Schuld, das andere zur Strafe.
(Ebd., S. 891).
Sozialethik ist nichts als praktische Politik. Sie gehört
als sehr spätes Produkt derselben geschichtlichen Welt an, in der
die Sitte auf der Höhe aller Frühzeiten als Edelmut und
Ritterlichkeit starker Geschlechter erscheint, gegenüber denen, die
es im Leben der Geschichte und des Schicksals schlecht haben, das was
man heute in wohlerzogenen Kreisen, die Takt und Zucht besitzen, gentlemanlike
oder Anstand nennt und dessen Gegenstück nicht die Sünde ist,
sondern die Gemeinheit. Das ist wieder der Unterschied von Dom und Burg.
Diese Gesinnung fragt nicht nach Geboten und Gründen. Sie fragt überhaupt
nicht. Sie liegt im Blute eben das bedeutet Takt und sie
fürchtet sich nicht vor Strafe und Vergeltung, sondern vor Verachtung,
im besonderen Selbstverachtung. Sie ist nicht selbstlos, sondern folgt
gerade aus der Fülle eines starken Selbst. Aber das Mitleid hat,
gerade weil es ebenfalls innere Größe verlangt, in ganz denselben
Frühzeiten seine heiligsten Diener wie Franz von Assisi und Bernhard
von Clairvaux gefunden, die eine Durchgeistigung des Entsagens besaßen,
eine Seligkeit in dem Sich-selbst-darbringen, eine ätherische, blutlose,
zeitlose, geschichtslose Caritas, in welcher die Furcht vor dem All sich
ganz in reine, fleckenlose Liebe verwandelt hat, eine Höhe der kausalen
Moral, deren späte Zeiten überhaupt nicht mehr fähig sind.
(Ebd., S. 892).
Um sein Blut zu bezwingen, muß man welches haben. Deshalb
gibt es ein Mönchtum großen Stils nur in ritterlichen und kriegerischen
Zeiten, und das höchste Symbol für den vollkommenen Sieg des
Raumes über die Zeit ist der zum Asketen gewordene Krieger, nicht
der geborene Träumer und Schwächling, der von Natur ins Kloster
gehört, oder der Gelehrte, der in seiner Stube an einem Moralsystem
baut. Man sei doch kein Heuchler was heute sich Moral nennt, die
maßvolle Nächstenliebe und die Betätigung anständiger
Gesinnungen oder die Ausübung der Caritas mit dem Hintergedanken
der Erwerbung politischer Macht, ist nach dem Maßstabe der Frühzeit
nicht einmal Rittersinn von irgendwelchem Rang. Noch einmal: eine große
Moral gibt es nur im Hinblick auf den Tod, aus einer das ganze Wachsein
erfüllenden Furcht vor metaphysischen Gründen und Folgen,
aus einer Liebe, die das Leben überwindet, aus dem Bewußtsein,
unentrinnbar im Banne eines kausalen Systems heiliger Gebote und Zwecke
zu stehen, das man als wahr verehrt und dem man ganz angehören oder
ganz entsagen muß. Eine beständige Spannung, Selbstbeobachtung,
Selbstprüfung begleitet die Ausübung dieser Moral, die eine
Kunst ist und neben der die Welt als Geschichte zu nichts versinkt. Man
sei Held oder Heiliger. In der Mitte liegt nicht die Weisheit, sondern
die Alltäglichkeit. (Ebd., S. 892-893).
Die Zeit verschlingt den Raum das ist das Schicksal jedes
wachen Augenblicks. (Ebd., S. 893).
Trotzdem gibt es »ewige Wahrheiten«. Jeder Mensch
besitzt sie in Menge, insofern er verstehend sich in einer Gedankenwelt
befindet, in deren Zusammenhang sie unveränderlich feststehen, nämlich
»eben jetzt«, im Augenblick des Denkens, nach Grund und Folge,
Ursache und Wirkung eisern verklammert. Nichts in dieser Ordnung kann
sich verlagern, wie er glaubt, aber eine Woge des Lebens hebt sein
waches Ich und seine Welt. Der Einklang bleibt, aber er hat als
Ganzes, als Tatsache eine Geschichte. Absolut und relativ verhalten
sich wie Querschnitt und Längsschnitt einer Generationenfolge: der
zweite sieht vom Räume ab, der erste aber von der Zeit. Wer systematisch
denkt, bleibt in der kausalen Ordnung eines Augenblicks. Nur wer physiognomisch
die Folge der Einstellungen überblickt, erkennt die beständige
Veränderung dessen, was wahr ist. (Ebd., S. 893).
Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis das gilt
auch von den ewigen Wahrheiten, sobald man ihrer Bahn im Strom der Geschichte
folgt, wo sie eingeschlossen im Weltbilde lebender und sterbender Geschlechter
weitertreiben. Für jeden Menschen und seines Daseins kurze Spanne
ist die eine Religion ewig und wahr, die das Schicksal ihm durch
Ort und Zeit seiner Geburt bestimmt hat. Mit ihr fühlt er, aus ihr
bildet er die Anschauungen und Überzeugungen seiner Tage. An ihren
Worten und Formen hält er fest, obwohl er sie beständig anders
meint. Ewige Wahrheiten gibt es in der Welt als Natur; in der Welt als
Geschichte gibt es ein ewig wechselndes Wahrsein. (Ebd., S. 894).
Die Religionen der hohen Kulturen sind nicht entwickelter, sondern
anders. Sie liegen heller und geistiger im Lichte da, sie kennen die verstehende
Liebe, sie haben Probleme[895] und Ideen, strenggeistige Theorien und
Techniken, aber die religiöse Symbolik des gesamten Alltagslebens
kennen sie nicht mehr. Die primitive Religiosität durchdringt alles,
die späten Einzelreligionen sind geschlossene Formenwelten für
sich. (Ebd., S. 895-896).
Nichts hebt den abgrundtiefen Gegensatz von Raum und Zeit auf
.... (Ebd., S. 901).
Vor dem chinesischen Wachsein waren Himmel
und Erde Hälften des Makrokosmos, ohne Gegensatz und jede ein Spiegelbild
der andern. Das Werden erscheint in der ungezwungenen Wechselwirkung zweier
Prinzipien, des yang und yin, die eher periodisch als polar
gedacht sind. ().
Dementsprechend gibt es zwei Seelen im Menschen .... Aber von beiden Seelenarten
gibt es außerhalb des Menschen noch unzählige Mengen .... Das
Leben der Natur und das menschliche Leben bestehen ganz eigentlich aus
dem Spiel solcher Einheiten. Klugheit, Glück, Kraft und Tugend hängen
von ihrem Verhältnis ab. .... Alles das wird in dem Urwort tao
zusammengefaßt. Der Kampf zwischen dem yang und yin
im Menschen ist das tao seines Lebens; das Weben der Geisterscharen
draußen ist das tao der Natur. Die Welt besitzt tao,
insofern sie Takt, Rhythmus und Periodizität hat. Sie besitzt li,
Spannung, insofern man sie erkennt und fertige Verhältnisse zur ferneren
Anwendung daraus abzieht. .... Der Weg des Pharao durch den dunklen Gang
zu seinem Heiligtum ist ihm verwandt, das faustische Pathos der dritten
Dimension ist es auch: aber tao ist doch von dem Gedanken der technischen
Überwindung der Natur weit entfernt. Der chinesische Park vermeidet
die energische Perspektive. Er legt Horizont hinter Horizont und lädt
zum Wandeln ein, statt auf ein Ziel zu weisen. Der chinesische »Dom«
der Frühzeit, das Pi-yung, hat mit seinen Pfaden, die durch Tore,
Gebüsche, über Treppen, geschwungene Brücken und Plätze
führen, niemals den unerbittlichen Zug Ägyptens und den Tiefendrang
der Gotik. (Ebd., S. 910-911).
In steilem Aufstieg das germanisch-katholische Christentum ....
Die mythische Welt, die sich nun rings um diese junge Seele aufbaut, ein
Ganzes von Kraft, Wille und Richtung, unter dem Ursymbol des Unendlichen
gesehen, ein riesenhaftes Wirken fernhin, Abgründe des Entsetzens
und der Seligkeit, die sich plötzlich auf tun , das war den
Auserwählten dieser frühen Religiosität etwas ganz Natürliches,
so daß sie gar nicht den Abstand fanden, um es als Einheit zu »erkennen«.
- Die väterliche Gottheit empfand man als die Kraft selbst, das ewige,
große und allgegenwärtige Wirken, die heilige Kausalität,
die für irdische Augen kaum eine greifbare Gestalt gewinnen konnte.
Aber die ganze Sehnsucht der jungen Rasse, das ganze Verlangen dieses
mächtig strömenden Blutes, sich in Demut vor dem Sinn des Blutes
zu beugen, fand ihren Ausdruck in der Gestalt der Jungfrau und Mutter
Maria, deren Krönung im Himmel eins der frühesten Motive gotischer
Kunst geworden ist .... Aber diese Welt der Reinheit, des Lichts und der
geistigen Schönheit wäre undenkbar gewesen ohne das Gegenbild,
das davon nicht zu trennen ist und zu den Höhepunkten der Gotik gehört,
eine ihrer unergründlichsten Schöpfungen, die man heute stets
vergißt vergessen will. Während sie dort oben
thront, lächelnd in ihrer Schönheit und Milde, liegt eine andere
Welt im Hintergrunde: überall in der Natur und in der Menschheit
webt es, brütet Unheil, bohrt, zerstört, verführt: das
Reich des Teufels. Es durchdringt die ganze Schöpfung; es liegt überall
auf der Lauer. Ein Heer von Kobolden, Nachtfahrenden, Hexen, Werwölfen
ist ringsum da, und zwar in menschlicher Gestalt. Niemand weiß von
dem Nächsten, ob er sich nicht den Unholden verschrieben hat. Niemand
weiß von einem kaum erblühten Kinde, ob es nicht schon eine
Teufelsbuhle ist. Eine entsetzliche Angst, wie vielleicht nur noch in
ägyptischer Frühzeit, lastet auf den Menschen, die jeden Augenblick
in den Abgrund stürzen können. Es gab eine schwarze Magie, Teufelsmessen
und Hexensabatte, nächtliche Feste auf Berghöhen, Zaubertränke
und Besprechungen. Der Höllenfürst mit seinen Verwandten
Mutter und Großmutter, denn da er das Sakrament der Ehe durch sein
Dasein verhöhnt, darf er Weib und Kind nicht haben , mit den
gefallenen Engeln und unheimlichen Gesellen ist eine der großartigsten
Schöpfungen der gesamten Religionsgeschichte, im germanischen Loki
kaum vorgedeutet. Ihre grotesken Gestalten mit Hörnern, Klauen und
Pferdehuf waren in den Mysterienspielen des 11. Jahrhunderts schon ganz
ausgebildet, erfüllen allenthalben die künstlerische Phantasie
und sind aus der gotischen Malerei bis auf Dürer und Grünewald
nicht wegzudenken. Der Teufel ist schlau, bösartig, schadenfroh und
wird doch von den Mächten des Lichtes zuletzt geprellt. Er und seine
Brut sind launig, tolpatschig, erfinderisch und von ungeheuerlicher Phantastik,
die Verkörperung des Höllengelächters gegenüber dem
verklärten Lächeln der Himmelskönigin, aber auch des faustischen
Welthumors gegenüber dem Jammer zerknirschter Sünder. Man kann
sich die Wucht und Eindringlichkeit dieses Bildes nicht groß, den
Glauben daran nicht tief genug denken. Marienmythos und Teufelsmythos
haben sich zusammen ausgebildet und keiner ist ohne den andern möglich.
Der Unglaube an beide ist Todsünde. Es gibt einen Marienkult der
Gebete und einen Teufelskult der Beschwörungen und Exorzismen. Der
Mensch wandelt beständig über einem Abgrund, der unter dünner
Decke liegt. Das Leben in dieser Welt ist ein beständiger verzweifelter
Kampf mit dem Teufel, in dem jeder einzelne als Glied der streitenden
Kirche dreinschlagen, sich wehren, sich als Ritter erproben muß.
Von droben schaut die triumphierende Kirche der Engel und Heiligen in
ihrer Glorie zu. In diesem Ringen wirkt die himmlische Gnade wie ein Schild.
Maria ist die Beschützerin, in deren Schoß man flüchten
kann, und die Richterin, die den Kampfpreis erteilt. Beide Welten haben
ihre Legende, ihre Kunst, ihre Scholastik und Mystik. Auch der Teufel
kann Wunder tun. Was in keiner andern Frühreligion erscheint, ist
die sinnbildliche Farbe. Zur Madonna gehören das Weiß und Blau,
zum Teufel das Schwarz, Schwefelgelb und Rot. Die Heiligen und Engel schweben
im Äther, aber die Teufel springen und hinken und die Hexen sausen
durch die Nacht. Erst beide zusammen, Licht und Nacht, Liebe und Angst,
füllen die gotische Kunst mit ihrer unbeschreiblichen Innerlichkeit.
Das ist nichts weniger als »künstlerische« Phantasie.
Jeder Mensch wußte die Welt bevölkert mit Scharen von Engeln
und Teufeln. Die lichtumgebenen Engel des Fra Angelico und der frührheinischen
Meister und die Fratzengesichter an den Portalen der großen Dome
erfüllten wirklich die Luft. Man sah sie, man fühlte überall
ihre Anwesenheit. Wir wissen heute gar nicht mehr, was ein Mythos ist,
nämlich nicht ein ästhetisch bequemes Sichvorstellen, sondern
ein Stück leibhaftigster Wirklichkeit, das ganze Wachsein durchwühlend
und das Dasein bis ins Innerste erschütternd. Diese Wesen sind ringsumher
beständig da. Man erblickte sie, ohne sie zu sehen. Man glaubte an
sie mit dem Glauben, der den Gedanken an Beweise als Lästerung empfindet.
Was wir heute Mythos nennen, unsere literaturgesättigte Schwärmerei
für gotische Farbigkeit, ist nichts als Alexandrinismus. Damals »genoß«
man ihn nicht; der Tod stand dahinter. Es war in
der Antike ganz ebenso. Die homerischen Gestalten waren für den hellenistisch
Gebildeten nichts als Literatur, Vorstellung, künstlerisches Motiv
und schon für die Zeit Platos nicht viel mehr. Aber um 1100 brach
ein Mensch vor der furchtbaren Wirklichkeit der Demeter und des Dionysos
zusammen. (Ebd., S. 911-914).
Cäsarius von Heisterbach war bereits mit der ganzen Teufelslegende
vertraut; in der Legenda Aurea ist sie ebenso wirklich und wirksam wie
die Marienlegende. 1233, als man die Dome von Mainz und Speier einwölbte,
erschien die Bulle Vox in Rama, durch welche der Teufels- und Hexenglaube
kanonisch geworden ist. Es war nicht lange nach dem »Sonnengesang«
des heiligen Franz, und während die Franziskaner im inbrünstigen
Gebet vor Maria knieten und ihren Kult ausbreiteten, rüsteten die
Dominikaner sich zum Kampf gegen den Teufel durch die Inquisition. Gerade
weil in der einen Gestalt die himmlische Liebe ihren Mittelpunkt gefunden
hatte, wurde die irdische dem Teufel verwandt. Das Weib ist die Sünde
so empfanden es die großen Asketen, wie sie es in der Antike,
in China und Indien empfunden hatten. Der Teufel herrscht nur durch das
Weib; die Hexe[915] ist die Verbreiterin der Todsünden. Thomas von
Aquino hat die unheimliche Lehre vom Incubus und Succubus entwickelt.
.... Als Lionardo an der Heiligen Anna Selbdritt arbeitete, auf[916] der
Höhe der Renaissance, wurde in Rom in bestem Humanistenlatein der
Hexenhammer geschrieben (1487). Der große Mythos der Renaissance
war dieser, und ohne ihn versteht man die prachtvolle, echt gotische Stärke
dieser antigotischen Bewegung nicht. Menschen, die den Teufel nicht um
sich spürten, hätten weder die Göttliche Komödie noch
die Fresken in Orvieto noch die Decke der Sixtina schaffen können.
(Ebd., S. 915-917).
Erst auf dem gewaltigen Hintergrunde dieses Mythos erwuchs der
faustischen Seele ein Gefühl von dem, was sie war. Ein Ich im Unendlichen
verloren; ganz und gar Kraft, aber in einer Unendlichkeit größerer
Kräfte ohnmächtig; ganz und gar Wille, aber voller Angst für
seine Freiheit. Das Problem der Willensfreiheit ist nie tiefer, nie qualvoller
durchdacht worden. Andere Kulturen haben es gar nicht gekannt. Aber eben
weil die magische Ergebung hier ganz unmöglich war, weil es kein
»es« war, kein Teil eines allgemeinen Geistes, der dachte,
sondern ein einzelnes, kämpfendes Ich, das sich zu behaupten suchte,
wurde jede Grenze der Freiheit als eine Kette empfunden, die man durch
das Leben schleppte, und dieses selbst als ein lebendiger Tod. Wenn es
aber so war warum? wofür? (Ebd., S. 917).
Aus dieser Einsicht erhob sich ein ungeheures Schuldbewußtsein,
das wie eine einzige verzweifelte Klage durch diese Jahrhunderte geht.
Die Dome richten sich immer bittender zum Himmel auf, die gotischen Gewölbe
werden wie ein Händefalten; kaum schimmert aus hohen Fenstern ein
tröstliches Licht in die Nacht der langen Kirchenschiffe. Die atembeklemmenden
Parallelfolgen des Kirchengesangs, die lateinischen Hymnen sprechen von
wundgescheuerten Knien und von Geißelhieben in nächtlicher
Zelle. Für den magischen Menschen war die Welthöhle eng und
der Himmel nah gewesen; hier war er unendlich fern; keine Hand schien
aus diesen Räumen herabzureichen, und um das verlorene Ich lagerte
sich höhnend die Teufelswelt. Deshalb wurde es die große Sehnsucht
der Mystik, entbildet zu werden von der Kreatur, wie Heinrich Seuse sagte,
sein selbst und aller Dinge ledig zu werden (Meister Eckart), das Lassen
der Ichheit (Theologie-deutsch). Daneben erhob sich ein endloses Grübeln
und Sichhalten an Begriffe, die immer feiner und feiner[917] zerspalten
wurden, um das Warum zu erfahren, und endlich der allgemeine Schrei nach
Gnade, nicht der magischen, die als Substanz herabkam, sondern der faustischen,
die den Willen losband. (Ebd., S. 917).
Frei wollen zu dürfen ist im tiefsten Grunde das einzige
Geschenk, das die faustische Seele vom Himmel erfleht. Die sieben Sakramente
der Gotik, von Petrus Lombardus als Einheit empfunden, 1215 auf dem Lateranskonzil
zum Dogma erhoben, von Thomas von Aquino mystisch begründet, haben
nur diesen Sinn. Sie begleiten die einzelne Seele von der Geburt bis zum
Tode und schirmen sie vor den teuflischen Mächten, die sich in den
Willen einzunisten suchen. Denn sich dem Teufel verschreiben, heißt
ihm seinen Willen ausliefern. Die streitende Kirche auf Erden ist
die sichtbare Gemeinschaft derer, die durch den Genuß der Sakramente
begnadet sind, wollen zu können. Diese Gewißheit des Freiseins
erscheint verbürgt im Altarsakrament, das nun von Grund aus umgedacht
wird. Das Wunder der Heiligen Wandlung, das sich in den Händen des
Priesters täglich vollzieht, die geweihte Hostie im Hochaltar des
Domes, in welcher der Gläubige die Anwesenheit dessen spürte,
der sich einst geopfert hatte, um den Seinen die Freiheit des Wollens
zu gewähren das schuf ein Aufatmen, wie wir es uns heute gar
nicht mehr vorstellen können und für das zum Danke 1264 das
Hauptfest der katholischen Kirche, Fronleichnam, gestiftet worden ist.
(Ebd., S. 918).
Aber weit darüber hinaus greift das eigentlich
faustische Ursakrament der Buße. Es ist mit dem Marien- und
dem Teufelsmythos die dritte große Schöpfung der Gotik, aber
es gibt beiden erst Tiefe und Bedeutung; es deckt die letzten Geheimnisse
der Seele dieser Kultur auf und stellt sie damit abseits von allen andern.
Mit dem magischen Ursakrament der Taufe wurde der Mensch dem großen
consensus einverleibt; das eine große »Es« des
göttlichen Geistes nahm auch in ihm seinen Sitz und für alles,
was geschah, folgte daraus die Pflicht der Ergebung. In der faustischen
Buße aber liegt die Idee der Persönlichkeit. Es ist
nicht richtig, daß die Renaissance sie entdeckt habe. (Oder
gar wiederentdeckt. Der antike Mensch ist als durchseelter Leib eine unter
vielen voneinander ganz unabhängigen Einheiten. Der faustische Mensch
ist ein Mittelpunkt im All und umfaßt mit seiner Seele das Ganze.
Persönlichkeit [Individualität] bedeutet aber nicht etwas einzelnes,
sondern einziges.) Sie hat ihr nur eine glänzende und flache
Fassung gegeben, so daß jeder sie plötzlich bemerken konnte.
Geboren wurde sie mit der Gotik; sie ist ihr innerstes Eigentum; sie ist
mit dem gotischen Geiste eins und dasselbe. Denn diese Buße vollbringt
jeder nur für sich allein. Er allein kann sein Gewissen erforschen.
Er allein steht reuig vor dem Unendlichen da; er allein muß in der
Beichte seine persönliche Vergangenheit verstehen und in Worte fassen,
und auch die Lossprechung, die Befreiung seines Ich zu neuem verantwortlichen
Tun erfolgt für ihn allein. Die Taufe ist ganz unpersönlich.
Man empfängt sie, weil man ein Mensch, nicht weil man dieser
Mensch ist. Die Idee der Buße aber setzt voraus, daß jede
Tat ihren einzigartigen Wert erst durch den erhält, der sie tut.
Das ist es, was die abendländische Tragödie von der antiken,
chinesischen und indischen unterscheidet, was unser Strafrecht immer deutlicher
auf den Täter und nicht die Tat gerichtet hat, was alle sittlichen
Grundbegriffe aus dem individuellen Tun und nicht aus der typischen Haltung
ableitet. Faustische Verantwortung statt magischer Ergebung, der einzelne
Wille statt des consensus, die Entlastung statt der Resignation:
es ist der Unterschied zwischen dem aktivsten und dem passivsten aller
Sakramente und leitet wieder zum Unterschied der Welthöhle von der
Dynamik des Unendlichen zurück. Die Taufe wird vollzogen, die Buße
vollzieht jeder einzelne in sich selbst. Aber die gewissenhafte Erforschung
der eignen Vergangenheit ist zugleich das früheste Zeugnis und die
große Schule für den historischen Sinn des faustischen
Menschen. Es gibt keine zweite Kultur, in welcher das eigne Leben dem
Lebenden Zug um Zug und pflichtgemäß so bedeutend war, weil
er dafür in Worten Rechenschaft abzulegen hatte. Wenn Geschichtsforschung
und Lebensbeschreibung den Geist des Abendlandes von Anfang an auszeichnen;
wenn beide im tiefsten Grunde Selbstprüfung und Beichte sind, und
das Dasein mit einer Bewußtheit und bewußten Beziehung auf
einen geschichtlichen Hintergrund geführt wird, wie man es anderswo
niemals auch nur für möglich und erträglich gehalten hätte;
wenn wir zuerst die Geschichte aus dem Aspekt von Jahrtausenden zu betrachten
gewöhnt sind, nicht rhapsodisch und ausschmückend wie in der
Antike und in China, sondern richtend mit der fast sakramentalen
Formel im Untergrunde: tout comprendre, c'est tout pardonner
so hegt der Ursprung davon in diesem Sakrament der gotischen Kirche, in
dieser beständigen Entlastung des Ich durch historische Prüfung
und Rechtfertigung. Jede Beichte ist eine Selbstbiographie. Diese eigentliche
Befreiung des Willens ist uns so notwendig, daß die versagte Lossprechung
zur Verzweiflung, ja zur Vernichtung führt. Nur wer die Seligkeit
einer solchen innern Freisprechung ahnt, begreift den alten Namen des
sacramentum resurgentium, des Sakraments der Wiedererstandenen.
Deshalb hat das Sakrament dem abendländischen
Priester eine ungeheure Machtstellung verliehen. Er empfängt die
persönliche Beichte, er spricht persönlich im Namen des Unendlichen
los. Ohne ihn ist das Leben nicht zu ertragen. Der Gedanke der
Beichtpflicht, die 1215 endgültig festgesetzt wurde, stammt
wie die ersten Bußbücher (Pönitentiale) aus England. Eben
dort ist der Gedanke der unbefleckten Empfängnis entstanden, und
auch die Idee des Papsttums zu einer Zeit, wo es in Rom selbst
noch als bloße Macht- und Rangfrage behandelt wurde. Es beweist
die Unabhängigkeit des gotischen vom magischen Christentum, daß
die entscheidenden Ideen an der entferntesten Stelle, jenseits des Frankenreiches,
aufgewachsen sind. (Ebd., S. 918-920).
Wird die Seele in dieser schwersten Entscheidung auf sich selbst
verwiesen, so bleibt etwas Ungelöstes wie eine ewige Wolke über
ihr. Keine Einrichtung einer zweiten Religion hat vielleicht so viel Glück
in die Welt gebracht. Die ganze Inbrunst und himmlische Liebe der Gotik
ruhte auf der Gewißheit der vollen Erlösung durch die dem Priester
verliehene Kraft. Die Ungewißheit, die sich aus dem Verfall dieses
Sakraments ergab, ließ mit der tiefen gotischen Lebensfreude auch
die Marienwelt des Lichtes verblassen und die Teufelswelt blieb in ihrer
düsteren Allgegenwart allein zurück. An die Stelle der nie mehr
zu erreichenden Seligkeit trat der protestantische und vor allem puritanische
Heroismus, der auch ohne Hoffnung auf verlorenem Posten weiterkämpft.
»Die Ohrenbeichte hätte dem Menschen nie sollen genommen werden«,
hat Goethe einmal bemerkt. Ein schwerer Ernst breitete sich über
die Länder, in denen sie abgestorben war. Die Sitte, die Tracht,
die Kunst, das Denken nahmen die nächtliche Farbe des einzigen Mythos
an, der übrigblieb. Es gibt nichts Sonnenärmeres als die Lehre
Kants. »Jedermann sein eigener Priester«: zu dieser Überzeugung
mochte man sich durchkämpfen, soweit sie Pflichten, nie soweit sie
Rechte enthielt. Mit der innigen Gewißheit der Lossprechung beichtet
niemand sich selbst. Deshalb hat das ewig nagende Bedürfnis, die
Seele dennoch von ihrer Vergangenheit richtend zu entlasten, alle höheren
Formen der Mitteilung umgestaltet und in protestantischen Ländern
die Musik, die Malerei, die Dichtung, den Brief, das Denkerbuch aus Mitteln
der Darstellung zu solchen der Selbstanklage, Beichte und schrankenlosen
Konfession gemacht. Auch im katholischen Gebiet, vor allem in Paris, begann
mit dem Zweifel am Bußsakrament die Kunst als Psychologie. Der Blick
in die Welt verschwand vor dem endlosen Wühlen im eigenen Innern.
Statt des Unendlichen wurde die Mit- und Nachwelt der Menschen als Priester
und Richter angerufen. Persönliche Kunst in dem Sinne, wie er Goethe
von Dante, Rembrandt von Michelangelo unterscheidet, ist ein Ersatz für
das Sakrament der Buße, aber damit befindet sich diese Kultur schon
mitten in ihrer Spätzeit. Den unermeßlichen
Unterschied der faustischen und der russischen Seele verraten einige Wortklänge.
Das russische Wort für Himmel ist njébo, eine Verneinung
(n). Der Mensch des Abendlandes blickt hinauf, der Russe blickt
zum Horizont ins Weite. Man muß den Tiefendrang beider also dahin
unterscheiden, daß er dort die Leidenschaft des Vordringens nach
allen Seiten in den unendlichen Raum ist, hier ein Sichentäußern,
bis das »Es« im Menschen mit der endlosen Ebene eins geworden
ist. So versteht der Russe die Worte Mensch und Bruder: er sieht auch
das Menschentum als Ebene. Der Gedanke, daß ein Russe Astronom ist?
Er sieht die Sterne gar nicht; er sieht nur den Horizont. Statt Himmelsdom
sagt er Himmelsabhang. Es ist das, was mit der Ebene irgendwo in der Ferne
den Horizont bildet. Das kopernikanische System ist seelisch für
ihn etwas Lächerliches, mag es mathematisch sein, was es will. »Schicksal«
klingt wie eine Fanfare, »ssudjbá« knickt ein.
Es gibt kein Ich unter diesem niedrigen Himmel. »Alle sind an
allem schuldig«, das »Es« am »Es« in
dieser endlos gedehnten Ebene das ist das metaphysische Grundgefühl
aller Schöpfungen Dostojewskis. Deshalb muß Iwan Karamasoff
sich den Mörder nennen, obwohl ein anderer den Mord begangen hat.
Der Verbrecher ist der Unglückliche das ist die vollkommenste
Verneinung faustischer persönlicher Verantwortlichkeit. Russische
Mystik besitzt nichts von jener hinaufschwebenden Inbrunst der Gotik,
Rembrandts, Beethovens, die bis zum himmelstürmenden Jubel anwachsen
kann. Gott ist hier nicht die azurne Tiefe dort oben. Die mystische russische
Liebe ist die der Ebene, die zu den Brüdern unter gleichem Drucke,
immer längs der Erde längs der Erde; die zu den armen
gequälten Tieren, die auf ihr wandern, zu den Pflanzen, niemals zu
den Vögeln, Wolken und Sternen. Das russische wolja, unser
Wille, bedeutet vor allem Nicht-müssen, Freisein nicht für,
sondern von etwas, vor allem von der Verpflichtung zu persönlicher
Tat. Willensfreiheit erscheint als der Zustand, in dem kein anderes »Es«
befiehlt und man sich also der Laune hingeben kann. Geist, esprit,
spirit ist ,
das russische duch ist .
Was für ein Christentum wird aus diesem Weltgefühl einst hervorgehen?
(Ebd., S. 920-921).
Reformation bedeutet in allen Kulturen dasselbe: Rückführung
der Religion zur Reinheit ihrer ursprünglichen Idee, wie sie in den
großen Jahrhunderten am Anfang in Erscheinung getreten war. Diese
Bewegung fehlt in keiner Kultur, ob wir davon wissen wie in Ägypten
oder nicht wie in China. Sie bedeutet auch, daß die Stadt und damit
der bürgerliche Geist sich von der Seele des Landes allmählich
befreien, ihrer Allmacht entgegentreten und das Fühlen und Denken
der stadtlosen Urstände in bezug auf sich selbst nachprüfen.
(Ebd., S. 922).
Wie weit die Reformationen der einzelnen Kulturen sich auch sonst
unterscheiden mögen, sie wollen alle den Glauben, der sich allzuweit
in die Welt als Geschichte die »Zeitlichkeit«
verirrt hat, in das Reich der Natur, des reinen Wachseins und des reinen,
zeitlosen, kausal durchherrschten Raumes zurückführen, aus der
Welt der Wirtschaft (»Reichtum«) in die der Wissenschaft (»Armut«),
aus patrizisch-ritterlichen Kreisen, denen auch Renaissance und Humanismus
angehören, in die geistlich-asketischen und endlich, was ebenso wichtig
als unmöglich war, aus dem politischen Ehrgeiz der Rassemenschen
im Priesterkleid in den Bereich der heiligen Kausalität, die nicht
von dieser Welt ist. (Ebd., S. 923).
Die gewaltige Tat Luthers ist eine rein geistige Entscheidung.
.... Er hat die faustische Persönlichkeit vollkommen befreit; zwischen
ihr und dem Unendlichen verschwindet die vermittelnde Person des Priesters.
Sie ist jetzt ganz allein, ganz auf sich selbst gestellt, ihr eigener
Priester und Richter. Aber das Volk konnte den befreienden Zug darin nur
empfinden, nicht verstehen. Es hat, und zwar mit Begeisterung, das Zerbrechen
sichtbarer Pflichten begrüßt; daß sie durch noch strengere,
rein geistige Pflichten ersetzt wurden, begriff es nicht mehr. Franz von
Assisi hat viel gegeben und wenig genommen, die städtischen Reformatoren
nahmen viel und gaben den meisten zu wenig zurück. (Ebd., S.
924).
Die heilige Kausalität des Bußsakraments ersetzte Luther
durch das mystische Erlebnis der inneren Lossprechung »allein durch
den Glauben«. Darin kommt er Bernhard von Clairvaux sehr nahe: das
ganze Leben eine Buße, nämlich eine ununterbrochene geistige
Askese gegenüber der sichtbaren im äußeren Werke. Die
innere Lossprechung haben beide als göttliches Wunder verstanden:
indem der Mensch sich verwandelt, verwandelt er auch Gott. Was aber keine
rein geistige Mystik ersetzen kann, ist das Du draußen, in der freien
Natur. Sie haben beide ermahnt: Du mußt auch glauben, daß
Gott dir vergeben hat; aber für jenen wurde der Glaube durch die
Macht des Priesters zum Wissen erhoben, für diesen sank er zum Zweifel,
zur Verzweiflung herab. Dies kleine, aus dem Kosmischen abgelöste,
in ein Einzeldasein verschlagene Ich, allein in der schreckhaftesten Bedeutung,
bedurfte der Nähe eines mächtigen Du, und um so mehr, je schwächer
der Geist war. Darin liegt die letzte Bedeutung des abendländischen
Priesters, der seit 1215 durch da Sakrament der Priesterweihe und den
character indelebilis aus der übrigen Menschheit herausgehoben
war: eine Hand, mit der auch der Ärmste Gott ergreifen konnte. Diese
sichtbare Verbindung mit dem Unendlichen hat der Protestantismus
zerstört. Starke Geister eroberten es sich zurück, den Schwachen
ging es langsam verloren. Bernhard, dem für sich das innere Wunder
gelang, wollte doch den andern den milderen Weg nicht nehmen; gerade für
seine lichte Seele war die Marienwelt überall in der lebendigen Natur
das ewige Nahe und Hilfsbereite. Luther, der nur sich, nicht die Menschen
gekannt hat, setzte an die Stelle der wirklichen Schwäche den geforderten
Heroismus. Für ihn war das Leben ein verzweifelter Kampf gegen den
Teufel, und den forderte er von jedem. Und jeder stand in diesem Kampf
allein. (Ebd., S. 925-926).
Die Reformation hat die ganze lichte und tröstende Seite
des gotischen Mythos beseitigt: den Marienkult, die Heiligenverehrung,
die Reliquien, die Bilder, die Wallfahrten, das Meßopfer. Der Teufels-
und Hexenmythos blieb, denn er war die Verkörperung und Ursache der
inneren Qual, die nun erst zu ihrer letzten Größe heranwuchs.
Die Taufe war wenigstens für Luther ein Exorzismus, das eigentliche
Sakrament der Teufelsbannung. Es entstand eine große, rein protestantische
Teufelsliteratur. (Vgl. Max Osborn, Die Teufelsliteratur
des 16. Jahrhunderts, 1893.) Von dem Farbenreichtum der Gotik
blieb das Schwarz, von ihren Künsten die Musik und zwar die Orgelmusik
zurück. Aber an Stelle der mythischen Lichtwelt, deren hilfreiche
Nähe der Volksglaube doch nicht entbehren konnte, tauchte nun aus
längst verschollener Tiefe ein Stück des altgermanischen Mythos
wieder auf. Es geschah so heimlich, daß es in seiner wahren Bedeutung
noch gar nicht erkannt worden ist. Man sagt zu wenig, wenn man von Volkssage
und Volksbrauch redet: es war ein echter Mythos und ein echter Kultus,
der in dem festen Glauben an Zwerge, Kobolde, Nixen, Hausgeister, schweifende
Seelen, und in den mit heiliger Scheu geübten Riten, Opferhandlungen
und Bannungen steckt. In Deutschland wenigstens trat die Sage unbemerkt
wieder an Stelle des Marienmythos. Maria hieß nun Frau Holde und
wo einst ein Heiliger gestanden hatte, erschien jetzt der getreue Eckart.
Im englischen Volk entstand etwas, das dort längst als Bibelfetischismus
bezeichnet worden ist. (Ebd., S. 926-927).
Was Luther fehlte, ein ewiges Verhängnis für Deutschland,
war der Blick für Tatsachen und die Kraft der praktischen Organisation.
Er hat weder seine Lehre in ein klares System gebracht noch die große
Bewegung geleitet und ihr ein bestimmtes Ziel gesetzt. Beides leistete
allein sein großer Nachfolger Calvin. Während die lutherische
Bewegung im mittleren Europa führerlos weitertrieb, betrachtete er
seine Herrschaft in Genf als den Ausgangspunkt einer planmäßigen
Unterwerfung der Welt unter das rücksichtslos zu Ende gedachte System
des Protestantismus. Deshalb wurde er und er allein eine Weltmacht. Deshalb
war es der Entscheidungskampf zwischen den Geistern Calvins und Loyolas,
der seit dem Untergang der spanischen Armada die Weltpolitik im Staatensystem
des Barock und den Kampf um die Herrschaft der Meere völlig beherrscht
hat. Während Reformation und Gegenreformation in Mitteleuropa um
eine kleine Reichsstadt oder ein paar elende Schweizerkantone rangen,
fielen in Kanada, an der Gangesmündung, am Kap, am Mississippi Entscheidungen
zwischen Frankreich, Spanien, England und den Niederlanden, in denen überall
diese beiden großen Organisatoren der Spätreligion des Abendlandes
sich gegenüberstanden. (Ebd., S. 927).
Innerhalb der Barockphilosophie steht die abendländische
Naturwissenschaft ganz für sich. Etwas Ähnliches besitzt keine
andere Kultur. Sicherlich war sie von Anfang an nicht die Magd der Theologie,
sondern Dienerin des technischen Willens zur Macht und nur deshalb
mathematisch und experimentell gerichtet und von Grund aus praktische
Mechanik. Da sie durch und durch zuerst Technik ist und dann Theorie,
so muß sie so alt sein wie der faustische Mensch überhaupt.
Technische Arbeiten von einer erstaunlichen Energie der Kombination erscheinen
schon um 1000. Schon im 13. Jahrhundert hat Robert Grosseteste den Raum
als Funktion des Lichtes behandelt, Petrus Peregrinus 1289 die bis auf
Gilbert (1600) herab beste, experimentell begründete Abhandlung über
den Magnetismus geschrieben, und beider Schüler Roger Bacon eine
naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie als Grundlage für seine
technischen Versuche entwickelt. Aber die Kühnheit im Entdecken dynamischer
Zusammenhänge geht noch viel weiter. Das kopernikanische System ist
in einer Handschrift von 1322 angedeutet und einige Jahrzehnte darauf
von den Schülern Occams zu Paris, Buridan, Albert von Sachsen und
Nicolas von Oresme, in Verbindung mit der vorweggenommenen Mechanik Galileis
mathematisch entwickelt worden.(Vgl. M. Baumgartner,
Geschichte der Philosophie des Mittelalters, 1915, S. 425 ff.,
571 ff., 620 ff..) Man täusche sich nicht über die letzten
Triebe, die all diesen Entdeckungen zugrunde liegen: das reine Schauen
hätte des Experiments nicht bedurft, aber das faustische Symbol der
Maschine, das schon im 12. Jahrhundert zu mechanischen Konstruktionen
trieb und das Perpetuum mobile zum Prometheusgedanken des abendländischen
Geistes gemacht hat, konnte es nicht entbehren. Die Arbeitshypothese
ist immer das erste, gerade das, was für keine andre Kultur einen
Sinn hatte. Man muß sich durchaus mit der erstaunlichen Tatsache
vertraut machen, daß der Gedanke, jede Kenntnis von natürlichen
Zusammenhängen sofort praktisch auszubeuten, den Menschen durchaus
fernliegt mit Ausnahme der faustischen und derer, die wie die Japaner,
Juden und Russen heute unter dem geistigen Zauber ihrer Zivilisation stehen.
Daß unser Weltbild dynamisch angelegt ist, enthält schon den
Begriff der Arbeitshypothese. Erst das zweite ist für jene grübelnden
Mönche die Theorie, das wirkliche »Schauen«, und ganz
unvermerkt, wie diese aus der technischen Leidenschaft entstanden war,
leitete sie nun hinüber zu der echt faustischen Auffassung Gottes
als des großen Maschinenmeisters, der alles konnte, was sie selbst
in ihrer Ohnmacht nur zu wollen wagten. Unvermerkt wird die Welt Gottes
von einem Jahrhundert zum andern dem Perpetuum mobile ähnlicher.
Und als, ebenfalls ganz unvermerkt, vor dem immer mehr durch Experiment
und technische Erfahrung geübten Blick auf die Natur der gotische
Mythos schattenhaft wurde, entstanden aus den Begriffen mönchischer
Arbeitshypothesen seit Galilei jene kritisch abgeklärten numina
der modernen Naturwissenschaft, die Stoß- und Fernkräfte, die
Gravitation, die Lichtgeschwindigkeit, endlich »die« Elektrizität,
die im elektrodynamischen Weltbilde durch Einverleibung der übrigen
Energieformen eine Art von physikalischem Monotheismus heraufgeführt
hat. Es sind die Begriffe, welche den Formeln unterlegt werden, um ihnen
mythische Anschaulichkeit zu verleihen. Die Zahlen selbst sind Technik,
Hebel und Schrauben, abgelauschtes Weltgeheimnis. Das antike und jedes
andre Naturdenken brauchte keine Zahlen, weil es keine Macht erstrebte.
Die reine Mathematik des Pythagoras und Plato steht zu den Naturansichten
des Demokrit und Aristoteles in gar keiner Beziehung. (Ebd., S.
928-930).
Jede späte Philosophie enthält den kritischen Protest
gegen das unkritische Schauen der Frühzeit. Aber diese Kritik eines
seiner Überlegenheit sicheren Geistes trifft auch den Glauben selbst
und ruft die einzige große Schöpfung im Religiösen hervor,
die Eigentum der Spätzeit ist und zwar jeder: den Puritanismus. -
(Ebd., S. 930).
Er erscheint im Heere Cromwells und seiner eisernen, bibelfesten,
psalmensingend in die Schlacht ziehenden Independenten, im Kreise der
Pythagoräer, die im bittren Ernst ihrer Pflichtenlehre das fröhliche
Sybaris zerstörten und ihm für immer den Makel einer sittenlosen
Stadt anhängten, im Heere der ersten Kalifen, das nicht nur Staaten,
sondern auch die Seelen unterwarf. Miltons Verlorenes Paradies, manche
Suren des Koran, das wenige, was sich über pythagoräische Lehren
feststellen läßt das ist alles eins: Begeisterung eines
nüchternen Geistes, kalte Glut, trockne Mystik, pedantische Ekstase.
Aber noch einmal lodert doch eine wilde Frömmigkeit darin auf. Was
die zur unbedingten Herrschaft über die Seele des Landes gelangte
große Stadt an transzendenter Inbrunst aufbringen kann, das ist
hier gesammelt, wie mit der Angst, daß es künstlich und vorübergehend
ist, und deshalb ungeduldig, ohne Verzeihung, ohne Barmherzigkeit. Dem
Puritanismus nicht nur des Abendlandes sondern aller Kulturen fehlt das
Lächeln, das die Religion aller Frühzeiten verklärt hatte,
die Augenblicke tiefer Lebensfreude, der Humor. Nichts von der stillen
Glückseligkeit, die in magischer Frühzeit in den Kindheitsgeschichten
Jesu oder bei Gregor von Nazianz so oft aufleuchtet, findet sich in den
Suren des Koran, nichts von der versonnenen Heiterkeit der Gesänge
des heiligen Franz bei Milton. Ein tödlicher Ernst ruht über
den jansenistischen Geistern von Port Royal und den Versammlungen der
schwarzgekleideten Rundköpfe, die das old merry England Shakespeares,
auch ein Sybaris, in wenigen Jahren vernichtet haben. Der Kampf gegen
den Teufel, dessen leibhafte Nähe sie alle fühlten, wurde erst
jetzt mit einer finstren Erbitterung geführt. Im 17. Jahrhundert
sind mehr als eine Million Hexen verbrannt worden und nicht nur im protestantischen
Norden und katholischen Süden, sondern auch in Amerika und Indien.
Freudlos und gallig ist die Pflichtenlehre des Islam (fikh) mit ihrer
harten Verständigkeit so gut wie die des Westminsterkatechismus (1643)
und die Ethik der Jansenisten (Jansens »Augustinus« 1640)
denn auch im Reiche Loyolas gab es mit innerer Notwendigkeit eine
puritanische Bewegung. Religion ist erlebte Metaphysik, aber sowohl die
Gemeinschaft der Heiligen, wie die Independenten sich nannten, als die
Pythagoräer, als die Umgebung Mohammeds erlebten sie nicht mit den
Sinnen, sondern zuerst als Begriff. Parshva, der um 600 v. Chr. am Ganges
die Sekte der »Entfesselten« gründete, lehrte wie die
andern Puritaner seiner Zeit, daß nicht Opfer und Riten, sondern
allein die Erkenntnis der Identität von atman und brahman zur Erlösung
führe. Ein zügelloser und doch trockener allegorischer Geist
ist in aller puritanischen Dichtung an die Stelle gotischer Visionen getreten.
Der Begriff ist die wahre und einzige Macht im Wachsein dieser Asketen.
Um Begriffe und nicht wie Meister Eckart um Gestalten ringt Pascal. Man
verbrennt Hexen, weil sie bewiesen sind, und nicht, weil man sie nachts
in den Lüften sieht; die protestantischen Juristen wenden den Hexenhammer
der Dominikaner an, weil er auf Begriffen errichtet ist. Die Madonnen
der frühen Gotik waren den Betenden erschienen, die Madonnen Berninis
hat niemand gesehen. Sie sind vorhanden, weil sie bewiesen sind, und man
begeistert sich für diese Art von Existenz. Cromwells großer
Staatssekretär Milton verkleidet Begriffe in Gestalten und Bunyan
hat einen ganzen Begriffsmythos in eine ethisch-allegorische Handlung
gebracht. Ein Schritt weiter und man steht vor Kant, aus dessen Begriffsethik
zuletzt der Teufel als Begriff in Gestalt des Radikal-Bösen herauswuchs.
(Ebd., S. 930-932).
Die Seele der magischen Kultur fand endlich im Islam ihren wahren
Ausdruck. Damit ist diese Kultur wirklich »arabisch« und endgültig
von der Pseudomorphose erlöst worden. (Ebd., S. 933).
Die großen Gestalten der Umgebung Mohammeds wie Abu Bekr
und Omar sind durchaus den puritanischen Führern der englischen[933]
Revolution wie John Pym und Hampdon verwandt, und diese Ähnlichkeit
der Gesinnung und Haltung würde noch größer sein, wüßten
wir mehr von den Hanifen, den arabischen Puritanern vor und neben Mohammed.
Sie besaßen alle das Bewußtsein einer großen Sendung,
das sie Leben und Besitz verachten ließ; sie hatten alle aus der
Prädestination für sich die Bürgschaft gewonnen, die Auserwählten
Gottes zu sein. Der großartig alttestamentliche Schwung in den Parlamenten
und Heerlagern der Independenten, der noch im 19. Jahrhundert in vielen
englischen Familien den Glauben zurückgelassen hatte, daß die
Engländer Nachkommen der zehn Stämme Israels seien, ein Volk
von Heiligen, dem die Lenkung der Welt bestimmt sei, hat auch die Auswanderung
nach Amerika beherrscht, die mit den Pilgervätern von 1620 ihren
Anfang nahm; er hat das geschaffen, was man heute die amerikanische Religion
nennen darf, und das herangezüchtet, was der Engländer noch
jetzt an politischer Unbedenklichkeit besitzt, die ganz religiös
auf der Gewißheit der Prädestination gegründet ist. Selbst
die Pythagoräer haben etwas Unerhörtes in der antiken
Religionsgeschichte die politische Macht zu religiösen Zwecken
in die Hand genommen und den Puritanismus von Polis zu Polis durchzusetzen
versucht. Überall sonst gab es Einzelkulte in Einzelstaaten, von
denen jeder den andern in seinen religiösen Übungen unbeachtet
ließ; nur hier findet sich eine Gemeinschaft von Heiligen, deren
praktische Energie über die alten Orphiker ebensoweit hinausgeht
wie die independentische Kampfbegeisterung über die der Reformationskriege.
(Ebd., S. 933-934).
Aber im Puritanismus liegt schon der Rationalismus verborgen,
der nach einigen Generationen der Begeisterung überall hervorbricht
und die Herrschaft an sich nimmt. Es ist der Schritt von Cromwell zu Hume.
Nicht die Stadt überhaupt, auch nicht die große Stadt, sondern
einzelne wenige Städte sind nun Schauplatz der Geistesgeschichte
geworden, das sokratische Athen, das Bagdad der Abbassiden, das London
und Paris des 18. Jahrhunderts. Aufklärung ist das Wort für
diese Zeit, die Sonne bricht hervor aber was ist es, was da am
Himmel des kritischen Bewußtseins abzieht? (Ebd., S. 934).
Rationalismus bedeutet den Glauben allein an die Ergebnisse
des kritischen Verstehens, also an den »Verstand«. Wenn in
einer Frühzeit das credo quia absurdum ausgesprochen wurde,
so lag darin die Gewißheit, daß Begreifliches und Unbegreifliches
erst zusammen die Welt bilden, die Natur, die Giotto malte, in welche
die Mystiker sich versenkten, in welche der Verstand nur so tief dringen
kann, als die Gottheit es gestattet. Jetzt entsteht aus einem stillen
Ärger der Begriff des Irrationalen; es ist das, was durch seine Unbegreiflichkeit
bereits entwertet ist. Man kann es als Aberglauben offen oder als Metaphysik
heimlich verachten; Wert besitzt nur das kritisch gesicherte Verstehen.
Und Geheimnisse sind nichts als Beweise von Unwissenheit. Die neue geheimnislose
Religion heißt in ihren höchsten Möglichkeiten Weisheit,
sofia; ihr Priester ist der Philosoph und ihr
Anhänger der Gebildete. Nur für den Ungebildeten ist die alte
Religion unentbehrlich, meint Aristoteles (Met.
XI, 8 p. 1074 b 1), und das ist durchaus die Meinung von Konfuzius
und Gotamo Buddha, Lessing und Voltaire. Man kehrt zur Natur zurück,
von aller Kultur, aber es ist keine erlebte, sondern eine bewiesene, aus
dem Verstand geborene und ihm allein zugängliche Natur, die für
das Bauerntum gar nicht vorhanden ist, und man wird von ihr nicht erschüttert,
sondern in eine empfindsame Stimmung versetzt. Natürliche Religion,
Vernunftreligion, Deismus, das ist alles nicht erlebte Metaphysik, sondern
begriffene Mechanik, das, was Konfuzius »Gesetze des Himmels«
und der Hellenismus Tyche nennt. Einst war Philosophie die Dienerin der
jenseitigsten Religiosität, jetzt kommt die Empfindung auf, Philosophie
müsse Wissenschaft sein, nämlich Erkenntniskritik, Wertkritik.
Zwar fühlt man, daß sie auch jetzt nichts ist als abgeschwächte
Dogmatik, Glaube an ein Wissen, das reines Wissen sein möchte.
Man spinnt Systeme aus scheinbar gesicherten Anfängen heraus, aber
man sagt zuletzt doch nur statt Gott Kraft und statt Ewigkeit Erhaltung
der Energie. Allem antiken Rationalismus liegt der Olymp, allem abendländischen
die Lehre von den Sakramenten zugrunde. Deshalb schwankt diese Philosophie
hin und her zwischen Religion und Fachwissenschaft und wird in jedem Falle
anders definiert,[935] je nachdem der Urheber noch etwas vom Priester
und Seher in sich hat oder reiner Fachmann und Techniker des Denkens ist.
(Ebd., S. 935-936).
»Weltanschauung« ist der eigentliche Ausdruck für
ein aufgeklärtes Wachsein, das unter Leitung des kritischen Verstehens
sich in einer götterlosen Lichtwelt umsieht und die Sinne Lügen
straft, sobald sie etwas empfinden, was der »gesunde Menschenverstand«
nicht anerkennt. Was einst Mythos war, das Wirklichste des Wirklichen,
unterliegt jetzt der Methode des Euhemerismus, die nach jenem Gelehrten
ihren Namen trägt, welcher um 300 v. Chr. die antiken Gottheiten
für Menschen erklärte, die sich einst verdient gemacht hatten.
In irgendeiner Form erscheint dies Verfahren in jeder aufgeklärten
Zeit. Es ist euhemeristisch, wenn die Hölle als das böse Gewissen,
der Teufel als die böse Lust und Gott als die Schönheit der
Natur gedeutet werden. (Ebd., S. 936).
Die Aufklärung des Abendlandes ist englischen Ursprungs und
das Ergebnis des Puritanismus: von Locke geht der gesamte Rationalismus
des Festlands aus. Gegen ihn vor allem lehnen sich in Deutschland die
Pietisten auf (seit 1700 die Herrnhuter Brüdergemeinde, Spener und
Francke, in Württemberg Oetinger), in England die Methodisten (1738
Wesley von Herrnhut aus »erweckt«). Es ist wieder der Unterschied
von Luther und Calvin, daß diese sich alsbald zu einer Weltbewegung
organisierten und jene sich in mitteleuropäischen Konventikeln verloren.
(Ebd., S. 938).
Zwei Jahrhunderte nach dem Puritanismus steht die mechanistische
Weltauffassung auf ihrem Gipfel. Sie ist die wirkliche Religion der Zeit.
Auch wer jetzt noch überzeugt ist, im alten Sinne religiös zu
sein, »an Gott zu glauben«, täuscht sich nur über
die Welt, in der sich sein Wachsein spiegelt. Religiöse Wahrheiten
sind in seinem Verstehen immer mechanistische Wahrheiten, und meist ist
es nur die Gewohnheit der Worte, welche die wissenschaftlich gesehene
Natur mythisch überfärbt. Kultur ist immer gleichbedeutend mit
religiöser Gestaltungskraft. Jede große Kultur beginnt mit
einem gewaltigen Thema, das sich aus dem stadtlosen Lande erhebt, in den
Städten mit ihren Künsten und Denkweisen vielstimmig durchgeführt
wird und in den Weltstädten im Finale des Materialismus ausklingt.
Aber selbst die letzten Akkorde halten streng die Tonart des Ganzen fest.
Es gibt einen chinesischen, indischen, antiken, arabischen, abendländischen
Materialismus, der in jedem einzelnen Falle nichts ist als die ursprüngliche
mythische Gestaltenfülle, unter Abziehung alles Erlebten und Erschauten
mechanistisch gefaßt. (Ebd., S. 939).
Sokrates ist so gut der Erbe der Sophisten wie der Ahnherr der
kynischen Wanderprediger und der pyrrhonischen Skepsis. (Ebd., S.
939).
Ganz für sich steht wieder der faustische Materialismus im
engeren Sinne, in dem die technische Weltanschauung ihre Vollendung erreicht
hat. Die ganze Welt als dynamisches System, exakt, mathematisch angelegt,
experimentell bis in die letzten Ursachen aufzuschließen und in
Zahlen zu fassen, so daß der Mensch sie beherrschen kann: das unterscheidet
diese Rückkehr zur Natur von jeder andern. Wissen ist Tugend
das glaubten auch Konfuzius, Buddha und Sokrates. Wissen ist Macht
das hat nur innerhalb der europäisch-amerikanischen Zivilisation
einen Sinn. Diese Rückkehr zur Natur bedeutet die Ausschaltung aller
Mächte, die zwischen der praktischen Intelligenz und der Natur stehen.
Überall sonst hat sich der Materialismus begnügt, scheinbar
einfache Einheiten anschaulich oder begrifflich festzustellen, deren kausales
Spiel alles ohne jeden Rest von Geheimnis erklärt, und das Übernatürliche
auf Unwissenheit zurückzuführen. Aber der große Verstandesmythos
von Energie und Masse ist außerdem eine ungeheure Arbeitshypothese.
Er zeichnet das Naturbild so, daß man es gebrauchen kann.
Das Schicksalhafte wird als Evolution, Entwicklung, Fortschritt mechanisiert
und mitten in das System gestellt, der Wille ist ein Eiweißprozeß,
und alle diese Lehren, nenne man sie Monismus, Darwinismus, Positivismus,
erheben sich damit zu einer Zweckmäßigkeitsmoral, die dem amerikanischen
Geschäftsmann und englischen Politiker ebenso einleuchtet wie dem
deutschen Fortschrittsphilister, und die im letzten Grunde nichts ist
als eine intellektuelle Karikatur der Rechtfertigung durch den Glauben.
(Ebd., S. 940).
Der Materialismus würde nicht vollständig sein ohne
das Bedürfnis, die geistige Spannung hin und wieder loszuwerden,
sich in mythische Stimmungen fallen zu lassen, irgend etwas Kultisches
zu betreiben, um zur innern Entlastung den Reiz des Irrationalen, des
Wesensfremden, des Absonderlichen, wenn es sein muß, auch des Albernen
zu genießen. Was in der Zeit etwa des Meng-tse (372289) und
der ersten buddhistischen Brüdergemeinden noch jetzt deutlich hervortritt,
gehört in ganz derselben Bedeutung auch zu den wichtigsten Zügen
des Hellenismus. Um 312 wurde in Alexandria von dichtenden Gelehrten in
der Art des Kallimachos der Sarapiskult erfunden und mit einer ausgeklügelten
Legende versehen. Der Isiskult im republikanischen Rom war etwas, das
man mit dem nachmaligen Kult der Kaiserzeit und mit der sehr ernsten Isisreligion
Ägyptens nicht verwechseln darf, nämlich ein religiöser
Zeitvertreib der guten Gesellschaft, der den Anlaß teils zu öffentlichem
Spott gab, teils zu Skandalen und zur Schließung des Kultgebäudes,
die 5948 viermal angeordnet wurde. Die chaldäische Astrologie
war damals eine Mode, gleich weit entfernt von dem echt antiken
Orakelglauben und dem magischen Glauben an die Macht der Stunde. Es war
»Entspannung«; man machte sich und anderen etwas vor, und
dazu kamen die zahllosen Scharlatane und Schwindelpropheten, die alle
Städte durchzogen und mit wichtigtuenden Bräuchen den Halbgebildeten
eine religiöse Erneuerung einzureden suchten. Dem entspricht in der
heutigen europäisch-amerikanischen Welt der okkultistische und theosophische
Schwindel, die amerikanische Christian Science, der verlogene Salonbuddhismus,
das religiöse Kunstgewerbe, das in Deutschland mehr noch als in England
mit gotischen, spätantiken und taoistischen Stimmungen in Kreisen
und Kulten betrieben wird. Es ist überall das bloße Spiel mit
Mythen, an die man nicht glaubt, und der bloße Geschmack an Kulten,
mit denen man die innere Öde ausfüllen möchte. Der wirkliche
Glaube ist noch immer der an Atome und Zahlen, aber es bedarf des gebildeten
Hokuspokus, um auf die Länge ertragen zu werden. Der Materialismus
ist flach und ehrlich, das Spielen mit Religion ist flach und unehrlich;
aber damit, daß es überhaupt möglich ist, verweist es
schon auf ein neues und echtes Suchen, das sich leise im zivilisierten
Wachsein meldet und zuletzt deutlich an den Tag tritt. (Ebd., S.
940-941).
Was nun folgt, nenne ich die zweite
Religiosität. Sie erscheint in allen Zivilisationen, sobald diese
zur vollen Ausbildung gelangt sind und langsam in den geschichtslosen
Zustand hinübergehen, für den Zeiträume keine Bedeutung
mehr haben. Daraus ergibt sich, daß die abendländische Welt
von dieser Stufe noch um viele Generationen entfernt ist. (Ebd.,
S. 941-942).
Die zweite Religiosität ist das notwendige Gegenstück
zum Cäsarismus, der endgültigen politischen Verfassung
später Zivilisationen. Sie wird demnach in der Antike etwa von Augustus
an sichtbar, in China etwa mit Schi Hoang-ti. .... Die zweite Religiosität
enthält, nur anders erlebt und ausgedrückt, wieder den Bestand
der ersten .... Zuerst verliert sich der Rationalismus, dann kommen die
Gestalten der Frühzeit zum Vorschein, zuletzt ist es die ganze Welt
der primitiven Religion, die vor den großen Formen des Frühglaubens
zurückgewichen war und nun in einem volkstümlichen Synkretismus
(),
der auf dieser Stufe keiner Kultur fehlt, mächtig wieder hervordringt.
(Ebd., S. 942).
Jede Aufklärung schreitet von einem schrankenlosen Verstandesoptimismus,
der stets mit dem Typus des Großstadtmenschen verbunden ist, zur
unbedingten Skepsis fort. Das souveräne Wachsein, das durch Gemäuer
und Menschenwerk rings von der lebendigen Natur und von der Erde unter
sich abgeschnitten ist, erkennt nichts an außer sich. Es übt
Kritik an seiner vorgestellten, vom alltäglichen Sinneserleben abgezogenen
Welt, und zwar so lange, bis es das Letzte und Feinste gefunden hat, die
Form der Form sich selbst, also nichts. Damit sind die Möglichkeiten
der Physik als des kritischen Weltverstehens erschöpft, und der Hunger
nach Metaphysik meldet sich wieder. Aber es ist nicht der religiöse
Zeitvertreib gebildeter und literaturgesättigter Kreise und überhaupt
nicht der Geist, aus dem die zweite Religiosität hervorgeht, sondern
ein ganz unbemerkter und von selbst entstehender naiver Glaube der Massen
an irgendwelche mythische Beschaffenheit des Wirklichen, für die
alle Beweisgründe ein Spiel mit Worten, etwas Dürftiges und
Langweiliges zu sein beginnen, und zugleich ein naives Herzensbedürfnis,
dem Mythos mit einem Kultus demütig zu antworten. Die Formen beider
können weder vorausgesehen noch willkürlich gewählt werden.
Sie erscheinen von selbst, und wir sind weit von ihnen entfernt. (Wenn
aber heute schon etwas diese Formen ahnen läßt, die selbstverständlich
zu gewissen Elementen des gotischen Christentums zurückleiten, so
ist es nicht der Literatengeschmack an spätindischer und spätchinesischer
Spekulation, sondern z.B. der Adventismus und ähnliche Sekten.)
Aber die Meinungen von Comte und Spencer, der Materialismus, Monismus
und Darwinismus, die im 19. Jahrhundert die Leidenschaft der besten Geister
geweckt hatten, sind heute doch schon die Weltanschauung der Provinz geworden.
(Ebd., S. 942-943).
Die antike Philosophie hatte um 250 v. Chr. ihre Gründe erschöpft.
Das »Wissen« ist von nun an nicht mehr ein beständig
durchgeprüfter und vergrößerter Besitz, sondern der zur
Gewohnheit gewordene Glaube daran, der durch altgewohnte Methoden immer
wieder Überzeugungskraft erhält. Zur Zeit des Sokrates gab es
den Rationalismus als Religion der Gebildeten. Darüber stand die
gelehrte Philosophie, darunter der »Aberglaube« der Massen.
Jetzt entwickelt sich die Philosophie zu einer geistigen, der Synkretismus
des Volkes zu einer handgreiflichen Religiosität von ganz derselben
Tendenz, und zwar dringen Mythenglaube und Frömmigkeit hinauf, nicht
hinab. Die Philosophie hat viel zu empfangen und wenig zu geben. Die Stoa
war vom Materialismus der Sophisten und Kyniker ausgegangen und hatte
den gesamten Mythos allegorisch erklärt, aber schon von Kleanthes
( 232) stammt das Tischgebet an Zeus, eins der schönsten Stücke
der antiken zweiten Religiosität. Zur Zeit von Sulla gab es einen
durch und durch religiösen Stoizismus höherer Kreise und einen
synkretistischen Volksglauben, der phrygische, syrische, ägyptische
Kulte und zahllose antike, damals fast vergessene Mysterien verband, und
das entspricht genau der Entwicklung der aufgeklärten Weisheit Buddhas
zum Hinayana der[943] Gelehrten und Mahayana der Menge, und dem Verhältnis
des lehrhaften Konfuzianismus zum Taoismus, der sehr bald das Gefäß
des chinesischen Synkretismus geworden ist. (Ebd., S. 943-944).
Es war ein echter Pogrom, als im Jahre 88 v. Chr. (Vesper
von Ephesus) auf einen Wink von Mithridates VI. (von
Pontus) hin an einem Tage 100 000 römische Geschäftsleute
von der erbitterten Bevölkerung Kleinasiens ermordet wurden. Die »Juden«
dieser Zeit waren die Römer, und in dem apokalyptischen Haß der Aramäer
gegen sie (vgl. die Aufstände 66-70 und 132-135)
liegt auch etwas dem westeuropäischen Antisemitismus ganz Verwandtes. Alle
magischen Nationen (also nicht nur die ins
Abendland gezogenen Diaspora-Juden) befinden sich seit den Kreuzzügen
(seit 1096-1270) auf dieser Stufe. (Ebd., S.
952).Am
tiefsten trennend und verbitternd hat aber die Tatsache gewirkt, welche in ihrer
vollen Targik am wenigsten begriffen worden ist: während der abendländische
Mensch von den Tagen der Sachsenkaiser bis zur Gegenwart Geschichte im allerbedeutendsten
Sinne durchlebt, und zwar mit einer Bewußtheit, die in keiner anderen Kultur
ihresgleichen findet, hat der jüdische consensus aufgehört Geschichte
zu haben. Seine Probleme waren gelöst, seine innere Form abgeschlossen und
unveränderlich geworden; Jahrhunderte hatten für ihn wie für den
Islam, die griechische Kirche und die Parsen keine Bedeutung mehr, und deshalb
kann, wer innerlich diesem consensus verbunden ist, die Leidenschaft gar
nicht begreifen, mit welcher faustische Menschen die ... Entscheidungen ihrer
Geschichte, ihres Schicksals durchleben .... (Ebd., S. 953).
Der Staat (S. 961-1144): I. Das
Problem der Stände: Adel und Priestertum (S. 961-1004)
Mann und Weib [S. 961] Stamm und Stand [S. 964] Bauerntum
und Gesellschaft [S. 966] Stand, Kaste, Beruf [S. 967] Adel und
Priestertum als Symbole von Zeit und Raum [S. 970] Zucht und Bildung, Sitte
und Moral [S. 979] Eigentum, Macht und Beute [S. 983] • Priester und Gelehrte
[S. 986] • Wirtschaft und Wissenschaft: Geld und Geist [S. 989] • Geschichte der
Stände: Frühzeit [S. 990] • Der dritte Stand: Stadt - Freiheit - Bürgertum
[S. 998] II. Staat
und Geschichte (S. 1004-1107) Bewegtes
und Bewegung, In-Form-sein [S. 1004] Recht und Macht [S. 1008]
Stand und Staat [S. 1011] Der Lehnsstaat [S. 1018] Vom Lehnsverband
zum Ständestaat [S. 1024] Polis und Dynastie [S. 1027] Der
absolute Staat, Fronde und Tyrannis [S. 1038] Wallenstein [S. 1043]
Kabinettspolitik [S. 1046] Von der ersten zur zweiten Tyrannis [S. 1050]
Die bürgerliche Revolution [S. 1056] Geist und Geld [S. 1059]
Formlose Gewalten (Napoleonismus) [S. 1065] Emanzipation des Geldes
[S. 1072] • Verfassung [S. 1076] Vom Napoleonismus zum Cäsarismus
(Zeitalter der kämpfenden Staaten) [S. 1081] Die großen
Kriege [S. 1085] Römerzeit [S. 1088] Vom Kalifat zum Sultanat
[S. 1090] Ägypten [S. 1095] Die Gegenwart [S. 1097]
Der Cäsarismus [S. 1101] III. Philosophie
der Politik (S. 1107-1144) Das Leben
ist Politik [S. 1107] Politische Begabung [S. 1111] Der Staatsmann
[S. 1112] Tradition schaffen [S. 1115] Physiognomischer (diplomatischer)
Takt [S. 1117] Stand und Partei [S. 1121] Das Bürgertum als
Urpartei (Liberalismus) [S. 1122] Vom Stand über die Partei zum Gefolge
von Einzelnen [S. 1125] Die Theorie: Von Rousseau bis Marx [S. 1127]
Geist und Geld (Demokratie) [S. 1130] Die Presse [S. 1137] Selbstvernichtung
der Demokratie durch das Geld [S. 1143]Das
Problem der Stände: Adel und Priestertum
Ein unergründliches Geheimnis der
kosmischen Flutungen (),
die wir Leben nennen, ist ihre Sonderung in zwei Geschlechter. Schon in
den erdverbundenen Daseinsströmen der Pflanzenwelt strebt es auseinander,
wie das Sinnbild der Blüte zeigt: etwas das dieses Dasein ist, und
etwas, das es aufrecht erhält. Tiere sind frei, kleine Welten inmitten
einer großen; Kosmisches, als Mikrokosmos abgeschlossen und dem
Makrokosmos gegenübergestellt. Hier steigert sich, und zwar im Verlauf
der Tiergeschichte mit immer größerer Entschiedenheit, das
Zweierlei der Richtungen zu zweierlei Wesen, männlichen und weiblichen.
(Ebd., S. 961).
Das Weibliche steht dem Kosmischen näher. Es ist der Erde
tiefer verbunden und unmittelbar einbezogen in die großen Kreisläufe
der Natur. Das Männliche ist freier, tierhafter, beweglicher auch
im Empfinden und Verstehen, wacher und gespannter. (Ebd., S. 961).
Der Mann erlebt das Schicksal und begreift die Kausalität,
die Logik des Gewordnen nach Ursache und Wirkung. Das Weib aber ist
Schicksal, ist Zeit, ist die organische Logik des Werdens
selbst. Eben deshalb bleibt das Kausalprinzip ihm ewig fremd. So oft sich
der Mensch das Schicksal faßlich zu machen sucht, er hat immer den
Eindruck von etwas Weiblichem empfangen, von Moiren, Parzen und Nomen.
Der höchste Gott ist nie das Schicksal selbst, sondern er vertritt
oder beherrscht es wie der Mann das Weib. Das Weib ist in ursprünglichen
Zeiten auch die Seherin, nicht weil es die Zukunft kennt, sondern weil
es sie ist. Der Priester deutet nur, das Weib aber ist Orakel.
Die Zeit selbst redet aus ihm. (Ebd., S. 961-962).
Der Mann macht Geschichte, das Weib ist Geschichte.
(Ebd., S. 962).
In geheimnisvoller Weise enthüllt sich hier ein doppelter
Sinn alles lebendigen Geschehens: es ist kosmisches Dahinströmen
an sich, und dann doch wieder die Reihenfolge der Mikrokosmen selbst,
die das Strömen in sich faßt, schützt und erhält.
Diese »zweite« Geschichte ist die eigentlich männliche,
die politische und soziale; sie ist bewußter, freier, bewegter.
Sie reicht tief in die Anfänge der Tierwelt zurück und empfängt
in den Lebensläufen der hohen Kulturen ihre höchste sinnbildliche
und welthistorische Gestalt. Weiblich ist die erste, die ewige, mütterliche,
pflanzenhafte die Pflanze selbst hat immer etwas Weibliches ,
die kulturlose Geschichte der Folge von Generationen, die sich
nie ändert, die durch das Dasein aller Tier- und Menschenarten, durch
alle kurzlebigen Einzelkulturen gleichmäßig und still hindurchgeht.
Blickt man zurück, so ist sie gleichbedeutend mit dem Leben selbst.
Auch sie hat ihre Kämpfe und ihre Tragik. Das Weib erringt seinen
Sieg im Wochenbett. Bei den Azteken, den Römern der mexikanischen
Kultur, wurde die gebärende Frau als tapferer Krieger begrüßt
und die an der Geburt gestorbene unter denselben Formeln bestattet wie
die in der Schlacht gefallenen Helden. Des Weibes ewige Politik ist die
Eroberung des Mannes, durch den sie Mutter von Kindern, durch den sie
also Geschichte, Schicksal, Zukunft sein kann. Ihre tiefe Klugheit und
Kriegslist richtet sich stets auf den Vater ihres Sohnes. Der Mann aber,
der mit dem Schwergewicht seines Wesens der andern Geschichte angehört,
will seinen Sohn haben als Erben, als Träger seines Blutes und seiner
geschichtlichen Tradition. (Ebd., S. 962).
Hier kämpfen in Mann und Weib die beiden Arten von Geschichte
um die Macht. Das Weib ist stark und ganz, was es ist, und es erlebt
den Mann und die Söhne nur in bezug auf sich und seine Bestimmung.
Im Wesen des Mannes liegt etwas Zwiespältiges. Er ist dies und noch
etwas andres, was das Weib weder begreift noch anerkennt und als Raub
und Gewalt an seinem Heiligsten empfindet. Das ist der geheime Urkrieg
der Geschlechter, der ewig dauert, seit es Geschlechter gibt, schweigend,
erbittert, ohne Versöhnung, ohne Gnade. Es gibt auch da Politik,
Schlachten, Bündnisse, Vertrag und Verrat. Die Rassegefühle
von Haß und Liebe, die beide aus den Tiefen der Weltsehnsucht, aus
dem Urgefühl der Richtung stammen, herrschen zwischen den Geschlechtern
unheimlicher noch als in der andern Geschichte zwischen Mann und Mann.
Es gibt Liebeslyrik und Kriegslyrik, Liebestänze und Waffentänze
und zwei Arten der Tragödie Othello und Macbeth , aber
bis an die Abgründe von Klytämnestras und Kriemhilds Rache reicht
nichts in der politischen Welt. (Ebd., S. 962-963).
Deshalb verachtet das Weib diese andre Geschichte, die Politik
des Mannes, die sie nie versteht, von der sie nur weiß, daß
sie ihr die Söhne raubt. Was ist ihr eine siegreiche Schlacht, die
den Sieg in tausend Wochenbetten vernichtet? Die Geschichte des Mannes
opfert die des Weibes sich auf, und es gibt ein weibliches Heldentum,
das die Söhne mit Stolz zum Opfer bringt Katharina Sforza
auf den Wällen von Imola , aber trotzdem ist es die ewige,
geheime, bis in die Anfänge der Tierwelt zurückreichende Politik
des Weibes, den Mann von ihr abzuziehen, um ihn ganz in die eigne, pflanzenhafte
der Geschlechterfolgen einzuspinnen, das heißt in sich selbst. Und
trotzdem erfolgt alles in der andern Geschichte nur, um diese ewige Geschichte
des Zeugens und Sterbens zu schützen und zu erhalten, man mag es
ausdrücken wie man will, für Haus und Herd, für Weib und
Kind, für das Geschlecht, das Volk, die Zukunft. Der Kampf zwischen
Mann und Mann geschieht stets um des Blutes, um des Weibes willen. Das
Weib als Zeit ist das, wofür es Staatengeschichte gibt.
(Ebd., S. 963).
Das Weib von Rasse fühlt das, auch wenn sie es nicht weiß.
Sie ist das Schicksal, sie spielt das Schicksal. Es beginnt mit dem Kampfe
zwischen den Männern um ihren Besitz Helena; die Carmentragödie;
Katharina II., Napoleon und Désirée Clary, die Bernadotte
zuletzt auf die feindliche Seite zog , der schon die Geschichte
ganzer Tiergattungen ausfüllt, und endet mit ihrer Macht als Mutter,
Gattin, Geliebte über das Schicksal von Reichen: die Hallgerd der
Njalssaga; die Frankenkönigin Brunhilde; Marozia, die den päpstlichen
Stuhl an Männer ihrer Wahl vergibt. Der Mann steigt in seiner Geschichte
empor, bis er die Zukunft eines Landes in Händen hält
dann kommt ein Weib und zwingt ihn auf die Knie. Mögen darüber
Völker und Staaten zugrunde gehen, sie hat in ihrer Geschichte gesiegt.
Der politische Ehrgeiz des Weibes von Rasse hat im letzten Grunde nie
ein anderes Ziel. (Erst das Weib ohne Rasse, das
Kinder nicht haben kann oder will, das nicht mehr Geschichte ist, möchte
die Geschichte der Männer machen, nachmachen. Und umgekehrt hat es
einen tiefen Grund, wenn man die antipolitische Gesinnung von Denkern,
Doktrinären und Menschheitsschwärmern als altweiberhaft bezeichnet.
Sie wollen die andere Geschichte, die des Weibes, nachmachen, obwohl sie
es nicht können.) (Ebd., S. 963-964).
Geschichte besitzt demnach einen heiligen Doppelsinn. Sie ist
kosmisch oder politisch. Sie ist das Dasein oder bewahrt
das Dasein. Es gibt zwei Arten von Schicksal, zweierlei Krieg, zweierlei
Tragik: öffentliche und private. Nichts kann diesen Gegensatz
aus der Welt schaffen. Er ist von Anfang an im Wesen des tierischen Mikrokosmos
begründet, der zugleich etwas Kosmisches ist. Er tritt in allen bedeutenden
Lagen in Gestalt eines Konflikts der Pflichten hervor, der nur für
den Mann, nicht für das Weib vorhanden ist, und er wird im Verlauf
der hohen Kulturen nicht überwunden, sondern beständig vertieft.
Es gibt ein öffentliches und ein Privatleben, öffentliches und
privates Recht, Gemeinde- und Hauskulte. Als Stand ist das Dasein
»in Form« für die eine, als Stamm ist es
in Fluß als die andere Geschichte. Das ist der altgermanische
Unterschied der »Schwertseite« und »Spindelhälfte«
einer Blutsverwandtschaft. Seinen höchsten Ausdruck findet dieser
Doppelsinn der gerichteten Zeit in den Ideen des Staats und der Familie.
(Ebd., S. 964).
Die Gliederung der Familie ist in lebendigem, was die Gestalt
des Hauses in totem Stoff ist. (Vgl. S. 698).
Ein Wandel in Aufbau und Bedeutung des Familiendaseins, und der Grundriß
des Hauses wird anders. Der antiken Wohnweise entsprach die Agnatenfamilie
antiken Stils, die in hellenischen Stadtrechten noch schärfer ausgeprägt
war wie in dem jüngeren römischen. (Mitteis,
Reichsrecht und Volksrecht, 1891, S. 63.) Sie ist ganz auf
den gegenwärtigen Stand, das euklidische Jetzt und Hier gestellt,
ebenso wie die als Summe gegenwärtig vorhandener Körper aufgefaßte
Polis. Blutsverwandtschaft ist also für sie weder notwendig noch
ausreichend; sie hört auf mit der Grenze der patria potestas,
des »Hauses«. Die Mutter ist an sich mit ihren leiblichen
Kindern agnatisch nicht verwandt; nur insofern sie der patria
potestas des lebenden Gatten untersteht, ist sie die agnatische Schwester
ihrer Kinder. (Sohm, Institutionen, 1912,
S. 614.) Dem consensus dagegen entspricht die magische Kognatenfamilie
(hebräisch Mischpacha), die durch väterliche und mütterliche
Blutsgemeinschaft weithin dargestellt und einen »Geist« besitzt,
einen consensus im Kleinen, aber kein bestimmtes Oberhaupt. (Auf
diesem Prinzip beruht der Dynastiebegriff der arabischen Welt [der Ommaijaden,
Komnenen, Sassaniden], der uns schwer begreiflich ist. Wenn ein Usurpator
den Thron erobert hat, so vermählt er sich mit irgend einem weiblichen
Mitgliede aus der Blutsgemeinschaft und setzt so die Dynastie fort. Von
einer gesetzlichen Erbfolge ist der Idee nach nicht die Rede. Vgl. auch
J. Wellhausen, Ein Gemeinwesen ohne Obrigkeit, 1900.) Es
ist für das Erlöschen der antiken und die Entfaltung der magischen
Seele bezeichnend, daß das »römische« Recht der
Kaiserzeit von der Agnation allmählich zur Kognation übergeht.
Noch einige Novellen Justinians (118, 127) schaffen eine Neuregelung des
Erbrechts infolge des Sieges der magischen Familienidee. (Ebd.,
S. 964-965).
Auf der andern Seite erblicken wir Massen von Einzelwesen, die
werdend und vergehend, aber Geschichte machend dahinströmen.
Je reiner, tiefer, stärker, selbstverständlicher der gemeinsame
Takt dieser Geschlechterfolgen, desto mehr »Blut«, desto mehr
Rasse haben sie. Aus der Unendlichkeit aller heben sich beseelte Einheiten
ab (vgl. S. 577), Scharen, die sich im gleichen
Wellenschlag des Daseins als Ganzes fühlen, nicht geistige Gemeinschaften
wie Orden, Künstlergilden und Gelehrtenschulen, die durch gleiche
Wahrheiten verbunden sind, sondern Blutverbände mitten im kämpfenden
Leben. (Ebd., S. 965).
Es sind Daseinsströme »in Form«, um einen
Sportausdruck zu gebrauchen, der in die Tiefe dringt. In Form ist ein
Feld von Rennpferden, das sicher in den Gelenken mit feinem Schwung über
die Hürde geht und sich dann wieder im gleichen Takt der Hufe über
die Ebene bewegt. In Form sind Ringer, Fechter und Ballspieler, denen
das Gewagteste leicht und selbstverständlich von der Hand geht. In
Form ist eine Kunstepoche, für welche die Tradition Natur ist wie
der Kontrapunkt für Bach. In Form ist eine Armee, wie sie Napoleon
bei Austerlitz und Moltke bei Sedan hatten. So gut wie alles, was in der
Weltgeschichte geleistet worden ist, im Krieg und in jener Fortsetzung
des Krieges durch geistige Mittel, die wir Politik nennen, alle erfolgreiche
Diplomatie, Taktik, Strategie, sei es die von Staaten, Ständen oder
Parteien, rührt von lebendigen Einheiten her, die sich in Form befanden.
(Ebd., S. 965-966).
Das Wort für die rassemäßige Art von Erziehung
ist Zucht, Züchtung, im Unterschied von Bildung, die durch
die Gleichheit des Gelernten oder Geglaubten Wachseinsgemeinschaften begründet.
Zur Bildung gehören Bücher, zur Zucht gehört der stetige
Takt und Einklang der Umgebung, in die man sich hineinfühlt, hineinlebt:
Klostererziehung und Pagenerziehung der frühen Gotik. Alle guten
Formen einer Gesellschaft, jedes Zeremoniell ist versinnlichter Takt einer
Art von Dasein. Um sie zu beherrschen, muß man Takt haben.
Deshalb gewöhnen sich Frauen, weil sie triebhafter und dem Kosmischen
näher sind, schneller an die Formen einer neuen Umgebung. Frauen
aus der Tiefe bewegen sich nach ein paar Jahren mit voller Sicherheit
in einer vornehmen Welt, aber sie sinken ebenso schnell wieder herab.
Der Mann ändert sich schwerer, weil er wacher ist. Der Proletarier
wird nie ganz Aristokrat, der Aristokrat nie ganz Proletarier. Erst die
Söhne haben den Takt der neuen Umgebung. (Ebd., S. 966).
Je tiefer die Form, desto strenger und abweisender ist sie. Dem
nicht Zugehörigen erscheint sie als Sklaverei; der Zugehörige
beherrscht sie mit vollkommener Freiheit und Leichtigkeit. Der Fürst
von Ligne war ebenso wie Mozart Herr, nicht Sklave der Form; und das gilt
von jedem geborenen Aristokraten, Staatsmann und Heerführer.
(Ebd., S. 966).
Deshalb gibt es in allen hohen Kulturen ein Bauerntum,
das Rasse überhaupt und also gewissermaßen Natur ist, und eine
Gesellschaft, die in anspruchsvoller Weise »in Form« ist,
als Gruppe von Klassen oder Ständen und ohne Zweifel künstlicher
und vergänglicher. Aber die Geschichte dieser Klassen und Stände
ist Weltgeschichte in höchster Potenz. Erst im Hinblick auf
sie erscheint das Bauerntum als geschichtslos. Die gesamte Geschichte
großen Stils von sechs Jahrtausenden hat sich in den Lebensläufen
der hohen Kulturen vollzogen, nur weil diese Kulturen selbst ihren schöpferischen
Mittelpunkt in Ständen haben, die Zucht besitzen, in Vollendung
gezüchtet worden sind. Eine Kultur ist Seelentum, das in sinnbildlichen
Formen zum Ausdruck gelangt, aber diese Formen sind lebendig und in Entwicklung
begriffen, auch die der Kunst, deren wir uns erst durch ihre Abziehung
von der Kunstgeschichte bewußt geworden sind; sie liegen
im gesteigerten Dasein von Einzelnen und Kreisen, eben in dem, was soeben
»Dasein in Form« genannt worden ist und durch diese Höhe
des Geformtseins erst die Kultur repräsentiert. (Ebd., S. 966-967).
Das ist etwas Großes und Einziges innerhalb der organischen
Welt. Es ist der einzige Punkt, wo der Mensch sich über die Mächte
der Natur erhebt und selbst Schöpfer wird. Noch als Rasse ist er
Schöpfung der Natur; da wird er gezüchtet; als Stand
aber züchtet er sich selbst, ganz wie die edlen Tier- und Pflanzenrassen,
mit denen er sich umgeben hat; und eben das ist im höchsten und letzten
Sinne Kultur. Kultur und Klasse sind Wechselbegriffe; sie entstehen als
Einheit, sie vergehen als Einheit. Die Züchtung erlesener Wein-,
Obst- und Blumenarten, die Züchtung von Pferden reinen Blutes ist
Kultur, und in genau demselben Sinne entsteht erlesene menschliche Kultur
als Ausdruck eines Daseins, das sich selbst in große Form gebracht
hat. (Ebd., S. 967).
Aber eben deshalb gibt es in jeder Kultur ein starkes Gefühl
dafür, ob jemand dazu gehört oder nicht. Der antike Begriff
des Barbaren, der arabische des Ungläubigen des Amhaarez oder
Giaur , der indische des Tschudra mögen noch so verschieden
gedacht sein, sie drücken zunächst weder Haß noch Verachtung
aus, sondern stellen eine Verschiedenheit im Takt des Daseins fest, die
eine unüberschreitbare Grenze in allen tiefen Dingen zieht. Diese
ganz klare und eindeutige Tatsache ist durch den indischen Begriff der
»vierten Kaste« verdunkelt worden, die es in Wirklichkeit,
wie wir heute wissen, nie gegeben hat. (Vgl. R.
Fick, Die soziale Gliederung im nordöstlichen Indien zu Buddhas
Zeit, 1897, S. 201; A. Hillebrandt, Alt-Indien, 1899, S. 82.)
Das Gesetzbuch des Manu mit seinen berühmten Bestimmungen über
die Behandlung des Tschudra entstammt dem ausgebildeten Fellachentum Indiens
und zeichnet ohne Rücksicht auf die rechtlich vorhandene oder auch
nur erreichbare Wirklichkeit das dünkelhafte Brahmanenideal durch
seinen Gegensatz, wie es mit dem Begriff des arbeitenden Banausen in der
spätantiken Philosophie nicht viel anders gewesen ist. Das hat für
uns dort zum Mißverstehen der Kaste als einer spezifisch indischen
Erscheinung, hier zu einer grundfalschen Meinung von der Stellung des
antiken Menschen zur Arbeit geführt. Es handelt sich in allen Fällen
um den Rest, der für das innere Leben der Kultur und ihre Symbolik
nicht in Betracht kommt und von dem bei jeder bedeutungsvollen Einteilung
von vornherein abgesehen wird. (Ebd., S. 967-968).
In karolingischer Vorzeit unterschied
man Knechte, Freie und Edle. Das ist ein primitiver Rangunterschied auf
Grund bloßer Tatsachen des äußeren Lebens. In frühgotischer
Zeit heißt es in Freidanks Bescheidenheit: »Got hât
driu leben geschaffen, // Gebûre, Ritter, phaffen.«.
(Ebd., S. 970).
Jeder Adel ist ein lebendiges Symbol der Zeit, jede Priesterschaft
eins des Raumes. (Ebd., S. 971).
Schicksal
und heilige Kausalität, Geschichte und Natur, das Wann und das Wo, Rasse
und Sprache, Geschlechtsleben und Sinnenleben: das alles kommt darin zum höchstmöglichen
Ausdruck. (Ebd., S. 971).
Der Adel lebt in einer Welt von Tatsachen, der Priester in einer
Welt von Wahrheiten; jener ist Kennen, dieser Erkenner, jener Täter,
dieser Denker. Aristokratisches Weltgefühl ist durch und durch Takt,
priesterliches verläuft durchaus in Spannungen. (Ebd., S. 971).
Beide Stände schließen sich der Idee nach aus. Der
Urgegensatz von Kosmischem und Mikrokosmischem, der alle frei im Raum
beweglichen Wesen durchdringt, liegt auch ihrem Doppeldasein zugrunde.
Jeder ist nur durch den andern möglich und notwendig. (Ebd.,
S. 972).
Und zwar ist der Adel der eigentliche Stand, der Inbegriff
von Blut und Rasse, ein Daseinsstrom, in denkbar vollendeter Form. Adel
ist eben damit höheres Bauerntum. Noch um 1250 galt weithin im Abendlande
der Spruch: »Wer morgens ackert, reitet nachmittags zum Turnier«,
und die Sitte, daß Ritter Bauerntöchter freiten. Die Burg ist
im Gegensatz zum Dom auf dem Wege über den ländlichen Edelsitz
etwa der Frankenzeit aus dem Bauernhause herangewachsen. In den isländischen
Sagas werden Bauernhöfe wie Burgen belagert und erstürmt. Adel
und Bauerntum sind ganz pflanzenhaft und triebhaft, tief im Stammlande
wurzelnd, im Stammbaum sich fortpflanzend, züchtend und gezüchtet.
Im Vergleich dazu ist das Priestertum der eigentliche Gegen-Stand,
der Stand des Verneinens, die Nichtrasse, die Unabhängigkeit vom
Boden, das freie, zeitlose, geschichtslose Wachsein. In jedem Bauerndorf
von der Steinzeit bis zu den Höhepunkten der Kultur, in jedem Bauerngeschlecht
spielt sich Weltgeschichte im Kleinen ab. Es sind statt der Völker
Familien, statt der Länder Höfe, aber die letzte Bedeutung dessen,
um das hier wie dort gekämpft wird, ist dieselbe: die Erhaltung des
Blutes, die Geschlechterfolge, das Kosmische, das Weib, die Macht. Macbeth
und König Lear hätten auch als Dorftragödien erdacht werden
können; das ist ein Beweis von echter Tragik. In allen Kulturen erscheinen
Adel und Bauerntum in der Form von Geschlechtern, und das Wort
dafür berührt sich in allen Sprachen mit der Bezeichnung der
beiden Geschlechter, durch die das Leben sich fortpflanzt, Geschichte
hat und Geschichte macht. Und da das Weib Geschichte ist, so bestimmt
sich der innere Rang von Bauern- und Adelsgeschlechtern danach, wieviel
Rasse ihre Frauen haben, bis zu welchem Grade sie Schicksal sind.
Deshalb liegt ein tiefer Sinn in der Tatsache, daß Weltgeschichte,
je echter und rassehafter sie ist, um so mehr den Strom des öffentlichen
Lebens in das Privatleben großer Einzelgeschlechter hinüberleitet
und ihm einordnet. Eben darauf beruht das dynastische Prinzip, aber auch
der Begriff der welthistorischen Persönlichkeit. Die Schicksale ganzer
Staaten werden von dem zu ungeheuren Dimensionen gesteigerten Privatschicksal
Weniger abhängig. Die Geschichte Athens im 5. Jahrhundert ist zum
großen Teil die der Alkmäoniden, die Geschichte Roms die von
einigen Geschlechtern von der Art der Fabier und Claudier. Die Staatengeschichte
des Barock ist im Umriß identisch mit den Wirkungen der habsburgischen
und bourbonischen Familienpolitik, und ihre Krisen haben die Form von
Heiraten und Erbfolgekriegen. Die Geschichte von Napoleons zweiter Ehe
umfaßt auch den Brand von Moskau und die Schlacht bei Leipzig. Die
Geschichte des Papsttums ist bis ins 18. Jahrhundert hinein die Geschichte
einiger Adelsgeschlechter, welche die Tiara erstrebten, um einen fürstlichen
Familienbesitz zu gründen. Aber das gilt auch von byzantinischen
Würdenträgern und von englischen Premierministern, wie die Familiengeschichte
der Cecils zeigt, und sogar noch von sehr vielen Führern großer
Revolutionen. (Ebd., S. 973-974).
Alles das wird vom Priestertum verneint und also auch von der
Philosophie, soweit sie Priestertum ist. Der Stand des reinen Wachseins
und der ewigen Wahrheiten richtet sich gegen die Zeit, die Rasse, das
Geschlecht in jedem Sinne. Der Mann als Bauer oder Ritter ist dem Weibe
als dem Schicksal zu-, der Mann als Priester ist ihm abgewandt. Der Adel
ist stets in Gefahr, das öffentliche Leben im Privatleben verschwinden
zu lassen, indem er den breiten Daseinsstrom in das Bett des kleineren
seiner Ahnen und Enkel leitet. Der echte Priester erkennt das Privatleben,
das Geschlecht, das »Haus« der Idee nach überhaupt nicht
an. Für den Menschen von Rasse ist erst der Tod ohne Erben der wahre
und furchtbare Tod, was die isländischen Sagas so gut wie der chinesische
Ahnenkult lehren. Wer in Söhnen und Enkeln fortlebt, stirbt nicht
ganz. Aber für den wahren Priester gilt das media vita in morte
sumus: sein Erbe ist geistig und verwirft den Sinn des Weibes. Die
überall wiederkehrenden Erscheinungsformen dieses zweiten Standes
sind die Ehelosigkeit, das Kloster, die Bekämpfung des Geschlechtlichen
bis zur Selbstentmannung, die Verachtung des Muttertums, die sich im Orgiasmus
und der heiligen Prostitution ausspricht und in der begrifflichen Herabwürdigung
des Geschlechtslebens bis zu jener unflätigen Definition der Ehe
durch Kant. (Wonach sie ein Vertrag auf den wechselseitigen
Besitz zweier Personen ist, der durch den wechselseitigen Gebrauch der
Geschlechtseigentümlichkeiten verwirklicht wird.) Für
die gesamte Antike gilt das Gesetz, daß im heiligen Tempelbezirk,
dem temenos, niemand geboren werden und sterben darf. Das Zeitlose
darf mit der Zeit nicht in Berührung kommen. Es ist möglich,
daß ein Priester die großen Augenblicke von Zeugung und Geburt
begrifflich anerkennt und durch Sakramente ehrt, aber erleben darf er
sie nicht. (Ebd., S. 974-975).
Denn der Adel ist etwas, das Priestertum bedeutet
etwas. Auch damit erscheint es als das Gegenteil von allem, was Schicksal,
Rasse, Stand ist. Auch die Burg mit ihren Gemächern, Türmen,
Wällen und Gräben redet von einem mächtig strömenden
Sein; der Dom mit Wölbung, Pfeilern und Chor aber ist durch und durch
Bedeutung, nämlich Ornament; und jede alte Priesterschaft hat sich
zu einer wundervoll schweren und prächtigen Art von Haltung entwickelt,
in welcher jeder Zug von Miene und Tonfall bis zu Tracht und Gang Ornament
ist, und das Privatleben, auch das Innenleben als wesenlos verschwindet,
während gerade im Gegenteil eine reife Aristokratie, wie die französische
des 18. Jahrhunderts, ein vollendetes Leben zur Schau stellt. Wenn gotisches
Denken aus der Idee des Priesters den character indelebilis entwickelte,
wonach die Idee unzerstörbar und in ihrer Würde von der Lebensführung
ihres Trägers in der Welt als Geschichte gänzlich unabhängig
ist, so gilt das unausgesprochen von jedem Priestertum und also auch von
aller Philosophie im Sinne der Schulen. Hat ein Priester Rasse, so führt
er ein äußeres Dasein wie jeder Bauer, Ritter oder Fürst.
Die Päpste und Kardinale der gotischen Zeit waren Lehnsfürsten,
Heerführer, Jagdfreunde, Liebhaber und trieben Familienpolitik. Unter
den Brahmanen des vorbuddhistischen »Barock« gab es Großgrundbesitzer,
gepflegte Abbes, Hofleute, Verschwender, Feinschmecker, aber gerade die
Frühzeit hat im Priestertum die Idee von der Person zu unterscheiden
gewußt, was dem Wesen des Adels gänzlich widerspricht, und
erst die Aufklärung beurteilte den Priester nach seinem Privatleben,
nicht weil ihre Augen schärfer sahen, sondern weil ihr die Idee abhanden
gekommen war. (Ebd., S. 975-976).
Der Adlige ist der Mensch als Geschichte, der Priester
der Mensch als Natur. Geschichte großen Stils ist immer Ausdruck
und Nachwirkung des Daseins einer adligen Gemeinschaft gewesen, und der
innere Rang der Ereignisse bestimmt sich nach dem Takt in diesem Daseinsstrom.
Das ist der Grund, weshalb die Schlacht von Cannä viel und die Schlachten
spätrömischer Kaiser gar nichts bedeuten. Der Anbruch einer
Frühzeit sieht regelmäßig auch die Geburt eines Uradels
der Fürst wird als primus inter pares empfunden und
mit Mißtrauen betrachtet, denn eine starke Rasse hat den großen
Einzelnen nicht nötig; er stellt ihren Wert sogar in Frage, und deshalb
sind Vasallenkriege die vornehmste Form, in der frühzeitliche Geschichte
sich vollzieht und dieser Adel hat fortan das Schicksal der Kultur
in Händen. Hier wird in schweigender und deshalb um so nachdrücklicherer
Gestaltungskraft das Dasein in Form gebracht, der Takt im Blute herangebildet
und gefestigt und zwar für alle Zukunft. Denn was für
jede Frühzeit dieser schöpferische Aufstieg zur lebendigen Form,
das ist für jede Spätzeit die Macht der Tradition, nämlich
die alte und feste Zucht, der sicher gewordene Takt von solcher Stärke,
daß er das Absterben der alten Geschlechter überdauert und
unaufhörlich neue Menschen und Daseinsströme aus der Tiefe in
seinen Bann zieht. Es kann gar nicht bezweifelt werden, daß alle
Geschichte später Zeitalter nach Form, Takt und Tempo schon in den
ersten Generationen und zwar unwiderruflich angelegt ist. Ihre Erfolge
sind genau so groß wie die Macht der im Blute liegenden Tradition.
Es ist in der Politik wie in jeder großen und reifen Kunst: Erfolge
setzen voraus, daß das Dasein vollkommen in Form ist, daß
der große Schatz uralter Erfahrungen Instinkt und Trieb geworden
ist und ebenso unbewußt als selbstverständlich. Eine andere
Art von Meisterschaft gibt es nicht; der große Einzelne ist nur
dadurch Herr der Zukunft und mehr als ein Zwischenfall, daß er in
dieser Form und aus ihr heraus wirkt oder wirkend gemacht wird, Schicksal
ist oder Schicksal hat. Das unterscheidet notwendige und überflüssige
Kunst und also auch historisch notwendige und überflüssige
Politik. Mögen dann noch so viel Männer aus dem Volk
das ist hier der Inbegriff der Traditionslosen in die leitende
Schicht gelangen, mögen sie endlich sogar allein übrig sein,
sie selbst sind ahnungslos besessen von dem großen Schwung der Tradition,
die ihre geistige und praktische Haltung formt, ihre Methoden regelt und
die nichts ist als der Takt längst erstorbener Geschlechterfolgen.
(Ebd., S. 976-977).
Zivilisation aber wirkliche Rückkehr zur Natur
ist das Erlöschen des Adels nicht als Stamm, was von geringer Bedeutung
wäre, sondern als lebendiger Tradition, und der Ersatz des schicksalhaften
Taktes durch kausale Intelligenz. Der Adel ist dann nur noch Prädikat;
aber zivilisierte Geschichte ist eben damit Oberflächengeschichte,
auf zerstreute und nahe Zwecke gerichtet und also formlos im Kosmischen
geworden, vom Zufall der großen Einzelnen abhängig, ohne innere
Sicherheit, ohne Linie, ohne Sinn. Mit dem Cäsarismus kehrt die Geschichte
wieder ins Geschichtslose zurück, in den primitiven Takt der Urzeit
und zu den ebenso endlosen als bedeutungslosen Kämpfen um die materielle
Macht, welche die Zeit der römischen Soldatenkaiser des 3. Jahrhunderts
und der ihnen entsprechenden »sechzehn Staaten« Chinas (265
bis 420) von den Ereignissen im Wildbestand eines Waldes nur noch unwesentlich
unterscheidet. (Ebd., S. 977).
Und daraus folgt, daß echte Geschichte nicht »Kulturgeschichte«
in dem antipolitischen Sinne ist, wie er unter Philosophen und Doktrinären
jeder beginnenden Zivilisation und also gerade heute wieder beliebt wird,
sondern ganz im Gegenteil Rassegeschichte, Kriegsgeschichte, diplomatische
Geschichte, das Schicksal von Daseinsströmen in Gestalt von Mann
und Weib, Geschlecht, Volk, Stand, Staat, die sich im Wellenschlag der
großen Tatsachen verteidigen und gegenseitig überwältigen
wollen. Politik im höchsten Sinne ist Leben, und Leben ist Politik.
Jeder Mensch, er mag wollen oder nicht, ist Glied dieses kämpfenden
Geschehens, als Subjekt oder Objekt; etwas drittes gibt es nicht. Das
Reich des Geistes ist nicht von dieser Welt, gewiß, aber es setzt
sie voraus, wie das Wachsein das Dasein voraussetzt; es ist nur möglich
als ein beständiges Neinsagen zur Wirklichkeit, die eben und trotzdem
da ist. Die Rasse kann der Sprache entbehren, aber schon das Sprechen
der Sprache ist Rasseausdruck (vgl. S. 704),
und ebenso ist alles, was in der Geistesgeschichte erfolgt
daß es eine solche Geschichte überhaupt gibt, beweist schon
die Macht des Blutes über das Empfinden und Verstehen , alle
Religionen, alle Künste, alle Gedanken, weil sie tätiges Wachsein
in Form sind, mit allen ihren Entwicklungen, ihrer ganzen Symbolik, ihrer
ganzen Leidenschaft Ausdruck auch noch des Blutes, das diese Formen im
Wachsein ganzer Geschlechterfolgen durchströmt. Ein Held braucht
von dieser zweiten Welt gar nichts zu ahnen; er ist Leben durch und durch,
aber ein Heiliger kann nur durch die strengste Askese das Leben in sich
niederzwingen, um mit seinem Geist allein zu sein und die Kraft
dazu ist doch wieder das Leben selbst. Der Held verachtet den Tod, und
der Heilige verachtet das Leben, aber da dem Heroismus der großen
Asketen und Märtyrer gegenüber die Frömmigkeit der meisten
von der Art ist, von welcher es in der Bibel heißt: »Weil
Du weder kalt noch warm bist, will ich Dich ausspeien aus meinem Munde«,
so entdeckt man, daß selbst Größe im Religiösen
Rasse voraussetzt, ein starkes Leben, an dem es etwas zu überwinden
gibt der Rest ist bloße Philosophie. (Ebd., S. 977-978).
Aber deshalb ist auch Adel im welthistorischen Sinne unendlich
viel mehr, als bequeme Spätzeiten gelten lassen, nämlich nicht
eine Summe von Titeln, Rechten und Zeremonien, sondern ein innerer Besitz,
der schwer zu erwerben und schwer zu halten ist und der, wenn man ihn
begreift, schon das Opfer eines ganzen Lebens wert erscheint. Ein altes
Geschlecht bedeutet nicht einfach eine Reihe von Vorfahren Ahnen
haben wir alle , sondern von Vorfahren, die durch ganze Geschlechterfolgen
auf den Höhen der Geschichte lebten und Schicksal nicht nur hatten,
sondern auch waren, in deren Blut durch jahrhundertelange Erfahrung die
Form des Geschehens bis zur Vollendung gezüchtet worden ist.
(Ebd., S. 978).
Den Priester umgibt die Welt als Natur; er vertieft ihr
Bild, indem er es durchdenkt. Der Adel lebt in der Welt als Geschichte
und vertieft sie, indem er ihr Bild verändert. Beides entwickelt
sich zur großen Tradition, aber die eine ist das Ergebnis von Bildung,
die andere das von Zucht. Dies ist ein grundlegender Unterschied
zwischen beiden Ständen, weshalb nur der eine wirklicher Stand ist
und der andere durch den aufs äußerste getriebenen Gegensatz
dazu als Stand erscheint. Zucht, Züchtung erstreckt sich auf
das Blut und geht von den Vätern zu den Söhnen weiter. Bildung
aber setzt Begabung voraus, und deshalb ist ein echtes und starkes Priestertum
stets eine Sammlung von Einzelbegabungen eine Wachseinsgemeinschaft
ohne Rücksicht auf Herkunft im Rassesinne und auch darin eine
Verneinung von Zeit und Geschichte. Geistesverwandt und blutsverwandt
man vertiefe sich in den Unterschied dieser Worte. Erbliches Priestertum
ist ein Widerspruch in sich selbst. Im vedischen Indien liegt ihm die
Tatsache zugrunde, daß es einen zweiten Adel gibt, der die priesterlichen
Rechte den Begabungen aus seiner Mitte vorbehält; das Zölibat
macht aber anderswo selbst dieser Grenzüberschreitung ein Ende. Der
»Priester im Menschen« mag dieser Mensch von Adel sein
oder nicht bedeutet einen Mittelpunkt der heiligen Kausalität
im Weltraume. Die priesterliche Kraft selbst ist kausaler Natur, von höherer
Ursache bewirkt und als Ursache weiterhin wirkend. Der Priester ist der
Mittler im zeitlos Ausgedehnten, das zwischen dem Wachsein des Laien
und dem letzten Geheimnis ausgespannt ist, und damit ist das Priestertum
aller Kulturen seiner Bedeutung nach durch deren Ursymbol bestimmt. Die
antike Seele verneint den Raum und bedarf also des Mittlers nicht; deshalb
schwand der antike Priesterstand schon in den Anfängen hin. Der faustische
Mensch steht dem Unendlichen gegenüber und nichts schützt ihn
vor der drückenden Gewalt dieses Aspekts; deshalb hat das gotische
Priestertum sich bis zur Idee des Papsttums gesteigert. (Ebd., S.
979-980).
Zwei Anschauungen der Welt, zwei Arten, wie das Blut in den Adern fließt
und das Denken ins tägliche Sein und Tun verflochten wird
es sind endlich mit jeder hohen Kultur zwei Moralen entstanden, von denen
jede auf die andere herabblickt: adlige Sitte und geistliche Askese, die
sich wechselseitig als weltlich oder sklavisch verwerfen. Es war gezeigt
worden (vgl. S. 890), wie die eine aus der
Burg, die zweite aus Kloster und Dom hervorgeht, die eine aus dem vollen
Dasein mitten im Strom der Geschichte, die andere abseits davon aus einem
reinen Wachsein inmitten einer gotterfüllten Natur. Späte Zeiten
machen sich keine Vorstellung mehr von der Gewalt dieser ursprünglichen
Eindrücke. Das weltliche und geistliche Standesgefühl sind im
Aufstieg begriffen und prägen sich ein sittliches Standesideal,
das nur dem Zugehörigen und diesem nur durch eine lange und strenge
Schule erreichbar ist. Der große Daseinsstrom fühlt sich als
Einheit gegenüber dem Rest, in dem das Blut träge und ohne Takt
dahinfließt; die große Wachseinsgemeinschaft weiß sich
als Einheit gegenüber dem Rest der Nichteingeweihten. Das ist die
Heldenschar und die Gemeinschaft der Heiligen. (Ebd., S. 980-981).
Es wird immer das große Verdienst Nietzsches bleiben, als
erster das Doppelwesen aller Moral erkannt zu haben
(vgl. Jenseits von Gut und Böse, § 260). Er hat
mit seinen Begriffen Herren- und Sklavenmoral die Tatsachen nicht richtig
gezeichnet und »das Christentum« viel zu eindeutig auf die
eine Seite gestellt, aber das liegt klar und stark all seinen Betrachtungen
zugrunde: gut und schlecht sind adlige, gut und böse priesterliche
Unterscheidungen. Gut und schlecht, die Totembegriffe schon der primitiven
Männerbünde und Sippen, bezeichnen nicht Gesinnungen, sondern
Menschen und zwar nach der Ganzheit ihres lebendigen Seins. Die Guten
sind die Mächtigen, Reichen, Glücklichen. Gut bedeutet stark,
tapfer, von edler Rasse, und zwar im Sprachgebrauch aller Frühzeiten.
Schlecht, feil, elend, gemein im ursprünglichen Sinne sind die Machtlosen,
Besitzlosen, Unglücklichen, Feigen, Geringen, die Söhne Niemands,
wie man im alten Ägypten sagte. Gut und böse, die Tabubegriffe,
werten den Menschen hinsichtlich seines Empfindens und Verstehens, also
seiner wachen Gesinnung und bewußten Handlungen. Gegen
die Liebessitte im Rassesinne verstoßen ist gemein; gegen das Kirchengebot
der Liebe fehlen ist böse. Die vornehme Sitte ist das ganz unbewußte
Ergebnis einer langen und beständigen Zucht. Man lernt sie im Umgang
und nicht aus Büchern. Sie ist gefühlter Takt und nicht Begriff.
Die andre Moral aber ist Satzung, nach Grund und Folge durchaus gegliedert
und also lernbar und Ausdruck einer Überzeugung. (Ebd.,
S. 981).
Die eine ist durch und durch geschichtlich und erkennt alle Rangunterschiede
und Vorrechte als tatsächlich und gegeben an. Ehre ist immer Standesehre;
eine Ehre der ganzen Menschheit gibt es nicht. Der Zweikampf steht dem
Unfreien nicht zu. Jeder Mensch hat, sei er Beduine, Samurai oder Korse,
Bauer, Arbeiter, Richter oder Räuber, seine eigenen, verpflichtenden
Begriffe von Ehre, Treue, Tapferkeit, Rache, die auf keine andre Art von
Leben anwendbar sind. Jedes Leben hat Sitte; anders ist es gar nicht zu
denken. Schon die Kinder haben sie, wenn sie spielen. Sie wissen sofort
und von selbst, was sich schickt. Niemand hat diese Regeln gegeben, aber
sie sind da. Sie entstehen ganz unbewußt aus dem »Wir«,
das sich durch den einheitlichen Takt des Kreises gebildet hat. Auch im
Hinblick darauf ist jedes Dasein »in Form«. Jede Menge, die
sich aus irgendeinem Anlaß auf der Straße zusammenballt, hat
im Augenblick auch ihre Sitte; wer sie nicht als selbstverständlich
in sich trägt »befolgen« ist schon viel zu verstandesmäßig
, der ist schlecht, gemein, er gehört nicht dazu. Ungebildete
und Kinder besitzen eine erstaunliche Feinfühligkeit dafür.
Kinder haben aber auch den Katechismus zu lernen. Da erfahren sie von
gut und böse, die gesetzt sind und nichts weniger als selbstverständlich.
Sitte ist nicht, was wahr ist, sondern was da ist. Sie ist
gewachsen, angeboren, erfühlt, von organischer Logik. Moral ist im
Gegensatz dazu niemals Wirklichkeit sonst wäre alle Welt heilig
sondern eine ewige Forderung, die über dem Bewußtsein
hängt und zwar der Idee nach über dem aller Menschen, unabhängig
von allen Unterschieden des wirklichen Lebens und der Geschichte. Deshalb
ist jede Moral verneinend, jede Sitte bejahend. Ehrlos ist hier
das Schlimmste, sündlos dort das Höchste. (Ebd.,
S. 981-982).
Der Grundbegriff aller lebendigen Sitte ist die Ehre. Alles andere,
Treue, Demut, Tapferkeit, Ritterlichkeit, Selbstbeherrschung, Entschlossenheit
liegen darin. Und Ehre ist Sache des Blutes, nicht des Verstandes. Man
überlegt nicht sonst ist man schon ehrlos. Die Ehre verlieren,
heißt für das Leben, die Zeit, die Geschichte vernichtet sein.
Die Ehre des Standes, der Familie, des Mannes und Weibes, des Volkes und
Vaterlandes, die Ehre des Bauern, Soldaten, selbst des Banditen: Ehre
bedeutet, daß das Leben in einer Person etwas wert ist, historischen
Rang, Abstand, Adel besitzt. Sie gehört zur gerichteten Zeit wie
die Sünde zum zeitlosen Räume. Ehre im Leibe haben, heißt
beinahe soviel wie Rasse haben. Das Gegenteil sind die Thersitesnaturen,
die Kotseelen, der Pöbel: »Tritt mich, aber laß mich
leben.« Eine Beleidigung hinnehmen, eine Niederlage vergessen, vor
dem Feinde winseln , das ist alles Zeichen wertlos und überflüssig
gewordenen Lebens und also etwas ganz anderes als priesterliche Moral,
die sich nicht an das wenn auch noch so verächtlich gewordene[982]
Leben klammert, sondern vom Leben und damit der Ehre überhaupt absieht.
Es war schon gesagt worden: jede moralische Handlung ist im tiefsten Grunde
ein Stück Askese und Abtötung des Daseins. Und eben damit steht
sie außerhalb des Lebens und der geschichtlichen Welt. (Ebd.,
S. 982-983).
Hier muß etwas vorweggenommen werden, was der Weltgeschichte
namentlich in den Spätzeiten der großen Kulturen und der beginnenden
Zivilisation erst ihren Farbenreichtum und die sinnbildliche Tiefe der
Ereignisse gibt. Die Urstände Adel und Priestertum sind der reinste
Ausdruck der beiden Lebensseiten, aber nicht der einzige. Schon ganz früh,
und im primitiven Zeitalter vielfach vorgedeutet, brechen noch andere
Daseinsströme und Wachseinsverbindungen hervor, in denen die Symbolik
von Zeit und Raum zu lebendigem Ausdruck gelangt und die erst zusammen
mit jenen die ganze Fülle dessen ausmachen, was wir soziale Gliederung
oder Gesellschaft nennen. (Ebd., S. 983).
Das Priestertum ist mikrokosmisch und tierhaft, der Adel kosmisch
und pflanzenhaft; daher seine tiefe Verbundenheit mit dem Lande. Er ist
selbst eine Pflanze, fest in der Erde wurzelnd, bodenständig und
auch darin ein gesteigertes Bauerntum. Aus dieser Art von kosmischer Verbundenheit
ist die Idee des Eigentums hervorgegangen, die dem frei im Räume
beweglichen Mikrokosmos als solchem ganz fremd ist. Eigentum ist ein Urgefühl,
kein Begriff, und es gehört zur Zeit, zur Geschichte und zum Schicksal
und nicht zu Raum und Kausalität. Begründen läßt
es sich nicht, aber es ist da. (Umgekehrt läßt es sich widerlegen,
und das ist in der chinesischen, antiken, indischen und abendländischen
Philosophie oft genug geschehen, aber man schafft es damit nicht ab.)
Das »Haben« beginnt mit der Pflanze und setzt sich
in der Geschichte des höheren Menschen genau so weit fort, als er
Pflanzenhaftes, als er Rasse in sich hat. Deshalb ist Eigentum im eigentlichsten
Sinne immer Grundeigentum, und der Trieb, Erworbenes in Grund und Boden
zu verwandeln, immer das Zeugnis für Menschen von gutem Schlage.
Die Pflanze besitzt den Boden, in dem sie wurzelt. Er ist ihr Eigentum,
das sie mit Verzweiflung ihr ganzes Dasein hindurch verteidigt, gegen
fremde Keime, gegen übermächtige Nachbarpflanzen, gegen die
ganze Natur. (Jünger und von viel geringerer sinnbildlicher Kraft
ist der Besitz von beweglichen Sachen, Nahrung, Geräten, Waffen,
der auch im Tierreich weit verbreitet ist. Dagegen ist das Nest eines
Vogels pflanzenhaftes Eigentum.) So verteidigt ein Vogel das Nest, in
dem er brütet. Die erbittertsten Kämpfe um das Eigentum werden
nicht in den Spätzeiten der großen Kulturen und zwischen reich
und arm um bewegliches Gut geführt, sondern hier, in den Anfängen
der Pflanzenwelt. Wer mitten in einem Walde fühlt, wie der schweigende
Kampf um den Boden rings um ihn vor sich geht, Tag und Nacht, ohne Gnade,
den erfaßt ein Grauen vor der Tiefe dieses Triebes, der mit dem
Leben beinahe eins ist. Hier gibt es jahrelanges, zähes, erbittertes
Ringen, aussichtslosen Widerstand des Schwachen gegen den Mächtigen,
der so lange dauert, bis auch der Sieger gebrochen ist, Tragödien,
wie sie sich nur im ursprünglichsten Menschentum wiederholen, wenn
ein altes Bauerngeschlecht von der Scholle, aus dem Nest getrieben
oder eine Familie von adligem Stamm durch das Geld in des Wortes eigentlichster
Bedeutung entwurzelt wird. (Eigentum in diesem bedeutendsten Sinne, Verwachsensein
mit etwas, gibt es also weniger in bezug auf eine einzelne Person als
auf die Geschlechterfolge, der sie angehört. Das kommt in jedem Streit
innerhalb einer Bauernfamilie oder auch eines Fürstenhauses mit Gewalt
zum Durchbruch; der jeweilige Herr hat den Besitz nur im Namen des Geschlechts.
Daher die Angst vor dem Tode, wenn der Erbe fehlt. Auch das Eigentum ist
ein Zeitsymbol und deshalb tief mit der Ehe verwandt, die ein festes pflanzenhaftes
Verwachsensein und Sichbesitzen zweier Menschen ist, das sich zuletzt
selbst in der zunehmenden Ähnlichkeit der Züge spiegelt.) Die
weithin sichtbaren Kämpfe in den späten Städten haben eine
ganz andere Bedeutung, denn hier, im Kommunismus jeder Art, handelt es
sich nicht um das Erlebnis, sondern den Begriff des Eigentums als eines
rein materiellen Mittels. Verneinung des Eigentums ist nie ein Rassetrieb
ganz im Gegenteil , sondern der doktrinäre Protest des
rein geistigen, städtischen, entwurzelten, das Pflanzenhafte verleugnenden
Wachseins von Heiligen, Philosophen und Idealisten. Der mönchische
Einsiedler wie der wissenschaftliche Sozialist, hieße er Moh-ti,
Zenon oder Marx, verwerfen es aus demselben Grunde; die Menschen von Rasse
verteidigen es aus demselben Gefühl. Auch hier stehen sich Tatsachen
und Wahrheiten gegenüber. Eigentum ist Diebstahl; das ist in denkbar
materialistischer Form der alte Gedanke: Was hülfe es dem Menschen,
wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner
Seele? Der Priester gibt mit dem Eigentum etwas Gefährliches und
Fremdes, der Adel sich selbst auf. (Ebd., S. 983-985).
Von hier aus entwickelt sich nun ein doppeltes Eigentumsgefühl:
Haben als Macht und Haben als Beute. Beides liegt im ursprünglichen
Rassemenschen unvermittelt nebeneinander. Jeder Beduine und Wikinger will
beides zugleich. Der Seeheld ist stets auch Seeräuber; jeder Krieg
geht auch um Besitz und zwar vor allem den Besitz von Land; nur ein Schritt
ist nötig und der Ritter wird zum Raubritter, der Abenteurer zum
Eroberer und König, wie der Normanne Rurik in Rußland und mancher
achäische und etruskische Pirat in homerischer Zeit. In aller Heldendichtung
findet sich neben der starken und natürlichen Lust am Kampf, an der
Macht, am Weibe, und den ungezügelten Ausbrüchen von Glück,
Schmerz, Zorn und Liebe die mächtige Freude am »Haben«.
Als Odysseus in seiner Heimat landet, zählt er zuerst die Schätze
im Boot, und als in der isländischen Saga die Bauern Hjalmar und
Ölvarod sehen, daß der andere keine Güter im Schiff hat,
lassen sie sofort vom Zweikampf ab: ein Tor, wer aus Übermut und
um die Ehre kämpft. Im indischen Heldenepos bedeutet kampflustig
soviel wie viehlüstern, und die »kolonisierenden« Griechen
des 10. Jahrhunderts waren zunächst Räuber wie die Normannen.
Auf dem Meere ist ein fremdes Schiff ohne weiteres gute Prise. Aber aus
den Fehden südarabischer und persischer Ritter von 200 n. Chr. und
den guerres privées der provenzalischen Barone von 1200, die nicht
viel mehr waren als Viehdiebstähle, entwickelt sich mit dem Ende
der Feudalzeit der große Krieg mit dem Ziel der Eroberung von Land
und Leuten. Alles das bringt die hohe adlige Kultur zuletzt in Zucht und
Form, während es Priester und Philosophen verachten. (Ebd.,
S. 985).
Diese Urtriebe treten mit steigender Kultur weit auseinander und
geraten unter sich in Kampf. Die Geschichte davon ist beinahe die Weltgeschichte.
Aus dem Machtgefühl stammen Eroberung, Politik und Recht, aus dem
Beutegefühl stammen Handel, Wirtschaft und Geld. Recht ist das Eigentum
des Mächtigen. Sein Recht ist das Recht aller. Geld ist die stärkste
Waffe des Erwerbenden. Mit ihm unterwirft er sich die Welt. Die Wirtschaft
will einen Staat, der schwach ist und ihr dient; die Politik fordert die
Einordnung des wirtschaftlichen Lebens in den Machtbereich des Staates:
Adam Smith und Friedrich List, Kapitalismus und Sozialismus. Es gibt in
allen Kulturen am Anfang einen Kriegs- und einen Kaufmannsadel, dann einen
Grund- und Geldadel, zuletzt eine militärische und wirtschaftliche
Kriegführung und einen ununterbrochenen Kampf des Geldes mit dem
Rechte. (Ebd., S. 985-986).
Auf der anderen Seite trennen sich Priestertum und Gelehrsamkeit.
Sie sind beide nicht auf das Tatsächliche, sondern auf das Wahre
gerichtet, beide zur Tabuseite des Lebens und zum Räume gehörig.
Die Furcht vor dem Tode ist nicht nur der Ursprung aller Religion sondern
auch aller Philosophie und Naturwissenschaft. Aber der heiligen wird nun
die profane Kausalität entgegengestellt. Profan ist der neue
Gegenbegriff zum Religiösen, das die Gelehrsamkeit nur als Dienerin
geduldet hatte. Profan ist die gesamte späte Kritik, ihr Geist, ihre
Methode und ihr Ziel. Auch die späte Theologie macht davon keine
Ausnahme; aber trotzdem bewegt sich die Gelehrsamkeit aller Kulturen durchaus
in den Formen des vorauf gegangenen Priestertums und beweist damit, daß
sie nur aus dem Widerspruch erwachsen und von dem Urbild in allem und
jedem abhängig ist und bleibt. Die antike Wissenschaft lebt deshalb
in Kultgemeinden orphischen Stils wie die milesische Schule, der Pythagoräerbund,
die Ärzteschulen von Kroton und Kos, die attischen Schulen der Akademie,
des Peripatos und der Stoa, deren Schulhäupter insgesamt zum Typus
des Opferpriesters und Sehers gehören, bis zu den römischen
Rechtsschulen der Sabinianer und Proculianer. Arabisch ist auch in der
Wissenschaft das heilige Buch, der Kanon wie der naturwissenschaftliche
des Ptolemäos (Almagest), der medizinische des Ibn Sina, das philosophische
Korpus des »Aristoteles« mit vielen unechten Stücken,
und dazu wieder meist ungeschriebene Zitiergesetze und -methoden, der
Kommentar als Form des Gedankenfortschritts, die Hochschulen als Klosteranlagen
(Medressen), welche den Lehrern und Hörern eine Zelle, Kost und Kleidung
gewährten, und die gelehrten Richtungen als Bruderschaften. Die Gelehrtenwelt
des Abendlandes besitzt durchaus die Gestalt der katholischen Kirche,
besonders in den protestantischen Gebieten. Den Übergang von den
gelehrten Orden der gotischen Zeit zu den ordensartigen Schulen des 19.
Jahrhunderts, wie die Hegel-, Kant- und historische Rechtsschule, aber
auch manche englischen Colleges, bilden die Mauriner und Bollandisten
Frankreichs, die seit 1650 die historischen Hilfswissenschaften beherrscht
und zum Teil begründet haben. Es gibt in allen Fachwissenschaften,
Medizin und Kathederphilosophie einbegriffen, eine ausgebildete Hierarchie
mit Schulpäpsten, Graden, Würden der Doktor als die Priesterweihe
, Sakramenten und Konzilen. Der Laienbegriff wird schroff aufrecht
erhalten und das allgemeine Priestertum der Gläubigen in Gestalt
der populären Wissenschaft wie der darwinistischen leidenschaftlich
bekämpft. Die Gelehrtensprache war ursprünglich das Latein;
heute haben sich überall Fachsprachen ausgebildet, die z.B. auf dem
Gebiete der Radioaktivität oder im Obligationenrecht nur noch dem
verständlich sind, der die höheren Weihen empfangen hat. Es
gibt Sektenstifter wie manche Jünger Kants und Hegels, eine Mission
unter Ungläubigen wie die der Monisten, Ketzer wie Schopenhauer und
Nietzsche, den großen Bann und als Index eine Übereinkunft
des Schweigens. Es gibt ewige Wahrheiten wie die Teilung der Rechtsobjekte
in Personen und Sachen, und Dogmen wie das von Energie und Masse und die
Vererbungstheorie, einen Ritus des Zitierens rechtgläubiger Schriften
und eine Art von wissenschaftlicher Seligsprechung. (Nach dem Tode sind
die Irrlehrer ausgeschlossen von der ewigen Seligkeit des Lehrbuchs und
in das Fegefeuer der Anmerkungen verwiesen, von wannen sie auf die Fürbitte
der Gläubigen geläutert aufsteigen in das Paradies der Paragraphen.)
(Ebd., S. 986-987).
Dazu kommt, daß der Typus des abendländischen Gelehrten,
der um die Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte
gleichzeitig mit dem Tiefpunkt des Priestertypus , auch die
Gelehrtenstube als Zelle eines profanen Mönchtums und die unbewußten
Gelübde dieses Mönchtums zu hoher Vollendung gebracht hat: Armut
in Gestalt einer ehrlichen Geringschätzung von Wohlleben und Besitz,
in Verbindung mit der ungeheuchelten Verachtung des kaufmännischen
Berufes und jeder Verwertung wissenschaftlicher Ergebnisse zum Gelderwerb,
Keuschheit bis zur Entwicklung eines Gelehrtenzölibats, dessen Vorbild
und Gipfel Kant ist, Gehorsam bis zur Aufopferung für den Standpunkt
der Schule. Dazu kommt endlich eine Art von Weltfremdheit, welche der
profane Nachhall der gotischen Weltflucht ist und zur Geringschätzung
fast des gesamten öffentlichen Lebens und aller Formen der guten
Gesellschaft geführt hat: wenig Zucht und viel zuviel Bildung. Was
für den Adel auch noch in seinen späten Verzweigungen, für
den Richter, Gutsbesitzer und Offizier die naturwüchsige Freude an
der Fortdauer des Stammes, an Besitz und Ehre ist, das scheint ihm gering
gegenüber dem Besitz eines reinen Gelehrtengewissens und der Fortdauer
einer Methode oder Einsicht fern von allen Händeln der Welt. Daß
der Gelehrte heute aufgehört hat, weltfremd zu sein, und die Wissenschaft
oft mit großem Verständnis in den Dienst der Technik und des
Geldverdienens stellt, ist ein Zeichen dafür, daß der reine
Typus im Abstieg begriffen ist, und daß also die große Zeit
des Verstandesoptimismus, dessen lebendiger Ausdruck er ist, bereits der
Vergangenheit angehört. (Ebd., S. 987-988).
Aus alledem ergibt sich ein natürlicher Aufbau der Stände,
der in seiner Entwicklung und Wirkung das Grundgerüst im Lebenslauf
einer jeden Kultur bildet. Kein Entschluß hat ihn geschaffen und
kann ihn abändern; Revolutionen ändern ihn nur, wenn sie Formen
der Entwicklung und nicht Ergebnis eines privaten Willens sind: er kommt
dem handelnden und denkenden Menschen in seiner letzten kosmischen Bedeutung
gar nicht zum Bewußtsein, weil er zu tief im menschlichen Dasein
liegt und also selbstverständlich ist; nur dem Oberflächenbild
werden die Schlagworte und Anlässe entnommen, um die man in jener
Seite der Geschichte kämpft, die von der Theorie als sozial abgetrennt
wird und sich in Wirklichkeit doch gar nicht trennen läßt.
Adel und Priestertum erwachsen zuerst aus dem freien Lande und
stellen die reine Symbolik von Dasein und Wachsein, Zeit und Raum dar:
aus den Seiten des Beutemachens und Grübelns entwickelt sich dann
ein doppelter Typus von geringerer Symbolik, der in städtischen Spätzeiten
in Gestalt von Wirtschaft und Wissenschaft zur Vormacht aufsteigt.
In diesen beiden Daseinsströmen sind rücksichtslos und traditionsfeindlich
die Ideen von Schicksal und Kausalität zu Ende gedacht; es entstehen
Mächte, die eine Todfeindschaft von den Standesidealen des Heldentums
und der Heiligkeit trennt: das Geld und der Geist. Sie verhalten
sich beide zu jenen wie die Seele der Stadt zu der des Landes. Eigentum
heißt von nun an Reichtum und Weltanschauung Wissen: entheiligtes
Schicksal und profane Kausalität. Aber auch Wissenschaft und Adel
sind ein Widerspruch. Der Adel beweist und forscht nicht, sondern ist.
Es ist bürgerlich-unvornehm, das de omnibus dubitandum, aber
es widerspricht andrerseits auch dem Grundgefühl des Priestertums,
das die Kritik in eine dienende Rolle verweist. Weiterhin stößt
die reine Wirtschaft hier auf eine asketische Moral, die den Geldgewinn
verwirft, so wie ihn der echte auf seinem Boden sitzende Adel verachtet.
Selbst der alte Kaufmannsadel ist vielfach zugrunde gegangen, z.B. in
den Hansestädten und in Venedig und Genua, weil er die unbedenklichen
Formen des großstädtischen Geschäfts aus Tradition nicht
mitmachen wollte oder konnte. Und endlich stehen Wirtschaft und Wissenschaft
selbst sich feindlich gegenüber und wiederholen in dem Kampfe zwischen
Geldgewinn und Erkenntnis, zwischen Kontor und Gelehrtenstube,
geschäftlichem und doktrinärem Liberalismus die alte große
Gegnerschaft von Handeln und Schauen, Burg und Dom. In irgendeiner Gestalt
wiederholt sich diese Gliederung im Aufbau jeder Kultur und macht damit
eine vergleichende Morphologie auch im Sozialen möglich. (Ebd.,
S. 988-989).
Eine Geschichte der Stände, die von den Berufsklassen grundsätzlich
abzusehen hat, ist also eine Darstellung des Metaphysischen im höheren
Menschentum, soweit es sich in Arten von dahinströmendem Leben zu
großer Symbolik erhebt, Arten, in und an denen die Geschichte der
Kulturen sich vollzieht. - Schon der scharf ausgeprägte Typus des
Bauern am Anfang ist etwas Neues. (Ebd., S. 990).
Adel und Priestertum sind als Möglichkeiten mit jeder neuen
Kultur gegeben. Die scheinbaren Ausnahmen beruhen lediglich auf einem
Mangel an greifbarer Überlieferung. (Ebd., S. 992).
Der Adel, ganz Pflanze, geht überall vom Lande als dem Ureigentum
aus, mit dem er fest verwachsen ist. Er besitzt überall die Grundform
des Geschlechts, in dem auch die »andere« Geschichte,
die des Weibes, zum Ausdruck kommt, und stellt sich durch den Willen zur
Dauer, nämlich des Blutes, als das große Sinnbild von Zeit
und Geschichte dar. Es wird sich zeigen, daß das frühe, auf
persönlichem Vertrauen beruhende hohe Beamtentum des Vasallenstaates
überall, in China und Ägypten so gut wie in der Antike und im
Abendland, vom Marschalk (chinesisch sse-ma), Kämmerer (chen)
und Truchseß (ta-tsai) bis zum Vogt (nan) und Grafen
(peh) (die chinesischen Rangstufen bei Schindler,
Das Priestertum im alten China, S. 61 f., die ihnen genau entsprechenden
ägyptischen bei Ed. Meyer, Gesch. des Altertums I, §
222, die byzantinischen in der Notitia dignitatum, zum Teil vom Sassanidenhof
stammend; in der antiken Polis deuten einige uralte Beamtentitel auf Hofämter
[Kolakreten, Prytanen, Konsuln]; siehe weiter unten), zuerst lehnsartige
Hofämter und Würden schafft, dann die erbliche Verbindung mit
dem Boden sucht und so endlich zum Ursprung adliger Geschlechter wird.
(Ebd., S. 992-993).
Der faustische Wille zum Unendlichen kommt in dem genealogischen
Prinzip zum Ausdruck, das, so sonderbar es klingt, dieser Kultur allein
angehört, hier aber auch alle historischen Gebilde, vor allem die
Staaten selbst bis ins Innerste durchdringt und gestaltet. Der historische
Sinn, der über Jahrhunderte hinweg das Schicksal des eignen Blutes
kennen und das Wann und Woher bis zu den Urahnen urkundlich belegt
sehen will, die sorgfältige Gliederung des Stammbaums, die den gegenwärtigen
Besitz und seine Erbfolge vom Schicksal einer Ehe abhängig machen
kann, die vielleicht ein halbes Jahrtausend vorher geschlossen worden
ist, die Begriffe des reinen Blutes, der Ebenbürtigkeit, der
Mißheirat, das alles ist Wille zur Richtung in die zeitliche Ferne,
wie sie vielleicht nur noch im ägyptischen Adel zu einer verwandten,
aber sehr viel schwächeren Form gelangt ist. (Ebd., S. 993).
Dagegen erhebt sich ... das faustische Priestertum ... in steilem
Aufstieg zu jener ungeheuren Mittlerrolle, die sich der Idee nach zwischen
die gesamte Menschheit und die mit dem vollen Pathos der dritten Dimension
ausgespannte Weite des Makrokosmos stellt, die aus der Geschichte durch
das Zölibat, aus der Zeit durch den character indelebilis
ausgeschlossen ist und im Papsttum gipfelt, das das größte
überhaupt denkbare Symbol des heiligen dynamischen Raumes darstellt
und in der protestantischen Idee des allgemeinen Priestertums der Gläubigen
nicht aufgehoben, sondern nur von einem Punkt und einer Person in die
Brust jedes einzelnen Gläubigen verlegt worden ist. (Ebd.,
S. 995-996).
Der in jedem Mikrokosmos vorhandene Widerspruch zwischen Dasein
und Wachsein treibt mit innerer Notwendigkeit auch die beiden Stände
gegeneinander. Die Zeit will den Raum, der Raum die Zeit sich einordnen.
Geistliche und weltliche Macht sind Größen von so verschiedener
Ordnung und Tendenz, daß eine Versöhnung oder auch nur Verständigung
unmöglich erscheint. Aber in allen andern Kulturen ist dieser Kampf
nicht zu welthistorischem Ausbruch gekommen: in China war dem Adel um
des tao, in Indien dem Priestertum um des endlos verschwimmenden
Raumes willen die Vorherrschaft gesichert; innerhalb der arabischen Kultur
ist die Einordnung des sichtbar weltlichen Zusammenhangs der Rechtgläubigen
in den großen geistigen consensus mit dem magischen Weltgefühl
unmittelbar gegeben und damit also auch die Einheit von weltlichem und
geistlichem Staat, Recht, Herrschertum. Das hat die Reibungen beider Stände
nicht verhindert und im Sassanidenreich zu blutigen Fehden zwischen dem
Adel der Dinkane und der Magierpartei und zu Mordtaten selbst an einzelnen
Herrschern geführt, in Byzanz das ganze 5. Jahrhundert mit Kämpfen
zwischen Kaisergewalt und Geistlichkeit ausgefüllt, die überall
im Hintergrunde der monophysitischen und nestorianischen Streitigkeiten
stehen (ein Beispiel ist das Leben des Johannes
Chrytostomus), aber das grundsätzliche Verhältnis stand
dabei nicht in Frage. In der Antike, die das Unendliche in jedem Sinne
von sich wies, waren die Zeit auf die Gegenwart, das Ausgedehnte auf den
greifbaren Einzelkörper zurückgeführt, und die Stände
von großer Symbolik mithin so bedeutungslos geworden, daß
sie gegenüber dem Stadtstaat, der das antike Ursymbol in denkbar
stärkster Form zum Ausdruck bringt, als selbständige Mächte
nicht in Betracht kamen. Dagegen läßt die Geschichte des ägyptischen
Menschentums, in dem ein gewaltiger Tiefendrang mit gleicher Kraft in
die zeitliche und räumliche Ferne strebt, das Ringen beider Stände
und ihrer Symbolik bis in das ausgebildete Fellachentum hinein beständig
erkennen. Denn der Übergang von der vierten zur fünften Dynastie
ist auch mit einem deutlichen Triumph des priesterlichen über das
ritterliche Weltgefühl verbunden; der Pharao wird vom Leibe und Träger
zum Diener der höchsten Gottheit, und das Heiligtum des Re überwindet
an architektonischer wie an sinnbildlicher Wucht den Totentempel des Herrschers.
Das Neue Reich sieht gleich nach den ersten großen Cäsaren
die politische Allmacht der Amonspriesterschaft von Theben und dagegen
wieder die Umwälzung des Ketzerkönigs Amenophis IV., die doch
auch eine sehr fühlbare politische Seite hat, bis die Geschichte
der ägyptischen Welt nach endlosem Ringen zwischen Krieger- und Priesterkaste
mit der Fremdherrschaft zu Ende geht. (Ebd., S. 996-997).
Dieser Kampf zweier gleich mächtiger Symbole ist in der faustischen
Kultur mit verwandtem Geist, aber noch viel größerer Leidenschaft
geführt worden und läßt zwischen Staat und Kirche von
der frühesten Gotik an den Frieden nur als Waffenstillstand möglich
erscheinen. In diesem Kampf kommt die Bedingtheit des Wachseins zum Ausdruck,
das vom Dasein unabhängig sein möchte und doch nicht kann. Die
Sinne bedürfen des Blutes, das Blut aber nicht der Sinne. Der Krieg
gehört in die Welt der Zeit und Geschichte geistig ist
nur der Streit mit Gründen, die Disputation , eine kämpfende
Kirche begibt sich aus dem Reich der Wahrheiten in das der Tatsachen,
aus dem Reich Jesu in das des Pilatus; sie wird ein Element innerhalb
der Rassengeschichte und unterliegt durchaus der Gestaltungskraft der
politischen Seite des Lebens; sie kämpft mit Schwert und Geschütz,
mit Gift und Dolch, mit Bestechung und Verrat, mit allen Mitteln des jeweiligen
Parteikampfes von der Feudalzeit bis zur modernen Demokratie; sie opfert
Glaubenssätze gegen weltliche Vorteile und verbündet sich mit
Ketzern und Heiden gegen rechtgläubige Mächte. Das Papsttum
als Idee besitzt eine Geschichte für sich, aber unabhängig
davon waren die Päpste des 6. und 7. Jahrhunderts byzantinische Statthalter
syrischer und griechischer Herkunft, dann mächtige Landbesitzer mit
Scharen höriger Bauern; endlich wurde das Patrimonium Petri zu Beginn
der Gotik eine Art Herzogtum im Besitz der großen Adelsgeschlechter
der Campagna, die abwechselnd Päpste stellten, voran die Colonna,
Orsini, Savelli, Frangipani, bis das allgemein abendländische Lehnswesen
auch hier herrschend wurde und der Stuhl Petri innerhalb der Familien
römischer Barone zur Verleihung kam, so daß der neue Papst
wie jeder deutsche und französische König die Rechte seiner
Vasallen zu bestätigen hatte. Die Grafen von Tusculum ernannten 1032
einen zwölfjährigen Knaben zum Papst. Achthundert Burgtürme
erhoben sich damals im Stadtgebiet zwischen und auf den antiken Ruinen.
Im Jahre 1045 hatten sich drei Päpste im Vatikan, Lateran und in
Santa Maria Maggiore verschanzt und wurden von ihrer adligen Gefolgschaft
verteidigt. (Ebd., S. 997-998).
Dazu tritt nun die Stadt mit ihrer Seele, die sich von der Seele
des Landes erst löst, dann sich ihr gleichstellt, endlich sie zu
unterdrücken und auszulöschen sucht. Aber diese Entwicklung
vollzieht sich in Arten des Lehens und gehört also auch der
Ständegeschichte an. Kaum ist das Stadtleben als solches aufgetaucht
und in der Bewohnerschaft dieser kleinen Siedlungen ein Gemeingeist erwachsen,
der das eigne Leben als etwas anderes empfindet als das Leben draußen,
da beginnt der Zauber persönlicher Freiheit zu wirken und
immer neue Daseinsströme in die Mauern zu ziehen. Es gibt da eine
Art Leidenschaft, Städter zu sein und Stadtleben auszubreiten. Aus
ihr und nicht aus materiellen Anlässen geht das Fieber der antiken
Gründungszeit hervor, die uns in ihren letzten Ausläufern noch
erkennbar ist und da nicht ganz richtig als Kolonisation bezeichnet wird.
Es ist die zeugende Begeisterung des Menschen der Stadt, die seit dem
10. Jahrhundert in der Antike und »gleichzeitig« in den anderen
Kulturen immer neue Geschlechterfolgen in den Bann eines neuen Lebens
zwingt, mit dem zum erstenmal inmitten der Menschengeschichte die Idee
der Freiheit erscheint. Sie ist nicht politischen und noch viel weniger
abstrakten Ursprungs, sondern sie bringt die Tatsache zum Ausdruck, daß
innerhalb der Stadtmauern das pflanzenhafte Verbundensein mit dem Lande
ein Ende hat und die das ganze Landleben durchsetzenden Bindungen zerrissen
sind. Ihr Wesen hat deshalb immer etwas Verneinendes. Sie löst, erlöst,
verteidigt; frei ist man immer von etwas. Die Stadt ist der Ausdruck
dieser Freiheit; städtischer Geist ist freigewordnes Verstehen,
und alles was in Spätzeiten unter dem Namen Freiheit an geistigen,
sozialen und nationalen Bewegungen hervorbricht, leitet seinen Ursprung
zu dieser einen Urtatsache des Freiseins vom Lande zurück.
(Ebd., S. 998-999).
Aber die Stadt ist älter als der »Bürger«.
Sie zieht zunächst die Berufsklassen an, die außerhalb der
symbolischen Ständeordnung stehen und hier die Form von Zünften
erhalten, dann aber die Urstände selbst, die wie der Kleinadel ihre
Burgen und wie die Franziskaner ihre Klöster in das Weichbild verlegen,
ohne daß damit innerlich viel geändert wäre. Nicht nur
das päpstliche Rom, alle italienischen Städte dieser Zeit sind
mit den Festungstürmen der Geschlechter erfüllt, von denen aus
die Fehden in den Straßen ausgefochten werden. Auf einem bekannten
Gemälde von Siena aus dem 14. Jahrhundert ragen sie wie Fabrikschlote
rings um den Markt empor, und der florentinische Palast der Renaissance
ist nicht nur durch das prachtvolle Leben in ihm ein Nachfolger der provenzalischen
Edelhöfe, sondern mit seiner Rustikafassade auch ein Abkomme der
gotischen Burg, welche die deutsche und französische Ritterschaft
noch für lange Zeit auf den Bergen baute. Erst langsam sondert sich
ein neues Leben ab. 12501450 haben sich im ganzen Abendland die
eingewanderten Geschlechter den Zünften gegenüber zum Patriziat
zusammengeschlossen und eben damit auch geistig vom Landadel gelöst;
genau dasselbe war im frühen China, Ägypten und im byzantinischen
Reiche der Fall, und erst von hier aus sind die ältesten antiken
Städtebünde wie der etruskische, vielleicht noch der latinische,
und die sakrale Verbindung der kolonialen Tochterstädte mit der Mutterstadt
zu verstehen: nicht die Polis als solche, sondern das Patriziat der Phylen
und Phratrien in ihnen ist Träger der Ereignisse. Die ursprüngliche
Polis ist mit dem Adel identisch, wie es in Rom bis 471 und in Sparta
und den etruskischen Städten dauernd der Fall war; von ihm geht der
Synoikismus und die Bildung des Stadtstaates aus, aber auch in den andern
Kulturen ist der Unterschied von Land- und Stadtadel zunächst ganz
ohne Bedeutung gegenüber dem starken und tiefen zwischen dem Adel
überhaupt und dem Rest. (Ebd., S. 999).
Das Bürgertum entsteht erst aus dem grundsätzlichen
Widerspruch zwischen Stadt und Land, der die »Geschlechter und Zünfte«,
so schroff sie sich sonst bekämpfen, dem Uradel und dem Lehnsstaat
überhaupt, auch dem Lehnswesen der Kirche gegenüber sich als
Einheit fühlen läßt. Der Begriff des dritten Standes,
des »tiers«, um das berühmte Wort der französischen
Revolution zu gebrauchen, ist eine Einheit lediglich des Widerspruchs
und inhaltlich also gar nicht zu bestimmen, ohne eigene Sitte und Symbolik,
denn die vornehme bürgerliche Gesellschaft artet dem Adel und die
städtische Frömmigkeit dem frühen Priestertum nach; und
der Gedanke, daß das Leben nicht einem praktischen Zweck, sondern
vor allem mit seiner ganzen Haltung dem Ausdruck der Symbolik von Zeit
und Raum zu dienen habe und allein dadurch einen hohen Rang in Anspruch
nehmen dürfe, reizt gerade die städtische Vernunft zu erbittertem
Widerspruch. Diese Vernunft, zu deren Domäne die gesamte politische
Literatur der Spätzeit gehört, nimmt eine neue Gruppierung der
Stände von der Stadt aus vor, die zunächst Theorie ist, aber
durch die Allmacht des Rationalismus endlich Praxis, sogar die blutige
Praxis von Revolutionen wird. Adel und Priestertum erscheinen, soweit
sie noch da sind, mit einer gewissen Betonung als privilegierte Stände,
womit stillschweigend ausgedrückt wird, daß ihr Anspruch auf
verbriefte Vorrechte auf Grund ihres geschichtlichen Ranges vor dem zeitlosen
Vernunft- oder Naturrecht veraltet und sinnlos ist. Sie haben jetzt ihren
Mittelpunkt in Hauptstädten ein wichtiger Begriff der
Spätzeit und entwickeln erst jetzt die aristokratischen Formen
zu jener ehrfurchtgebietenden Vornehmheit .... Ihnen treten die geistigen
Mächte der zur Herrschaft gelangten Stadt, Wirtschaft und Wissenschaft,
entgegen, die zusammen mit der Masse der Handwerker, Beamten und Arbeiter
sich als Partei fühlen, uneinig in sich selbst, aber einig stets,
sobald der Kampf der Freiheit, also der städtischen Unverbundenheit
gegen die großen Symbole der alten Zeit und die aus ihnen fließenden
Rechte beginnt. Sie alle sind Bestandteile des dritten Standes, der nicht
nach dem Range, sondern nach Köpfen zählt, in allen Spätzeiten
aller Kulturen irgendwie »liberal«, nämlich frei von
den innerlichen Mächten nichtstädtischen Lebens, die Wirtschaft
frei für den Gelderwerb, die Wissenschaft frei in der Kritik, wobei
in allen großen Entscheidungen der Geist in Büchern und Versammlungen
das Wort führt Demokratie und das Geld den Vorteil
zieht Plutokratie und das Ende nie der Sieg der Ideen ist,
sondern der des Kapitals. Aber das ist wieder der Gegensatz von Wahrheiten
und Tatsachen, so wie er sich aus dem Stadtleben entwickelt. (Ebd.,
S. 1000-1001).
Und aus Protest gegen die uralten Symbole des erdverbundenen Lebens
stellt die Stadt nun dem Geburtsadel die Begriffe des Geldadels und des
Geistesadels entgegen: der eine kein lauter Anspruch, aber eine um so
wirksamere Tatsache, der andre eine Wahrheit, aber weiter nichts und für
das Auge ein zweifelhaftes Schauspiel. In jeder Spätzeit entwickelt
sich zum Uradel Kreuzzugsadel ist ein gewichtiges Wort ,
in dem ein Stück gewaltiger Geschichte Form und Takt geworden ist
und der an den großen Höfen vielfach innerlich zugrunde geht,
ein echter Nachwuchs. So entsteht im 4. Jahrhundert durch das Eindringen
großer plebejischer Geschlechter als conscripti in den römischen
Staat der patres die Nobilität als grundbesitzender Amtsadel
innerhalb des Senatorenstandes. Im päpstlichen Rom bildet sich in
ganz ähnlicher Weise der Nepotenadel; es gab um 1650 kaum fünfzig
Familien von mehr als dreihundertjährigem Stammbaum. In den Südstaaten
der Union entwickelt sich seit dem späten Barock jene Pflanzeraristokratie,
die im Sezessionskriege von 186165 von den Geldmächten des
Nordens vernichtet wurde. Der alte Kaufmannsadel im Stile der Fugger,
Welser, Medici und der großen Häuser von Venedig und Genua,
dem fast das gesamte Patriziat der hellenischen Koloniestädte von
800 an zuzurechnen ist, hat immer etwas Aristokratisches gehabt, Rasse,
Tradition, gute Sitte und den natürlichen Trieb, durch Grunderwerb
die Verbindung mit dem Boden wiederherzustellen (obwohl das alte Stammhaus
in der Stadt kein übler Ersatz war). Aber der neue Geldadel der Händler
und Spekulanten dringt mit seinem schnell erworbenen Geschmack an vornehmen
Formen zuletzt auch in den Geburtsadel ein in Rom als equites
seit dem 1. Punischen Kriege, in Frankreich unter Ludwig XIV., erschüttert
und verdirbt ihn, während der Geistesadel der Aufklärung ihn
mit Hohn überschüttet. Die Konfuzianer haben den altchinesischen
Begriff des shi von der adligen Sitte zur geistigen Tugend herabgezogen
und das Pi-yung aus einer Stätte ritterlicher Kampf spiele zur »geistigen
Ringschule«, zum Gymnasium gemacht, ganz im Sinne des 18. Jahrhunderts.
(Ebd., S. 1001-1002).
Mit dem Ausgang der Spätzeit jeder Kultur kommt auch die
Ständegeschichte zu mehr oder weniger gewaltsamem Abschluß.
Es ist der Sieg des bloßen Lebenwollens in wurzelloser Freiheit
über die großen bindenden Kultursymbole, welche das jetzt ganz
von der Stadt beherrschte Menschentum weder versteht noch erträgt.
Aus dem Geldwesen verschwindet jeder Sinn für die bodenständigen,
unbeweglichen Werte, aus der wissenschaftlichen Kritik jeder Rest von
Pietät. Ein Sieg über sinnbildliche Ordnungen ist zum Teil auch
die Bauernbefreiung; der Bauer wird dem Druck der Hörigkeit enthoben,
aber der Macht des Geldes ausgeliefert, das nun den Boden zur beweglichen
Ware macht; sie erfolgt bei uns im 18. Jahrhundert, in Byzanz um 740 durch
den Nomos Georgikos, den Gesetzgeber Leos III.,35 womit der Kolonat langsam
verschwindet, in Rom im Zusammenhang mit der Begründung der Plebs
im Jahre 471. In Sparta hat damals Pausanias die Helotenbefreiung vergeblich
angestrebt. (Ebd., S. 1002).
Der Adel aller Frühzeiten war der Stand im ursprünglichsten
Sinne gewesen, die fleischgewordene Geschichte, die Rasse in höchster
Potenz. Das Priestertum trat als Gegen-Stand neben ihn, überall Nein
sagend, wo der Adel bejahte, und damit die andere Seite des Lebens durch
ein großes Sinnbild zur Schau stellend. (Ebd., S. 1003).
Der dritte Stand, innerlich ohne alle Einheit, wie wir sahen,
war der Nichtstand, der Protest in ständischer Form gegen das Ständewesen,
und zwar nicht gegen diese oder jene, sondern gegen die sinnbildliche
Form des Lebens überhaupt. Er verwirft alle Unterschiede, die von
der Vernunft und durch den Nutzen nicht gerechtfertigt sind, aber trotzdem
»bedeutet« er selbst etwas, und zwar mit voller Deutlichkeit:
er ist das städtische Leben als Stand dem ländlichen
entgegengesetzt; er ist die Freiheit als Stand gegenüber der
Verbundenheit. Aber er ist von sich selbst aus betrachtet keineswegs der
Rest, wie es von den Urständen aus erscheint. Das Bürgertum
hat Grenzen; es gehört zur Kultur; es umfaßt im besten Sinne
alle ihre Zugehörigen, und zwar unter der Bezeichnung Volk, populus,
demos, wobei Adel und Priestertum, Geld und Geist, Handwerk und Lohnarbeit
als Einzelbestandteile ihm eingeordnet werden. (Ebd., S. 1003-1004).
Diesen Begriff findet die Zivilisation vor und vernichtet ihn
durch den Begriff des vierten Standes, der Masse, der die Kultur
mit ihren gewachsenen Formen grundsätzlich ablehnt. Es ist das absolut
Formlose, das jede Art von Form, alle Rangunterschiede, den geordneten
Besitz, das geordnete Wissen mit Haß verfolgt. Es ist das neue Nomadentum
der Weltstädte (vgl. S. 676 ff.), für
das die Sklaven und Barbaren in der Antike, der Tschudra in Indien, alles
was Mensch ist, gleichmäßig ein flutendes Etwas bilden, das
mit seinem Ursprung gänzlich zerfallen ist, seine Vergangenheit nicht
anerkennt und eine Zukunft nicht besitzt. Damit wird der vierte Stand
zum Ausdruck der Geschichte, die ins Geschichtslose übergeht. Die
Masse ist das Ende, das radikale Nichts. (Ebd., S. 1004).
Staat
und Geschichte
Innerhalb der Welt als Geschichte, in
die wir lebend verwoben sind, so daß unser Empfinden und Verstehen
beständig dem Fühlen gehorcht, erscheinen die kosmischen Flutungen
als das, was wir Wirklichkeit, wirkliches Leben nennen. Daseinsströme
in leiblicher Gestalt. Man kann sie, die das Merkmal der Richtung tragen,
verschieden erfassen: hinsichtlich der Bewegung oder des Bewegten.
Jenes heißt Geschichte, dieses Geschlecht, Stamm, Stand, Volk, aber
eins ist nur durch das andre möglich und vorhanden. Geschichte gibt
es nur von etwas. Meinen wir die Geschichte der großen Kulturen,
so ist Nation das Bewegte. Staat, status heißt Zustand. Den
Eindruck des Staates erhält man, wenn man von einem in bewegter Form
dahinströmenden Dasein die Form für sich ins Auge faßt,
als etwas in zeitlosem Beharren Ausgedehntes, und von der Richtung, dem
Schicksal ganz absieht. Der Staat ist die Geschichte als stillstehend,
Geschichte der Staat als fließend gedacht. Der wirkliche Staat ist
die Physiognomie einer geschichtlichen Daseinseinheit; nur der ausgedachte
Staat der Theoretiker ist ein System. Eine Bewegung hat Form, das
Bewegte ist in Form oder, um wiederum einen Sportasudruck von Bedeutung
anzuwenden: ein vollendet Bewegtes befindet sich in vollkommener Verfassung.
(Ebd., S. 1004-1005).
Wäre alles Leben ein gleichförmiger Daseinsstrom, so
würden wir die Worte Volk, Staat, Krieg, Politik, Verfassung nicht
kennen. Aber das ewige und gewaltige Verschiedensein des Lebens,
das durch die Gestaltungskraft der Kulturen bis aufs Äußerste
gesteigert wird, ist eine Tatsache, die mit all ihren Folgen geschichtlich
schlechthin gegeben ist. Pflanzenleben gibt es nur in bezug auf tierisches;
die beiden Urstände bedingen sich gegenseitig; ebenso ist ein
Volk nur wirklich in bezug auf andre Völker, und diese Wirklichkeit
besteht in natürlichen und unaufhebbaren Gegensätzen, in Angriff
und Abwehr, Feindschaft und Krieg. Der Krieg ist der Schöpfer aller
großen Dinge. Alles Bedeutende im Strom des Lebens ist durch Sieg
und Niederlage entstanden. (Ebd., S. 1007).
In jedem Falle aber ist der Staat die Form, welche die äußere
Lage bestimmt, so daß die Beziehungen zwischen Völkern stets
politischer und nicht sozialer Natur sind. Innenpolitisch ist die
Lage dagegen derart von ständischen Gegensätzen beherrscht,
daß hier die soziale und politische Taktik auf den ersten Blick
untrennbar erscheinen und beide Begriffe im Denken von Menschen, die ihr
eigenes, etwa bürgerliches Standesideal mit der geschichtlichen Wirklichkleit
gleichsetzen und deshalb nicht außenpolitisch denken können,
sogar identisch sind. Im Außenkampfe sucht ein Staat Bündnisse
mit anderen Staaten; im Innenkampf ist er stets auf ein Bündnis mit
Ständen angewiesen .... (Ebd., S. 1012-1013).
Und da ist es deutlich, daß der Staat und der erste Stand
als Lebensformen bis in die Wurzel hinein verwandt sind, nicht nur mit
ihrer Symbolik von Zeit und Sorge, ihrer gemeinsamen Beziehung
zur Rasse, zu den Tatsachen der Geschlechterfolge, zur Familie und damit
zu den Urtrieben allen Bauerntums, auf das jeder Staat und jeder Adel
von Dauer sich letzten Endes stützen, nicht nur in ihrer Beziehung
zum Boden, zum Stammsitz, Erbgut oder Vaterland, das in seiner Bedeutung
für die Nationen magischen Stils nur deshalb zurücktritt, weil
die Rechtgläubigkeit ihr vornehmster Zusammenhalt ist, sondern vor
allem in der großen Praxis inmitten aller Tatsachen der geschichtlichen
Welt, in der gewachsenen Einheit des Taktes und der Triebe, in
der Diplomatie, der Menschenkenntnis, der Kunst des Befehlens, im Männerwillen
nach Erhaltung und Erweiterung der Macht, der in Urzeiten Adel und Volk
aus ein und derselben Heeresversammlung hervorgehen läßt, und
endlich in dem Sinn für Ehre und Tapferkeit, so daß bis in
die letzten Zeiten hinein der Staat am festesten steht, in dem der Adel
oder die von ihm geschaffene Tradition ganz in den Dienst der allgemeinen
Sache gestellt ist, wie es in Sparta den Athenern, in Rom den Karthagern,
im chinesischen Staate Tsin dem taoistisch gestimmten Tsu gegenüber
der Fall war. (Ebd., S. 1013-1014).
Der Unterschied ist, daß der ständisch geschlossene
Adel wie jeder Stand den Rest der Nation nur in bezug auf sich selbst
erlebt und nur in diesem Sinne Macht ausüben will, der Staat aber
der Idee nach die Sorge für alle ist und erst insofern auch die für
den Adel. Aber ein echter und alter Adel stellt sich dem Staate gleich
und sorgt für alle wie für ein Eigentum. Das gehört zu
seinen vornehmsten und am tiefsten in sein Bewußtsein gedrungenen
Pflichten. Er fühlt sogar ein angebornes Vorrecht auf diese
Pflicht und betrachtet den Dienst in Heer und Verwaltung als seinen eigentlichen
Beruf. (Ebd., S. 1014).
Ganz anders ist der Unterschied zwischen dem Staatsgedanken und
der Idee der übrigen Stände, die sämtlich dem Staat als
solche innerlich fernstehen und von ihrem Leben aus ein Staatsideal prägen,
das nicht aus dem Geist der tatsächlichen Geschichte und ihrer politischen
Mächte erwachsen ist und eben deshalb gern mit Betonung als sozial
bezeichnet wird. Und zwar ist die Kampflage der Frühzeit die, daß
dem Staat als geschichtliche Tatsache schlechthin die kirchliche Gemeinschaft
zur Verwirklichung religiöser Ideale gegenübertritt,
während die Spätzeit noch das geschäftliche Ideal
des freien Wirtschaftslebens und die utopischen Ideale der Träumer
und Schwärmer hinzufügt, in denen irgendwelche Abstraktionen
verwirklicht werden sollen. (Ebd., S. 1014-1015).
Aber in der geschichtlichen Wirklichkeit gibt es keine Ideale;
es gibt nur Tatsachen. Es gibt keine Wahrheiten; es gibt nur Tatsachen.
Es gibt keine Gründe, keine Gerechtigkeit, keinen Ausgleich, kein
Endziel; es gibt nur Tatsachen wer das nicht begreift, der schreibe
Bücher der Politik, aber er mache keine Politik. In der wirklichen
Welt gibt es keine nach Idealen aufgebauten, sondern nur gewachsene
Staaten, die nichts sind als lebendige Völker in Form. Allerdings:
»geprägte Form, die lebend sich entwickelt«, aber geprägt
vom Blut und Takt eines Daseins, ganz triebhaft und ungewollt;
und entwickelt entweder von staatsmännischen Begabungen in der im
Blute liegenden Richtung, oder von Idealisten in der Richtung ihrer Überzeugungen,
das heißt ins Nichts. (Ebd., S. 1015).
Die Schicksalsfrage für wirklich vorhandene und nicht in
den Köpfen entworfene Staaten ist aber nicht die ihrer idealen Aufgabe
und Gliederung, sondern die ihrer innern Autorität, die auf
die Dauer nicht durch materielle Mittel aufrechterhalten wird, sondern
durch das Vertrauen selbst der Gegner auf ihre Leistungsfähigkeit.
Die entscheidenden Probleme liegen nicht in der Ausarbeitung von
Verfassungen, sondern in der Organisation einer gut arbeitenden Regierung;
nicht in der Verteilung politischer Rechte nach »gerechten«
Grundsätzen, die in der Regel nichts sind als die Vorstellung, welche
ein Stand sich von seinen berechtigten Ansprüchen macht, sondern
im arbeitenden Takt des Ganzen arbeiten wieder im Sportsinne verstanden:
die Arbeit der Muskeln und Sehnen im gestreckten Galopp eines Pferdes,
das sich dem Ziel nähert in jenem Takt, der starke Begabungen
von selbst in seinen Bann zieht; und endlich nicht in einer weltfremden
Moral, sondern in der Beständigkeit, Sicherheit und Überlegenheit
der politischen Führung. Je selbstverständlicher das alles ist,
je weniger man darüber redet oder gar streitet, desto vollkommener
ist ein Staat, desto höher ist der Rang, die geschichtliche Leistungsfähigkeit
und damit das Schicksal einer Nation. Staatshoheit, Souveränität
ist ein Lebenssymbol erster Ordnung. Sie unterscheidet Subjekte und
Objekte der politischen Ereignisse nicht nur in der innern, sondern,
was sehr viel wichtiger ist, in der äußeren Geschichte. Die
Stärke der Führung, die in der klaren Scheidung beider Faktoren
zum Ausdruck kommt, ist das unzweideutige Kennzeichen der Lebenskraft
einer politischen Einheit, und zwar bis zu dem Grade, daß die Erschütterung
der bestehenden Autorität etwa durch die Anhänger eines entgegengesetzten
Verfassungsideals so gut wie immer nicht etwa diese Anhängerschaft
zum Subjekt der innern, sondern die ganze Nation zum Objekt einer fremden
Politik macht, und zwar sehr oft für immer. (Ebd., S. 1015-1016).
Aus diesem Grunde ist in jedem gesunden Staat der
Buchstabe der geschriebenen Verfassung von geringer Bedeutung gegenüber
dem Brauch der lebendigen »Verfassung« im Sportsinne, die
sich aus Erfahrungen der Zeit, der Lage und vor allem aus den Rasseeigenschaften
der Nation ganz von selbst und unbemerkt entwickelt hat. Je kräftiger
diese natürliche Form des Staatskörpers herausgebildet
ist, desto sicherer arbeitet er in jeder unvorhergesehenen Lage, wobei
es zuletzt ganz gleichgültig wird, ob der tatsächliche Führer
den Titel König, Minister, Parteiführer oder überhaupt
kein bestimmbares Verhältnis zum Staate besitzt, wie Cecil Rhodes
in Südafrika. Die römische Nobilität, welche die Politik
im Zeitalter der drei Punischen Kriege beherrscht hat, war staatsrechtlich
gar nicht vorhanden. In jedem Falle aber ist der Staat auf eine Minderheit
von staatsmännischem Instinkt angewiesen, welche den Rest der Nation
im Kampf der Geschichte repräsentiert (Ebd., S. 1016).
Deshalb muß die Tatsache unzweideutig ausgesprochen werden:
es gibt nur Standesstaaten, Staaten, in denen ein einzelner Stand regiert.
Man verwechsle das nicht mit Ständestaat, dem der einzelen nur vermöge
seiner Zugehörigkeit zu einem Stande angehört. Das letzte
ist der Fall in der älteren Polis, in den Normannenstaaten von England
und Sizilien, aber auch in dem Frankreich der Verfassung von 1791 und
in Sowjetrußland. Das erste bringt dagegen die allgemeine geschichtliche
Erfahrung zum Ausdruck, daß es stets eine einzelne Schicht ist,
von welcher, gleichviel ob verfassungsmäßig oder nicht, die
politische Führung ausgeht. Es ist immer eine entschiedene Minderheit,
welche die welthistorische Tendenz eines Staates vertritt, und innerhalb
dieser wieder eine mehr oder weniger geschlossene Minderheit, welche die
Leitung kraft ihrer Fähigkeiten tatsächlich, und oft genug im
Widerspruch mit dem Geist der Verfassung in Händen hat. Und wenn
man von revolutionären Zwischenzeiten und von cäsarischen Zuständen
absieht, die als Ausnahme die Regel bestätigen, ... - so ist es die
Minderheit innerhalb eines Standes, welche durch Tradititon regiert,
weitaus am meisten innerhalb des Adels .... (Ebd., S. 1016-1017).
Eine Staatengeschichte ist Physiognomik und nicht Systematik.
Sie hat nicht zu zeigen, wie »die Menschheit« allmählich
zur Eroberung ihrer ewigen Rechte, zu Freiheit und Gleichheit und der
Entwicklung des weisesten und gerechtesten Staates fortschreitet, sondern
die in der Tatsachenwelt wirklich vorhandenen politischen Einheiten zu
beschreiben, wie sie aufblühen, reifen und welken, ohne je etwas
anderes zu sein als wirkliches Leben in Form. In diesem Sinne sei sie
hier versucht. (Ebd., S. 1018).
Die Geschichte großen Stils beginnt in jeder Kultur mit
dem Lehnsstaat, der nicht Staat im kommenden Sinne ist, sondern die Ordnung
des Gesamtlebens in bezug auf einen Stand. Das edelste Gewächs des
Bodens, die Rasse im stolzesten Sinne, baut sich da eine Rangordnung auf,
von der einfachen Ritterschaft bis zum primus inter pares, dem
Lehnsherrn .... Der Gedanke des Feudalwesens, der alle Frühzeiten
beherrscht hat, ist der Übergang aus dem urzeitlichen, rein praktischen
und tatsächlichen Verhältnis des Machthabers zu den Gehorchenden
mögen sie ihn gewählt haben oder von ihm unterworfen
sein in das privatrechtliche und eben dadurch tiefsymbolische
des Lehnsherrn zu den Vasallen. Dieses beruht durchaus auf der adligen
Sitte, auf Ehre und Gefolgstreue, und beschwört die härtesten
Konflikte herauf zwischen der Anhänglichkeit an den Herrn und der
an das eigne Geschlecht. Der Abfall Heinrichs des Löwen ist ein tragisches
Beispiel dafür. (Ebd., S. 1018).
Der »Staat« existiert hier nur vermöge der Grenzen
des Lehnsverbandes und erweitert sein Gebiet durch den Eintritt fremder
Vasallen in diesen. Der ursprünglich persönliche und zeitlich
begrenzte Dienst und Auftrag des Herrschers wird sehr bald dauerndes Lehen,
das bei einem Heimfall wieder verliehen werden muß
schon um das Jahr 1000 gilt im Abendland der Grundsatz »kein Land
ohne Herrn« und endlich zum Erblehen wird, in Deutschland
durch das Lehnsgesetz Konrads II. vom 28. Mai 1037. Damit sind die ehemals
unmittelbaren Untertanen des Herrschers mediatisiert sie sind nur
noch als Untertanen eines Vasallen auch die seinen. Allein die starke
gesellschaftliche Bindung des Standes sichert den Zusammenhalt, der auch
unter diesen Bedingungen Staat heißt. (Ebd., S. 1018-1019).
Die Begriffe von Macht und Beute erscheinen hier in klassischer
Verbindung. Als 1066 die normannische Ritterschaft unter Herzog Wilhelm
England eroberte, wurde der gesamte Grund und Boden Eigentum des Königs
und Lehen und ist es dem Namen nach noch heute. Das ist die echte Wikingerfreude
am »Haben«, und die Sorge des heimkehrenden Odysseus, der
zuerst seine Schätze zählt. Aus diesem Beutesinn kluger Eroberer
ist das vielbewunderte Rechnungswesen und Beamtentum der Frühkulturen
ganz plötzlich entstanden. Diese Beamten sind von den Inhabern der
großen Vertrauensämter, die aus persönlicher Sendung hervorgehen
(vgl. S. 993),
wohl zu unterscheiden Clerici, Schreiber, nicht Ministerialen
oder Minister, was ebenfalls Diener heißt, aber jetzt im stolzen
Sinne den Diener des Herrn bedeutet. Die rein rechnende und schreibende
Beamtenschaft ist ein Ausdruck der Sorge und entwickelt sich also in genau
demselben Maße wie das dynastische Prinzip. Sie hat deshalb in Ägypten
gleich zu Anfang des Alten Reiches eine erstaunliche Ausbildung erfahren.
(Vgl. Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, §
244.) Der im Dschou-li beschriebene frühchinesische Beamtenstaat
ist so umfangreich und kompliziert, daß die Echtheit des Buches
daraufhin bezweifelt worden ist, aber er entspricht dem Geist und der
Bestimmung nach vollkommen dem diokletianischen, der eine feudale Ständeordnung
aus den Formen eines ungeheuren Steuerwesens hat entstehen lassen. (Vgl.
S. 991.) In der frühen Antike fehlt er mit Betonung. Carpe
diem ist der Wahlspruch der antiken Finanzwirtschaft bis in ihre letzten
Tage. Die Sorglosigkeit, die Autarkeia der Stoiker ist auch auf
diesem Gebiet zum Prinzip erhoben. Gerade die besten Rechner machen darin
keine Ausnahme, wie Eubulos, der um 350 in Athen auf Überschüsse
hin wirtschaftete, um sie dann unter die Bürgerschaft zu verteilen.
(Ebd., S. 1019-1020).
Den äußersten Gegensatz dazu bilden die rechnenden
Wikinger des frühen Abendlandes, die in der Finanzverwaltung ihrer
Normannenstaaten den Grund zu der faustischen, heute über die ganze
Welt verbreiteten Art von Geldwirtschaft gelegt haben. Von dem schachbrettartig
ausgelegten Tisch in der Rechnungskammer Roberts des Teufels von der Normandie
(102835) stammen der Name des englischen Schatzamtes (Exchequer)
und das Wort Scheck. Ebenso sind hier die Worte Konto, Kontrolle, Quittung,
Rekord (vgl. compotus, contrarotulus [die
zur Prüfung aufbewahrte Gegenrolle], quittancia, recordatum)
entstanden. Von hier aus wird England 1066 als Beute unter rücksichtsloser
Knechtung der Angelsachsen organisiert und ebenso der Normannenstaat Siziliens,
den Friedrich II. von Hohenstaufen schon vorfand und in den Konstitutionen
von Melfi (1231), seinem persönlichsten Werke, nicht geschaffen,
sondern durch Methoden der arabischen, also einer hochzivilisierten Geldwirtschaft,
nur bis zur Meisterschaft vervollkommnet hat. Von hier aus sind dann die
finanztechnischen Methoden und Bezeichnungen in die lombardische Kaufmannschaft
und von da in alle Handelsstädte und Verwaltungen des Abendlandes
gedrungen. (Ebd., S. 1020).
Aber Aufschwung und Abbau des Lehnswesens liegen dicht nebeneinander.
Inmitten der blühenden Vollkraft der Urstände regen sich die
künftigen Nationen und damit die eigentliche Staatsidee. Der Gegensatz
zwischen adliger und geistlicher Gewalt und zwischen der Krone und ihren
Vasallen wird immer wieder durch den von deutschem und französischem
Volkstum (schon unter Otto dem Großen) unterbrochen, oder von deutschem
und italienischem, der die Stände in Guelfen und Ghibellinen zerriß
und das deutsche Kaisertum vernichtete, und von englischem und französischem,
der zur englischen Herrschaft über Westfrankreich geführt hat.
Indessen tritt das weit zurück hinter den großen Entscheidungen
innerhalb des Lehnsstaates selbst, der den Begriff der Nation nicht kennt.
England war in 60215 Lehen zerlegt worden, die in dem noch heute zuweilen
nachgeschlagenen Domesday Book von 1084 verzeichnet wurden, und die straff
organisierte Zentralgewalt ließ sich auch von den Untervasallen
der Pairs den Treueid schwören, aber trotzdem wurde schon 1215 die
Magna Charta durchgesetzt, welche die tatsächliche Gewalt vom König
auf das Parlament der Vasallen überträgt die Großen
und die Kirche im Oberhaus, die Vertreter der Gentry und der Patrizier
im Unterhaus vereinigt , das von nun an Träger der nationalen
Entwicklung geworden ist. In Frankreich erzwangen die Barone in Verbindung
mit dem Klerus und den Städten 1302 die Berufung der Generalstände;
durch das Generalprivilegium von Saragossa 1283 wurde Aragonien fast eine
von den Cortes regierte Adelsrepublik, und in Deutschland machte einige
Jahrzehnte vorher eine Gruppe großer Vasallen als Kurfürsten
das Königtum von ihrer Wahl abhängig. (Ebd., S. 1020-1021).
Den gewaltigsten Ausdruck nicht nur in der abendländischen
Kultur, sondern in allen Kulturen überhaupt hat der Lehnsgedanke
in dem Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum gefunden, dem als letztes
Ziel die Verwandlung der ganzen Welt in einen ungeheuren Lehnsverband
vorschwebte, und beide Mächte haben sich mit dem Ideal so tief verschwistert,
daß sie mit dem Verfall des Lehnswesens zugleich von ihrer Höhe
jäh herabstürzten. (Ebd., S. 1021).
Die Idee eines Herrschers, dessen Machtbereich
die ganze geschichtliche Welt, dessen Schicksal das der ganzen Menschheit
ist, trat bis jetzt dreimal in Erscheinung, zuerst in der Auffassung des
Pharao als des Horus (vgl. S. 900), dann
in der gewaltigen chinesischen Vorstellung vom Herrscher der Mitte, dessen
Reich tien-hia ist, alles unter dem Himmel Liegende (),
endlich in frühgotischer Zeit, als Otto d. Gr. 962 aus einem tiefen
mystischen Gefühl und Sehnen nach geschichtlicher und räumlicher
Unendlichkeit, das damals durch alle Welt ging, den Gedanken eines Heiligen
Römischen Reiches Deutscher Nation empfing. Aber vorher schon hatte
Papst Nikolaus I. (860), noch ganz in augustinischen, also magischen Gedanken
befangen, von einem päpstlichen Gottesstaat geträumt, der über
den Fürsten dieser Welt stehen sollte, und seit 1059 ging Gregor
VII. mit der vollen Urgewalt seiner faustischen Natur daran, eine päpstliche
Weltherrschaft in den Formen eines universalen Lehnsverbandes mit Königen
als Vasallen zu verwirklichen. Das Papsttum selbst bildete zwar nach innen
den kleinen Lehnsstaat der Campagna, deren Adelsgeschlechter die Wahl
beherrschten und die sehr bald auch das 1059 mit der Papstwahl betraute
Kardinalskollegium in eine Art Adelsoligarchie verwandelten. Nach außen
aber hat Gregor VII. die Lehnshoheit über die Normannenstaaten in
England und Sizilien erreicht, die beide mit seiner Unterstützung
begründet wurden, und die Kaiserkrone vergab er wirklich, wie vorher
Otto der Große die Tiara. Aber dem Staufen Heinrich VI. gelang wenige
Jahre später das Gegenteil; selbst Richard Löwenherz leistete
ihm den Vasalleneid für England, und das allgemeine Kaisertum war
der Verwirklichung nahe, als der größte aller Päpste,
Innocenz III. (1198 bis 1216), die Lehnshoheit der Welt für kurze
Zeit zur Tatsache machte. England wurde 1213 päpstliches Lehen, Aragonien,
Leon, Portugal, Dänemark, Polen, Ungarn, Armenien, das eben begründete
lateinische Kaisertum in Byzanz folgten, aber mit seinem Tode begann der
Zerfall innerhalb der Kirche selbst, und zwar mit dem Streben der großen
geistlichen Würdenträger, den durch die Investitur auch zu
ihrem Lehnsherrn gewordenen Papst durch eine Standesvertretung zu
beschränken. (Es darf nicht vergessen werden,
daß der ungeheure Grundbesitz der Kirche Erblehen der Bistümer
und Erzbistümer geworden war, die gar nicht daran dachten, dem Papst
als Lehnsherrn Eingriffe zu gestatten.) Der Gedanke, daß
ein allgemeines Konzil über dem Papst stehe, ist nicht religiösen
Ursprungs, sondern zunächst aus dem Lehnsprinzip hervorgegangen.
Seine Tendenz entspricht genau dem, was die englischen Großen durch
die Magna Charta erreicht hatten. Auf den Konzilen von Konstanz (seit
1414) und Basel (seit 1431) ist zum letzten Male der Versuch gemacht worden,
die Kirche nach ihrer weltlichen Seite hin in einen Lehnsverband der Geistlichkeit
zu verwandeln, wodurch eine Kardinalsoligarchie Vertreterin des gesamten
abendländischen Klerus an Stelle des römischen Adels geworden
wäre. Aber der Lehnsgedanke war damals längst vor dem des Staates
zurückgetreten, und so trugen die römischen Barone, die den
Wahlkampf auf den engsten Kreis der Umgebung Roms beschränkten und
eben damit dem Gewählten die unumschränkte Macht nach außen
im Organismus der Kirche sicherten, den Sieg davon, nachdem das Kaisertum
schon vorher ganz wie das ägyptische und chinesische ein ehrwürdiger
Schatten geworden war. (Ebd., S. 1021-1023).
Es gab hier wie überall eine Zeit, in welcher das Lehnswesen
im Zerfall begriffen, der heraufkommende Staat aber noch nicht vollendet,
die Nation noch nicht in Form war. Das ist die furchtbare Krise, welche
überall als Interregnum in Erscheinung tritt und die Grenze zwischen
Lehnsverband und Ständestaat bildet. (Ebd., S. 1024).
Diese Erschütterung bedeutet den Sieg des Staates über
den Stand. Dem Lehnswesen lag das Gefühl zugrunde, daß Alle
um eines »Lebens« willen da seien, das mit Bedeutung geführt
wurde. Die Geschichte erschöpfte sich in den Schicksalen adligen
Blutes. Jetzt bricht ein Gefühl hervor, daß es noch etwas
gibt, dem auch der Adel untersteht und zwar in Gemeinschaft mit allem
andren, sei es Stand oder Beruf, etwas Ungreifbares, eine Idee. Die unbeschränkte
privatrechtliche Auffassung der Ereignisse geht in eine staatsrechtliche
über. Mag dieser Staat noch so sehr Adelsstaat sein, und das ist
er fast ohne Ausnahme, mag sich äußerlich im Übergang
vom Lehnsverband zum Ständestaat noch so wenig ändern, mag der
Gedanke, daß es außerhalb der Urstände nicht nur Pflichten,
sondern auch Rechte gibt, noch so unbekannt sein das Gefühl
ist doch anders geworden, und das Bewußtsein, daß das
Leben auf den Höhen der Geschichte da sei, um gelebt zu werden, ist
dem andern gewichen, daß es eine Aufgabe enthält. Der
Abstand wird sehr deutlich, wenn man die Politik Rainalds von Dassel (
1167), eines der größten deutschen Staatsmänner aller
Zeiten, mit der Kaiser Karls IV. ( 1378) vergleicht .... (Ebd.,
S. 1025-1026).
Das römische Imperium ist
nichts als der letzte und größte Stadtstaat der Antike auf
Grund eines riesenhaften Synoikismos. Der Redner Aristides konnte unter
Marc Aurel mit vollem Recht sagen (in seiner Rede auf Rom): »Rom
hat diese Welt im Namen einer Stadt zusammengefaßt. Wo man
auch in ihr geboren sein mag, man wohnt doch in ihrer Mitte«.
(Ebd., S. 1035-1036).
Eine entscheidende Wendung vollzieht sich mit dem Beginn der Spätzeit,
dort wo Stadt und Land sich im Gleichgewicht befinden und die eigentlichen
Mächte der Stadt, Geld und Geist, so stark geworden sind, daß
sie sich als Nichtstand den Urständen gewachsen fühlen. Es ist
der Augenblick, wo der Staatsgedanke sich endgültig über die
Stände erhebt, um sie durch den Begriff der Nation zu ersetzen.
(Ebd., S. 1038).
Der Staat hatte sein Recht erkämpft auf dem Wege vom Lehnsverband
zum Ständestaat. In diesem sind die Stände nur noch vermöge
des Staates vorhanden, nicht umgekehrt. Aber es lag doch so, daß
die Regierung der regierten Nation nur derart gegenübertrat, als
und soweit diese ständisch gegliedert war. Der Nation zugehörig
waren alle, den Ständen aber eine Auswahl, und nur diese kam politisch
in Betracht. (Ebd., S. 1038).
Je mehr sich aber der Staat seiner reinen Form nähert, je
absoluter er wird, abgelöst nämlich von jedem andern Formideal,
desto mehr gewinnt der Begriff der Nation dem des Standes gegenüber
an Gewicht, und es kommt der Augenblick, wo die Nation als solche
regiert wird und die Stände nur noch gesellschaftliche Unterschiede
bezeichnen. Gegen diese Entwicklung, die zu den Notwendigkeiten der Kultur
gehört und unvermeidlich und unwiderruflich ist, erheben sich noch
einmal die frühen Mächte, Adel und Priestertum. Für sie
steht alles auf dem Spiel, das Heldenhafte und Heilige, das alte
Recht, der Rang, das Blut, und von ihnen aus betrachtet gegen was?
(Ebd., S. 1038-1039).
Dieser Kampf der Urstände gegen die Staatsgewalt besitzt
im Abendlande die Gestalt der Fronde; in der Antike, wo keine Dynastie
die Zukunft vertritt und der Adel politisch allein da ist, bildet
sich etwas Dynastisches, das den Staatsgedanken verkörpert und, gestützt
auf den nichtständischen Teil der Nation, diesen selbst erst zu einer
Macht erhebt. Das ist die Mission der Tyrannis. (Ebd., S.
1039).
In dieser Wendung vom Ständestaat zum absoluten Staat, der
alles nur in bezug auf sich gelten läßt, haben die Dynastien
des Abendlandes und ebenso diejenigen Ägyptens und Chinas den Nichtstand,
das »Volk«, zu Hilfe gerufen und damit als politische Größe
anerkannt. Darin liegt die Bedeutung des Kampfes gegen die Fronde, und
die Mächte der großen Stadt konnten für sich zunächst
nur einen Vorteil darin erblicken. Der Herrscher steht hier im Namen des
Staates, der Sorge für alle, und er bekämpft den Adel, weil
dieser den Stand als politische Größe aufrecht erhalten will.
(Ebd., S. 1039).
Wallenstein knüpft unbewußt dort an, wo die Hohenstaufen
aufgehört hatten. Nach dem Tode Friedrichs II. (1250) war die Gewalt
der Reichsstände eine unbedingte geworden und gegen diese, für
einen absoluten Kaiserstaat, trat er während seines ersten Kommandos
ein. .... Auf dem Reichstag zu Regensburg (1630) war er abwesend, weil,
wie er sagte, sein Quartier demnächst in Paris sein werde. Es war
der schwerste politische Fehler seines Lebens, denn hier siegte die Fronde
der Kurfürsten über den Kaiser durch die Drohung, Ludwig XIII.
an seine Stelle zu setzen, und erzwang die Abdankung des Generals. Damit
hatte die Zentralgewalt in Deutschland, ohne die Tragweite des Schrittes
zu erkennen, ihr Heer aus der Hand gegeben. n über den Kaiser durch
die Drohung, Ludwig XIII. an seine Stelle zu setzen, und erzwang die Abdankung
des Generals. Damit hatte die Zentralgewalt in Deutschland, ohne die Tragweite
des Schrittes zu erkennen, ihr Heer aus der Hand gegeben. Von nun an unterstützte
Richelieu die große Fronde in Deutschland, um hier die spanische
Stellung zu erschüttern, während auf deren Seite Olivarez und
der wieder zum Kommando gelangte Wallenstein sich mit der Ständepartei
in Frankreich verbündeten, die daraufhin unter der Königin-Mutter
und Gaston von Orléans zum Angriff überging. Aber die kaiserliche
Gewalt hatte den großen Augenblick versäumt. In beiden Fällen
behielt der Kardinal die Oberhand. Er ließ 1632 den letzten Montmorency
hinrichten und brachte die katholischen Kurfürsten Deutschlands in
ein offenes Bündnis mit Frankreich. Von da an trat Wallenstein, der
in seinen Endzielen unsicher wurde, mehr und mehr dem spanischen Gedanken
entgegen, den er von dem Reichsgedanken trennen zu können glaubte,
und näherte sich (wie in Frankreich der Marschall Turenne) damit
von selbst den Ständen. Es ist die entscheidende Wendung in der
späteren deutschen Geschichte. Erst mit diesem Abfall ist der
absolute Kaiserstaat unmöglich geworden. Wallensteins Ermordung 1634
änderte daran nichts mehr, denn man fand für ihn keinen Ersatz.
(Ebd., S. 1043-1045).
Und eben jetzt wären die Umstände noch einmal günstig
gewesen, denn 1640 brach in Spanien, Frankreich und England der Entscheidungskampf
zwischen Staatsgewalt und Ständen aus. Gegen Olivarez erhoben sich
die Cortes in fast allen Provinzen. Portugal und damit Indien und Afrika
gingen für immer verloren; Neapel und Katalonien konnten erst nach
Jahren wieder unterworfen werden. In England muß ganz wie
im Dreißigjährigen Kriege der Verfassungskampf zwischen
dem Königtum und der im Unterhaus herrschenden Gentry von der religiösen
Seite der Revolution sorgfältig getrennt werden, so tief die beiden
Tendenzen sich auch durchdringen. Aber der wachsende Widerstand, den Cromwell
gerade in der Unterklasse gefunden hat und der ihn ganz gegen seinen Willen
in eine Militärdiktatur hineintrieb, und dann die Volkstümlichkeit
des zurückkehrenden Königtums beweisen, in welchem Grade der
Sturz der Dynastie über alle Zwistigkeiten in religiösen Dingen
hinaus durch ständische Interessen bewirkt war. (Ebd., S. 1045).
Als Karl I. hingerichtet wurde, kam es auch in Paris zum Aufstand,
der die königliche Familie zur Flucht zwang. Man baute Barrikaden
und rief die Republik aus (1649). Wäre der Kardinal von Retz Cromwell
ähnlicher gewesen, so war ein Sieg der Ständepartei über
Mazarin wohl möglich. Aber der Ausgang dieser großen abendländischen
Krise ist durchaus vom Gewicht und Schicksal weniger Persönlichkeiten
bestimmt und gestaltete sich deshalb so, daß in England allein
die im Parlament vertretene Fronde den Staat und das Königtum ihrer
Führung unterwarf und diesen Zustand in der »glorreichen Revolution«
von 1688 dauernd begründet hat, so daß heute noch wesentliche
Teile des alten Normannenstaates zu Recht bestehen. In Frankreich und
Spanien siegte das Königtum unbedingt. (Ebd., S. 1045-1046).
In Deutschland wurde im Westfälischen Frieden für die
große Fronde der Reichsfürsten gegen den Kaiser das englische,
für die kleine Fronde den Landesfürsten gegenüber das französische
Verhältnis durchgesetzt. Im Reich regieren die Stände, in deren
Gebieten aber die Dynastie. Von da an war das Kaisertum wie das englische
Königtum ein Name, umgeben mit Resten des spanischen Prunks aus dem
frühen Barock .... (Ebd., S. 1046 ).
Mit dieser Epoche war der im Dasein jeder Kultur als Möglichkeit
angelegte Staat verwirklicht und eine Höhe des politischen Geformtseins
erreicht, die nicht mehr überboten, aber auch nicht lange aufrecht
erhalten werden konnte. Ein leiser herbstlicher Zug geht schon durch die
Zeit, als Friedrich der Große in Sanssouci Tafel hielt. Es sind
die Jahre, in welchen auch die großen Sonderkünste ihre letzte,
zarteste, geistigste Reife erlangen, neben den Rednern der athenischen
Agora Zeuxis und Praxiteles, neben dem Filigran der Kabinettsdiplomatie
die Musik von Bach und Mozart. (Ebd., S. 1046).
Diese Kabinettspolitik ist selbst eine hohe Kunst geworden, ein
artistischer Genuß für den, der seine Finger darin hatte, wundervoll
in ihrer Feinheit und Eleganz, höflich, raffiniert, unheimlich in
die Ferne wirkend, wo jetzt schon Rußland, die nordamerikanischen
Kolonien, selbst die indischen Staaten angesetzt werden, um an ganz anderen
Punkten der Erde durch das bloße Gewicht einer überraschenden
Kombination Entscheidungen herbeizuführen. Es ist ein Spiel in strengen
Regeln mit eröffneten Briefen und geheimen Vertrauten, mit Allianzen
und Kongressen innerhalb eines Systems von Regierungen, das damals schon
mit tiefbedeutendem Ausdruck das Konzert der Mächte genannt worden
ist, voller noblesse und esprit, um die Worte der Zeit zu
gebrauchen, eine Art, die Geschichte in Form zu halten, wie sie nie und
nirgends sonst auch nur denkbar ist. (Ebd., S. 1046-1047).
In der abendländischen Welt, deren Einflußgebiet jetzt
schon mit der Erdoberfläche beinahe gleichbedeutend war, umfaßt
die Zeit des absoluten Staates kaum eineinhalb Jahrhunderte, von 1660,
wo im Pyrenäenfrieden das Haus Bourbon über Habsburg triumphiert
und die Stuarts nach England zurückkehren, bis zu den Koalitionskriegen
gegen die französische Revolution, in denen London über Paris
siegt, oder dem Wiener Kongreß, auf welchem die alte Diplomatie
des Blutes, nicht des Geldes, der Welt zum letzten Male ein großes
Schauspiel gab. Das entspricht dem Zeitalter des Perikles in der Mitte
zwischen erster und zweiter Tyrannis, und dem tschun-tsiu, »Frühling
und Herbst«, wie die Chinesen die Zeit zwischen den Protektoren
und den »Kämpfenden Staaten« nennen. (Ebd., S.
1047).
In dieser letzten Zeit vornehmer Politik in den Formen eines Herkommens,
das Abstand besitzt, werden die Höhepunkte dadurch bezeichnet, daß
die beiden habsburgischen Linien rasch nacheinander aussterben (aber
»nur« im Mannesstamm! HB), und die diplomatischen wie
die kriegerischen Ereignisse sich 1710 um die spanische, 1760 um die österreichische
Erbfolge drängen. (Der fünfzigjährige
Abstand dieser kritischen Punkte, der sich in dem klaren geschichtlichen
Aufbau des Barock besonders deutlich abhebt und auch in der Folge der
drei Punischen Kriege erkennbar wird, deutet wieder darauf hin, daß
die kosmischen Flutungen in Gestalt des menschlichen Lebens an der Oberfläche
eines kleinen Gestirns nichts irgendwie für sich Bestehendes sind,
sondern mit dem unendlichen Bewegtsein des Alls in tiefem Einklang stehen.
In einem kleinen merkwürdigen Buch: R. Mewes, Die Kriegs- und
Geistesperioden im Völkerleben und Verkündigung des nächsten
Weltkrieges [1896] ist die Verwandtschaft dieser Kriegsperioden mit
Perioden der Witterung, der Sonnenflecken und gewisser Planetenkonstellationen
festgestellt und daraufhin ein großer Krieg für 19101920
angesetzt worden. Aber diese und zahllose ähnliche Zusammenhänge,
die in den Bereich unsrer Sinne treten (vgl. Bd. II, S. 559 f.), bergen
ein Geheimnis, das wir zu ehren haben und nicht durch kausale Erklärungen
oder mystische Gedankengespinste antasten sollten.) Es ist der
Höhepunkt auch des genealogischen Prinzips. Bella gerant alii,
tu felix Austria nube das war in der Tat eine Fortsetzung des
Krieges mit anderen Mitteln. Das Wort ist einst mit Beziehung auf Maximilian
I. geprägt worden, aber das Prinzip erlangt erst jetzt seine höchste
Wirkung. Die Kriege der Fronde gehen in Erbfolgekriege über, die
im Kabinett beschlossen und mit kleinen Heeren kavaliermäßig
und nach strengen Regeln ausgefochten werden. Es handelt sich um die Erbschaft
der halben Welt, welche durch die habsburgische Heiratspolitik des frühen
Barock zusammengekommen war. Der Staat ist noch immer fest in Form; der
Adel ist loyal, Dienst- und Hofadel geworden; er führt die Kriege
der Krone und organisiert die Verwaltung. Neben dem Frankreich Ludwigs
XIV. entsteht in Preußen ein Meisterstück staatlicher Organisation.
Der Weg vom Kampfe des Großen Kurfürsten (Friedrich
Wilhelm; HB) mit seinen Ständen (1660) bis zum Tode Friedrichs
des Großen, der Mirabeau 1786, drei Jahre vor dem Bastillesturm
noch empfangen hat, ist genau derselbe und hat zur Schöpfung eines
Staates geführt, der wie der französische in jedem Punkt das
Gegenteil der englischen Gestaltung der Dinge ist. (Ebd., S. 1047-1048).
An diesem Punkte, wo die Kultur im Begriff ist, Zivilisation zu
werden, greift der Nichtstand entscheidend in die Ereignisse ein und zwar
zum ersten Male als selbständige Macht. Unter der Tyrannis und Fronde
hatte der Staat ihn gegen die eigentlichen Stände zu Hilfe gerufen,
und er hatte sich erst damit als Macht fühlen gelernt. Jetzt verwendet
er diese Macht für sich und zwar als Stand der Freiheit gegen
den Rest, und er sieht im absoluten Staate, in der Krone, in den starken
Institutionen die natürlichen Verbündeten der Urstände
und die eigentlichen und letzten Vertreter der sinnbildlichen Tradition.
Das ist der Unterschied zwischen erster und zweiter Tyrannis, zwischen
Fronde und bürgerlicher Revolution, zwischen Cromwell und Robespierre.
(Ebd., S. 1056).
Der Staat mit seinen großen Forderungen an jeden einzelnen
wird von der städtischen Vernunft als Last empfunden, genau wie man
eben jetzt die großen Formen der Barockkünste als Last zu empfinden
beginnt und klassisch oder romantisch, das heißt schwächlich
in der Form oder formlos wird; die deutsche Literatur seit 1770 ist eine
einzige Revolution starker Einzelpersönlichkeiten gegen die strenge
Poesie; das »in Form sein für etwas« der ganzen Nation
wirkt unerträglich, weil es der Einzelne innerlich selbst nicht mehr
ist. Das gilt von der Sitte, das gilt in den Künsten und im Gedankenbau,
das gilt vor allem in der Politik. Das Kennzeichen jeder bürgerlichen
Revolution, als deren Ort ausschließlich die große Stadt erscheint,
ist der Mangel an Verständnis für die alten Symbole, an deren
Platz jetzt handgreifliche Interessen treten, und sei es auch nur der
Wunsch begeisterter Denker und Weltverbesserer, ihre Begriffe verwirklicht
zu sehen. Wert hat nur noch, was sich vor der Vernunft rechtfertigen läßt;
aber ohne die Höhe einer Form, die durch und durch symbolisch und
eben deshalb in metaphysischer Weise wirksam ist, verliert das nationale
Leben die Kraft, sich inmitten der geschichtlichen Daseinsströme
zu behaupten. Man verfolge die verzweifelten Versuche der französischen
Regierung, das Land in Form zu halten, die unter dem beschränkten
Ludwig XVI. von einer ganz kleinen Zahl fälliger und vorausblickender
Männer unternommen wurden, nachdem die äußere Lage sich
durch den Tod von Vergennes sehr ernst gestaltet hatte (1787). Mit dem
Tode dieses Diplomaten scheidet Frankreich auf Jahre aus den politischen
Kombinationen Europas aus; gleichzeitig bleibt die großartige Reform,
welche die Krone trotz aller Widerstände durchgeführt hatte,
vor allem die allgemeine Verwaltungsreform dieses Jahres auf der Grundlage
freiester Selbstverwaltung, vollkommen unwirksam, weil für die Stände
angesichts der Nachgiebigkeit des Staates plötzlich die Machtfrage
in den Vordergrund rückte. (A. Wahl, Vorgeschichte
der französischen Revolution, Band II, 1907; die ... Katastrophe
beginnt ... unter den Gebildeten, und zwar aller Stände, im hohen
Adel und Klerus noch etwas früher als im höheren Bürgertum,
weil der Verlauf der ersten Notabelnversammlung [1787] die Möglichkeit
enthüllt hatte, die Regierungsform nach Standeswünschen radikal
umzugestalten.) Ein europäischer Krieg nahte wie ein Jahrhundert
vorher und nachher mit unerbittlicher Notwendigkeit, der dann in Form
der Revolutionskriege zur Entwicklung gekommen ist, aber niemand beachtete
mehr die äußere Lage. Der Adel als Stand hat selten, das Bürgertum
als Stand aber nie außenpolitisch und weltgeschichtlich gedacht:
ob der Staat in einer neuen Form sich unter den andern Staaten überhaupt
noch halten kann, danach fragt man nicht; ob er die »Rechte«
sichert, ist alles (Ebd., S. 1056-1057).
Aber das Bürgertum, der Stand der städtischen »Freiheit«,
so stark auch sein Standesgefühl auf mehrere Generationen hin blieb,
in Westeuropa noch über die Märzrevolution hinaus, war durchaus
nicht immer Herr seiner Handlungen. Denn zunächst trat in jeder kritischen
Lage der Umstand hervor, daß diese Einheit negativ und nur
in Momenten des Widerstandes gegen irgendetwas andres wirklich vorhanden
war dritter Stand und Opposition sind beinahe identisch ,
daß aber überall da, wo etwas Eignes aufgebaut werden sollte,
die Interessen der einzelnen Gruppen weit auseinandergingen. Frei sein
von etwas das wollten alle; aber der Geist wollte den ] Staat als
Verwirklichung der »Gerechtigkeit« gegenüber der Gewalt
geschichtlicher Tatsachen oder der allgemeinen Menschenrechte oder der
kritischen Freiheit gegenüber der herrschenden Religion; das Geld
wollte freie Bahn für den geschäftlichen Erfolg. Es gab sehr
viele, die Ruhe und Verzicht auf geschichtliche Größe verlangten
oder Achtung vor mancher Tradition und ihren Verkörperungen, von
denen sie leiblich oder seelisch lebten. Aber dazu kam von
hier an ein Element, das in den Kämpfen der Fronde und also der englischen
Revolution und der ersten Tyrannis noch gar nicht vorhanden war, nun aber
eine Macht darstellte: das was man in allen Zivilisationen eindeutig als
Hefe, Mob oder Pöbel bezeichnet. In den großen Städten,
die jetzt allein entscheiden das flache Land kann höchstens
zu vollzogenen Ereignissen Stellung nehmen, wie das ganze 19. Jahrhundert
beweist , sammelt sich eine Masse wurzelloser Bevölkerungsteile
an, die außerhalb jeder gesellschaftlichen Bindung stehen. Sie fühlen
sich weder einem Stande zugehörig noch einer Berufsklasse
im innersten Herzen auch nicht der wirklichen Arbeiterklasse, obwohl sie
zur Arbeit gezwungen sind; dem Instinkt nach gehören Glieder aller
Stände und Klassen dazu, entwurzeltes Bauernvolk, Literaten, ruinierte
Geschäftsleute, vor allem aus der Bahn geratener Adel, wie die Zeit
Catilinas mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt hat. Ihre Macht übersteigt
bei weitem ihre Zahl, denn sie sind immer am Platze, immer in der Nähe
der großen Entscheidungen, zu allem bereit und ohne jede Achtung
vor irgend etwas Geordnetem und sei es selbst die Ordnung innerhalb einer
Revolutionspartei. Sie erst geben den Ereignissen die vernichtende Gewalt,
welche die französische von der englischen Revolution und die zweite
von der ersten Tyrannis unterscheidet. Das Bürgertum wehrt sich mit
wahrer Angst gegen diese Menge, von der es sich unterschieden sehen will
einem dieser Abwehrakte, dem 13. Vendémiaire, verdankt Napoleon
seinen Aufstieg , aber die Grenze läßt sich im Gedränge
der Tatsachen nicht ziehen, und überall, wo das Bürgertum seine
im Verhältnis zur Zahl geringe Stoßkraft gegen die älteren
Ordnungen ansetzt, gering, weil die innere Einheit in jedem Augenblick
auf dem Spiele steht, hat sich diese Masse in seine Reihen und an die
Spitze gedrängt, die Erfolge zum weitaus größten Teil
erst entschieden und die gewonnene Stellung sehr oft für sich zu
behaupten gewußt, und zwar häufig mit der ideellen Unterstützung
durch die Gebildeten, welche das Begriffliche daran fesselte, oder der
materiellen durch die Mächte des Geldes, welche die Gefahr von sich
auf Adel und Priestertum ablenkten. (Ebd., S. 1057-1059).
Aber diese Epoche hat auch noch die Bedeutung, daß zum erstenmal
die abstrakten Wahrheiten in den Bereich der Tatsachen einzugreifen suchen.
Die Hauptstädte sind so groß geworden und der städtische
Mensch so überlegen in seinem Einfluß auf das Wachsein der
gesamten Kultur dieser Einfluß heißt öffentliche
Meinung , daß die Mächte des Blutes und der im Blut
liegenden Tradition in ihrer bis dahin unangreifbaren Stellung erschüttert
werden. Denn man bedenke, daß gerade der Barockstaat und die absolute
Polis in der letzten Vollendung ihrer Form durch und durch lebendiger
Ausdruck einer Rasse sind und die Geschichte, so wie sie sich in
dieser Form vollzieht, den vollkommenen Takt dieser Rasse besitzt. Wenn
es hier eine Staatstheorie gibt, so ist sie aus den Tatsachen abgezogen
und beugt sich vor deren Größe. Die Idee des Staates hatte
endlich das Blut der ersten Stände gebändigt und ganz, ohne
Rest, in ihren Dienst gestellt. Absolut das bedeutet, daß
der große Daseinsstrom als Einheit in Form ist, eine Art
von Takt und Instinkt besitzt, möge er als diplomatischer oder strategischer
Takt, als vornehme Sitte oder als erlesener Geschmack an Künsten
und Gedanken in Erscheinung treten. (Ebd., S. 1059).
Im Widerspruch zu dieser großen Tatsache breitet sich nun
der Rationalismus aus, jene Wachseinsgemeinschaft der Gebildeten
(vgl. S. 669, 935 f.), deren Religion in
Kritik besteht und deren Numina nicht Gottheiten sind, sondern Begriffe.
Jetzt gewinnen Bücher und allgemeine Theorien Einfluß auf die
Politik, im China des Laotse wie im sophistischen Athen und zur Zeit Montesquieus,
und die von ihnen gestaltete öffentliche Meinung tritt als politische
Größe von ganz neuer Art der Diplomatie in den Weg. Es würde
eine sinnlose Annahme sein, daß Peisistratos oder Richelieu oder
selbst Cromwell ihre Entschlüsse unter der Einwirkung abstrakter
Systeme gefaßt hätten, aber seit dem Sieg der Aufklärung
ist das der Fall. (Ebd., S. 1059-1060).
Allerdings ist die geschichtliche Rolle der großen zivilisierten
Begriffe sehr verschieden von der Beschaffenheit, die sie innerhalb der
gelehrten Ideologien selbst besitzen. Die Wirkung einer Wahrheit ist immer
ganz anders als ihre Tendenz. In der Tatsachenwelt sind Wahrheiten nur
Mittel, insofern sie die Geister beherrschen und damit die Handlungen
bestimmen. Nicht ob sie tief, richtig oder auch nur logisch sind, sondern
ob sie wirksam sind, entscheidet über ihren geschichtlichen Rang.
Ob man sie mißversteht oder überhaupt nicht zu verstehen vermag,
ist vollkommen gleichgültig. Das liegt in der Bezeichnung Schlagwort.
Was für die großen Frühreligionen einige zum Erlebnis
gewordene Symbole sind, wie das Heilige Grab für die Kreuzfahrer
oder die Substanz Christi für die Zeit des Konzils von Nikäa,
das sind zwei oder drei begeisternde Wortklänge für jede zivilisierte
Revolution. Allein die Schlagworte sind Tatsachen; der Rest aller philosophischen
oder sozialethischen Systeme kommt für die Geschichte nicht in Betracht.
Aber als solche sind sie für etwa zwei Jahrhunderte Mächte ersten
Ranges und erweisen sich stärker als der Takt des Blutes, der innerhalb
der steinernen Welt ausgebreiteter Städte matt zu werden beginnt.
(Ebd., S. 1060).
Aber der kritische Geist ist nur eine der beiden Tendenzen,
die sich aus der ungeordneten Masse des Nichtstandes herausheben. Neben
den abstrakten Begriffen erscheint das abstrakte, von den Urwerten des
Landes abgelöste Geld, neben der Denkerstube das Kontor als politische
Macht. Beide sind innerlich verwandt und untrennbar. Es ist der frühe
Gegensatz von Priestertum und Adel, der mit ungeminderter Schärfe
innerhalb des Bürgertums in städtischer Fassung fortbesteht
(vgl. S. 990 f., 1002 f.). Und zwar erweist
sich das Geld als reine Tatsache den idealen Wahrheiten unbedingt überlegen,
die wie gesagt nur als Schlagworte, als Mittel für die Tatsachenwelt
vorhanden sind. Versteht man unter Demokratie die Form, welche der dritte
Stand als solcher dem gesamten öffentlichen Leben zu geben wünscht,
so muß hinzugefügt werden, daß Demokratie und Plutokratie
gleichbedeutend sind. Sie verhalten sich wie der Wunsch zur Wirklichkeit,
wie Theorie und Praxis, wie die Erkenntnis zum Erfolg. Es ist das Tragikomische
an dem verzweifelten Kampf, den Weltverbesserer und Freiheitslehrer auch
gegen die Wirkung des Geldes führen, daß sie es eben damit
unterstützen. Zu den Standesidealen des Nichtstandes gehört
sowohl die Achtung vor der großen Zahl, wie sie in den Begriffen
der Gleichheit aller, der angebornen Rechte und weiterhin im Prinzip des
allgemeinen Wahlrechts zum Ausdruck kommt, als auch die Freiheit der öffentlichen
Meinung, vor allem die Pressefreiheit. Das sind Ideale, aber in Wirklichkeit
gehört zur Freiheit der öffentlichen Meinung die Bearbeitung
dieser Meinung, die Geld kostet, zur Pressefreiheit der Besitz der Presse,
der eine Geldfrage ist, und zum Wahlrecht die Wahlagitation, die von den
Wünschen des Geldgebers abhängig bleibt. Die Vertreter der Ideen
erblicken nur die eine Seite, die Vertreter des Geldes arbeiten mit der
andern. Alle Begriffe des Liberalismus und Sozialismus sind erst durch
Geld in Bewegung gesetzt worden und zwar im Interesse des Geldes. Die
Volksbewegung des Ti. Gracchus ist durch die Partei der großen Geldleute,
der equites, erst möglich gemacht worden und war zu Ende,
sobald diese den für sie vorteilhaften Teil der Gesetze gesichert
sah und sich zurückzog. Cäsar und Crassus haben die catilinarische
Bewegung finanziert und statt gegen den Besitz gegen die Senatspartei
gerichtet. In England stellten angesehene Politiker schon um 1700 fest,
»daß man an der Börse mit Wahlen wie mit Wertpapieren
handle und daß der Preis einer Stimme ebenso wohl bekannt sei wie
der eines Morgens Land.« Als die Kunde von Waterloo nach Paris kam,
stieg dort der Kurs der französischen Rente: die Jakobiner hatten
die alten Bindungen des Blutes zerstört und damit das Geld emanzipiert;
jetzt trat es hervor und ergriff die Herrschaft über das Land. (Aber
selbst während der Schreckenszeit befand sich mitten in Paris die
Anstalt des Dr. Belhomme, in der Angehörige des höchsten Adels
tafelten und tanzten und außer aller Gefahr waren, solange sie den
Jakobinern zahlen konnten [G. Lenôtre, Das revolutionäre Paris,
S. 409].) Es gibt keine proletarische, nicht einmal eine kommunistische
Bewegung, die nicht, ohne daß es den Idealisten unter ihren Führern
irgend zum Bewußtsein käme, im Interesse des Geldes wirkte,
in welcher Richtung das Geld es will und solange es will. (Die
große Bewegung, welche sich der Schlagworte von Marx bedient, hat
das Unternehmertum nicht von den Arbeitern, sondern beide von der Börse
abhängig gemacht.) Der Geist denkt, das Geld lenkt: so ist
es die Ordnung aller ausgehenden Kulturen, seit die große Stadt
Herr über den Rest geworden ist. Und zuletzt ist das nicht einmal
ein Unrecht gegen den Geist. Er hat damit doch gesiegt, im Reich der Wahrheiten
nämlich, dem der Bücher und Ideale, das nicht von dieser Welt
ist. Seine Begriffe sind der beginnenden Zivilisation heilig geworden.
Aber das Geld siegt eben durch sie in seinem Reich, das nur
von dieser Welt ist. (Ebd., S. 1060-1062).
Innerhalb der abendländischen Staatenwelt haben beide Seiten
der bürgerlichen Standespolitik, die ideale wie die reale, ihre hohe
Schule in England durchgemacht. Hier allein war es möglich, daß
der dritte Stand nicht gegen einen absoluten Staat vorzugehen brauchte,
um ihn zu zerstören, und auf den Trümmern seine eigne Herrschaft
aufzurichten, sondern in die starke Form des ersten Standes hineinwuchs,
wo er eine ausgebildete Interessenpolitik vorfand und als deren Methode
eine Taktik von altem Herkommen, die er für seine eignen Zwecke nicht
vollkommener wünschen konnte. Hier ist der echte und gar nicht nachzuahmende
Parlamentarismus zu Hause, der ein Inseldasein statt des Staates und die
Gewohnheiten des ersten statt des dritten Standes voraussetzt und außerdem
den Umstand, daß diese Form noch im blühenden Barock gewachsen
ist, also Musik in sich hat. Der parlamentarische Stil ist völlig
identisch mit dem der Kabinettsdiplomatie (die beiden
Parteien leiten ihre Tradition und Sitte bis 1680 zurück.);
auf dieser antidemokratischen Herkunft beruht das Geheimnis seiner
Erfolge. (Ebd., S. 1062).
Aber ebenso sind die rationalistischen Schlagworte sämtlich
auf englischem Boden entstanden und zwar in enger Fühlung mit den
Grundsätzen der Manchesterlehre: Hume war der Lehrer von Adam Smith.
Liberty bedeutet mit Selbstverständlichkeit geistige und geschäftliche
Freiheit. In England ist der Gegensatz von Tatsachenpolitik und Schwärmerei
für abstrakte Wahrheiten ebenso unmöglich, wie er im Frankreich
Ludwigs XVI. unvermeidlich war. Später konnte Edmund Burke gegen
Mirabeau betonen: »Wir verlangen unsere Freiheiten nicht als Menschenrechte,
sondern als Rechte von Engländern.« Frankreich hat die revolutionären
Ideen ohne jeden Rest von England erhalten, wie es den Stil des absoluten
Königtums von Spanien empfing; es hat beiden eine glänzende
und unwiderstehliche Fassung gegeben, die weit über das Festland
hin vorbildlich blieb, aber auf die praktische Verwendung verstand es
sich nicht. Die Ausnützung der bürgerlichen Schlagworte für
den politischen Erfolg setzt den Kennerblick einer vornehmen Klasse für
die geistige Verfassung der Schicht voraus, die jetzt zur Herrschaft kommen
wollte, ohne herrschen zu können, und ist deshalb in England ausgebildet
worden; aber ebenso die rücksichtslose Anwendung des Geldes in der
Politik, nicht jene Bestechung einzelner Persönlichkeiten von Rang,
wie sie dem spanischen und venezianischen Stil geläufig war, sondern
die Bearbeitung der demokratischen Mächte selbst. Hier sind während
des 18. Jahrhunderts erst die Parlamentswahlen und dann die Entschließungen
des Unterhauses planmäßig durch Geld geleitet worden, und hier
hat man mit dem Ideal der Pressefreiheit zugleich auch die Tatsache entdeckt,
daß die Presse dem dient, der sie besitzt. Sie verbreitet nicht,
sondern sie erzeugt die »freie Meinung« (Ebd., S. 1062-1063).
Beides zusammen ist liberal, frei nämlich von den
Hemmungen des erdverbundenen Lebens, seien es Rechte, Formen oder Gefühle,
der Geist frei für jede Art von Kritik, das Geld frei für jede
Art von Geschäft. Beides ist aber auch rücksichtslos auf die
Herrschaft eines Standes gerichtet, der die Hoheit des Staates
über sich nicht anerkennt. Geist und Geld, anorganisch wie sie sind,
wollen den Staat nicht als gewachsene Form von großer Symbolik,
die Achtung fordert, sondern als Einrichtung, die einem Zweck dient. Darin
liegt der Unterschied von den Mächten der Fronde, die nur die gotische
Art, lebendig in Form zu sein, gegen die des Barock, das Lehnswesen gegen
den Absolutismus verteidigt haben, und die jetzt, in die Verteidigung
gedrängt, von diesem kaum noch zu unterscheiden sind. Allein in England
hat die Fronde nicht nur den Staat in offenem Kampf, sondern auch den
dritten Stand durch innere Überlegenheit entwaffnet und deshalb die
einzige Art von demokratischem In-Form-Sein erreicht, die nicht entworfen
oder nachgeahmt, sondern herangereift ist, Ausdruck einer alten Rasse
und eines ungebrochenen und sicheren Taktes, der mit jedem neuen, durch
die Zeit gegebenen Mittel fertig zu werden weiß. Deshalb hat das
englische Parlament die Erbfolgekriege der absoluten Staaten mitgeführt,
aber als Wirtschaftskriege mit geschäftlichem Endziel. (Ebd.,
S. 1064).
Das Mißtrauen gegen die hohe Form ist in dem innerlich formlosen
Nichtstand so groß, daß er immer und überall bereit gewesen
ist, seine Freiheit von aller Form durch eine Diktatur zu
retten, die regellos und deshalb allem Gewachsenen feind ist, aber gerade
durch das Mechanisierende ihrer Wirksamkeit dem Geschmack von Geist und
Geld entgegenkommt; man denke an den Aufbau der französischen Staatsmaschine,
den Robespierre begonnen und Napoleon vollendet hat. Die Diktatur im Interesse
eines Standesideals haben Rousseau, Saint Simon, Rodbertus und Lasalle
ebenso gewünscht, wie die antiken Ideologen des 4. Jahrhunderts,
Xenophon in der Kyropädie und Isokrates im Nikokles. (Ebd.,
S. 1064).
In dem bekannten Satze Robespierres: »Die Regierung der
Revolution ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei«
kommt aber auch die tiefe Furcht zum Ausdruck, die jede Menge befällt,
welche sich im Angesicht ernster Ereignisse nicht sicher in Form fühlt.
Eine in ihrer Disziplin erschütterte Truppe räumt den Führern
des Zufalls und Augenblicks freiwillig eine Macht ein, die der legitimen
Führung weder dem Umfang noch dem Wesen nach erreichbar ist und als
legitim auch gar nicht ertragen werden könnte. Aber das, ins Große
übertragen, ist die Lage zu Beginn jeder Zivilisation. Nichts ist
für das Sinken der politischen Form bezeichnender als die Heraufkunft
formloser Gewalten, die man nach ihrem berühmtesten Fall als
Napoleonismus bezeichnen kann. Wie vollständig war noch das
Dasein Richelieus und Wallensteins in das unerschütterliche Herkommen
ihrer Zeit gebunden! Wie formvoll ist die englische Revolution gerade
unter der Decke äußerer Unordnung! Hier steht es umgekehrt.
Die Fronde kämpft um die Form, der absolute Staat in
ihr, das Bürgertum gegen sie. Nicht daß eine verjährte
Ordnung zertrümmert wird, ist neu. Das haben Cromwell und die Häupter
der ersten Tyrannis auch getan. Sondern daß hinter den Ruinen der
sichtbaren keine unsichtbare Form mehr steht, daß Robespierre und
Bonaparte nichts um sich und in sich finden, was die selbstverständliche
Grundlage jeder Neugestaltung bleibt, daß statt einer Regierung
der großen Tradition und Erfahrung ein Zufallsregiment unvermeidlich
wird, dessen Zukunft nicht mehr durch die Eigenschaften einer langsam
herangezüchteten Minderheit gesichert ist, sondern ganz davon abhängt,
ob sich gerade ein Nachfolger von Bedeutung findet das kennzeichnet
diese Zeitwende und gibt den Staaten die sich eine Tradition länger
als andere zu erhalten wissen, auf Generationen hin ihre ungeheure Überlegenheit.
(Ebd., S. 1064-1065).
In Rom hat die starke und glückliche Form des Staates, wie
sie um 340 erreicht war, die soziale Revolution in verfassungsmäßigen
Grenzen gehalten. Eine napoleonische Erscheinung wie der Censor von 310,
Appius Claudius, Erbauer der ersten Wasserleitung und der Via Appia, der
in Rom fast wie ein Tyrann herrschte, ist sehr bald mit seinem Versuch
gescheitert, die Bauernschaft durch die großstädtische Masse
auszuschalten und damit die Politik in eine einseitig athenische Richtung
zu lenken. Denn das war der Zweck jener Aufnahme von Sklavensöhnen
in den Senat, der neuen Centurienordnung nach Geld statt nach Grundbesitz
(die nach K. J. Neumann []
auf den großen Censor zurückgeht) und der Verteilung
der Freigelassenen und Besitzlosen über alle Tribus, wo sie die selten
zur Stadt kommenden Landleute überstimmen sollten und jederzeit konnten.
Schon die nächsten Censoren haben diese Leute ohne Grundbesitz wieder
in die vier großen Stadttribus überschrieben. Der Nichtstand
selbst, der durch eine Minderheit angesehener Geschlechter gut geführt
wurde, sah das Ziel, wie schon erwähnt, nicht mehr in der Zerstörung,
sondern der Eroberung des senatorischen Verwaltungsorganismus. Er hat
endlich den Zugang zu allen Ämtern erzwungen, durch die lex Ogulnia
von 300 sogar zu den politisch wichtigen Priestertümern der Pontifices
und Auguren und durch den Aufstand von 287 die Rechtsgültigkeit der
Plebiszite auch ohne Genehmigung des Senats. (Ebd., S. 1069-1070).
Wenn das Römertum eine ganz einzige, wundervolle Erscheinung
innerhalb der Weltgeschichte ist, so verdankt es das nicht dem »römischen
Volk«, das an sich ebenso ein Rohstoff ohne Form war wie jedes andere,
sondern dieser Klasse, die es in Form brachte und mit oder gegen seinen
Willen hielt, so daß dieser Daseinsstrom, der noch um 350 kaum eine
mittelitalische Bedeutung hatte, allmählich die gesamte antike Geschichte
in sein Bett gefaßt und ihre letzte große Zeit zu einer römischen
gemacht hat. (Ebd., S. 1072).
Die Vollendung seines politischen Taktes beweist dieser kleine
Kreis, der keinerlei öffentliches Recht besaß, in der Handhabung
der von der Revolution geschaffenen demokratischen Formen, die wie überall
das wert waren, was man aus ihnen machte. Gerade was in ihnen gefährlich
werden konnte, sobald man daran rührte, das Nebeneinander zweier
sich ausschließender Gewalten, ist mit vollkommener Meisterschaft
und schweigend so behandelt worden, daß die höhere Erfahrung
stets den Ausschlag gab und das Volk stets überzeugt blieb, die Entscheidung
selbst und in seinem Sinne herbeigeführt zu haben. Volkstümlich
und doch von höchstem geschichtlichen Erfolg, das ist das Geheimnis
dieser Politik und die einzige Möglichkeit der Politik überhaupt
in allen solchen Zeiten, eine Kunst, in welcher das römische Regiment
bis jetzt unerreicht geblieben ist. (Ebd., S. 1072).
Aber auf der andern Seite war das Ergebnis der Revolution trotz
alledem die Emanzipation des Geldes, das von nun an in den Zenturiatkomitien
herrschte. Was hier sich populus nannte, wird mehr und mehr ein
Werkzeug in der Hand der großen Vermögen, und es bedurfte der
ganzen taktischen Überlegenheit der regierenden Kreise, um in der
plebs ein Gegengewicht aufrechtzuerhalten und in ihren einunddreißig
ländlichen Tribus wirklich eine Vertretung des bäuerlichen Grundbesitzes
unter Leitung der adligen Geschlechter bereit zu haben, von welcher die
großstädtische Masse ausgeschlossen blieb. Daher die energische
Art, mit welcher die Anordnungen des Appius Claudius wieder beseitigt
worden sind. Das natürliche Bündnis zwischen Hochfinanz und
Masse, wie es sich später unter den Gracchen und dann unter Marius
verwirklichte, um die Tradition des Blutes zu zerstören, und wie
es unter anderm auch den deutschen Umsturz von 1918 vorbereitet hat, ist
auf viele Generationen hin unmöglich gemacht worden. Bürgertum
und Bauerntum, Geld und Grundbesitz hielten sich in gesonderten Organen
das Gleichgewicht und wurden durch den in der Nobilität verkörperten
Staatsgedanken zusammengefaßt und wirksam gemacht, bis deren innere
Form zerfiel und beide Tendenzen feindselig auseinandertraten. Der erste
Punische Krieg war ein Handelskrieg und gegen die Interessen der Landwirtschaft
gerichtet, weshalb der Konsul Appius Claudius, ein Nachkomme des großen
Zensors, die Entscheidung 264 den Zenturiatkomitien vorlegte. Die Eroberung
der Poebene seit 225 dagegen lag im Interesse der Bauernschaft und wurde
durch den Tribun C. Flaminius, die erste wirklich cäsarische Erscheinung
Roms, den Erbauer der Via Flaminia und des Circus Flaminius, in den Tributkomitien
durchgesetzt. Aber gerade weil er in Verfolgung dieser Politik als Zensor
von 220 den Senatoren Geldgeschäfte verbot und gleichzeitig die altadligen
Rittercenturien der Plebs zugänglich machte, was in Wirklichkeit
nur dem neuen Geldadel aus der Zeit des ersten Punischen Krieges zugute
kam, ist er ganz gegen seinen Willen der Schöpfer einer als Stand
organisierten Hochfinanz geworden, eben der equites, welche
ein Jahrhundert später der großen Zeit der Nobilität ein
Ende gemacht haben. Von da an seit dem Siege über Hannibal,
gegen den Flaminius fiel wird das Geld auch für die Regierung
das letzte Mittel, um ihre Politik fortzusetzen, die letzte wirkliche
Staatspolitik, die es in der Antike gab. (Ebd., S. 1072-1073).
Als die Scipionen und ihr Kreis aufgehört hatten, die leitende
Macht zu sein, gab es nur noch eine Privatpolitik von Einzelnen, die rücksichtslos
ihr Interesse verfolgten und für die der orbis terrarum eine
willenlose Beute war. Wenn Polybios, der jenem Kreis angehörte, in
Flaminius einen Demagogen und den Urheber des ganzen Unglücks der
Gracchenzeit sah, so irrte er sich vollkommen in dessen Absichten, aber
nicht in der Wirkung. Flaminius hat ebenso wie der ältere Cato, der
mit dem blinden Eifer des Bauernführers den großen Scipio um
seiner Weltpolitik willen stürzte, das Gegenteil von dem erreicht,
was er wollte. An Stelle des führenden Blutes trat das Geld, und
das Geld hat in weniger als drei Generationen den Bauernstand vernichtet.
(Ebd., S. 1073-1074).
Wenn es inmitten der antiken Völkerschicksale ein unwahrscheinlicher
Glücksfall war, daß Rom als der einzige Stadtstaat die soziale
Revolution in fester Verfassung überstand, so war es im Abendlande
mit seinen auf die Ewigkeit gegründeten genealogischen Formen fast
ein Wunder, daß doch an einem Ort eine gewaltsame Revolution zum
Ausbruch kam, in Paris. Nicht die Stärke, sondern die Schwäche
des französischen Absolutismus ist es gewesen, welche hier die englischen
Ideen in Verbindung mit der Dynamik des Geldes zu einer Explosion führte,
die den Schlagworten der Aufklärung eine lebendige Gestalt gab, die
Tugend mit dem Schrecken, die Freiheit mit der Despotie verband und noch
in den kleinen Bränden von 1830 und 1848 und in der sozialistischen
Katastrophensehnsucht nachwirkte. (Und selbst in
Frankreich, wo der Richterstand in den Parlaments die Regierung offen
verhöhnte, sogar ungestraft königliche Verfügungen von
den Mauern reißen und eigne arrêts an ihre Stelle kleben ließ
[R. Holtzmann, Franz. Verfassungsgeschichte, 1910, S. 353], wo
»befohlen, aber nicht gehorcht, Gesetze gemacht, aber nicht ausgeführt
wurden« [A. Wahl, Vorgesch. d. franz. Revolution, I, S. 29
und überall] wo die Hochfinanz Turgot und jeden andern stürzen
konnte, der ihr mit seinen Reformplänen unbequem wurde, wo die gebildete
Welt, Prinzen, Adlige, hohe Geistliche und Militärs an der Spitze,
der Anglomanie verfallen war und jeder Art von Opposition Beifall klatschte,
selbst dort wäre nichts geschehen, hätte nicht eine plötzliche
Reihe von Zwischenfällen zusammengewirkt: die zur Mode gewordne Beteiligung
von Offizieren an dem Kampf amerikanischer Republikaner gegen das englische
Königtum, die diplomatische Niederlage in Holland (27. Oktober 1787)
mitten in der großartigen Reformtätigkeit der Regierung, und
der fortgesetzte Ministerwechsel unter dem Druck unverantwortlicher Kreise.
Im britischen Reich war der Abfall der amerikanischen Kolonien die Folge
der Versuche hochtorystischer Kreise, im Einverständnis mit Georg
III., aber selbstverständlich im eignen Interesse die Königsgewalt
zu stärken. Diese Partei besaß in den Kolonien eine starke
Anhängerschaft von Royalisten, namentlich im Süden, die auf
englischer Seite kämpfend die Schlacht von Canden entschieden hat
und nach dem Sieg der Rebellen zum größten Teil in das königstreu
gebliebene Kanada ausgewandert ist.) In England selbst, wo der
Adel absoluter herrschte als irgend jemand in Frankreich, hat zwar ein
kleiner Kreis um Fox und Sheridan die Ideen der französischen Revolution
sie waren sämtlich englischer Herkunft begrüßt;
man sprach von allgemeinem Stimmrecht und Parlamentsreform. (1793
wurden 306 Mitglieder des Unterhauses von insgesamt 160 Personen gewählt.
Der Wahlkreis des alten Pitt, Old Sarum, bestand aus einem Pachthause,
das zwei Abgeordnete entsandte.) Aber das genügte, um beide
Parteien unter Führung eines Whig, des jüngeren Pitt, zu den
schärfsten Maßregeln zu veranlassen, die alle Versuche vereitelt
haben, das Adelsregiment zugunsten des dritten Standes auch nur anzurühren.
Der englische Adel hat den zwanzigjährigen Krieg gegen Frankreich
entfesselt und alle Monarchen Europas in Bewegung gesetzt, um endlich
bei Waterloo nicht dem Kaisertum, sondern der Revolution ein Ende zu machen,
die es gewagt hatte, die Privatansichten englischer Denker ganz naiv in
die praktische Politik einzuführen und damit dem gänzlich formlosen
tiers eine Stellung zu geben, deren Folgen man nicht in den Pariser
Salons, aber um so besser im englischen Unterhause voraussah. (Seit
1832 hat der englische Adel dann selbst durch eine Reihe von vorsichtigen
Reformen das Bürgertum zur Mitarbeit herangezogen, aber unter seiner
beständigen Leitung und vor allem im Rahmen seiner Tradition, in
welche die jungen Talente hineinwuchsen. Die Demokratie verwirklichte
sich so, daß die Regierung streng in Form blieb, und zwar in der
alten aristokratischen, es aber jedem [seiner Meinung nach] freistand,
Politik zu machen. Dieser Übergang mitten in einer bauernlosen und
von Geschäftsinteressen beherrschten Gesellschaft ist die größte
innerpolitische Leistung des 19. Jahrhunderts.) (Ebd., S.
1074-1075).
Was man hier Opposition nannte, war die Haltung der einen Adelspartei,
solange die andre die Regierung führte. Sie bedeutete hier nicht,
wie überall auf dem Festland, berufsmäßige Kritik an einer
Arbeit, die zu leisten der Beruf anderer war, sondern den praktischen
Versuch, die Regierungstätigkeit in eine Form zu zwingen, die man
jeden Augenblick bereit und fähig war, selbst aufzunehmen. Aber diese
Opposition wurde sofort unter völliger Unkenntnis ihrer gesellschaftlichen
Voraussetzungen vorbildlich für das, was die Gebildeten in Frankreich
und anderswo erstrebten, eine Standesherrschaft des tiers unter
den Augen der Dynastie, über deren fernere Stellung man sich immerhin
nicht ganz klar war. Die Einrichtungen Englands wurden seit Montesquieu
mit einem begeisterten Mißverständnis gepriesen, obwohl all
diese Staaten keine Inseln waren und deshalb die wesentlichste Voraussetzung
der englischen Entwicklung nicht besaßen. Nur in einem Punkte war
England wirklich ein Vorbild. Als das Bürgertum daranging, den absoluten
Staat wieder in einen Ständestaat zu verwandeln, fand es drüben
ein Gebilde, das nie etwas andres gewesen war. Allerdings war es der Adel
allein, der regierte, aber zum wenigsten war es nicht die Krone.
(Ebd., S. 1075-1076).
Das Ergebnis der Epoche und die Grundform der Festlandstaaten
zu Beginn der Zivilisation ist die »konstitutionelle Monarchie«,
als deren äußerste Möglichkeit die Republik erscheint,
so wie wir heute das Wort verstehen. Denn man muß sich endlich von
dem Geschwätz der Doktrinäre befreien, die in zeitlosen und
also wirklichkeitsfremden Begriffen denken und für welche »die
Republik« eine Form an sich ist. So wenig England eine Konstitution
im festländischen Sinne besitzt, so wenig hat das republikanische
Ideal des 19. Jahrhunderts irgend etwas mit der antiken res publica
oder auch nur mit Venedig und den Schweizer Urkantonen zu tun. Was wir
so nennen, ist eine Negation, die das Verneinte mit innerer Notwendigkeit
als beständig möglich voraussetzt. Es ist die Nichtmonarchie
in Formen, die der Monarchie entlehnt sind. Das genealogische Gefühl
ist im abendländischen Menschen so ungeheuer stark und straft sein
Bewußtsein bis zu dem Grade Lügen, daß die Dynastie die
gesamte politische Haltung bestimmt, auch wenn sie gar nicht mehr da ist.
In ihr verkörpert sich das Historische, und unhistorisch können
wir nicht leben. Es ist ein großer Unterschied, ob der antike Mensch
das dynastische Prinzip aus dem Grundgefühl seines Seins heraus überhaupt
nicht kennt oder ob es der abendländische Gebildete seit der Aufklärung
und für die Dauer von etwa zwei Jahrhunderten aus abstrakten Gründen
in sich niederzukämpfen sucht. Dies Gefühl ist der geheime Feind
aller entworfenen und nicht gewachsenen Verfassungen, die im letzten Grunde
nichts als Abwehrmaßregeln und aus Furcht und Mißtrauen geboren
sind. Der Freiheitsbegriff der Stadt frei sein von etwas
verengt sich bis zu einer lediglich antidynastischen Bedeutung; die republikanische
Begeisterung lebt nur von diesem Gefühl. (Ebd., S. 1076).
Zum Wesen einer solchen Verneinung gehört unvermeidlich ein
Vorwiegen der Theorie. Während die Dynastie und die ihr innerlich
nahestehende Diplomatie die alte Tradition, den Takt bewahren, haben in
den Verfassungen Systeme, Bücher und Begriffe ein Übergewicht,
wie es in England, wo der Regierungsform nichts Verneinendes und Defensives
anhaftet, ganz undenkbar ist. Nicht umsonst ist die faustische Kultur
die des Schreibens und Lesens. Das gedruckte Buch ist ein Sinnbild der
zeitlichen, die Presse außerdem ein Sinnbild der räumlichen
Unendlichkeit. Gegenüber der ungeheuren Macht und Tyrannei dieser
Symbole erscheint selbst die chinesische Zivilisation beinahe schriftlos.
In den Verfassungen wird die Literatur gegen die Kenntnis der Menschen
und Dinge, die Sprache gegen die Rasse, das abstrakte Recht gegen die
erfolgreiche Tradition angesetzt, ohne Rücksicht darauf, ob die Nation
mitten im Strom der Ereignisse noch arbeitsfähig und in Form bleibt.
Mirabeau hat ganz allein und vergeblich gegen eine Versammlung gekämpft,
welche »die Politik mit einem Roman verwechselte«. Nicht nur
die drei doktrinärsten Verfassungen des Zeitalters, die französische
von 1791, die deutschen von 1848 und 1919, sondern so gut wie alle wollen
das große Schicksal der Tatsachenwelt nicht sehen und glauben es
damit widerlegt zu haben. Statt des Unvorhergesehenen, des Zufalls der
starken Persönlichkeiten und Umstände soll die Kausalität
herrschen, zeitlos, gerecht, immer derselbe verständige Zusammenhang
von Ursache und Wirkung. Es ist bezeichnend, daß kein Verfassungstext
das Geld als politische Größe kennt. Sie enthalten sämtlich
reine Theorie (Ebd., S. 1076-1077).
Dieser Zwiespalt im Wesen der konstitutionellen Monarchie läßt
sich nicht aufheben. Hier stehen Wirkliches und Gedachtes, Arbeit und
Kritik schroff gegeneinander, und die wechselseitige Reibung ist das,
was dem Gebildeten vom Durchschnitt als innere Politik erscheint. Nur
in England wenn man von Preußen-Deutschland und von Österreich
absieht, wo anfangs eine Verfassung zwar vorhanden, aber der politischen
Tradition gegenüber nicht sehr einflußreich war erhielten
sich Regierungsgewohnheiten aus einem Guß. Hier behauptete sich
die Rasse gegenüber dem Prinzip. Man ahnte, daß wirkliche,
das heißt ausschließlich auf den geschichtlichen Erfolg gerichtete
Politik auf Zucht und nicht auf Bildung beruhe. Das war kein aristokratisches
Vorurteil, sondern eine kosmische Tatsache, die in den Erfahrungen englischer
Vollblutzüchter viel deutlicher hervortritt als in sämtlichen
Philosophiesystemen der Welt. Bildung kann die Zucht verfeinern, aber
nicht ersetzen. Und so werden die hohe englische Gesellschaft, die Schule
von Eton, das Balliol College in Oxford die Stätten, wo Politiker
gezüchtet werden mit einer Folgerichtigkeit, die nur in der Züchtung
des preußischen Offizierskorps ihresgleichen hatte, Kenner nämlich,
die den geheimen Takt der Dinge beherrschen, auch den stillen Gang der
Meinungen und Ideale, und die deshalb seit 1832 den ganzen Strom der bürgerlich-revolutionären
Grundsätze über das von ihnen gelenkte Dasein hingehen ließen
ohne die Gefahr, den Zügel aus der Hand zu verlieren. Sie besaßen
das training, die Biegsamkeit und Beherrschtheit eines menschlichen
Leibes, der, das jagende Pferd unter sich, den Sieg heranfühlt.
Man ließ die großen Grundsätze die Masse bewegen, weil
man wußte, daß es das Geld war, mit dem man die großen
Grundsätze bewegen konnte, und man fand statt der brutalen Methoden
des 18. Jahrhunderts feinere und nicht weniger wirksame, von denen die
Drohung mit den Kosten einer Neuwahl die einfachste ist. Die doktrinären
Verfassungen des Festlands sahen nur die eine Seite der Tatsache Demokratie.
Hier, wo man keine Verfassung hatte, sondern in Verfassung war, übersah
man sie ganz. (Ebd., S. 1077-1078).
Ein dunkles Gefühl davon ist auf dem Festland nie verschwunden.
Für den absoluten Barockstaat gab es eine klare Form; für die
konstitutionelle Monarchie gab es nur schwankende Kompromisse, und die
konservative und liberale Partei unterscheiden sich nicht wie in England
seit Canning nach längst erprobten Regierungsmethoden,
die sie abwechselnd zur Anwendung brachten, sondern nach der Richtung,
in welcher sie die Verfassung abzuändern wünschten, nämlich
nach der Tradition oder der Theorie hin. Sollte die Dynastie dem Parlament
dienen oder umgekehrt? Das war die Streitfrage, über welcher man
den außenpolitischen Endzweck vergaß. Die »spanische«
und die mißverstandene »englische« Seite
der Verfassung wuchsen nicht zusammen und konnten es nicht, so daß
während des 19. Jahrhunderts der diplomatische Außendienst
und die parlamentarische Tätigkeit sich nach zwei ganz verschiedenen
Seiten hin entwickelten, sich dem Grundgefühl und der Methode nach
vollkommen fremd wurden und einander gründlich verachteten. Das Leben
rieb sich wund in einer Form, die es nicht aus sich selbst entwickelt
hatte. Frankreich verfiel seit dem Thermidor einer Herrschaft der Börse,
gemildert durch gelegentliche Aufrichtung einer Militärdiktatur:
1800, 1851, 1871, 1918. In der Schöpfung Bismarcks, die in den Grundzügen
dynastischer Natur war, mit einem entschieden untergeordneten parlamentarischen
Bestandteil, wurde die innere Reibung so stark, daß sie die gesamte
politische Energie und zuletzt, seit 1916, den Organismus selbst verbraucht
hat. Das Heer hatte seine eigne Geschichte und eine große Tradition
von Friedrich Wilhelm I. an, ebenso die Verwaltung. Hier liegt der Ursprung
des Sozialismus als einer Art, politisch in Form zu sein, die der englischen
streng entgegengesetzt ist (vgl. Preußentum
und Sozialismus, S, 40 ff.),
aber ebenso wie diese der vollkommene Ausdruck einer starken Rasse. Der
Offizier und der Beamte wurden in Vollendung gezüchtet, aber die
Aufgabe, den entsprechenden politischen Typus zu züchten, wurde nicht
erkannt. Die hohe Politik wurde »verwaltet«, die niedere war
hoffnungsloses Gezänk. So wurden Heer und Verwaltung endlich Selbstzweck,
seit mit Bismarck der Mann gegangen war, für den sie Mittel sein
konnten auch ohne die Mitarbeit eines Stammes von Politikern, den nur
eine Tradition erzeugt. Als mit dem Ausgang des Weltkriegs der Oberbau
verschwand, blieben die nur zur Opposition erzogenen Parteien allein übrig
und brachten die Regierungstätigkeit plötzlich auf ein Niveau
herab, das unter zivilisierten Staaten bis jetzt unbekannt war.
(Ebd., S. 1078-1079).
Aber der Parlamentarismus ist heute in vollem Verfall begriffen.
Er war eine Fortsetzung der bürgerlichen Revolution mit andern
Mitteln, die Revolution des dritten Standes von 1789, in gesetzmäßige
Form gebracht und mit ihrer Gegnerin, der Dynastie, zur Regierungseinheit
verbunden. In der Tat ist jeder moderne Wahlkampf ein mit dem Stimmzettel
und allen Mitteln der Aufreizung durch Rede und Schrift geführter
Bürgerkrieg und jeder große Parteiführer eine Art bürgerlicher
Napoleon. Diese auf Dauer berechnete Form, die ausschließlich der
abendländischen Kultur angehört und in jeder andern sinnlos
und unmöglich wäre, enthüllt wieder den Hang zum Unendlichen,
die historische Voraussicht (*) und Vorsorge
und den Willen, die ferne Zukunft zu ordnen und zwar nach bürgerlichen
Grundsätzen der Gegenwart. (Die Entstehung
des römischen Tribunats ist ein blinder Zufall, dessen glückliche
Folgen niemand ahnte. Dagegen sind die abendländischen Verfassungen
wohl durchdacht und in ihren Wirkungen genau berechnet worden, gleichviel
ob die Rechnung falsch war oder nicht.) (Ebd., S. 1079-1080).
Trotzdem ist der Parlamentarismus kein Gipfel wie die absolute
Polis und der Barockstaat, sondern ein kurzer Übergang, nämlich
von der Spätzeit mit ihren gewachsenen Formen zum Zeitalter der großen
Einzelnen inmitten einer formlos gewordenen Welt. Er enthält einen
Rest guten Barockstils wie die Häuser und Möbel aus der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die parlamentarische Sitte ist englisches
Rokoko, aber nicht mehr selbstverständlich und im Blute liegend,
sondern oberflächlich nachgeahmt und Sache des guten Willens. Nur
in den kurzen Zeiten anfänglicher Begeisterung besitzt sie einen
Schein von Tiefe und Dauer und nur deshalb, weil man eben gesiegt hatte
und aus Achtung vor dem eignen Stand die guten Manieren der Besiegten
sich zur Pflicht machte. Die Form zu wahren, auch wo sie dem Vorteil widerspricht:
auf dieser Übereinkunft beruht die Möglichkeit des Parlamentarismus.
Dadurch, daß er erreicht ist, ist er eigentlich schon überwunden.
Der Nichtstand zerfällt wieder in natürliche Interessengruppen;
das Pathos des leidenden und siegreichen Widerstandes ist zu Ende. Und
sobald die Form nicht mehr die Anziehungskraft eines jungen Ideals besitzt,
für das man auf die Barrikaden geht, erscheinen die außerparlamentarischen
Mittel, um trotz der Abstimmung und ohne sie das Ziel zu erreichen: darunter
das Geld, der wirtschaftliche Druck, vor allem der Streik. Weder die großstädtische
Masse noch der starke Einzelne haben wahre Achtung vor dieser Form ohne
Tiefe und Vergangenheit, und sobald man entdeckt, daß sie nur
Form ist, ist sie auch schon Maske und Schatten geworden. Mit dem Anfang
des 20. Jahrhunderts nähert sich der Parlamentarismus, auch der englische,
mit schnellen Schritten der Rolle, die er selbst dem Königtum bereitet
hat. Er wird ein eindrucksvolles Schauspiel für die Menge der Gläubigen,
während der Schwerpunkt der großen Politik, wie er rechtlich
von der Krone zur Volksvertretung hinüberging, nun aus dieser in
Privatkreise und den Willen von Privatpersonen verlegt wird. Der Weltkrieg
hat diese Entwicklung beinahe abgeschlossen. Von der Herrschaft Lloyd
Georges führt kein Weg zum alten Parlamentarismus zurück und
ebensowenig von dem Napoleonismus der französischen Militärpartei.
Und für Amerika, das bis jetzt für sich dalag und eher ein Gebiet
als ein Staat war, ist mit dem Eintritt in die Weltpolitik das einer Theorie
von Montesquieu entstammende Nebeneinander von Präsidentschaft und
Kongreß unhaltbar geworden und wird in Zeiten wirklicher Gefahr
formlosen Gewalten Platz machen, wie sie Südamerika und Mexiko längst
kennengelernt haben. (Ebd., S. 1080-1081).
Damit ist der
Eintritt in das Zeitalter der Riesenkämpfe vollzogen, in dem wir
uns heute befinden. Es ist der Übergang vom Napoleonismus zum
Cäsarismus, eine allgemeine Entwicklungsstufe ..., die in allen
Kulturen nachzuweisen ist. Die Chinesen nennen sie tschan-kuo,
Zeit der kämpfenden Staaten. Am Anfang werden sieben Großmächte
gezählt, die erst planlos, dann mit immer klareren Blick für
das unvermeidliche Endergebnis in diese dichte Folge von Kriegen und Revolutionen
eintreten. Ein Jahrhundert später sind es noch fünf. .... Gleichzeitig
beginnt der rasche Aufstieg des Römerstaates Tsin im unphilosophischen
Nordwesten, der seinen Einfluß nach West und Süd über
Tibet und Yünnan ausdehnt und die übrige Staatenwelt in weitem
Bogen umklammert. Den Mittelpunkt der Gegnerschaft bildet das Königreich
Tsu im taoistischen Süden, von wo aus die chinesische Zivilisation
langsam in die damals noch wenig bekannten Länder jenseits des großen
Stromes drängt. Das ist in der Tat ein Gegensatz wie der zwischen
Römertum und Hellenismus: dort der harte Wille zur Macht, hier der
Hang zur Träumerei und Weltverbesserung. 368-320 (antik
etwa Zeit des Zweiten Punischen Krieges, 218-201) steigert sich der Kampf
zu einem ununterbrochenen Ringen der gesamten chinesischen Welt, mit Massenheeren,
die bis zur äußersten Anspannung der Bevölkerungszahl
aufgebracht werden. (Ebd., S. 1081-1082).
Kein Zeitalter zeigt so deutlich wie das der kämpfenden Staaten
die weltgeschichtliche Alternative: große Form oder große
Einzelgewalten. In demselben Grade wie die Nationen aufhören,
politisch in Verfassung zu sein, wachsen die Möglichkeiten für
den energischen Privatmann, der politisch schöpferisch sein, der
um jeden Preis Macht besitzen will und durch die Wucht seiner Erscheinung
das Schicksal ganzer Völker und Kulturen wird. Die Ereignisse sind
der Form nach voraussetzungslos geworden. An Stelle der gesicherten Tradition,
die des Genies entbehren kann, weil sie selbst kosmische Kraft in höchster
Potenz ist, tritt nun der Zufall großer Tatsachenmenschen; der Zufall
ihres Aufstiegs führt ein schwaches Volk wie das makedonische über
Nacht an die Spitze der Ereignisse und der Zufall ihres Todes kann die
Welt aus persönlich gefestigter Ordnung unvermittelt in das Chaos
stürzen, wie die Ermordung Cäsars beweist. (Ebd., S. 1083).
Das hat sich früher schon in den kritischen Übergangszeiten
offenbart. Die Epoche der Fronde, der Ming-dschu, der ersten Tyrannis,
wo man nicht in Form war, sondern um die Form kämpfte, hat jedesmal
eine Reihe großer Gestalten heraufgeführt, die über alle
Schranken eines Amtes hinauswuchsen. Die Wende von der Kultur zur Zivilisation
tut es noch einmal im Napoleonismus. Mit diesem aber, der das Zeitalter
der unbedingten geschichtlichen Formlosigkeit einleitet, bricht die eigentliche
Blütezeit der großen Einzelnen an, die für uns mit dem
Weltkrieg fast auf ihren Höhepunkt gelangt ist. In der Antike geschah
das mit Hannibal, der im Namen des Hellenismus, dem er innerlich angehörte,
den Kampf gegen Rom eröffnet hat, aber zugrunde ging, weil der hellenistische
Osten, ganz antik, den Sinn der Stunde zu spät oder gar nicht begriff.
Mit seinem Untergang beginnt jene stolze Reihe, die von den beiden Scipionen
über Aemilius Paulus, Flaminius, die Catonen, die Gracchen, über
Marius und Sulla zu Pompejus, Cäsar und Augustus führt. Ihnen
entspricht jene Folge von Staatsmännern und Feldherrn im China der
kämpfenden Staaten, die sich wie dort um Rom, so hier um Tsin sammeln.
Bei der Verständnislosigkeit, mit welcher die politische Seite der
chinesischen Geschichte behandelt zu werden pflegt, hat man sie als Sophisten
bezeichnet. (Wenn der Ausdruck in den chinesischen
Texten annähernd so töricht gemeint sein sollte, wie er von
den Übersetzern verstanden worden ist, so beweist das nur, daß
das Verständnis für politische Probleme in der chinesischen
Kaiserzeit ebenso schnell dahinschwand wie in der römischen
weil man selbst keine Probleme mehr erlebte. Der vielbewunderte Se-ma-tsien
ist im Grunde doch nur ein Kompilator etwa vom Range Plutarchs, dem er
auch zeitlich entspricht. Der Höhepunkt geschichtlichen Verstehens,
der ein gleichwertiges Erleben voraussetzt, muß in der Zeit
der kämpfenden Staaten selbst gelegen haben, wie er für uns
mit dem 19. Jahrhundert beginnt.) Sie waren es auch, aber in dem
Sinne, wie die vornehmen Römer der gleichen Zeit Stoiker waren, nachdem
sie im griechischen Osten philosophischen und rhetorischen Unterricht
empfangen hatten. Sie waren alle geschulte Redner und haben alle gelegentlich
über Philosophie geschrieben, Cäsar und Brutus so gut wie Cato
und Cicero, aber nicht als Berufsphilosophen, sondern auf Grund einer
vornehmen Sitte und aus ihrem otium cum dignitate heraus. Abgesehen
davon waren sie Meister der Tatsachen, auf dem Schlachtfelde wie in der
hohen Politik, und genau dasselbe gilt von den Staatskanzlern Dschang-yi
und Su-tsin (beide waren wie die meisten führenden
Staatsmänner der Zeit Hörer des Kwei-ku-tse gewesen, der durch
seine Menschenkenntnis, den tiefen Blick für das geschichtlich Mögliche
und seine Beherrschung der damaligen diplomatischen Technik der
»Kunst des Senkrechten und Wagerechten« als eine der
einflußreichsten Persönlichkeiten des Zeitalters erscheint.
Eine ähnliche Bedeutung hatte nach ihm der eben erwähnte Denker
und Kriegstheoretiker Sun-tse, unter anderm Erzieher des Kanzlers Li-si),
dem gefürchteten Diplomaten Fan-sui, der den General Pe-ki gestürzt
hat, dem Gesetzgeber von Tsin Wei-yang, dem Mäcenas des ersten Kaisers
Lui-schi, und andern. (Ebd., S. 1083-1084).
Die Kultur hatte alle Kräfte in strenge Form gebunden. Jetzt
sind sie entfesselt und »die Natur«, das heißt das Kosmische,
bricht unvermittelt hervor. Die Wendung vom absoluten Staat zur
kämpfenden Völkergemeinschaft jeder beginnenden Zivilisation
mag für Idealisten und Ideologen bedeuten, was sie will; in der Tatsachenwelt
bedeutet sie den Übergang vom Regieren im Stil und Takt einer strengen
Tradition zu dem sic volo, sic jubeo des schrankenlosen persönlichen
Regiments. Das Maximum von sinnbildlicher, überpersönlicher
Form fällt mit dem Gipfel der Spätzeiten zusammen, in China
um 600, in der Antike um 450, für uns um 1700; das Minimum liegt
in der Antike unter Sulla und Pompejus und wird für uns im nächsten
Jahrhundert erreicht und vielleicht schon durchschritten sein. Die großen
zwischenstaatlichen Kämpfe sind überall mit innerstaatlichen
durchsetzt, Revolutionen von einer furchtbaren Art, aber sie dienen
ob sie es wissen und wollen oder nicht ohne Ausnahme außerstaatlichen
und zuletzt rein persönlichen Machtfragen; was sie selbst theoretisch
erstreben, ist geschichtlich bedeutungslos, und wir brauchen nicht zu
wissen, unter welchen Schlagworten die chinesischen und arabischen Revolutionen
dieser Epoche ausbrachen oder ob sie ohne dergleichen geführt worden
sind. Keine der zahllosen Revolutionen dieses Zeitalters, die mehr und
mehr blinde Ausbrüche entwurzelter großstädtischer Massen
werden, haben je ein Ziel erreicht oder auch nur erreichen können.
Eine geschichtliche Tatsache bleibt nur der beschleunigte Abbau
uralter Formen, der für cäsarische Gewalten freie Bahn schafft.
(Ebd., S. 1085).
Aber dasselbe gilt auch von den Kriegen, in denen die Heere und
ihre Taktik mehr und mehr Schöpfungen nicht mehr der Epoche, sondern
unumschränkter Einzelführer werden, die oft genug ihr Genie
erst spät und durch Zufall entdeckt haben. Um 300 gibt es römische
Heere, seit 100 gibt es nur noch Heere des Marius, Sulla, Cäsar,
und Oktavian wurde von seinem Heere, dem der Veteranen Cäsars, mehr
geführt als daß er es führte. Aber damit nehmen die Methoden
der Kriegführung, ihre Mittel und Ziele ganz andere, naturalistische,
erschreckende Formen an. Es sind nicht mehr wie im 18. Jahrhundert Duelle
in ritterlichen Formen wie ein Zweikampf im Park von Trianon, bei denen
es feste Regeln dafür gibt, wann jemand seine Kräfte für
erschöpft erklärt, was als das Höchstmaß aufzubringender
Streitkräfte gilt und welche Bedingungen der Sieger als Kavalier
stellen darf. Es sind Ringkämpfe wütender Menschen mit allen
Mitteln, mit Fäusten und Zähnen, die bis zum körperlichen
Zusammenbruch des einen und zur schrankenlosen Ausnutzung des Erfolgs
durch den andern geführt werden. Das erste große Beispiel dieser
Rückkehr zur Natur geben die Heere der Revolution und Napoleons,
welche an die Stelle kunstvollen Manövrierens mit kleinen Truppenkörpern
den Sturmangriff von Massen ohne Rücksicht auf die Verluste setzen
und damit die ganze feine Strategie des Rokoko in Trümmer schlagen.
Die Muskelkraft eines ganzen Volkes auf den Schlachtfeldern anzusetzen,
wie es durch die Anwendung der allgemeinen Wehrpflicht geschieht, ist
ein Gedanke, welcher dem Zeitalter Friedrichs des Großen gänzlich
fern lag. (Ebd., S. 1085-1086).
Und ebenso ist in allen Kulturen die Technik des Krieges der des
Handwerks zögernd gefolgt, bis sie zu Beginn einer jeden Zivilisation
plötzlich die Führung übernimmt, alle mechanischen Möglichkeiten
rücksichtslos in ihren Dienst stellt und ganz neue Gebiete durch
das militärische Bedürfnis überhaupt erst erschließt,
damit aber auch das persönliche Heldentum des Rassemenschen, das
adlige Ethos und den feinen Geist der Spätzeit in weitem Umfange
ausschaltet. Innerhalb der Antike, wo das Wesen der Polis Massenheere
unmöglich machte im Verhältnis zur Kleinheit aller antiken
Formen, auch der taktischen, sind die Zahlen von Cannä, Philippi
und Actium ganz ungeheuer , hat die zweite Tyrannis die mechanische
Technik eingeführt, und zwar durch Dionys von Syrakus gleich in großartigem
Maßstab. (Das heißt im Vergleich zu
der ganz geringfügigen sonstigen Technik der Antike, während
sie gegenüber etwa der assyrischen und chinesischen nicht gerade
bedeutend erscheint.) Erst jetzt werden Belagerungen möglich
wie die von Rhodos (305), Syrakus (213), Karthago (146) und Alesia (52),
an denen sich zugleich die steigende Bedeutung der Schnelligkeit selbst
für die antike Kriegführung erkennen läßt; und aus
demselben Grunde wirkt eine römische Legion, deren Aufbau ja erst
eine Schöpfung der hellenistischen Zivilisation ist, wie eine Maschine
gegenüber den athenischen und spartanischen Aufgeboten des 5. Jahrhunderts.
Dem entspricht es, wenn im »gleichzeitigen« China seit 474
Eisen für die Hieb- und Stichwaffen verarbeitet wird, seit 450 die
leichte Reiterei nach mongolischem Vorbild den schweren Kriegswagen verdrängt
und der Festungskampf plötzlich einen gewaltigen Aufschwung nimmt.
(Das Buch des Sozialisten Moh-ti aus dieser Zeit
handelt im ersten Teil von der allgemeinen Menschenliebe, im zweiten von
der Festungsartillerie, ein seltsamer Beleg zum Gegensatz von Wahrheiten
und Tatsachen: Forke in der Ostasiat. Ztschr. VIII [Hirthnummer].)
Die Grundneigung des zivilisierten Menschen zur Schnelligkeit, Beweglichkeit
und Massenwirkung hat sich endlich in der westeuropäisch-amerikanischen
Welt mit dem faustischen Willen zur Herrschaft über die Natur verbunden
und zu dynamischen Methoden geführt, die noch Friedrich der Große
für wahnwitzig erklärt haben würde, die aber in der Nachbarschaft
unserer Verkehrs- und Industrietechnik etwas ganz Natürliches haben.
Napoleon machte die Artillerie beritten und also schnell beweglich, wie
er auch das Massenheer der Revolution in ein System schnell zu verschiebender
Einzelkörper aufgelöst hat, und er hat schon bei Wagram und
an der Moskwa ihre rein physikalische Wirkung bis zum wirklichen Schnell-
und Trommelfeuer gesteigert. Die zweite Stufe bringt, was sehr bezeichnend
ist, der amerikanische Bürgerkrieg von 186165, der auch hinsichtlich
der Truppenstärke zum erstenmal die Größenordnung der
napoleonischen Zeit bei weitem überschritten hat (mehr
als 1½ Millionen Mann auf kaum 20 Millionen Einwohner der Nordstaaten),
und in dem zuerst für die Verschiebung großer Truppenmassen
die Eisenbahn, für den Nachrichtendienst der elektrische Telegraph,
für die Blockade eine monatelang auf hoher See gehaltene Dampferflotte
erprobt und das Panzerschiff, der Torpedo, die gezogenen Schußwaffen
und die ganz großen Geschütze von außerordentlicher Tragweite
erfunden wurden. (Zu den ganz neuen Aufgaben gehörte
auch der Schnellbau von Bahnen und Brücken; die für die schwersten
Militärzüge bestimmte Chattanoogabrücke von 240 m Länge
und 30 m Höhe wurde in 4½ Tagen gebaut.) Die dritte
Stufe bezeichnet nach dem Vorspiel des russisch-japanischen Krieges (das
moderne Japan gehört ebenso zur abendländischen Zivilisation
wie das »moderne« Karthago von 300 v. Chr. zur antiken)
der Weltkrieg, der die Luft- und Unterseewaffen in seinen Dienst stellte,
das Tempo der Erfindungen zu einer neuen Waffe erhob, und mit dem vielleicht
der Umfang, aber durchaus noch nicht die Intensität der verwendeten
Mittel den Höhepunkt erreicht hat. Aber dem Aufwand an Kraft entspricht
denn auch allenthalben in diesem Zeitalter die Härte der Entscheidungen.
Gleich am Eingang der chinesischen Periode tschan-kuo steht die
vollständige Vernichtung des Staates Wu (472), die unter den ritterlichen
Sitten der vorauf gegangenen Periode tschun-tsiu nicht möglich gewesen
wäre; Napoleon überschritt schon im Frieden von Campo Formio
bei weitem die Konvenienz des 18. Jahrhunderts und begründete seit
Austerlitz eine Gewohnheit der Ausnützung von kriegerischen Erfolgen,
für die es andere als materielle Schranken überhaupt nicht mehr
gab. Den letzten noch möglichen Schritt vollzieht der Typus des Versailler
Friedens, der gar keinen Abschluß mehr enthalten will, sondern die
Möglichkeit offen läßt, aus jeder Neugestaltung der Lage
heraus neue Bedingungen zu stellen. Dieselbe Entwicklung zeigt die Folge
der drei Punischen Kriege. Der Gedanke, eine der führenden Großmächte
von der Erdoberfläche zu vertilgen, wie er durch Catos ganz nüchtern
gemeintes Carthaginem esse delendam jedem geläufig geworden
war, ist dem Sieger von Zama nicht in den Sinn gekommen und würde
trotz der wilden Gewohnheiten der antiken Polis dem Lysander, als er Athen
bezwungen hatte, wie ein Frevel an allen Göttern erschienen sein.
(Ebd., S. 1086-1088).
Die Zeit der kämpfenden Staaten beginnt für
die Antike mit der Schlacht bei Ipsus (301), durch welche die Dreizahl
der östlichen Großmächte festgelegt wurde, und dem römischen
Sieg von Sentinum (295) über Etrusker und Samniten, der im Westen
neben Karthago noch eine mittelitalische Großmacht schuf. Das antike
Haften an der Nähe und Gegenwart hat dann aber bewirkt, daß
Rom, ohne beobachtet zu werden, durch das Abenteuer mit Pyrrhus den italischen
Süden, durch den ersten Krieg mit Karthago das Meer, durch C. Flaminius
den keltischen Norden gewann, und daß selbst Hannibal noch unverstanden
blieb, vielleicht der einzige Mensch seiner Zeit, die Römer nicht
ausgenommen, der den Gang der Entwicklung deutlich voraussah. Bei
Zama (202) und nicht erst bei Magnesia (190) und Pydna (168) sind
auch die hellenistischen Ostmächte besiegt worden. Es
war ganz umsonst, wenn der große Scipio (235-189) mit wahrer Angst
vor dem Schicksal, dem eine mit den Aufgaben der Weltherrschaft belastete
Polis entgegenging, von nun an jede Eroberung zu vermeiden suchte. Es
war umsonst, wenn seine Umgebung gegen den Willen aller Kreise den makedonischen
Krieg durchsetzte, nur um den Osten dann gefahrlos sich selbst überlassen
zu können. Der
Imperialismus ist ein so notwendiges Ergebnis, daß er ein Volk im
Nacken packt und in die Herrenrolle stößt, wenn es sie zu spielen
sich weigert. Das römische Reich ist nicht erobert worden.
Der orbis terrarum hat sich in diese Form hineingedrängt und
die Römer gezwungen, ihr den Namen zu geben. Das ist ganz antik.
Während die chinesischen Staaten
auch noch den letzten Rest ihrer Selbständigkeit in erbitterten Kriegen
verteidigt haben, ging Rom seit 146 nur deshalb an die Verwandlung der
östlichen Ländermasse in Provinzen, weil es ein anderes Mittel
gegen die Anarchie nicht mehr gab. Und auch das hatte zur Folge, daß
die innere Form Roms, die letzte, die noch aufrecht geblieben war, sich
unter dieser Belastung in den gracchischen Unruhen auflöste. Es ist
ohne Beispiel, daß hier der Endkampf um das Imperium überhaupt
nicht mehr zwischen Staaten stattfindet, sondern zwischen den Parteien
einer Stadt; aber die Form der Polis ließ einen andern Ausweg gar
nicht zu. Was einst Sparta und Athen gewesen war, heißt jetzt Optimaten-
und Popularpartei. In der gracchischen Revolution, die 134 schon der erste
Sklavenkrieg voraufging, wurde der jüngere Scipio heimlich ermordet
und C. Gracchus öffentlich erschlagen: das sind der erste Prinzeps
und der erste Tribun als die politischen Mittelpunkte einer formlos gewordenen
Welt. Wenn die stadtrömische Masse 104 zum erstenmal ein Imperium
in gesetzloser und tumultuarischer Weise einem Privatmann Marius
übertrug, so ist die tiefere Bedeutung dieses Schauspiels
der Annahme des mythischen Kaisertitels durch[1089] Tsin 288 vergleichbar:
der unvermeidliche Ausgang des Zeitalters, der Cäsarismus, zeichnet
sich plötzlich am Horizont. (Ebd., S. 1088-1090).
Der Erbe des Tribunen ist Marius, der wie jener den Mob mit der
Hochfinanz verbindet und 87 den alten Adel in Masse hinmordet; der Erbe
des Prinzeps war Sulla, der 82 den Stand der großen Geldleute durch
seine Proskriptionen vernichtet hat. Von nun an vollziehen sich die letzten
Entscheidungen schnell, wie in China seit dem Auftreten des Wang-dscheng.
Der Prinzeps Pompejus und der Tribun Cäsar - Tribun
nicht dem Amte, aber der Haltung nach - vertreten noch Parteien, aber
sie haben auch schon in Lucca (56) zusammen mit Crassus zum ersten Male
die Welt unter sich verteilt. Als bei Philippi (42) die Erben gegen die
Mörder Cäsars kämpften, waren es nur noch Gruppen; bei
Actium (31) waren es nur noch Einzelpersonen: damit ist auch auf diesem
Wege der Cäsarismus erreicht. (Ebd., S. 1090).
Für uns hat das Zeitalter der kämpfenden Staaten mit
Napoleon und der Gewaltsamkeit seiner Maßregeln begonnen. In seinem
Kopf ist zuerst der Gedanke einer militärischen und zugleich volkstümlichen
Weltherrschaft wirksam geworden, etwas ganz anderes als das Reich Karls
V. und das englische Kolonialreich noch zu seiner Zeit. Wenn das 19. Jahrhundert
an großen Kriegen und Revolutionen arm gewesen ist
und die schwersten Krisen auf Kongressen diplomatisch überwunden
hat, so beruht das gerade auf einer beständigen so ungeheuren Bereitschaft
zum Kriege, daß die Furcht vor den Folgen in letzter Stunde immer
wieder zur Vertagung der endgültigen Entscheidung und zum Ersatz
des Krieges durch politische Schachzüge geführt hat. Denn dieses
Jahrhundert ist das der stehenden Riesenheere und der allgemeinen Wehrpflicht.
Wir sind ihm noch zu nahe, um das Schauerliche dieses Anblicks und das
Beispiellose innerhalb der gesamten Weltgeschichte zu empfinden. Seit
Napoleon stehen beständig Hunderttausende, zuletzt Millionen marschbereit,
liegen gewaltige Flotten, die alle zehn Jahre erneuert werden, in den
Häfen. Es ist ein Krieg ohne Krieg, ein Krieg des Überbietens
mit Rüstungen und Schlagfertigkeit, ein Krieg der Zahlen, des Tempos,
der Technik, und die Diplomaten verhandeln nicht von Hof zu Hof, sondern
von Hauptquartier zu Hauptquartier. Je länger die Entladung verzögert
wird, desto ungeheuerlicher werden die Mittel, desto unerträglicher
wächst die Spannung. Das ist die faustische, die dynamische Form
der kämpfenden Staaten in ihrem ersten Jahrhundert, aber sie ist
mit der Entladung des Weltkriegs zu Ende. Denn durch das Aufgebot dieser
vier Jahre ist das der französischen Revolution entstammende, in
dieser Form durch und durch revolutionäre Prinzip der allgemeinen
Wehrpflicht samt den aus ihr entwickelten taktischen Mitteln überwunden.
(Sie mag als begeisternde Idee festgehalten werden;
in die Wirklichkeit umgesetzt wird sie nie wieder) An Stelle der
stehenden Heere werden von nun an allmählich Berufsheere freiwilliger
und kriegsbegeisterter Soldaten treten, an Stelle der Millionen wieder
die Hunderttausende, aber eben damit wird dieses zweite Jahrhundert wirklich
das der kämpfenden Staaten sein. Das bloße Dasein dieser Heere
ist kein Ersatz des Krieges. Sie sind für den Krieg da und sie wollen
ihn. In zwei Generationen werden sie es sein, deren Wille stärker
ist als der aller Ruhebedürftigen. In diesen Kriegen um das Erbe
der ganzen Welt werden Kontinente angesetzt, Indien, China, Südafrika,
Rußland, der Islam aufgeboten, neue Techniken und Taktiken gegeneinander
ausgespielt werden. Die großen weltstädtischen Machtmittelpunkte
werden über die kleineren Staaten, ihr Gebiet, ihre Wirtschaft und
Menschen nach Gutdünken verfügen; das alles ist nur noch Provinz,
Objekt, Mittel zum Zweck; sein Schicksal ist ohne Bedeutung für den
großen Gang der Dinge. Wir haben in wenigen Jahren gelernt, Ereignisse
kaum noch zu beachten, die vor dem Kriege die Welt hätten erstarren
lassen. Wer denkt heute ernsthaft an die Millionen, die in Rußland
zugrunde gehen? (Ebd., S. 1097-1098).
Daß zwischen diesen Katastrophen voller Blut und Entsetzen
immer wieder der Ruf nach Völkerversöhnung und Frieden auf Erden
erschallt, ist in dem Grade notwendig, als Hintergrund und Widerhall eines
großartigen Geschehens, daß man es auch dort noch annehmen
muß, wo nichts davon überliefert ist wie im Ägypten der
Hyksoszeit, in Bagdad und Byzanz. Man mag den Wunsch einschätzen,
wie man will, aber man sollte den Mut haben, die Dinge zu sehen, wie sie
sind. Das zeichnet den Menschen von Rasse aus, durch dessen Dasein allein
es Geschichte gibt. Das Leben ist hart, wenn es groß sein soll.
Es läßt nur die Wahl zwischen Sieg und Niederlage, nicht
zwischen Krieg und Frieden, und die Opfer des Sieges gehören zum
Siege. Denn es ist nichts als Literatur, geschriebene, gedachte, gelebte
Literatur, die hier anklagend und eifernd neben den Ereignissen einhergeht.
Es sind bloße Wahrheiten, die sich im Gedränge der Tatsachen
verlieren. Die Geschichte hat nie geruht, von diesen Vorschlägen
Kenntnis zu nehmen. In der chinesischen Welt hat Hiang-sui schon 535 v.
Chr. eine Friedensliga zu stiften versucht. Zur Zeit der kämpfenden
Staaten wird dem Imperialismus (lienheng) vor allem in den südlichen
Ländern am Jangtse die Völkerbundsidee (hohtsung) entgegengesetzt;
sie war von Anfang an zum Tode verurteilt wie alles Halbe, das dem Ganzen
in den Weg tritt, und verschwand schon vor dem Endsieg des Nordens. Aber
beide wandten sich gegen den antipolitischen Geschmack der Taoisten, die
in diesen furchtbaren Jahrhunderten eine geistige Selbstentwaffnung vornahmen
und sich damit zum bloßen Material herabsetzten, das in den großen
Entscheidungen von andern und für andre verbraucht wurde. Auch die
römische Politik, so fern dem antiken Geiste sonst das Vorausdenken
liegt, hat noch einmal versucht, die Welt in ein System gleichgeordneter
Mächte zu bringen, das fernere Kriege zwecklos machen sollte: damals,
als sie nach der Niederlage Hannibals auf die Einverleibung des Ostens
verzichtete. Das Ergebnis war so trostlos, daß die Partei des jüngeren
Scipio zum entschiedenen Imperialismus überging, um dem Chaos ein
Ende zu machen, obwohl ihr Führer mit klarem Blick das Schicksal
seiner Stadt voraussah, welche die antike Unfähigkeit, irgend etwas
zu organisieren, im höchsten Grade besaß. Aber der Weg von
Alexander zu Cäsar ist eindeutig und unvermeidlich, und die stärkste
Nation jeder Kultur hat ihn gehen müssen, ob sie es wollte und wußte
oder nicht. (Ebd., S. 1099-1100).
Vor der Härte dieser Tatsachen gibt es keine Ausflucht. Die
Friedenskonferenz im Haag von 1907 war das Vorspiel zum Weltkrieg, die
in Washington von 1921 wird das Vorspiel neuer Kriege sein. Die Geschichte
dieser Zeit ist nicht mehr ein geistreiches Spiel in guten Formen um ein
Mehr oder Weniger, aus dem man sich jederzeit zurückziehen kann.
Standhalten oder untergehen ein drittes gibt es nicht. Die einzige
Moral, welche die Logik der Dinge uns heute gestattet, ist die eines Bergsteigers
auf steilem Grat. Ein Augenblick der Schwäche, und alles ist zu Ende.
Aber alle »Philosophie« ist heute nichts als ein innerliches
Abdanken und Sichgehenlassen und die feige Hoffnung, durch Mystik den
Tatsachen zu entschlüpfen. Sie war zur Römerzeit nichts anderes.
Tacitus erzählt (Hist. III, 81), wie
der berühmte Musonius Rufus durch Vorträge über die Güter
des Friedens und die Übel des Krieges auf die Legionen, die im Jahre
70 vor den Toren Roms standen, einzuwirken versuchte und ihren Schlägen
kaum entging. Der Heerführer Avidius Cassius nannte den Kaiser Marc
Aurel ein philosophisches altes Weib. (Ebd., S. 1100).
Was den Nationen des 20. Jahrhunderts an alter und großer
Tradition erhalten bleibt, an historischem Geformtsein, an Erfahrung,
die ins Blut gedrungen ist, erhebt sich damit zu einer Macht ohnegleichen.
Die schöpferische Pietät oder, um es tiefer zu fassen,
ein uralter Takt aus ferner Frühzeit, der im Wollen gestaltend weiterwirkt,
haftet für uns nur an Formen, die älter sind als Napoleon und
die Revolution (dazu gehört also auch die amerikanische
Verfassung, und dies allein erklärt die merkwürdige Ehrfurcht,
welche der Amerikaner für sie empfindet, auch wo er ihre Unzulänglichkeit
klar erkennt), die gewachsen und nicht entworfen sind. Jeder noch
so bescheidene Rest davon, der sich im Dasein irgendeiner geschlossenen
Minderheit erhält, wird bald genug zu unermeßlichem Werte steigen
und geschichtliche Wirkungen hervorbringen, die im Augenblick noch niemand
für möglich hält. Die Traditionen einer alten Monarchie,
eines alten Adels, einer alten vornehmen Gesellschaft, soweit sie noch
gesund genug sind, um die Politik als Geschäft oder um einer Abstraktion
willen von sich fernzuhalten, soweit sie Ehre, Entsagung, Disziplin, das
echte Gefühl einer großen Sendung besitzen, Rasseeigenschaften
also, Zucht, Sinn für Pflichten und Opfer, können zu einem Mittelpunkt
werden, der den Daseinsstrom eines ganzen Volkes zusammenhält, es
diese Zeit überdauern und die Küste der Zukunft erreichen läßt.
In Verfassung sein ist alles. Es handelt sich um die schwerste Zeit, welche
die Geschichte einer hohen Kultur kennt. Die letzte Rasse in Form, die
letzte lebendige Tradition, der letzte Führer, der beides hinter
sich hat, gehen als Sieger durchs Ziel. (Ebd., S. 1100-1101).
Cäsarismus nenne ich die Regierungsart, welche trotz aller
staatsrechtlichen Formulierung in ihrem inneren Wesen wieder gänzlich
formlos ist. Es ist gleichgültig, ob Augustus in Rom, Hoang-ti in
China, Amosis in Ägypten, Alp Arslan in Bagdad ihre Stellung mit
altertümlichen Bezeichnungen umkleiden. Der Geist dieser alten Formen
ist tot. (Cäsar hat das klar erkannt: Nihil
esse rem publicam, appellationem modo sine corpore ac specie (Sueton,
Cäsar. 77).) Und deshalb sind alle Institutionen, sie
mögen noch so peinlich aufrecht erhalten werden, von nun an ohne
Sinn und Gewicht. Bedeutung hat nur die ganz persönliche Gewalt,
welche der Cäsar oder an seiner Stelle irgend jemand durch seine
Fähigkeiten ausübt. Es ist die Heimkehr aus einer formvollendeten
Welt ins Primitive, ins Kosmisch-Geschichtslose. Biologische Zeiträume
nehmen wieder den Platz historischer Epochen ein. (Vgl.
S. 613 f..) (Ebd., S. 1101).
Am Anfang, dort, wo die Zivilisation sich zur vollen Blüte
entfaltet heute steht das Wunder der Weltstadt, das große
steinerne Sinnbild des Formlosen, ungeheuer, prachtvoll, im Übermut
sich dehnend. Sie zieht die Daseinsströme des ohnmächtigen Landes
in sich hinein, Menschenmassen, die wie Dünen aus einer in die andre
verweht werden, wie loser Sand zwischen den Steinen verrieseln. Hier feiern
Geist und Geld ihre höchsten und letzten Siege. Es ist das Künstlichste
und Feinste, was in der Lichtwelt des menschlichen Auges erscheint, etwas
Unheimliches und Unwahrscheinliches, das fast schon jenseits der Möglichkeiten
kosmischer Gestaltung steht. (Ebd., S. 1101-1102).
Dann aber treten die ideenlosen Tatsachen wieder nackt und riesenhaft
hervor. Der ewig-kosmische Takt hat die geistigen Spannungen einiger Jahrhunderte
endgültig überwunden. In Gestalt der Demokratie hatte das Geld
triumphiert. Es gab eine Zeit, wo es allein oder fast allein Politik machte.
Aber sobald es die alten Ordnungen der Kultur zerstört hat, taucht
aus dem Chaos eine neue, übermächtige, bis in den Urgrund alles
Werdens hinabreichende Größe empor: die Menschen von cäsarischem
Schlage. An ihnen geht die Allmacht des Geldes zugrunde. Die Kaiserzeit
bedeutet, und zwar in jeder Kultur, das Ende der Politik von Geist und
Geld. Die Mächte des Blutes, die urwüchsigen Triebe alles
Lebens, die ungebrochne körperliche Kraft treten ihre alte Herrschaft
wieder an. Die Rasse bricht rein und unwiderstehlich hervor: der Erfolg
des Stärksten und der Rest als Beute. Sie ergreift das Weltregiment,
und das Reich der Bücher und Probleme erstarrt oder versinkt in Vergessenheit.
Von nun an werden Heldenschicksale im Stil der Vorzeit wieder möglich,
die nicht durch Kausalitäten für das Bewußtsein verschleiert
sind. Es gibt keinen inneren Unterschied mehr zwischen dem Leben des Septimius
Severus und Gallienus oder dem Alarichs und Odoakers. Ramses, Trajan,
Wu-ti gehören in das gleichförmige Auf und Nieder geschichtsloser
Zeiträume. (Ebd., S. 1102).
Seit dem Anbruch der Kaiserzeit gibt es keine politischen Probleme
mehr. Man findet sich ab mit den Lagen und Gewalten, die vorhanden sind.
Ströme von Blut hatten zur Zeit der kämpfenden Staaten das Pflaster
aller Weltstädte gerötet, um die großen Wahrheiten der
Demokratie in Wirklichkeit zu verwandeln und Rechte zu erkämpfen,
ohne die das Leben nicht wert schien, gelebt zu werden. Jetzt sind
diese Rechte erobert, aber die Enkel sind selbst durch Strafen nicht
mehr zu bewegen, von ihnen Gebrauch zu machen. Hundert Jahre später,
und sogar die Historiker verstehen die alten Streitfragen nicht mehr.
Schon zur Zeit Cäsars beteiligte sich die anständige Bevölkerung
kaum noch an den Wahlen. (Cicero weist in der Rede
für Sestius darauf hin, daß bei den Plebisziten von jeder Tribus
fünf Leute da seien, die noch dazu in der Wirklichkeit einer andern
angehörten. Aber diese fünf waren auch nur da, um sich von den
Machthabern kaufen zu lassen. Und kaum fünfzig Jahre vorher waren
die Italiker in Masse für eben dieses Wahlrecht gefallen.)
Es hat dem großen Tiberius das Leben verbittert, daß die fähigsten
Männer seiner Zeit sich von aller Politik zurückhielten, und
Nero konnte auch durch Drohungen die Ritter nicht mehr zwingen, zur Ausübung
ihrer Rechte nach Rom zu kommen. Das ist das Ende der großen Politik,
die einst ein Ersatz des Krieges durch geistigere Mittel gewesen war und
nun dem Kriege in seiner ursprünglichsten Gestalt wieder Platz macht.
(Ebd., S. 1102-1103).
Es heißt deshalb den Sinn der Zeit vollständig verkennen,
wenn Mommsen (und merkwürdigerweise auch Ed.
Meyer in seinem Meisterwerk »Cäsars Monarchie«,
der einzigen Arbeit von staatsmännischem Range über diese Zeit
[und vorher schon in dem Aufsatz über Kaiser Augustus, Kl. Schr.,
S. 441 ff.].) eine tiefsinnige Zergliederung der von Augustus geschaffenen
»Dyarchie« mit ihrer Gewaltenteilung zwischen Prinzeps und
Senat vornimmt. Ein Jahrhundert vorher wäre diese Verfassung etwas
Wirkliches gewesen, eben deshalb aber auch keinem der damaligen Gewaltmenschen
in den Sinn gekommen. Jetzt bedeutet sie nichts als den Versuch einer
schwachen Persönlichkeit, sich über unwiderrufliche Tatsachen
durch bloße Formen hinwegzutäuschen. Cäsar sah die Dinge,
wie sie waren, und richtete seine Herrschaft ohne Sentimentalität
nach praktischen Gesichtspunkten ein. Die Gesetzgebung seiner letzten
Monate beschäftigte sich ausschließlich mit Übergangsbestimmungen,
von denen keine einzige für die Dauer gedacht war. Eben das hat man
immer übersehen. Er war ein viel zu tiefer Kenner der Dinge, um in
diesem Augenblick, dicht vor dem Partherfeldzug, die Entwicklung vorauswissen
und endgültige Formen für sie festsetzen zu wollen. Augustus
aber war wie vor ihm Pompejus nicht der Herr seines Anhangs, sondern durchaus
von ihm und dessen Anschauungen abhängig. Die Form des Prinzipats
ist gar nicht seine Erfindung, sondern die doktrinäre Durchführung
eines veralteten Parteiideals, das ein anderer Schwächling, Cicero,
entworfen hatte (De re publica vom Jahre
54, eine für Pompejus bestimmte Denkschrift). Als Augustus
am 13. Januar 27 in einer ehrlich gemeinten, aber eben deshalb um so sinnloseren
Szene dem »Senat und Volk von Rom« die Staatsgewalt zurückgab,
behielt er das Tribunat für sich, und das war in der Tat das einzige
Stück politischer Wirklichkeit, das damals zum Vorschein kam. Der
Tribun war der legitime Nachfolger des Tyrannen (vgl.
S. 1052), und schon C. Gracchus hatte 122 dem Titel einen Inhalt
gegeben, der nicht mehr durch die gesetzmäßigen Schranken eines
Amtes, sondern nur noch durch die persönlichen Talente des Inhabers
begrenzt wurde. Von ihm führt eine gerade Linie über Marius
und Cäsar zu dem jungen Nero, als er den politischen Absichten seiner
Mutter Agrippina entgegentrat. Dagegen war der Prinzeps (vgl.
S. 1071) von nun an ein Kostüm, ein Rang, vielleicht eine
gesellschaftliche, sicherlich aber nicht mehr eine politische Tatsache.
Gerade dieser Begriff war in der Theorie Ciceros mit einem verklärenden
Schimmer umgeben und schon von ihm mit dem des Divus verbunden
worden. (Im Somnium Scipionis VI, 26, wo
der ein Gott genannt wird, der den Staat so regiert, quam hunc mundum
ille princeps deus.) Dagegen ist die »Mitarbeit«
von Senat und Volk eine altertümliche Zeremonie, in der nicht mehr
Leben enthalten war als in den ebenfalls von Augustus wieder hergestellten
Bräuchen der Arvalbrüder. Aus den großen Parteien der
Gracchenzeit waren längst Gefolgschaften geworden, Cäsarianer
und Pompejaner, und endlich war auf der einen Seite die formlose Allgewalt
geblieben, »die Tatsache« im brutalsten Sinne, »der
Cäsar« oder wer ihn unter seinen Einfluß zu bringen vermochte,
und auf der andern Seite das Häuflein beschränkter Ideologen,
die ihr Mißvergnügen hinter einer Philosophie verbargen und
von da aus mit Verschwörungen ihrem Ideal aufzuhelfen suchten. Es
waren in Rom die Stoiker, in China die Konfuzianer. Erst jetzt versteht
man die berühmte »große Bücherverbrennung«,
die der chinesische Augustus 212 v. Chr. anordnete und die in den Köpfen
später Literaten den Schein einer ungeheuerlichen Barbarei angenommen
hat. Aber Cäsar war den stoischen Schwärmern für ein unmöglich
gewordenes Ideal zum Opfer gefallen (es war vollkommen
richtig, wenn Brutus neben der Leiche den Namen Ciceros ausrief und Antonius
diesen als intellektuellen Urheber der Tat bezeichnete; die »Freiheit«
bedeutete aber nichts als die Oligarchie einiger Familien, denn die Menge
war ihrer Rechte längst müde geworden; daß neben dem Geist
das Geld hinter der Tat stand, die großen Vermögen Roms, die
im Cäsarismus das Ende ihrer Allmacht heraufkommen sahen, war selbstverständlich);
dem Divuskult wurde in stoischen Kreisen ein Cato- und Brutuskult entgegengestellt;
die Philosophen im Senat (damals nur noch eine Art von Adelsklub) wurden
nicht müde, den Untergang der »Freiheit« zu beklagen
und Verschwörungen wie die pisonische von 65 anzustiften, was beim
Tode Neros beinahe die Zustände der Zeit Sullas wieder heraufbeschworen
hätte. Deshalb ließ Nero den Stoiker Paetus Thrasea, und Vespasian
den Helvidius Priscus hinrichten, und deshalb wurde das Geschichtswerk
des Cremutius Cordus, in dem Brutus als der letzte Römer gepriesen
worden war, überall in Rom eingesammelt und verbrannt. Es war ein
Akt der Notwehr des Staates gegenüber einer blinden Ideologie, wie
wir ähnliche von Cromwell und Robespierre kennen, und in genau derselben
Lage befanden sich die chinesischen Cäsaren gegenüber der Schule
des Konfuzius, die einst ihr Ideal einer Staatsordnung herausgearbeitet
hatte und nun die Wirklichkeit nicht zu ertragen verstand. Die große
Bücherverbrennung war nichts als die Zerstörung eines Teils
der politisch-philosophischen Literatur und die Aufhebung der Lehrbetriebe
und geheimen Organisationen. (Dagegen wurde der
Taoismus unterstützt, weil er die Abkehr von aller Politik predigte.
»Laßt wohlbeleibte Männer um mich sein«, sagt Cäsar
bei Shakespeare.) Diese Abwehr hat in beiden Imperien ein Jahrhundert
gedauert; dann war selbst die Erinnerung an parteipolitische Leidenschaften
geschwunden, und die beiden Philosophien des Zenon und des Konfuzius
wurden die herrschende Weltstimmung der reifen Kaiserzeit. (Das
hat Tacitus nicht mehr verstanden. Er haßt diese ersten Cäsaren,
weil sie mit allen denkbaren Mitteln sich gegen eine schleichende Opposition
wehrten in seinen Kreisen , die seit Trajan eben nicht mehr
vorhanden war.) Die Welt aber ist nun der Schauplatz tragischer
Familiengeschichten, welche die Staatengeschichte ablösen,
wie sie das julisch-claudische Haus und das des Schi Hoang-ti (schon 206
vor Chr.) vernichtet haben und wie sie aus den Schicksalen der ägyptischen
Herrscherin Hatschepsut und ihrer Brüder (15011447) düster
aufleuchten. Es ist der letzte Schritt zum Definitiven. Mit
dem Weltfrieden dem Frieden der hohen Politik tritt
die »Schwertseite« (vgl. S. 9641)
des Daseins zurück und die »Spindelhälfte« herrscht
wieder; es gibt nur noch Privatgeschichte, private Schicksale,
privaten Ehrgeiz, von den kümmerlichen Nöten des Fellachen angefangen
bis zu den wüsten Fehden der Cäsaren um den Privatbesitz
der Welt. Die Kriege im Zeitalter des Weltfriedens sind Privatkriege,
furchtbarer als alle Staatenkriege, weil sie formlos sind. (Ebd.,
S. 1103-1106).
Denn der Weltfriede - der oft schon dagewesen ist - enthält
den privaten Verzicht der ungeheuren Mehrzahl auf den Krieg, damit aber
auch die uneingestandene Bereitschaft, die Beute der andern zu werden,
die nicht verzichten. (Ebd., S. 1106).
Es beginnt mit dem staatenzerstörenden Wunsch einer allgemeinen
Versöhnung und endet damit, daß niemand die Hand rührt,
sobald das Unglück nur den Nachbar trifft. (Ebd., S. 1106).
Mit dem geformten Staat hat auch die hohe Geschichte sich schlafen
gelegt. Der Mensch wird wieder Pflanze, an der Scholle haftend, dumpf
und dauernd. Das zeitlose Dorf, der »ewige« Bauer (vgl.
S. 660, 990 f.) treten hervor, Kinder zeugend und Korn in die Mutter
Erde versenkend, ein emsiges, genügsames Gewimmel, über das
der Sturm der Soldatenkaiser hinbraust. Mitten im Lande liegen die alten
Weltstädte, leere Gehäuse einer erloschenen Seele, in die sich
geschichtslose Menschheit langsam einnistet. Man lebt von der Hand in
den Mund, mit einem kleinen, sparsamen Glück, und duldet. Massen
werden zertreten in den Kämpfen der Eroberer um Macht und Beute dieser
Welt, aber die Überlebenden füllen mit primitiver Fruchtbarkeit
die Lücken und dulden weiter. Und während man in den Höhen
siegt und unterliegt in ewigem Wechsel, betet man in der Tiefe, betet
mit jener mächtigen Frömmigkeit der zweiten Religiosität,
die alle Zweifel für immer überwunden hat(Vgl.
S. 941 f.). Da, in den Seelen, ist der Weltfriede Wirklichkeit
geworden, der Friede Gottes, die Seligkeit greiser Mönche und Einsiedler,
und da allein. Er hat jene Tiefe im Ertragen von Leid geweckt, welche
der historische Mensch in dem Jahrtausend seiner Entfaltung nicht kennen
lernt. Erst mit dem Ende der großen Geschichte tritt das heilige,
stille Wachsein wieder hervor. Es ist ein Schauspiel, das in seiner Zwecklosigkeit
erhaben ist, zwecklos und erhaben wie der Gang der Gestirne, die Drehung
der Erde, der Wechsel von Land und Meer, von Eis und Urwäldern auf
ihr. Man mag es bewundern oder beweinen aber es ist da. (Ebd.,
S. 1107).
Philosophie
der Politik
Die menschlichen Daseinsströme nennen wir Geschichte, sobald
wir sie als Bewegung, Geschlecht, Stand, Volk, Nation, sobald wir
sie als etwas Bewegtes ins Auge fassen. Politik ist die Art und Weise,
in der dieses strömende Dasein sich behauptet, wächst, über
andere Lebensströme triumphiert. Das ganze Leben ist Politik,
in jedem triebhaften Zuge, bis ins innerste Mark. (Vgl.
S. 977.) Was wir heute gern als Lebensenergie (Vitalität)
bezeichnen, jenes »es« in uns, das vorwärts und aufwärts
will um jeden Preis, der blinde, kosmische, sehnsüchtige Drang nach
Geltung und Macht, der pflanzenhaft und rassehaft mit der Erde, der »Heimat«
verbunden bleibt, das Gerichtetsein und Wirkenmüssen ist es, was
überall unter höheren Menschen als politisches Leben die großen
Entscheidungen sucht und suchen muß, um ein Schicksal entweder zu
sein oder zu erleiden. Denn man wächst oder stirbt ab. Es
gibt keine dritte Möglichkeit. (Ebd., S. 1108-1109).
Deshalb ist der Adel als Ausdruck einer starken Rasse der eigentlich
politische Stand, und Zucht, nicht Bildung die eigentlich politische Art
der Erziehung. Jeder große Politiker, eine Kraftmitte im Strom des
Geschehens, hat etwas Adliges in seinem Sichberufenfühlen und innerlich
Gebundensein. Dagegen ist alles Mikroskosmische, aller »Geist«
unpolitisch, und deshalb besitzt alle Programmpolitik und Ideologie etwas
Priesterliches. Die besten Diplomaten sind die Kinder, wenn sie spielen
oder etwas haben wollen. Da bricht das im Einzelwesen gebundene kosmische
»es« sich unmittelbar und mit nachtwandlerischer Sicherheit
Bahn. Sie lernen nicht, sie verlernen diese Meisterschaft der ersten Jahre
mit dem Wachwerden der Jugend. Eben deshalb ist unter Männern der
Staatsmann etwas so Seltenes. (Ebd., S. 1109).
Diese Daseinsströme im Bereich einer hohen Kultur, in und
zwischen denen allein es große Politik gibt, sind nur in Mehrzahl
möglich. Ein Volk ist wirklich nur in bezug auf andere Völker.
(Vgl. S. 1007.) Aber das natürliche,
rassehafte Verhältnis zwischen ihnen ist eben deshalb der Krieg.
Das ist eine Tatsache, die durch Wahrheiten nicht verändert wird.
Der Krieg ist die Urpolitik alles Lebendigen und zwar bis zu dem
Grade, daß Kampf und Leben in der Tiefe eins sind und mit dem Kämpfenwollen
auch das Sein erlischt. Altgermanische Worte dafür wie orrusta
und orlog bedeuten Ernst und Schicksal im Gegensatz zu Scherz und
Spiel; das ist eine Steigerung, nichts dem Wesen nach Verschiedenes. Und
wenn alle hohe Politik der Ersatz des Schwertes durch geistigere Waffen
sein will und der Ehrgeiz des Staatsmannes auf der Höhe aller Kulturen
dahin geht, den Krieg fast nicht mehr nötig zu haben, so bleibt doch
die Urverwandtschaft zwischen Diplomatie und Kriegskunst bestehen: der
Charakter des Kampfes, dieselbe Taktik, dieselbe Kriegslist, die Notwendigkeit
materieller Kräfte im Hintergrund, um den Operationen Gewicht zu
geben; und auch das Ziel bleibt das gleiche: das Wachstum der eignen Lebenseinheit
Stand oder Nation auf Kosten der andern. Und jeder Versuch,
dies rassemäßige Element auszuschalten, führt nur zu seiner
Verlegung auf ein andres Gebiet: statt zwischen Parteien zwischen Landschaften,
oder wenn auch da der Wille zum Wachstum erlischt, zwischen den Gefolgschaften
von Abenteurern, denen sich der Rest der Bevölkerung freiwillig fügt
(Ebd., S. 1109-1110).
In jedem Kriege zwischen Lebensmächten handelt es sich darum,
wer das Ganze regiert. Es ist stets ein Leben, nie ein System, Gesetz
oder Programm, das im Strom des Geschehens den Takt angib (Ebd.,
S. 1110).
Zum Begriff der ausübenden Gewalt gehört, daß
eine Lebenseinheit schon unter Tieren in Subjekte und Objekte
der Regierung zerfällt. Das ist so selbstverständlich, daß
diese innere Struktur jeder Masseneinheit selbst in den schwersten Krisen
wie der von 1789 auch nicht einen Augenblick verloren geht. Nur der Inhaber
verschwindet, nicht das Amt, und wenn wirklich ein Volk im Strom der Ereignisse
jede Führung verliert und regellos dahintreibt, so bedeutet das nur,
daß seine Führung nach auswärts verlegt, daß es
als Ganzes Objekt geworden ist. (Ebd., S. 1111).
Wie man Politik macht? - Der geborene Staatsmann ist vor
allem Kenner, Kenner der Menschen, Lagen, Dinge. Er hat den »Blick«,
der ohne Zögern, unbestechlich den Kreis des Möglichen umfaßt.
Der Pferdekenner prüft mit einem Blick die Haltung des Tieres
und weiß, welche Aussichten es im Rennen besitzt. Der Spieler wirft
einen Blick auf den Gegner und kennt den nächsten Zug. Das Richtige
tun, ohne es zu »wissen«, die sichere Hand, die den Zügel
unmerklich kürzer faßt oder fallen läßt - es ist
das Gegenteil von der Begabung des theoretischen Menschen. Der geheime
Takt alles Werdens ist in ihm und in den geschichtlichen Dingen ein und
derselbe. Sie ahnen einander; sie sind für einander da. Der Tatsachenmensch
kommt nie in Gefahr, Gefühls- und Programmpolitik zu treiben. Er
glaubt nicht an die großen Worte: Er hat die Frage des Pilatus beständig
auf den Lippen. Wahrheiten - der geborne Staatsmann steht jenseits von
wahr und falsch. Er verwechselt die Logik der Ereignisse nicht mit der
Logik der Systeme. »Wahrheiten« oder »Irrtümer«,
was hier dasselbe ist kommen für ihn nur als geistige Strömungen
in Betracht, hinsichtlich ihrer Wirkung, deren Stärke, Dauer
und Richtung er überblickt und für das Schicksal der von ihm
gelenkten Macht in seine Rechnung stellt. Er hat Überzeugungen, die
ihm teuer sind, gewiß, aber als Privatmann; kein Politiker von Rang
hat sich, solange er handelte, von ihnen abhängig gefühlt. »Der
Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen, als der Betrachtende«
(Goethe). Das gilt von Sulla und Robespierre so gut wie von Bismarck und
Pitt. Die großen Päpste und englischen Parteiführer haben,
solange sie die Dinge zu meistern hatten, keine andern Grundsätze
befolgt als die Eroberer und Empörer aller Zeiten. Man leite aus
den Handlungen Innocenz' III., der die Kirche beinahe zur Weltherrschaft
geführt hat, die Grundregeln ab und man erhält einen Katechismus
des Erfolges, der das äußerste Gegenteil aller religiösen
Moral darstellt, ohne den es aber keine Kirche, keine englischen Kolonien,
keine amerikanischen Vermögen, keine siegreiche Revolution und endlich
weder einen Staat, noch eine Partei, noch überhaupt ein Volk in erträglicher
Lage geben würde. Das Leben, nicht der Einzelne ist gewissenlos.
(Ebd., S. 1112-1113).
Deshalb gilt es die Zeit verstehen, für die man geboren
ist. (Ebd., S. 1113).
Der Staatsmann von Rang sollte aber auch Erzieher in einem großen
Sinne sein, nicht Vertreter einer Moral oder Doktrin, sondern vorbildlich
in seinem Tun.185 Es ist eine bekannte Tatsache, daß keine neue
Religion den Stil des Daseins je verändert hat. Sie durchdrang das
Wachsein, den geistigen Menschen, sie warf neues Licht auf eine jenseitige
Welt, sie schuf unermeßliches Glück durch die Kraft des Sichbescheidens,
des Entsagens und des Duldens bis zum Tode; über die Mächte
des Lebens besaß sie keine Gewalt. Schöpferisch im Lebendigen,
nicht bildend, sondern züchtend, den Typus ganzer Stände und
Völker verwandelnd wirkt nur die große Persönlichkeit,
das »es«, die Rasse in ihr, die in ihr gebundene kosmische
Kraft. Nicht die Wahrheit, das Gute, das Erhabene,
sondern der Römer, der Puritaner, der Preuße
ist eine Tatsache. Ehrgefühl, Pflichtgefühl, Disziplin, Entschlossenheit
das lernt man nicht aus Büchern. Es wird im strömenden
Dasein geweckt durch ein lebendiges Vorbild. Deshalb war Friedrich Wilhelm
I. einer der größten Erzieher aller Zeiten, dessen persönliche
rassebildende Haltung aus der Folge von Generationen nicht wieder verschwindet.
Es unterscheidet den echten Staatsmann von dem Nurpolitiker, dem Spieler
aus Freude am Spiel, dem Glücksjäger auf den Höhen der
Geschichte, dem Habgierigen und Rangsüchtigen, dem Schulmeister eines
Ideals, daß er Opfer fordern darf und sie erhält, weil sein
Gefühl, für die Zeit und Nation notwendig zu sein, von Tausenden
geteilt wird, sie bis ins Innerste umgestaltet und zu Taten befähigt,
denen sie sonst nicht gewachsen wären. (Das
gilt endlich auch von den Kirchen, die etwas ganz anderes sind als Religionen,
nämlich Elemente der Tatsachenwelt und deshalb im Charakter ihrer
Führung politisch und nicht religiös. Nicht die christliche
Predigt, der christliche Märtyrer hat die Welt erobert, und daß
er die Kraft dazu besaß, verdankt er nicht der Lehre, sondern dem
Vorbild des Mannes am Kreuz.) (Ebd., S. 1113-1114).
Das Höchste aber ist nicht handeln sondern befehlen können.
Erst damit wächst der Einzelne über sich selbst hinaus und wird
zum Mittelpunkt einer tätigen Welt. Es gibt eine Art des Befehlens,
die das Gehorchen zu einer stolzen, freien und vornehmen Gewohnheit macht
und die z.B. Napoleon nicht besaß. Ein Rest von subalterner
Gesinnung hat ihn verhindert, Männer und nicht Zubehöre einer
Registratur zu erziehen, durch Persönlichkeiten und nicht durch Verordnungen
zu herrschen; und weil er sich auf diesen feinsten Takt des Befehlens
nicht verstand und deshalb alles wirklich Entscheidende selbst zu tun
hatte, ist er am Mißverhältnis zwischen den Aufgaben seiner
Stellung und den Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit langsam
zugrunde gegangen. Wer aber diese höchste und letzte Gabe vollkommensten
Menschentums besitzt wie Cäsar oder Friedrich der Große, der
empfängt am Abend einer Schlacht, wenn die Operationen dem gewollten
Ende zueilen und mit dem Sieg der Feldzug sich entscheidet, oder in einer
Stunde, wo mit der letzten Unterschrift eine Epoche der Geschichte beschlossen
wird, ein wunderbares Gefühl von Macht, das dem Wahrheitsmenschen
für immer verschlossen bleibt. Es gibt Augenblicke, und sie bezeichnen
die Höhepunkte kosmischer Strömungen, in denen ein Einzelner
sich mit dem Schicksal und der Weltmitte identisch weiß und seine
Persönlichkeit beinahe als Hülle empfindet, in welche die Geschichte
der Zukunft sich zu kleiden im Begriff ist. (Ebd., S. 1114-1115).
Die erste Aufgabe ist: selbst etwas zu machen; die zweite, unscheinbarer,
aber schwerer und größer in ihrer Fernwirkung: eine Tradition
zu schaffen, andere dahin zu bringen, daß sie das eigne Werk
fortsetzen, dessen Takt und Geist; einen Strom einheitlicher Tätigkeit
zu entfesseln, der des ersten Führers nicht mehr bedarf, um in Form
zu bleiben. Damit wächst der Staatsmann zu etwas empor, das die Antike
wohl als Gottheit bezeichnet hätte. Er wird zum Schöpfer eines
neuen Lebens, zum geistigen Ahnherrn einer jungen Rasse. Er selbst
als Wesen entschwindet nach wenig Jahren aus diesem Strom. Aber eine von
ihm ins Dasein gerufene Minderheit, ein anderes Wesen von seltsamster
Art, tritt an seine Stelle, und zwar für unabsehbare Zeit. Dies kosmische
Etwas, diese Seele einer herrschenden Schicht kann ein Einzelner erzeugen
und als Erbe hinterlassen, und das ist es, was in aller Geschichte die
Wirkungen von Dauer hervorgebracht hat. Der große Staatsmann ist
selten. Ob er kommt, ob er zur Geltung kommt, zu früh, zu spät
das alles ist Zufall. Die großen Einzelnen zerstören
oft mehr, als sie aufgebaut haben durch die Lücke, die ihr
Tod im Strom des Geschehens läßt. Aber eine Tradition schaffen,
heißt den Zufall ausschalten. Eine Tradition züchtet einen
hohen Durchschnitt, mit dem die Zukunft sicher rechnen darf, keinen Cäsar,
aber einen Senat, keinen Napoleon, aber ein unvergleichliches Offizierkorps.
Eine starke Tradition zieht von allen Seiten die Talente an und erzielt
mit kleinen Begabungen große Erfolge. Das beweisen die Malerschulen
in Italien und Holland nicht weniger wie das preußische Heer und
die Diplomatie der römischen Kurie. Es war eine große Schwäche
Bismarcks imVergleich zu Friedrich Wilhelm I., daß er zwar zu handeln,
aber keine Tradition zu bilden verstand, daß er neben dem Offizierkorps
Moltkes keine entsprechende Rasse von Politikern schuf, die sich mit seinem
Staat und dessen neuen Aufgaben identisch fühlte, die fortgesetzt
bedeutende Menschen von unten aufnahm und ihrem Takt des Handelns für
immer einverleibte. Geschieht das nicht, so bleibt statt einer regierenden
Schicht aus einem Guß eine Sammlung von Köpfen, die dem Unvorhergesehenen
hilflos gegenübersteht. Glückt es aber, so entsteht ein »souveränes«
Volk in dem einzigen Sinne, der eines Volkes würdig und in der
Tatsachenwelt möglich ist: eine sich selbst ergänzende hochgezüchtete
Minderheit mit sicherer, in langer Erfahrung gereifter Tradition, die
jede Begabung in ihren Bann zieht und ausnützt und sich eben deshalb
mit dem von ihr regierten Rest der Nation in Einklang befindet. Eine solche
Minderheit wird langsam zur echten Rasse, selbst wenn sie einmal Partei
gewesen war, und sie entscheidet mit der Sicherheit des Blutes, nicht
des Verstandes. Eben deshalb aber geschieht in ihr alles »von selbst«;
sie bedarf des Genies nicht mehr. Das bedeutet, wenn man so sagen darf,
den Ersatz des großen Politikers durch die große Politik.
(Ebd., S. 1115-1116).
Aber was ist Politik? - Die Kunst des Möglichen; das ist
ein altes Wort und mit ihm ist beinahe alles gesagt. Der Gärtner
kann eine Pflanze aus dem Samen ziehen oder ihren Stamm veredeln. Er kann
die in ihr verborgenen Anlagen, ihren Wuchs und ihre Tracht, ihre Blüten
und Früchte zur Entfaltung bringen oder verkümmern lassen. Von
seinem Blick für das Mögliche und also Notwendige hängt
ihre Vollkommenheit, ihre Kraft, ihr ganzes Schicksal ab. Aber die Grundgestalt
und Richtung ihres Daseins, dessen Stufen, Geschwindigkeit und Dauer,
das »Gesetz, nach dem sie angetreten«, stehen nicht
in seiner Gewalt. Sie muß es erfüllen oder sie verdirbt, und
dasselbe gilt von der ungheuren Pflanze »Kultur« und den in
ihre politische Formenwelt gebannten Daseinsströmen menschlicher
Geschlechter. Der große Staatsmann ist der Gärtner eines Volkes.
(Ebd., S. 1116).
Jeder Handelnde ist in eine Zeit und für eine Zeit geboren.
Damit ist der Umkreis des für ihn Erreichbaren bestimmt. Für
die Großväter und Enkel ist etwas anderes gegeben und also
Ziel und Aufgabe. (Ebd., S. 1116).
Das Geheimnis aller Siege liegt in der Organisation des Unscheinbaren.
Wer sich darauf versteht, kann als Vertreter des Besiegten den Sieger
beherrschen wie Talleyrand in Wien. Cäsar, dessen Lage damals fast
verzweifelt war, hat in Lucca die Macht des Pompejus unvermerkt seinen
Zielen dienstbar gemacht und damit untergraben; aber es gibt eine gefährliche
Grenze des Möglichen, welche der vollendete Takt der großen
Barockdiplomaten kaum je verletzt hat, während es Vorrecht des Ideologen
ist, beständig darüber zu stolpern. Es gibt Wendungen in der
Geschichte, von denen der Kenner sich eine Zeitlang treiben läßt,
um die Herrschaft nicht zu verlieren. Jede Lage besitzt ihr Maß
von Elastizität, über das man sich nicht im geringsten täuschen
darf. (Ebd., S. 1117-1118).
Eine zum Ausbruch gekommene Revolution beweist immer einen Mangel
an politischem Takt bei den Regierenden und ihren Gegnern.
(Ebd., S. 1118).
Aber die absteigende Demokratie
wiederholt den gleichen Fehler, halten zu wollen, was das Ideal von gestern
war. Es ist die Gefahr des 20. Jahrhunderts. Auf jedem Pfade zum Cäsarismus
findet sich ein Cato (Marcus Porcius Cato Censorius
[auch genannt: Cato Maior bzw. Cato d.Ä.; 234-149]; sein Urenkel:
Marcus Porcius Cato Uticensis [auch genannt: Cato Minor bzw. Cato d.J.;
95-46]). (Ebd., S. 1118 ).
Der Einfluß, den selbst ein Staatsmann von ungewöhnlich
starker Stellung auf die politischen Methoden besitzt, ist sehr
gering, und es gehört zum Range des Staatsmannes, daß er sich
darüber nicht täuscht. Seine Aufgabe ist es, mit und in der
vorliegenden geschichtlichen Form zu arbeiten; nur der Theoretiker begeistert
sich daran, idealere Formen zu erfinden. Zum politischen »In Form
sein« gehört aber die unbedingte Beherrschung der modernsten
Mittel. Hier gibt es keine Wahl. Die Mittel und Methoden sind durch
die Zeit gegeben und gehören zur inneren Form einer Zeit. Wer sich
in ihnen vergreift, wer seinem Geschmack und Gefühl Macht über
seinen Takt gestattet, verliert die Tatsachen aus der Hand. Die Gefahr
einer Aristokratie ist es, konservativ in den Mitteln zu sein; die Gefahr
der Demokratie ist die Verwechslung der Formel mit der Form. Die Mittel
der Gegenwart sind noch auf Jahre hinaus die parlamentarischen: Wahlen
und Presse. Man kann über sie denken, wie man will, sie verehren
oder verachten, aber man muß sie beherrschen. Bach und Mozart
beherrschten die musikalischen Mittel ihrer Zeit. Das ist das Kennzeichen
jeder Art von Meisterschaft. Mit der Staatskunst steht es nicht anders.
Aber die allgemein sichtbare Außenform ist allerdings nicht die,
auf welche es ankommt, sondern nur deren Verkleidung. Deshalb läßt
sie sich ändern, ohne daß am Wesen des Geschehens etwas geändert
wird, auf Begriffe und in Verfassungstexte bringen, ohne die Wirklichkeit
auch nur zu berühren, und der Ehrgeiz aller Revolutionäre erschöpft
sich darin, sich in dieses Spiel von Rechten, Grundsätzen und Freiheiten
an der geschichtlichen Oberfläche zu mischen. Der Staatsmann weiß,
daß die Ausdehnung eines Wahlrechts ganz unwesentlich ist gegenüber
der athenischen oder römischen, jakobinischen, amerikanischen und
nun auch deutschen Technik, Wahlen zu machen. Wie die englische
Verfassung lautet, ist gleichgültig gegenüber der Tatsache,
daß ihre Anwendung von einer kleinen Schicht vornehmer Familien
beherrscht wird, so daß Eduard VII. ein Minister seines Ministeriums
war. Und was die moderne Presse betrifft, so mag der Schwärmer zufrieden
sein, wenn sie verfassungsmäßig »frei« ist; der
Kenner fragt nur danach, wem sie zur Verfügung steht. (Ebd.,
S. 1118-1119)
Politik ist endlich die Form, in der die Geschichte einer Nation
innerhalb einer Mehrzahl von Nationen vollzogen wird. Die große
Kunst ist, die eigene innerlich in Form zu halten für die Ereignisse
draußen. Das ist nicht nur für Völker, Staaten und Stände,
sondern für lebendige Einheiten jeder Art bis zu den einfachsten
Tierschwärmen und bis zum einzelnen Körper hinab das natürliche
Verhältnis von Innen- und Außenpolitik, von denen die erste
ausschließlich für die zweite da ist, nicht umgekehrt.
Der eche Demokrat pflegt jene als Selbstzweck zu behandeln, der Durchschnittsdiplomat
denkt nur an diese. Aber eben deshalb hängen die Einzelerfolge beider
in der Luft. Der politische Meister zeigt sich ohne Zweifel am sichtbarsten
in der Taktik innerer Reformen, in seiner wirtschaftlichen und sozialen
Tätigkeit, in dem Geschick, die öffentliche Form des Ganzen,
die »Rechte und Freiheiten« mit dem Zeitgeschmack in Einklang
und zugleich leistungsfähig zu halten, in der Erziehung von
Gefühlen, ohne die es nicht möglich ist, daß ein Volk
in Verfassung bleibt: Vertrauen, Achtung vor der Führung, Machtbewußtsein,
Zufriedenheit und, wenn es notwendig wird, Begeisterung. Aber das alles
erhält seinen Wert erst im Hinblick auf die Grundtatsache der höheren
Geschichte, daß ein Volk nicht allein in der Welt ist und daß
über seine Zukunft durch das Kräfteverhältnis zu andern
Völkern und Mächten entschieden wird und nicht durch die bloße
Ordnung in sich selbst. Und da der Blick des gewöhnlichen Menschen
so weit nicht reicht, ist es die regierende Minderheit, welche ihn für
den Rest besitzen muß, jene Minderheit, in welcher der Staatsmann
erst das Werkzeug findet, mit dem er seine Absichten ausführen kann.
(Es sollte eigentlich kaum betont werden müssen,
daß das nicht die Grundsätze einer aristokratischen Regierung
sind, sondern die des Regierens überhaupt. Kein begabter Massenführer,
weder Kleon noch Robespierre noch Lenin hat sein Amt anders behandelt.
Wer sich wirklich als Beauftragter der Menge fühlt statt als Regent
von solchen, die nicht wissen, was sie wollen, würde keinen Tag lang
Herr im Hause sein. Die Frage ist nur, ob gerade die großen Volksführer
ihre Stellung für sich oder für die andern verwalten, und darüber
ließe sich manches sagen.) (Ebd., S. 1119-1120)
Für die frühe Politik aller Kulturen sind die leitenden
Mächte fest gegeben. Das gesamte Dasein ist streng in patriarchalischer
und sinnbildlicher Form; die Bindungen des mütterlichen Landes sind
so stark, der Lehnsverband und auch noch der Ständestaat sind für
das in sie gebannte Leben etwas so Selbstverständliches, daß
die Politik der homerischen und gotischen Zeit sich darauf beschränkt,
im Rahmen der schlechthin gegebenen Form zu handeln. Diese Formen ändern
sich gewissermaßen von selbst. Daß das eine Aufgabe
der Politik sei, kommt niemand deutlich zum Bewußtsein, selbst wenn
ein Königtum gestürzt oder ein Adel untertänig wird. Es
gibt nur Standespolitik, kaiserliche, päpstliche, Vasallenpolitik.
Das Blut, die Rasse, spricht aus triebhaften, halbbewußten Unternehmungen,
denn auch der Priester, soweit er Politik betreibt, handelt hier als Mensch
von Rasse. Die »Probleme« des Staates sind noch nicht erwacht.
Das Herrschertum und die Urstände, die ganze frühe Formenwelt
überhaupt ist gottgegeben, und nur unter ihrer Voraussetzung
bekämpfen sich organische Minderheiten, Faktionen. Zum Wesen
der Faktion gehört, daß ihr der Gedanke, die Ordnung der Dinge
könne planmäßig geändert werden, gar nicht zugänglich
ist. Sie will innerhalb dieser Ordnung einen Rang erkämpfen, Macht
und Besitz, wie alles Wachsende in einer wachsenden Welt. Es sind Gruppen,
in denen Verwandtschaft der Häuser, Ehre, Treue, Bündnisse von
fast mystischer Innerlichkeit eine Rolle spielen und abstrakte Ideen ganz
ausgeschlossen bleiben. So sind die Faktionen in homerischer und gotischer
Zeit, Telemach und die Freier in Ithaka, die Blauen und Grünen unter
Justinian, die Welfen und Waiblinger, die Häuser Lancaster und York,
die Protestanten (urspr. eine Vereinigung von neunzehn
Fürsten und freien Städten [1529]), die Hugenotten und
auch noch die treibenden Mächte der Fronde und der ersten Tyrannis.
Das Buch von Macchiavelli ruht ganz auf diesem Geist. (Ebd., S.
1120-1121)
Die Wendung tritt ein, sobald mit der großen Stadt der Nichtstand,
das Bürgertum die Führung übernimmt. (Vgl.
S. 1000 f., 1056.) Jetzt ist es im Gegenteil die politische Form,
die zum Gegenstand des Kampfes, zum Problem erhoben wird. Bis dahin war
sie gereift, jetzt soll sie geschaffen werden. Die Politik wird wach,
nicht nur begriffen, sondern auch auf Begriffe gebracht. Gegen Blut und
Tradition erheben sich die Mächte des Geistes und Geldes. An Stelle
des Organischen tritt das Organisierte, an Stelle des Standes die Partei.
Eine Partei ist kein Rassegewächs, sondern eine Sammlung von Köpfen
und deshalb an Geist den alten Ständen ebenso überlegen, wie
sie an Instinkt ärmer ist als sie. Sie ist der Todfeind aller gewachsenen
ständischen Gliederung, deren bloßes Vorhandensein ihrem Wesen
widerspricht. Eben deshalb ist der Begriff der Partei immer mit dem unbedingt
verneinenden, auflösenden, gesellschaftlich einebnenden der
Gleichheit verbunden. Nicht Standesideale, sondern nur noch Berufsinteressen
werden anerkannt. (Deshalb nimmt auf dem Boden der
bürgerlichen Gleichheit sofort der Geldbesitz die Stelle des genealogischen
Ranges ein.)Aber auch mit dem ebenso verneinenden der Freiheit
(vgl. S. 998 f.): Parteien sind eine rein
städtische Erscheinung. Mit der völligen Befreiung der Stadt
vom Lande weicht die Standespolitik überall der Parteipolitik, ob
wir davon Kenntnis haben oder nicht .... (Ebd., S. 1121-1122)
Immer aber ist es der Nichtstand, die
Einheit des Protestes gegen das Wesen des Standes überhaupt, dessen
führende Minderheit »Bildung und Besitz«
als Partei auftritt, mit einem Programm, einem nicht gefühlten, sondern
definierten Ziel und der Ablehnung alles dessen, was sich verstandesmäßig
nicht erfassen läßt. Es gibt deshalb im Grunde nur eine
Partei, die des Bürgertums, die liberale, und sie ist sich dieses
Ranges auch bewußt. Sie setzt sich dem »Volke« gleich.
Ihre Gegner, die echten Stände vor allem, »Junker und Pfaffen«,
sind Feinde und Verräter »des Volkes«, die eigne
Meinung ist die »Stimme des Volkes«, die diesem mit
allen Mitteln parteipolitischer Bearbeitung, der Rede des Forums, der
Presse des Abendlandes eingeimpft wird, um dann vertreten zu werden.
(Ebd., S. 1122).
Die Urstände sind Adel und Priestertum. Die Urpartei
ist die des Geldes und Geistes, die liberale, die der großen Stadt.
Hier liegt die tiefe Berechtigung der Begriffe Aristokratie und Demokratie,
und zwar für alle Kulturen. Aristokratisch ist die Verachtung des
Geistes der Städte, demokratisch die Verachtung des Bauern, der Haß
gegen das Land. Es ist der Unterschied von Standespolitik und Parteipolitik,von
Standesbewußtsein und Parteigesinnung, von Rasse und
Geist, Wachstum und Konstruktion. Aristokratisch ist die vollendete Kultur,
demokratisch die beginnende weltstädtische Zivilisation, bis der
Gegensatz im Cäsarismus aufgehoben wird. So gewiß der Adel
der Stand ist, und der tiers es niemals dahin bringt, in dieser
Weise wirklich in Form zu sein, so gewiß mißlingt es dem Adel,
als Partei sich nicht zu organisiseren, aber zu fühlen. (Ebd.,
S. 1122-1123).
Aber der Verzicht darauf steht ihm nicht frei. Alle modernen Verfassungen
verleugnen die Stände und sind auf die Partei als die selbstverständliche
Grundform der Politik hin angelegt. Das 19. Jahrhundert, und also auch
das vorchristliche dritte, ist die Glanzzeit der Parteipolitik. Ihr demokratischer
Zug erzwingt die Bildung von Gegenparteien, und während einst
noch im 18. Jahrhundert! der tiers sich nach dem
Vorbild des Adels als Stand konstituierte, so entsteht jetzt nach dem
Vorbild der liberalen das Abwehrgebilde der konservativen Partei
(und überall da, wo zwischen den beiden Urständen
auch ein politischer Gegensatz besteht wie in Ägypten, Indien und
im Abendland, noch eine klerikale, d.h. nicht etwa die Religion, sondern
die Kirche, nicht die Gläubigen, sondern die Priesterschaft als Partei),
durchaus von deren Formen beherrscht, verbürgerlicht, ohne bürgerlich
zu sein, und auf eine Taktik verwiesen, deren Mittel und Methoden ausschließlich
durch den Liberalismus bestimmt sind. Sie haben nur die Wahl, diese Mittel
besser zu handhaben als der Gegner (und ihr stärkerer
Gehalt an Rasse gibt ihnen alle Aussicht dazu) oder zu unterliegen,
aber es ist tief im Wesen eines Standes begründet, daß er diese
Lage nicht begreift und nicht den Feind, sondern die Form bekämpfen
will: Ein Appell an die äußersten Mittel, der zu Beginn jeder
Zivilisation die Innenpolitik ganzer Staaten verheert und sie dem äußeren
Gegner wehrlos überliefert. Der Zwang jeder Partei, der Erscheinung
nach bürgerlich zu sein, erhebt sich zur Karikatur, sobald sich unterhalb
der städtischen Schichten von Bildung und Besitz auch noch der Rest
als Partei organisiert. Der Marxismus z.B., der Theorie nach eine Verneinung
des Bürgertums, ist als Partei nach Haltung und Führung spießbürgerlich
durch und durch. Es besteht ein fortwährender Konflikt zwischen dem
Wollen, das notwendig aus dem Rahmen der Parteipolitik und damit jeder
Verfassung heraustritt beides ist ausschließlich liberal
und ehrlicherweise nur als Bürgerkrieg bezeichnet werden kann,
und dem Auftreten, das man sich schuldig zu sein glaubt und das man jedenfalls
haben muß, um in dieser Zeit irgendeinen dauernden Erfolg zu erzielen.
Aber das Auftreten einer Adelspartei in einem Parlament ist innerlich
ebenso unecht wie das einer proletarischen. Nur das Bürgertum ist
hier zu Hause. (Ebd., S. 1123-1124).
In Rom haben Patrizier und Plebejer von der Einsetzung der Tribunen
471 bis zur Anerkennung ihrer gesetzgeberischen Vollmacht in der Revolution
von 287 (vgl. S. 1070 f.) im wesentlichen
als Stände gekämpft. Von da an besitzt dieser Gegensatz nur
noch genealogische Bedeutung, und es entwickeln sich Parteien, die man
sehr wohl als liberal und konservativ bezeichnen kann: der auf dem Forum
tonangebende Populus (Plebs entspricht dem
tiers Bürger und Bauern des 18., populus
der großstädtischen »Masse« des 19. Jahrhunderts;
der Unterschied kommt in der Haltung gegenüber den freigelassenen
Sklaven meist nichtitalischer Herkunft zum Ausdruck, welche die Plebs
als Stand in möglichst wenige Tribus zurückzudrängen sucht,
während sie im Populus als einer Partei bald die ausschlaggebende
Rolle spielten) und die Nobilität mit ihrem Stützpunkt
im Senat. Dieser hat sich um 287 aus einem Familienrat der alten Geschlechter
in einen Staatsrat der Verwaltungsaristokratie verwandelt. Dem Populus
stehen die nach dem Besitz abgestuften Zenturiatkomitien und die Gruppe
der großen Geldleute, der equites, nahe, der Nobilität
die in den Tributkomitien einflußreiche Bauernschaft. Man denke
dort an die Gracchen und Marius, hier an C. Flaminius; und man braucht
nur schärfer hinzusehen, um die ganz veränderte Stellung der
Konsuln und Tribunen zu bemerken. Sie sind nicht mehr die ernannten Vertrauensmänner
des ersten und dritten Standes, deren Haltung damit bestimmt ist, sondern
sie vertreten und wechseln die Partei. Es gibt »liberale«
Konsuln wie den älteren Cato und »konservative« Tribunen
wie Octavius, den Gegner des Ti. Gracchus. Beide Parteien stellen für
die Wahlen ihre Kandidaten auf und suchen sie mit allen Mitteln demagogischer
Bearbeitung durchzubringen, und wenn das Geld bei den Wahlen keinen Erfolg
gehabt hat, so gelingt es ihm bei den Gewählten immer besser.
(Ebd., S. 1124).
In England haben Tories und Whigs zu Beginn des 19. Jahrhunderts
sich selbst als Parteien konstituiert, der Form nach verbürgerlicht
und dem Wortlaut nach beide das liberale Programm angenommen, wodurch
die öffentliche Meinung wie immer vollkommen überzeugt und zufriedengestellt
war. (Vgl. S. 1075.) Durch diese meisterhaft
und rechtzeitig vollzogene Schwenkung ist es überhaupt nicht zur
Bildung einer standesfeindlichen Partei gekommen wie in dem Frankreich
von 1789. Die Mitglieder des Unterhauses wurden aus Sendboten der herrschenden
Schicht zu Volksvertretern, die von ihr weiterhin finanziell abhängig
waren; die Führung blieb in derselben Hand und der Parteigegensatz,
für den sich seit 1830 die Worte liberal und konservativ wie von
selbst einstellten, beruhte auf einem Mehr oder Weniger, nicht auf einem
Entweder-Oder. Es sind dieselben Jahre, in denen die literarische Freiheitsstimmung
des »Jungen Deutschland« in eine Parteigesinnung überging,
und wo in Amerika unter Präsident Jackson sich der republikanischen
Partei gegenüber die demokratische organisierte und der Grundsatz,
daß Wahlen ein Geschäft und sämtliche Staatsämter
die Beute des Siegers seien, in aller Form anerkannt wurde. (In
aller Stille ging gleichzeitig die katholische Kirche von der Standes-
zur Parteipolitik über, und zwar mit einer strategischen Sicherheit,
die nicht genug bewundert werden kann. Im 18. Jahrhundert war sie, was
den Stil ihrer Diplomatie, die Vergebung der großen Stellen und
den Geist ihrer höheren Kreise betrifft, durchaus aristokratisch
gewesen. Man denke an den Typus des Abbé und an die Kirchenfürsten,
welche Minister und Gesandte wurden wie der junge Kardinal Rohan. Jetzt
tritt, ganz »liberal«, an Stelle der Abkunft die Gesinnung,
an Stelle des Geschmacks die Arbeitskraft, und die großen Mittel
der Demokratie, die Presse, die Wahlen, das Geld, werden mit einem Geschick
gehandhabt, das der eigentliche Liberalismus selten erreicht und nirgends
übertroffen hat.) (Ebd., S. 1125).
Aber die Form der regierenden Minderheit entwickelt sich vom
Stand über die Partei hinaus unaufhaltsam weiter zur Gefolgschaft
von Einzelnen. Das Ende der Demokratie und der Übergang zum Cäsarimus
äußert sich deshalb darin, daß nicht mehr etwa die Partei
des 3. Standes, der Liberalismus, verschwindet, sondern die Partei als
Form überhaupt. Die Gesinnung, das volkstümliche Ziel, die abstrakten
Ideale aller echten Parteipolitik lösen sich auf, und an ihre Stelle
tritt die Privatpolitik, der ungehemmte Machtwille weniger Rassemenschen.
Ein Stand hat Instinkte, eine Partei hat ein Progrramm, eine Gefolgschaft
hat einen Herrn: das ist der Weg von Patriziat und Plebs über Optimaten
und Popularen zu den Pompejanern und Cäsarianern. Das Zeitalter der
echten Parteiherrschaft umfaßt kaum zwei Jahrhunderte und ist für
uns seit dem Weltkrieg bereits in vollem Niedergang begriffen. Daß
die gesamte Masse der Wählerschaft aus einem gemeinsamen Antrieb
heraus Männer entsendet, die ihre Sache führen sollen, wie es
in allen Verfassungen ganz naiv gemeint ist, war nur im ersten Anlauf
möglich und setzt voraus, daß nicht einmal die Ansätze
zur Organisation bestimmter Gruppen vorhanden sind. So war es 1789 in
Frankreich, 1848 in Deutschland. Mit dem Dasein einer Versammlung ist
aber sofort die Bildung taktischer Einheiten verbunden, deren Zusammenhalt
auf dem Willen beruht, die einmal errungene herrschende Stellung zu behaupten,
und die sich nicht im geringsten mehr als Sprachrohr ihrer Wähler
betrachten, sondern umgekehrt diese mit allen Mitteln der Agitation sich
gefügig machen, um sie für ihre Zwecke einzusetzen. Eine Richtung
im Volk, die sich organisiert hat, ist damit bereits das Werkzeug
der Organisation geworden und sie schreitet unaufhaltsam auf diesem Wege
weiter, bis auch die Organisation das Werkzeug der Führer geworden
ist. Der Wille zur Macht ist stärker als alle Theorie. Am Anfang
entsteht die Führung und der Apparat des Programms wegen; dann werden
sie von den Inhabern um der Macht und Beute willen verteidigt, wie es
heute schon ganz allgemein der Fall ist, wo in allen Ländern Tausende
von der Partei und den von ihr vergebenen Ämtern und Geschäften
leben, und endlich verschwindet das Programm aus der Erinnerung und die
Organisation arbeitet für sich allein. (Ebd., S. 1125-1126).
Beim älteren Scipio und Qu. Flamininus ist noch von Freunden
die Rede, die sie in den Krieg begleiten, aber der jüngere Scipio
hat sich eine cohors amicorum gebildet, wohl das erste Beispiel
eines organisierten Gefolges, das dann auch vor Gericht und bei den Wahlen
arbeitet. (Zum folg.: M. Gelzer, Die Nobilität
der römischen Republik, 1912, ...) Ebenso entwickelt sich
das ursprünglich ganz patriarchalische und aristokratische Treuverhältnis
des Patrons zu seinen Klienten zu einer Interessengemeinschaft auf sehr
materieller Grundlage, und schon vor Cäsar gibt es schriftliche Verträge
zwischen Kandidaten und Wählern mit genauer Festsetzung von Zahlung
und Gegenleistung. Auf der anderen Seite bilden sich, ganz wie im heutigen
Amerika (allbekannt ist Tammany Hall in New York,
aber die Verhältnisse nähern sich diesem Zustand in allen von
Parteien regierten Ländern; der amerikanische »Caucus«,
der die Staatsämter unter seine Mitglieder verteilt und deren Namen
dann der Wählermasse aufzwingt, ist als National Liberal Federation
von Chamberlain in England eingeführt worden und seit 1919 auch in
Deutschland in rascher Entwicklung begriffen), die Klubs und Wahlvereine
der Tribulen, welche die Masse der Wähler des Bezirks beherrschen
oder verscheuchen, um mit den großen Führern, den Vorläufern
der Cäsaren, von Macht zu Macht über das Wahlgeschäft zu
verhandeln. Das ist nicht ein Scheitern, sondern der Sinn und das notwendige
Endergebnis der Demokratie, und die Klage weltfremder Idealisten über
diese Zerstörung ihrer Hoffnungen kennzeichnet nur deren Blindheit
für das unerbittliche Zweierlei von Wahrheiten und Tatsachen und
die innere Verbundenheit von Geist und Geld. (Ebd., S. 1126-1127).
Niemand sollte sich darüber täuschen, daß das
Zeitalter der Theorie auch für uns zu Ende geht. Die großen
Systeme des Liberalismus und Sozialismus sind sämtlich zwischen 1750
und 1850 entstanden. .... Wer die Hingabe bis zum Tode, die Rousseaus
Gedanken in der französischen Revolution gefunden haben, mit der
Haltung der Sozialisten von 1918 vergleicht, die eine Überzeugung,
welche sie nicht mehr besaßen, vor ihrer Anhängerschaft und
in ihr aufrecht erhalten mußten, nicht um der Idee, sondern um der
Macht willen, die davon abhängig war, der sieht auch den ferneren
Weg vorgezeichnet, auf dem endlich jedes Programm fallen wird, weil es
dem Kampf um die Gewalt nur noch im Wege steht. Der Glaube daran hatte
die Großväter ausgezeichnet; für die Enkel ist
er ein Beweis von Provinzialismus. An seiner Stelle keimt heute schon
aus Seelennot und Gewissensqual eine neue resignierte Frömmigkeit
empor, die es aufgibt, ein neues Diesseits zu begründen, die statt
der grellen Begriffe das Geheimnis sucht und es in den Tiefen der zweiten
Religiosität (vgl. S. 941 f.) auch endlich
finden wird. (Ebd., S. 1129-1130).
In den Anfängen einer Demokratie gehört dem Geiste das
Feld allein. Es gibt nichts Edleres und Reineres als die Nachtsitzung
des 4. August 1789 und den Schwur im Ballhause oder die Gesinnung in der
Frankfurter Paulskirche, wo man mit der Macht in Händen so lange
über allgemeine Wahrheiten beriet, bis die Mächte der Wirklichkeit
sich gesammelt hatten und die Träumer beiseite schoben. Bald genug
indessen meldet sich die andere Größe jeder Demokratie und
mahnt an die Tatsache, daß man von verfassungsmäßigen
Rechten nur Gebrauch machen kann, wenn man Geld hat. (Die
frühe Demokratie, die der hoffnungsvollen Verfassungsentwürfe,
die für uns etwa bis zu Lincoln, Bismarck und Gladstone reicht, muß
diese Erfahrung machen; die späte, für uns die des reifen Parlamentarismus,
geht von ihr aus. Da haben sich Wahrheiten und Tatsachen in Gestalt von
Parteiideal und Parteikasse endgültig getrennt. Der echte Parlamentarier
fühlt sich eben durch das Geld von der Abhängigkeit befreit,
die in der naiven Auffassung des Wählers vom Gewählten enthalten
ist.) Daß ein Wahlrecht annähernd leistet, was der Idealist
sich dabei denkt, setzt voraus, daß es keine organisierte Führerschaft
gibt, die in ihrem Interesse und im Maßstabe des verfügbaren
Geldes auf die Wähler einwirkt. Sobald sie da ist, hat die Wahl nur
noch die Bedeutung einer Zensur, welche die Menge den einzelnen Organisationen
erteilt, auf deren Gestaltung sie zuletzt nicht den geringsten Einfluß
mehr besitzt. Und ebenso bleibt das ideale Grundrecht abendländischer
Verfassungen, das der Masse, ihre Vertreter frei zu bestimmen, bloße
Theorie, denn jede entwickelte Organisation ergänzt sich in Wirklichkeit
selbst. (Vgl. S. 1126.) Endlich erwacht ein
Gefühl davon, daß das allgemeine Wahlrecht überhaupt kein
wirkliches Recht enthält, nicht einmal das der Wahl zwischen den
Parteien, weil die auf seinem Boden erwachsenden Machtgebilde durch das
Geld alle geistigen Mittel der Rede und Schrift beherrschen und damit
die Meinung des Einzelnen über die Parteien nach Belieben lenken,
während sie andrerseits durch ihre Verfügung über Ämter,
Einfluß und Gesetze einen Stamm unbedingter Anhänger züchten,
eben den »Caucus«, der den Rest ausschaltet und ihn zu einer
Wahlmüdigkeit führt, die endlich selbst in den großen
Krisen nicht mehr überwunden werden kann. (Ebd., S. 1131-1132).
Scheinbar besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen der abendländischen,
parlamentarischen Demokratie und denen der ägyptischen, chinesischen,
arabischen Zivilisation, welchen der Gedanke allgemeiner Volkswahlen ganz
fremd ist. Aber für uns ist in diesem Zeitalter die Masse als Wählerschaft
»in Form«, in genau demselben Sinne, wie sie es vorher als
Untertanenverband gewesen war, als Objekt nämlich für ein
Subjekt, und wie sie es in Bagdad und Byzanz als Sekte oder Mönchtum
und anderswo als regierendes Heer, Geheimbund oder Sonderstaat im Staate
ist. Die Freiheit ist wie immer lediglich negativ. (Vgl.
S. 998.) Sie besteht in der Ablehnung der Tradition: der Dynastie,
der Oligarchie, des Kalifats; aber die ausübende Macht geht von diesen
sofort und ungeschmälert an neue Gewalten über, an Parteihäupter,
Diktatoren, Prätendenten, Propheten und ihren Anhang, und ihnen gegenüber
bleibt die Menge weiterhin bedingungslos Objekt. (Wenn
sie sich trotzdem befreit fühlt, so beweist das wiederum die tiefe
Unverträglichkeit zwischen großstädtischem Geist und gewachsener
Tradition, während zwischen seiner Tätigkeit und dem Regiertwerden
durch das Geld eine innere Beziehung besteht.) »Selbstbestimmungsrecht
des Volkes« ist eine höfliche Redensart; tatsächlich hat
mit jedem allgemeinen anorganischen Wahlrecht sehr bald
der ursprüngliche Sinn des Wählens überhaupt aufgehört.
Je gründlicher die gewachsenen Gliederungen der Stände und Berufe
politisch ausgelöscht werden, desto formloser, desto hilfloser wird
die Wählermasse, desto unbedingter ist sie den neuen Gewalten ausgeliefert,
den Parteileitungen, welche der Menge mit allen Mitteln geistigen Zwanges
ihren Willen diktieren, den Kampf um die Herrschaft unter sich ausfechten,
mit Methoden, von denen die Menge zuletzt weder etwas sieht noch versteht,
und welche die öffentliche Meinung lediglich als selbstgeschmiedete
Waffe gegeneinander erheben. Aber eben deshalb treibt ein unwiderstehlicher
Zug jede Demokratie auf diesem Wege weiter, der sie zu ihrer Aufhebung
durch sich selbst führt. (Die deutsche Verfassung
von 1919, also schon an der Schwelle der absteigenden Demokratie
entstanden, enthält in aller Naivität eine Diktatur der Parteimaschinen,
die sich selbst alle Rechte übertragen haben und niemandem ernsthaft
verantwortlich sind. Die berüchtigte Verhältniswahl und die
Reichsliste sichern ihnen die Selbstergänzung. Statt der Rechte des
»Volkes«, wie sie die Verfassung von 1848 der Idee nach enthielt,
gibt es nur solche der Parteien, was harmlos klingt, aber den Cäsarismus
der Organisationen in sich schließt. In diesem Sinne ist sie allerdings
die fortgeschrittenste Verfassung des Zeitalters; sie läßt
das Ende bereits erkennen; einige ganz kleine Änderungen, und sie
verleiht Einzelnen die unumschränkte Gewalt.) (Ebd.,
S. 1132-1133).
Die römische Ämterlaufbahn
forderte, seit sie sich in der Form von Volkswahlen vollzog, ein Kapital,
das den angehenden Politiker zum Schuldner seiner ganzen Umgebung machte.
Vor allem die Ädilität, wo man durch öffentliche Spiele
die Vorgänger überbieten mußte, um später die Stimmen
der Zuschauer zu haben. Sulla fiel bei der ersten Bewerbung für die
Prätur durch, weil er nicht Ädil gewesen war. Dann das glänzende
Gefolge, mit dem man sich täglich auf dem Forum zu zeigen hatte,
um der müßigen Menge zu schmeicheln. Ein Gesetz verbot das
Geleit gegen Bezahlung, aber die Verpflichtung von Vornehmen durch Darlehen,
Empfehlung zu Ämtern und Geschäften und Verteidigung vor Gericht,
die diese wiederum zu Begleitung und zu täglichen Morgenbesuchen
verpflichtete, war teuer. Pompejus war Patron der halben Welt, von den
picenischen Bauern an bis zu den Königen im Orient; er vertrat und
beschützte alles; das war sein politisches Kapital, das er gegen
die zinslosen Darlehen des Crassus und die »Vergoldung« aller
Ehrgeizigen durch den Eroberer Galliens einsetzen konnte. Man läßt
den Wählern bezirksweise Frühstücke servieren (Inaurari,
zu welchem Zweck Cicero seinen Freund Trebatius an Cäsar empfahl),
Freiplätze für die Gladiatorenspiele anweisen oder auch wie
Milo unmittelbar Geld ins Haus senden. Cicero nennt das »die Sitten
der Väter achten«. Das Wahlkapital nahm amerikanische Dimensionen
an und betrug zuweilen Hunderte von Millionen Sesterzen. Bei den Wahlen
von 54 (v. Chr.) stieg der Zinsfuß von 4 auf 8%, weil der größte
Teil der ungeheuren Bargeldmasse, die in Rom vorhanden war, in der Agitation
festgelegt wurde. Cäsar hatte als Ädil
so viel ausgegeben, daß Crassus für 20 Millionen bürgen
mußte, damit die Gläubiger ihm die Abreise in die Provinz gestatteten,
und bei der Wahl zum Pontifex maximus hatte er seinen Kredit noch einmal
so überspannt, daß sein Gegner Catulus ihm Geld für den
Rücktritt bieten konnte, weil er im Falle einer Niederlage verloren
war. Aber die auch deshalb unternommene Eroberung und Ausbeutung Galliens
machte ihn zum reichsten Mann der Welt; hier ist eigentlich Pharsalus
schon gewonnen worden. Es handelte sich um Milliarden von Sesterzen, die
seitdem durch Cäsars Hände gingen. Die Weihgeschenke der gallischen
Tempel, die er in Italien ausbieten ließ, riefen einen Sturz des
Goldwertes hervor. Vom König Ptolemäus erpreßten er und
Pompejus für die Anerkennung 144 (und Gabinius noch einmal 240) Millionen.
Der Konsul Aemilius Paulus (50) wurde mit 36, Curio mit 60 Millionen erkauft.
Man kann daraus auf die vielbeneideten Vermögen seiner näheren
Umgebung schließen. Bei dem Triumph von 46 (v. Chr.) erhielt jeder
der weit über hunderttausend Soldaten je 24000 Sesterzen, die Offiziere
noch ganz andere Summen. Trotzdem reichte der Staatsschatz nach seinem
Tode aus, um die Stellung des Antonius zu sichern. Denn
Cäsar hat diese Milliarden um der Macht willen erobert, wie Cecil
Rhodes, und nicht aus Freude am Reichtum, wie Verres und im Grunde auch
Crassus, ein großer Geldmann mit politischem Nebenberuf. Er begriff,
daß auf dem Boden einer Demokratie die verfassungsmäßigen
Rechte ohne Geld nichts, mit Geld alles bedeuten. Als Pompejus noch davon
träumte, er könne Legionen aus der Erde stampfen, hatte sie
Cäsar durch sein Geld längst zur Wirklichkeit verdichtet. Er
hatte diese Methoden vorgefunden; er beherrschte sie, aber er identifizierte
sich nicht mit ihnen. Man muß sich klar machen, daß sich etwa
seit 150 (v. Chr.) die um Grundsätze versammelten Parteien zu persönlichen
Gefolgschaften auflösen um Männer, die ein privatpolitisches
Ziel hatten und sich auf die Waffen ihrer Zeit verstanden. (Ebd.,
S. 1134-1136).
Aber während die Antike, an der Spitze das Forum von Rom,
die Volksmasse zu einem sichtbaren und dichten Körper zusammenzog,
um ihn zu zwingen, von seinen Rechten den Gebrauch zu machen, den man
wollte, schuf »gleichzeitig« die europäisch-amerikanische
Politik durch die Presse ein Kraftfeld von geistigen und Geldspannungen
über die ganze Erde hin, in das jeder einzelne eingeordnet ist, ohne
daß es ihm zum Bewußtsein kommt, so daß er denken, wollen
und handeln muß, wie es irgendwo in der Ferne eine herrschende Persönlichkeit
für zweckmäßig hält. Das ist Dynamik gegen Statik,
faustisches gegen apollinisches Weltgefühl, das Pathos der dritten
Dimension gegen die reine, sinnliche Gegenwart. Man spricht nicht von
Mann zu Mann; die Presse und in Verbindung mit ihr der elektrische Nachrichtendienst
halten das Wachsein ganzer Völker und Kontinente unter dem betäubenden
Trommelfeuer von Sätzen, Schlagworten, Standpunkten, Szenen, Gefühlen,
Tag für Tag, Jahr für Jahr, so daß jedes Ich zur bloßen
Funktion eines ungeheuren geistigen Etwas wird. Das Geld nimmt seinen
politischen Weg nicht als Metall aus einer Hand in die andre. Es verwandelt
sich nicht in Spiele und Wein. Es wird in Kraft umgesetzt und bestimmt
durch seine Menge die Intensität dieser Bearbeitung. (Ebd.,
S. 1137).
Die Demokratie hat das Buch aus dem Geistesleben
der Volksmassen vollständig verdrängt. .... Das Volk liest
die eine, »seine« Zeitung, die in Millionen Exemplaren
täglich in alle Häuser dringt, die Geister vom frühen Morgen
an in ihren Bann zieht, durch ihre Anlage die Bücher in vergessenheit
bringt, und, wenn eins oder das andre doch einmal in den Gesichtskreis
tritt, seine Wirkung durch eine vorweggenommene Kritik ausschaltet. Was
ist Wahrheit ? Für die Menge das, was man ständig
liest und hört. Die andre ... ist heute ein Produkt der Presse. Was
sie will, ist wahr. Ihre Befehlshaber erzeugen, verwandeln, vertauschen
Wahrheiten. Drei Wochen Pressearbeit, und alle Welt hat die Wahrheit erkannt.
(Das stärkste Beispiel wird für künftige
Geschlechter die Frage der »Schuld« am Weltkrieg sein, das
heißt die Frage, wer durch Beherrschung der Presse und Kabel aller
Erdteile die Macht besitzt, für die Weltmeinung diejenige Wahrheit
herzustellen, die er für seine politischen Zwecke braucht, und sie
solange zu halten, als er sie braucht. Eine ganz andre Frage, die nur
in Deutschland noch nicht mit der ersten verwechselt wird, ist die rein
wissenschaftliche, wer ein Interesse daran besaß, ein Ereignis gerade
im Sommer 1914 eintreten zu lassen, über das es damals schon eine
ganze Literatur gab.) Ihre Gründe sind so lange unwiderleglich,
als Geld vorhanden ist, um sie ununterbrochen zu wiederholen. Auch die
antike Rhetorik war auf den Eindruck und nicht den Inhalt berechnet -
... - aber sie beschränkte sich auf die Anwesenden und den Augenblick..
Die Dynamik der Presse will dauernde Wirkungen Sie muß die
Geister dauernd unter Druck halten. Ihre Gründe sind widerlegt,
sobald die größere Geldmacht sich bei den Gegengründen
befindet und sie noch häufiger vor aller Ohren und Augen bringt.
In demselben Augenblick dreht sich die Magnetnadel der öffentlichen
Meinung nach dem stärkeren Pol. Jedermann überzeugt sich sofort
von der neuen Wahrheit. Man ist plötzlich aus einem Irrtum erwacht.
(Ebd., S. 1139-1140).
Mit der politischen Presse hängt das Bedürfnis nach
allgemeiner Schulbildung zusammen, das der Antike durchaus fehlt. Es ist
ein ganz unbewußter Drang darin, die Massen als Objekte der Parteipolitik
dem Machtmittel der Zeitung zuzuführen. Dem Idealisten der frühen
Demokratie erschien das als Aufklärung ohne Hintergedanken, und heute
noch gibt es hier und da Schwachköpfe, die sich am Gedanken der Pressefreiheit
begeistern, aber gerade damit haben die kommenden Cäsaren der Weltpresse
freie Bahn. Wer lesen gelernt hat, verfällt ihrer Macht, und aus
der erträumten Selbstbestimmung wird die späte Demokratie zu
einem radikalen Bestimmtwerden der Völker durch die Gewalten,
denen das gedruckte Wort gehorcht. (Ebd., S. 1140).
Man bekämpft sich heute, indem man sich
diese Waffe entreißt. In den naiven Anfängen der Zeitungsmacht
wurde sie durch Zensurverbote geschädigt, mit denen die Vertreter
der Tradition sich wehrten, und das Bürgertum schrie auf, die Freiheit
des Geistes sei in Gefahr. Jetzt zieht die Menge ruhig ihres Wegs; sie
hat diese Freiheit endgültig erobert, aber im Hintergrunde bekämpfen
sich ungesehen die neuen Mächte, indem sie die Presse kaufen. Ohne
daß der Leser es merkt, wechselt die Zeitung und damit er selbst
den Gebieter. (n Vorbereitung des Weltkrieges wurde
die Presse ganzer Länder finanziell unter das Kommando von London
und Paris gebracht, und damit die zugehörigen Völker in eine
strenge geistige Sklaverei. Je demokratischer die innere Form einer Nation,
desto leichter und vollständiger erhegt sie dieser Gefahr. Das ist
der Stil des 20. Jahrhunderts. Ein Demokrat vom alten Schlage würde
heute nicht Freiheit für die Presse, sondern von der
Presse fordern, aber inzwischen haben die Führer sich in »Angekommene«
verwandelt, die ihre Stellung gegenüber der Masse sichern müssen.)
Das Geld triumphiert auch hier und zwingt die freien Geister in seinen
Dienst. Kein Tierbändiger hat seine Meute besser in der Gewalt. Man
läßt das Volk als Lesermasse los, und es stürmt durch
die Straßen, wirft sich auf das bezeichnete Ziel, droht und schlägt
Fenster ein. Ein Wink an den Pressestab und es wird still und geht nach
Hause. Die Presse ist heute eine Armee mit sorgfältig organisiserten
Waffengattungen, mit Journalisten als Offizieren, Lesern als Soldaten.
Aber es ist hier wie in jeder Armee: der Soldat gehorcht blind, und die
Wechsel in Kriegsziel und Operationsplan vollziehen sich ohne seine Kenntnis.
Der Leser weiß nichts von dem, was man mit ihm vor hat, und soll
es auch nicht, und er soll auch nicht wissen, welch eine Rolle er damit
spielt. Eine furchtbarere Satire auf die Gedankenfreiheit gibt es nicht.
Einst durfte man nicht wagen, frei zu denken; jetzt darf man es, aber
man kann es nicht mehr. Man will nur noch denken, was man wollen soll,
und eben das empfindet man als seine Freiheit. (Ebd., S. 1140-1141).
Und die andere Seite dieser späten Freiheit: es ist jedem
erlaubt zu sagen, was er will; aber es steht der Presse frei, davon Kenntnis
zu nehmen oder nicht. Sie kann jede »Wahrheit« zum Tode verurteilen,
indem sie ihre Vermittlung an die Welt nicht übernimmt, eine furchtbare
Zensur des Schweigens. die um so allmächtiger ist, als die Sklavenmasse
der Zeitungsleser ihr Vorhandensein gar nicht bemerkt. (Die
Bücherverbrennung der Chinesen [vgl. S. 1104] ist harmlos dagegen.)
Hier taucht, wie überall in den Geburtswehen des Cäsarismus,
ein Stück versunkener Frühzeit auf. (Vgl.
S. 1106.) Der Bogen des Geschehens ist im Begriff, sich zu schließen.
Wie in den Bauten von Beton und Stahl noch einmal der Ausdruckswille der
ersten Gotik hervorbricht, aber nun kalt, beherrscht, zivilisiert, so
meldet sich hier der eiserne Machtwille der gotischen Kirche über
die Geister als »Freiheit der Demokratie«. Die Zeit
des »Buches« wird durch die gotische Predigt und die moderne
Zeitung eingefaßt. Bücher sind ein persönlicher Ausdruck,
Predigt und Zeitung gehorchen einem unpersönlichen Zweck. Die Jahre
der Scholastik bieten in der Weltgeschichte das einzige Beispiel einer
geistigen Zucht, die über alle Länder hin keine Schrift, keine
Rede, keinen Gedanken hervortreten ließ, die der gewollten
Einheit widersprachen. Das ist geistige Dynamik. Antike, indische, chinesische
Menschen würden entsetzt auf dies Schauspiel geblickt haben. Aber
gerade das kehrt als notwendiges Ergebnis des europäisch-amerikanischen
Liberalismus wieder, so wie es Robespierre meinte: »Der Despotismus
der Freiheit gegen die Tyrannei«. An
Stelle der Scheiterhaufen tritt das große Schweigen. Die Diktatur
der Parteihäupter stützt sich auf die Diktatur der Presse. Man
sucht durch das Geld Leserscharen und ganze Völker der feindlichen
Hörigkeit zu entreißen und unter die eigne Gedankenzucht zu
bringen. Hier erfahren sie nur noch, was sie wissen sollen, und ein höherer
Wille gestaltet das Bild ihrer Welt. Man braucht nicht mehr, wie die Fürsten
des Barock, die Untertanen zum Waffendienst zu verpflichten. Man peitscht
ihre Geister auf, durch Artikel, Telegramme, Bilder Northcliffe!
bis sie Waffen fordern und ihre Führer zu einem Kampfe
zwingen, zu dem diese gezwungen sein wollten. (Ebd., S. 1141-1142).
Das ist das Ende der Demokratie. Wenn in der Welt der Wahrheiten
der Beweis alles entscheidet, so in der Tatsachenwelt der Erfolg.
Erfolg, das bedeutet den Triumph eines Daseinsstromes über die andern.
Das Leben hat sich durchgesetzt; die Träume der Weltverbesserer
sind Werkzeuge von Herrennaturen geworden. In der späten Demokratie
bricht die Rasse hervor und knechtet die Ideale oder wirft sie mit Gelächter
in den Abgrund. So war es im ägyptischen Theben, in Rom, in China,
aber in keiner zweiten Zivilisation erhielt der Wille zur Macht eine so
unerbittliche Form. Das Denken und dadurch das Handeln der Masse wird
unter eisernem Druck gehalten. Deshalb und nur deshalb ist man Leser und
Wähler, also in zweifacher Sklaverei, während die Parteien zu
gehorsamen Gefolgschaften von Wenigen werden, über welche der Cäsarismus
schon seine ersten Schatten wirft. Wie das englische Königtum im
19. Jahrhundert, so werden die Parlamente im 20. langsam ein feierliches
und leeres Schauspiel. Wie dort Szepter und Krone, so werden hier die
Volksrechte mit großem Zeremoniell vor der Menge einhergetragen
und um so peinlicher geachtet, je weniger sie bedeuten. Das ist der Grund,
weshalb der kluge Augustus keine Gelegenheit versäumt hat,
die altgeheiligten Bräuche römischer Freiheit zu betonen. Aber
die Macht verlagert sich heute schon aus den Parlamenten in private Kreise,
und ebenso sinken die Wahlen unaufhaltsam zu einer Komödie herab,
für uns wie für Rom. Das Geld organisiert den Vorgang im Interesse
derer, die es besitzen (hier liegt das Geheimnis,
weshalb alle radikalen, also armen Parteien notwendig die Werkzeuge
der Geldmächte, in Rom der equites, heute der Börse werden;
theoretisch greifen sie das Kapital an, praktisch aber nicht die Börse,
sondern in deren Interesse die Tradition; das war zur Zeit der Gracchen
ebenso wie heute, und zwar in allen Ländern; die Hälfte der
Massenführer ist durch Geld, Ämter, Beteiligung an Geschäften
zu erkaufen und mit ihnen die ganze Partei), und die Wahlhandlung
wird ein verabredetes Spiel, das als Selbstbestimmung des Volkes inszeniert
ist. Und wenn eine Wahl ursprünglich eine Revolution in legitimen
Formen war (vgl. Bd. II, S. 1079 f.),
so hat sich diese Form erschöpft und man »wählt«
sein Schicksal wieder mit den ursprünglichen Mitteln blutiger Gewalt,
wenn die Politik des Geldes unerträglich wird. (Ebd., S. 1142-1143).
Durch das Geld vernichtet die Demokratie sich selbst, nachdem
das Geld den Geist vernichtet hat. Aber eben weil alle Träume
verflogen sind, daß die Wirklichkeit sich jemals durch die Gedanken
irgendeines Zenon oder Marx verbessern ließe, und man gelernt hat,
daß im Reiche der Wirklichkeit ein Machtwille nur durch einen
andern gestürzt werden kann das ist die große Erfahrung
im Zeitalter der kämpfenden Staaten , erwacht endlich eine
tiefe Sehnsucht nach allem, was noch von alten, edlen Traditionen lebt.
Man ist der Geldwirtschaft müde bis zum Ekel. Man hofft auf eine
Erlösung irgendwoher, auf einen echten Ton von Ehre und Ritterlichkeit,
von innerem Adel, von Entsagung und Pflicht. Und nun bricht die Zeit an,
wo in der Tiefe die formvollen Mächte des Blutes wieder erwachen,
die durch den Rationalismus der großen Städte verdrängt
worden sind. Alles was sich an dynamischer Tradition, an altem Adel für
die Zukunft aufgespart hat, an vornehmer, über das Geld erhabener
Sitte, alles was in sich stark genug ist, um nach dem Worte Friedrichs
des Großen Diener des Staates zu sein in harter, entsagungsvoller,
sorgender Arbeit, gerade im Besitz einer schrankenlosen Gewalt, alles
was ich dem Kapitalismus gegenüber als Sozialismus bezeichnet hatte
(),
alles das wird plötzlich zum Sammelpunkt ungeheurer Lebenskräfte.
Der Cäsarismus wächst auf dem Boden der Demokratie, aber seine
Wurzeln reichen tief in die Untergründe des Blutes und der Tradition
hinab. Seine Gewalt verdankt der antike Cäsar dem Tribunat, seine
Würde und damit seine Dauer aber besitzt er als Prinzeps. Auch hier
erwacht die Seele der frühen Gotik noch einmal: Der Geist der Ritterorden
überwindet das beutelustige Wikingertum. Mögen die Machthaber
der Zukunft, da die große politische Form der Kultur unwiderruflich
zerfallen ist, die Welt als Privatbesitz beherrschen, so enthält
diese formlose und grenzenlose Macht doch eine Aufgabe, die der
unermüdlichen Sorge um diese Welt, die das Gegenteil aller Interessen
im Zeitalter der Geldherrschaft ist und die ein hohes Ehrgefühl und
Pflichtbewußtsein fordert. Aber eben deshalb erhebt sich nun der
Endkampf zwischen Demokratie und Cäsarismus, zwischen den führenden
Mächten einer diktatorischen Geldwirtschaft und dem rein politischen
Ordnungswillen der Cäsaren. Um das zu verstehen, diesen Endkampf
zwischen Wirtschaft und Politik, in welchem die Politik ihr Reich
zurückerobert, bedarf es eines Blickes auf die Physiognomie der Wirtschaftsgeschichte.
(Ebd., S. 1143-1144).
Die Formenwelt des Wirtschaftslebens (S. 1145-1195):
I. Das
Geld (S. 1145-1182) Die Nationalökonomie
[S. 1145] Die politische und die wirtschaftliche Seite des Lebens [S. 1147]
Erzeugende und erobernde Wirtschaft (Landbau und Handel) [S. 1151]
Politik und Handel (Macht und Beute) [S. 1153] Urwirtschaft und Wirtschaftsstil
der hohen Kulturen [S. 1156] Stand und Wirtschaftsklasse [S. 1157]
Das stadtlose Land: Denken in Gütern [S. 1160] Die Stadt: Denken in
Geld [S. 1162] Weltwirtschaft: Mobilisierung der Güter durch das Geld
[S. 1166] Das antike Geld: Die Münze [S. 1169] Der Sklave als
Geld [S. 1171 Das faustische Denken in Geld: Der Buchwert [S. 1173]
Die doppelte Buchführung [S. 1174] Die Münze im Abendland [S.
1175] Geld und Arbeit [S. 1177] Der Kapitalismus [S. 1179]
Wirtschaftliche Organisation [S. 1180] Erlöschen des Denkens in Geld:
Diokletian. Das Wirtschaftsdenken der Russen [S. 1181] II. Die
Maschine (S. 1183-1195) Geist der Technik
[S. 1183] • Primitive Technik und Stil der hohen Kulturen [S. 1185] • Antike Technik
[S. 1186] • Die faustische Technik: Der Wille zur Macht über die Natur. Der
Erfinder [S. 1186] • Rausch der modernen Erfindungen [S. 1187] • Der Mensch als
Sklave der Maschine [S. 1190] • Unternehmer, Arbeiter, Ingenieur [S. 1190] • Ringen
zwischen Geld und Industrie [S. 1192] • Endkampf zwischen Geld und Politik; Sieg
des Blutes [S. 1193].Das
GeldDer Standpunkt, von dem aus die Wirtschaftsgeschichte
der hohen Kulturen verstanden werden kann, darf auf dem Boden der Wirtschaft selbst
nicht gesucht werden. Wirtschaftliches Denken und Handeln ist eine Seite
des Lebens, die in falsche Beleuchtung rückt, sobald man sie als eine selbständige
Art von Leben betrachtet. Am allerwenigsten findet man ihn auf dem Boden
der heutigen Weltwirtschaft, die seit 150 Jahren einen phantastischen, gefährlichen,
zuletzt fast verzweifelten Aufstieg genommen hat, der ausschließlich abendländisch
und dynamisch ist und nichts weniger als allgemein menschlich. (Ebd., S.
1145).
Was wir heute Nationalökonomie nennen, ist aufgebaut aus
lauter spezifisch englischen Voraussetzungen. Die allen andern Kulturen
ganz unbekannte Maschinenindustrie steht in der Mitte, als ob das selbstverständlich
wäre, und beherrscht durchaus die Begriffsbildung und die Ableitung
sogenannter Gesetze, ohne daß man sich dessen bewußt wird.
Das Kreditgeld in der besonderen Gestalt, welche sich aus dem englischen
Verhältnis von Welthandel und Exportindustrie in einem bauernlosen
Lande ergeben hat, dient als Unterlage von Definitionen der Worte Kapital,
Wert, Preis, Vermögen, die dann ohne weiteres auf andere Kulturstufen
und Lebenskreise angewandt werden. Die Insellage Englands hat in allen
ökonomischen Theorien die Auffassung der Politik und ihrer Beziehung
zur Wirtschaft bestimmt. Die Schöpfer dieses Wirtschaftsbildes
sind David Hume und Adam Smith. Was seitdem über sie hinaus und gegen
sie geschrieben worden ist, setzt immer die kritische Anlage und Methode
ihrer Systeme unbewußt voraus. Das gilt von Carey und List so gut
wie für Fourier und Lasalle. Und was den größten gegner
von Adam Smith, Marx betrifft, so macht es wenig aus, ob man, ganz in
der Vorstellungswelt des englischen Kapitalismus befangen, laut gegen
ihn protestiert: man erkennt ihn eben damit an und will nur durch andre
Art von Verrechnung dessen Objekten den Vorteil der Subjekte zuwenden.
(Ebd., S. 1145-1146).
Jedes Wirtschaftsleben ist Ausdruck eines Seelenlebens.
(Ebd., S. 1147).
Das ist eine neue, eine deutsche Wirtschaftsauffassung, jenseits
von Kapitalismus und Sozialismus, die beide aus der nüchtern
bürgerlichen Verständigkeit des 18. Jahrhunderts hervorgegangen
sind und die nichts sein wollten als eine stoffliche Analyse und
daraufhin eine Konstruktion der wirtschaftlichen Oberfläche.
Was bis jetzt gelehrt worden ist, bereitet nur vor. Das Wirtschaftsdenken
steht wie das Rechtsdenken noch vor seiner eigentlichen Entfaltung (vgl.
S. 652), die heute wie in hellenistisch-römischer Zeit erst
dort einsetzt, wo Kunst und Philosophie unwiderruflich Vergangenheit geworden
sind. (Ebd., S. 1147).
Der folgende Versuch will nichts sein als ein flüchtiger
Blick auf die hier vorhandenen Möglichkeiten. (Ebd., S. 1147).
Wirtschaft und Politik sind Seiten des einen lebendig dahinströmenden
Daseins, nicht des Wachseins, des Geistes. (Vgl.
S. 557, 971.) In beiden offenbart sich der Takt kosmischer Flutungen,
die in Geschlechterfolgen von Einzelwesen eingefangen sind. Sie haben
nicht etwa, sondern sie sind Geschichte. Die nichtumkehrbare Zeit,
das Wann regiert in ihnen. Sie gehören beide zur Rasse und nicht
zur Sprache mit ihren] raumhaft-kausalen Spannungen wie Religion und Wissenschaft;
sie richten sich beide auf Tatsachen und nicht auf Wahrheiten. Es gibt
politische und wirtschaftliche Schicksale, so wie es in allen religiösen
und wissenschaftlichen Lehren einen zeitlosen Zusammenhang von Ursache
und Wirkung gibt. (Ebd., S. 1147-1148).
Das Leben besitzt also eine politische und eine wirtschaftliche
Art, für die Geschichte »in Form« zu sein. Sie überlagern,
stützen oder bekämpfen sich, aber die politische ist unbedingt
die erste. Das Leben will sich erhalten und durchsetzen oder vielmehr,
es will sich stärker machen, um sich durchzusetzen. In wirtschaftlicher
Verfassung befinden sich die Daseinsströme nur für sich selbst,
in politischer für ihr Verhältnis zu den andern. Daran ändert
sich nichts von den einfachsten einzelligen Pflanzen bis zu den Schwärmen
und Völkern der höchsten frei im Räume beweglichen Wesen.
Sich ernähren und sich bekämpfen: den Rangunterschied beider
Lebensseiten läßt ihr Verhältnis zum Tode erkennen. Es
gibt keinen tieferen Gegensatz als den von Hungertod und Heldentod.
Wirtschaftlich wird das Leben bedroht, entwürdigt, erniedrigt durch
den Hunger im weitesten Sinne; auch die Unmöglichkeit, seine Kräfte
zur vollen Entwicklung zu bringen, gehört dazu, die Enge im Lebensraum,
die Dunkelheit, der Druck, nicht nur die unmittelbare Gefahr. Ganze Völker
haben durch die zehrende Kümmerlichkeit ihrer Lebenshaltung die Spannkraft
der Rasse verloren. Hier stirbt man an etwas, nicht für etwas. Die
Politik opfert Menschen für ein Ziel; sie fallen für eine Idee;
die Wirtschaft läßt sie nur verderben. Der Krieg ist der
Schöpfer, der Hunger der Vernichter aller großen Dinge.
Dort wird das Leben durch den Tod gehoben, oft bis zu jener unwiderstehlichen
Kraft, deren bloßes Vorhandensein schon den Sieg bedeutet; hier
weckt der Hunger jene häßliche, gemeine, ganz unmetaphysische
Art von Lebensangst, unter welcher die höhere Formenwelt einer Kultur
jäh zusammenbricht und der nackte Daseinskampf menschlicher Bestien
beginnt. (Ebd., S. 1148).
Es war schon die Rede von dem Doppelsinn aller Geschichte, wie
er im Gegensatz von Mann und Weib zutage tritt. (Vgl.
S. 962 ff..) Es gibt eine private Geschichte, die als Zeugungsfolge
der Generationen das »Leben im Räume« darstellt,
und eine öffentliche, die es als politisches In-Form-sein verteidigt
und sichert: die »Spindelhälfte« und die »Schwertseite«
des Daseins. Sie finden ihren Ausdruck in den Ideen der Familie und des
Staates, aber auch in der Urgestalt des Hauses (vgl.
S. 660, 698), in dem die guten Geister des Ehebetts der
Genius und die Juno jeder altrömischen Wohnstätte von
der Tür, dem Janus, geschützt werden. Der privaten Geschichte
des Geschlechts tritt nun die Wirtschaft zur Seite. Von der Dauer eines
blühenden Lebens kann seine Kraft, vom Geheimnis der Zeugung und
Empfängnis die Ernährung nicht getrennt werden. Am reinsten
erscheint der Zusammenhang im Dasein rassestarker Bauerngeschlechter,
die gesund und fruchtbar in ihrer Scholle wurzeln. Und wie im Bilde des
Leibes das Geschlechtsorgan mit dem des Kreislaufs verbunden ist (vgl.
S. 560), so bildet die Mitte des Hauses im andern Sinne
der heilige Herd, die Vesta. (Ebd., S. 1148-1149).
Eben deshalb bedeutet Wirtschaftsgeschichte etwas ganz anderes
als politische Geschichte. Hier stehen die großen einmaligen Schicksale
im Vordergrund, die sich zwar in den bindenden Formen der Epoche vollziehen,
aber jede für sich streng persönlich sind. Dort handelt es sich
wie in der Geschichte der Familie um den Entwicklungsgang der Formensprache,
und alles Einmalige und Persönliche ist ein wenig bedeutendes Privatschicksal.
Nur die Grundform von Millionen Fällen kommt in Betracht. Aber die
Wirtschaft ist doch nur die Unterlage alles irgendwie sinnvollen Daseins.
Es kommt nicht eigentlich darauf an, daß man in Verfassung,
gut genährt und fruchtbar ist, als Einzelner oder als Volk, sondern
wofür man es ist, und je höher der Mensch geschichtlich steigt,
desto weiter überragt sein politisches und religiöses Wollen
an Innerlichkeit der Symbolik und Gewalt des Ausdrucks alles, was das
Wirtschaftsleben als solches an Form und Tiefe besitzt. Erst wenn mit
der Heraufkunft einer Zivilisation die Ebbe der gesamten Formenwelt beginnt,
treten die Umrisse der bloßen Lebenshaltung nackt und aufdringlich
hervor: das ist denn die Zeit, wo der platte Spruch von »Hunger
und Liebe« als den Triebkräften, des Daseins aufhört,
schamlos zu sein, wo nicht das Starkwerden für eine Aufgabe, sondern
das Glück der Meisten, Behagen und Bequemlichkeit, »panem
et circenses« den Sinn des Lebens bilden und an Stelle der großen
Politik die Wirtschaftspolitik als Selbstzweck tritt. (Ebd., S.
1149-1150).
Weil die Wirtschaft zur Rasseseite des Lebens gehört, so
besitzt sie wie die Politik eine Sitte und keine Moral (vgl.
S. 981 f.), denn das unterscheidet Adel und Priestertum, Tatsachen
und Wahrheiten. Jede Berufsklasse hat wie jeder Stand ein selbstverständliches
Gefühl nicht für Gut und Böse, sondern für Gut und
Schlecht. Wer es nicht besitzt, ist unehrenhaft und gemein. Denn die Ehre
steht auch hier im Mittelpunkt und trennt das Feingefühl für
das, was sich schickt, das Taktgefühl wirtschaftlich tätiger
Menschen von der religiösen Weltbetrachtung und ihrem Grundbegriff
der Sünde. Es gibt eine sehr bestimmte Berufsehre unter Kaufleuten,
Handwerkern, Bauern, mit feinen und doch nicht weniger bestimmten Abstufungen
für den Ladenbesitzer, Exportkaufmann, Bankier, Unternehmer, für
Bergleute, Matrosen, Ingenieure, sogar, wie jeder weiß, für
Räuber und Bettler, insofern sie sich als Berufsgenossen fühlen.
Niemand hat diese Sitten gesetzt oder aufgeschrieben, aber sie sind da;
sie sind wie alle Standessitten überall und zu allen Zeiten anders
und jedesmal nur innerhalb des Kreises der Zugehörigen verbindlich.
Neben den adligen Tugenden der Treue, Tapferkeit, Ritterlichkeit, Kameradschaft,
die keiner Berufsgenossenschaft fremd sind, erscheinen scharf ausgeprägte
Anschauungen über den ethischen Wert des Fleißes, des Erfolges,
der Arbeit und ein erstaunliches Distanzgefühl. Dergleichen hat
man, ohne viel darum zu wissen erst der Verstoß bringt die
Sitte zum Bewußtsein , im Gegensatz zu religiösen Geboten,
die zeitlos und allgemeingültig sind, aber als nie verwirklichte
Ideale, und die man lernen muß, um sie zu wissen und befolgen zu
können. (Ebd., S. 1150).
Die religiös-asketischen Grundbegriffe wie »selbstlos«
und »sündlos« sind innerhalb des Wirtschaftslebens ohne
Sinn. Für den wahren Heiligen ist die Wirtschaft überhaupt Sünde
(»negotium [damit ist jede Art von
Erwerbstätigkeit gemeint; das Geschäft heißt commercium]
negat otium neque quaerit veram quietem, quae est deus«,
heißt es im Decretum Gratiani [vgl. S. 647]), nicht
nur das Zinsnehmen und die Freude am Reichtum oder der Neid der Armen
darauf. Das Wort von den Lilien auf dem Felde ist für tief religiöse
und philosophische Naturen unbedingt wahr. Sie stehen mit
dem ganzen Schwergewicht ihres Wesens außerhalb der Wirtschaft und
Politik und aller andern Tatsachen »dieser Welt«. Das lehrt
die Zeit Jesu ebenso wie die des heiligen Bernhard und das Grundgefühl
im heutigen Russentum, und ebenso die Lebensführung eines Diogenes
oder Kant. Deshalb wählt man freiwillige Armut und Wanderschaft oder
flüchtet sich in Mönchszellen und Gelehrtenstuben. Wirtschaftlich
betätigt sich nie eine Religion oder Philosophie sondern immer nur
der politische Organismus einer Kirche oder der soziale einer theoretisierenden
Genossenschaft. Es ist immer ein Kompromiß mit »dieser Welt«
und ein Zeichen des Willens zur Macht. (Die Frage
des Pilatus stellt auch das Verhältnis von Wirtschaft und Wissenschaft
fest. Der religiöse Mensch wird vergebens, den Katechismus in der
Hand, das Treiben seiner politischen Umwelt zu bessern suchen. Sie geht
ruhig ihres Weges und überläßt ihn seinen Gedanken. Der
Heilige hat nur die Wahl, sich anzupassen dann wird er Kirchenpolitiker
und gewissenlos oder sich aus der Welt zu flüchten, in die
Einsiedelei, selbst ins Jenseits. Aber dasselbe wiederholt sich, nicht
ohne Komik, innerhalb der städtischen Geistigkeit. Hier möchte
der Philosoph, der ein ethisch-soziales System errichtet hat, das voll
von abstrakter Tugend ist und allein richtig, wie sich versteht, das Wirtschaftsleben
darüber aufklären, wie es sich zu verhalten und wohin es zu
streben habe. Es ist immer das gleiche Schauspiel, sei das System liberal,
anarchistisch oder sozialistisch .... Aber auch die Wirtschaft geht unbekümmert
weiter und überläßt dem Denker die Wahl, sich zurückzuziehen
und seinen Jammer über diese Welt auf dem Papier auszuströmen,
oder in sie als Wirtschaftspolitiker einzutreten, wo er sich entweder
lächerlich macht oder alsbald seine Theorie zum Teufel schickt, um
sich einen führenden Platz zu erkämpfen.) (Ebd.,
S. 1150-1151).
Was man das Wirtschaftsleben einer Pflanze nennen darf, vollzieht
sich an und in ihr, ohne daß sie selbst etwas andres wäre als
der Schauplatz und willenlose Gegenstand eines Naturvorgangs. (Vgl.
S. 557) Dies pflanzenhafte, traumhafte Element liegt unverändert
der »Wirtschaft« auch noch des menschlichen Leibes zugrunde,
wo es in Gestalt der Kreislauforgane sein fremdartiges und willenloses
Dasein führt. Mit dem frei im Raum beweglichen Leibe des Tieres aber
tritt zum Dasein das Wachsein, das verstehende Empfinden und damit der
Zwang, für die Erhaltung des Lebens selbständig zu sorgen.
Hier beginnt die Lebensangst und führt zu einem Tasten, Wittern,
Spähen, Horchen mit immer schärferen Sinnen und daraufhin zu
Bewegungen im Räume, zum Suchen, Sammeln, Verfolgen, Überlisten,
Rauben, das sich bei manchen Arten wie den Bibern, Ameisen, Bienen, vielen
Vögeln und Raubtieren bis zu den Anfängen einer wirtschaftlichen
Technik steigert, welche Überlegung, das heißt eine gewisse
Ablösung des Verstehens vom Empfinden voraussetzt. Der Mensch ist
eigentlich Mensch in dem Grade, als sich sein Verstehen vom Empfinden
befreit hat und als Denken in die Beziehungen zwischen Mikrokosmos und
Makrokosmos schöpferisch eingreift. (Vgl. S.
561.) Ganz tierhaft ist noch die Frauenlist dem Manne gegenüber
und jene Bauernschlauheit im Erobern kleiner Vorteile, die sich beide
von der Schlauheit des Fuchses in nichts unterscheiden und mit einem
verstehenden Blick das ganze Geheimnis ihres Opfers durchdringen; aber
darüber erhebt sich nun das Wirtschaftsdenken, das den Acker
bestellt, das Vieh zähmt, die Dinge verwandelt, veredelt, tauscht
und tausend Mittel und Methoden erfindet, um die Lebenshaltung zu erhöhen
und die Abhängigkeit von der Umwelt in eine Herrschaft über
sie zu verwandeln. Dies ist die Unterlage aller Kulturen. Die Rasse bedient
sich eines Wirtschaftsdenkens, das so mächtig werden kann, daß
es sich von seinen Zwecken löst, abstrakte Theorien aufbaut und sich
in utopische Weiten verliert. (Ebd., S. 1151-1152).
Alles höhere Wirtschaftsleben entwickelt sich an und über
einem Bauerntum. Nur das Bauerntum selbst setzt nichts andres voraus.
(Es ist mit den Wanderscharen von Jägern und
Viehzüchtern ganz ebenso, aber die wirtschaftliche Grundlage der
hohen Kulturen bildet immer eine Menschenart, die fest am Boden haftet
und die höheren Wirtschaftsformen ernährt und trägt.)
Es ist gewissermaßen die Rasse an sich, pflanzenhaft und geschichtslos
(vgl. S. 966), ganz für sich erzeugend
und verbrauchend, mit einem Blick auf die Welt, vor dem sich alles andre
Wirtschaftswesen beiläufig und verächtlich ausnimmt. Dieser
erzeugenden tritt nun eine erobernde Art von Wirtschaft
entgegen, die sich der ersten als eines Objekts bedient, sich von ihr
nähren läßt, sie tributpflichtig macht oder beraubt. Politik
und Handel sind in den Anfängen durchaus untrennbar, beide herrenmäßig,
persönlich, kriegerisch, mit einem Hunger nach Macht und Beute, der
einen ganz andern Blick auf die Welt mit sich führt nicht
aus einem Winkel auf sie hinaus sondern auf ihr Gewimmel herab ,
wie er sich in der Wahl des Löwen, Bären, Geiers, Falken zu
Wappentieren deutlich genug ausspricht. Der Urkrieg ist immer auch Raubkrieg,
der Urhandel mit Plünderung und Piraterie aufs engste verwandt. Die
isländischen Sagas erzählen, wie die Wikinger oft mit der Bevölkerung
einen Marktfrieden von zwei Wochen verabreden, um Handel zu treiben, worauf
man zu den Waffen greift und das Beutemachen beginnt. (Ebd., S.
1152-1153).
Politik und Handel in entwickelter Form die Kunst, durch
geistige Überlegenheit Sacherfolge über den Gegner zu erzielen
sind beide ein Ersatz des Krieges durch andere Mittel. Jede Art
Diplomatie ist geschäftlicher, jedes Geschäft diplomatischer
Natur, und beide beruhen auf eindringender Menschenkenntnis und physiognomischem
Takt. Der Unternehmungsgeist großer Seefahrer, wie wir sie unter
den Phönikern, Etruskern, Normannen, Venezianern, Hanseaten finden,
kluger Bankherren wie die Fugger und Medici, mächtiger Geldleute
wie Crassus und die Minen- und Trustmagnaten unserer Tage erfordert die
strategische Begabung von Feldherrn, wenn die Operationen glücken
sollen. Der Stolz auf das Stammhaus, das väterliche Erbe, die Familientradition
bilden sich hier wie dort in gleicher Weise heraus; die »großen
Vermögen« sind wie Königreiche und haben ihre Geschichte;16
und Polykrates, Solon, Lorenzo de' Medici, Jürgen Wullenweber sind
durchaus nicht die einzigen Beispiele von politischem Ehrgeiz, der sich
aus kaufmännischem entwickelt hat. (Ebd., S. 1153-1154).
Aber der echte Fürst und Staatsmann will herrschen, der echte
Geschäftsmann will nur reich sein; hier trennt sich die erobernde
Wirtschaft als Mittel und als Zweck. Man kann die Beute um der Macht und
die Macht um der Beute willen suchen. Auch der große Herrscher wie
Hoang-ti, Tiberius oder Friedrich II. will »reich an Land und Leuten«
sein, aber mit dem Bewußtsein einer vornehmen Verpflichtung. (Vgl.
S. 985. Als Mittel von Regierungen heißt sie Finanzwirtschaft.
Die ganze Nation ist hier Objekt einer Tributerhebung in Gestalt von Steuern
und Zöllen, deren Verwendung nicht etwa ihre Lebenshaltung bequemer
gestalten, sondern ihre geschichtliche Lage sichern und ihre Macht erhöhen
soll.). Man nimmt mit gutem Gewissen und als etwas Selbstverständliches
die Schätze der ganzen Welt in Anspruch und kann ein Leben in strahlendem
Glanz und selbst in Verschwendung führen, wenn man sich zugleich
als Träger einer Sendung fühlt wie Napoleon, Cecil Rhodes und
auch der römische Senat des 3. Jahrhunderts, und deshalb den Begriff
des Privatbesitzes in bezug auf sich selbst kaum kennt. (Ebd., S.
1154).
Wer auf bloße Wirtschaftsvorteile aus ist wie zur Römerzeit
die Karthager und heute in noch viel höherem Grade die Amerikaner,
der vermag auch nicht rein politisch zu denken. Er wird bei den Entscheidungen
der hohen Politik immer ausgenützt und betrogen sein, wie das Beispiel
Wilsons zeigt, zumal wenn der Mangel an staatsmännischem Instinkt
durch moralische Stimmungen ersetzt ist. Deshalb häufen die großen
Wirtschaftsverbände der Gegenwart wie Unternehmertum und Arbeiterschaft
einen politischen Mißerfolg auf den andern, wenn sie nicht einen
echten Politiker als Führer finden, der sich ihrer bedient.
Wirtschaftliches und politisches Denken sind bei hoher Übereinstimmung
der Form in der Richtung und damit in allen taktischen Einzelheiten grundverschieden.
Große geschäftliche Erfolge (im weitesten
Sinne, wozu auch der Aufstieg von Arbeitern, Journalisten, Gelehrten zu
einer führenden Stellung gehört.) wecken ein schrankenloses
Gefühl von öffentlicher Macht. Man wird diesen Unterton
im Worte »Kapital« nicht verkennen. Aber nur bei einzelnen
ändert sich damit Farbe und Richtung ihres Wollens und ihr Maßstab
für die Lagen und Dinge. Erst wenn man wirklich aufgehört hat,
sein Unternehmen als Privatsache zu empfinden und als dessen Ziel die
bloße Anhäufung von Besitz, besteht die Möglichkeit, aus
einem Unternehmer ein Staatsmann zu werden. Das war der Fall von Cecil
Rhodes. Aber umgekehrt besteht für Menschen der politischen Welt
die Gefahr, daß ihr Wollen und Denken von geschichtlichen Aufgaben
zur bloßen Sorge für die private Lebenshaltung herabsinkt.
Dann wird aus dem Adel ein Raubrittertum; es erscheinen die bekannten
Fürsten, Minister, Volksmänner und Revolutionshelden, deren
Eifer sich in einem Schlaraffenleben und dem Sammeln gewaltiger Reichtümer
erschöpft zwischen Versailles und dem Jakobinerklub, Unternehmern
und Arbeiterführern, russischen Gouverneuren und Bolschewisten besteht
da kaum ein Unterschied , und in der reif gewordenen Demokratie
ist die Politik der »Arrivierten« nicht nur mit Geschäft,
sondern mit den schmutzigsten Arten großstädtischer Spekulationsgeschäfte
identisch. (Ebd., S. 1154-1155).
Gerade darin aber offenbart sich der geheime Gang einer hohen
Kultur. Am Anfang erscheinen die Urstände Adel und Priestertum mit
ihrer Symbolik von Zeit und Raum. Damit haben, in einer wohlgeordneten
Gesellschaft (vgl. S. 966 f.), das politische
Leben wie das religiöse Erleben ihren festen Platz, ihre berufenen
Träger und ihre für Tatsachen wie für Wahrheiten schlechthin
gegebenen Ziele, und in der Tiefe bewegt sich das Wirtschaftsleben in
einer unbewußten sicheren Bahn. Der Strom des Daseins verfängt
sich im steinernen Gehäuse der Stadt und von hier aus übernehmen
Geld und Geist die geschichtliche Führung. Das Heldenhafte und Heilige
mit der sinnbildlichen Wucht ihrer frühen Erscheinung werden selten
und ziehen sich in enge Kreise zurück. Eine kühle bürgerliche
Klarheit tritt an ihre Stelle. Im Grunde erfordern ein Systemabschluß
und ein Geschäftsabschluß ein und dieselbe Art von fachmännischer
Intelligenz. Durch den symbolischen Rang kaum noch getrennt, dringen politisches
und wirtschaftliches Leben, religiöse und wissenschaftliche Erkenntnis
aufeinander ein, berühren und mischen sich. Der Strom des Daseins
verliert die strenge und reiche Form im Treiben der großen Städte.
Elementare Wirtschaftszüge treten an die Oberfläche und treiben
mit den Resten formvoller Politik ihr Spiel, wie gleichzeitig die souveräne
Wissenschaft die Religion unter ihre Objekte aufnimmt. Über ein Leben
von wirtschaftspolitischem Selbstgenügen breitet sich eine kritisch-erbauliche
Weltstimmung. Aber aus ihm treten endlich an Stelle der zerfallenen Stände
einzelne Lebensläufe von echt politischer und religiöser Gewalt
hervor, die für das Ganze zum Schicksal werden (Ebd., S. 1155-1156).
Daraus ergibt sich die Morphologie der Wirtschaftsgeschichte.
Es gibt eine Urwirtschaft »des« Menschen, die ebenso
wie die der Pflanze und des Tiers ihre Form in biologischen Zeiträumen
(vgl. S. 591) verändert. Sie beherrscht
das primitive Zeitalter vollkommen und bewegt sich zwischen und in den
hohen Kulturen ohne erkennbare Regel unendlich langsam und verworren fort.
Tiere und Pflanzen werden herangezogen und durch Zähmung, Züchtung,
Veredlung, Aussaat umgeschaffen, das Feuer und die Metalle ausgenützt,
die Eigenschaften der unlebendigen Natur durch technische Verfahren in
den Dienst der Lebenshaltung gestellt. Alles das ist durchdrungen von
politisch-religiöser Sitte und Bedeutung, ohne daß totem
und tabu, Hunger, Seelenangst, Geschlechtsliebe, Kunst, Krieg, Opferbrauch,
Glaube und Erfahrung deutlich zu trennen wären. (Ebd., S. 1156).
Etwas ganz anderes nach Begriff und Entwicklung ist die strenggeformte
und in Tempo und Dauer scharf begrenzte Wirtschaftsgeschichte der hohen
Kulturen, von denen jede einzelne einen eignen Wirtschaftsstil besitzt.
Zum Lehnswesen gehört die Wirtschaft des stadtlosen Landes. Mit dem
von Städten aus regierten Staat erscheint die Stadtwirtschaft des
Geldes, die sich mit dem Anbruch jeder Zivilisation zur Diktatur des Geldes
erhebt, gleichzeitig mit dem Sieg der weltstädtischen Demokratie.
Jede Kultur besitzt ihre selbständig entwickelte Formenwelt. Das
körperhafte Geld apollinischen Stils die geprägte Münze
steht dem faustisch-dynamischen Beziehungsgelde der Buchung
von Krediteinheiten ebenso fern wie die Polis dem Staate Karls
V. Aber das wirtschaftliche Leben bildet sich ganz wie das gesellschaftliche
zu einer Pyramide aus. (Vgl. S. 591.) Im
dörflichen Untergrunde hält sich eine völlig primitive,
kaum von der Kultur berührte Lage. Die späte Stadtwirtschaft,
bereits das Tun einer entschiedenen Minderheit, sieht beständig auf
eine frühzeitliche Landwirtschaft herab, die rings umher ihr Wesen
weiter treibt und voll Argwohn und Haß auf den durchgeistigten Stil
innerhalb der Mauern blickt. Zuletzt führt die Weltstadt eine
zivilisierte Weltwirtschaft herauf, die von ganz engen Kreisen
weniger Mittelpunkte ausstrahlt und den Rest als Provinzwirtschaft sich
unterwirft, während in entlegenen Landschaften oft noch durchaus
die primitive »patriarchalische« Sitte herrscht.
Mit dem Wachstum der Städte wird die Lebenshaltung immer künstlicher,
feiner, verwickelter. Der Großstadtarbeiter im cäsarischen
Rom, im Bagdad Harun al Raschids und im heutigen Berlin empfindet vieles
als selbstverständlich, was dem reichen Bauern fern im Lande als
wahnwitziger Luxus erscheint, aber dieses Selbstverständliche ist
schwer zu erreichen und schwer zu behaupten; das Arbeitsquantum aller
Kulturen wächst in ungeheurem Maße, und so entwickelt sich
am Anfang jeder Zivilisation eine Intensität des Wirtschaftslebens,
die in ihrer Spannung übertrieben und stets gefährdet ist und
nirgends lange aufrecht erhalten werden kann. Zuletzt bildet sich ein
starrer und dauerhafter Zustand heraus mit einem seltsamen Gemisch raffiniert
durchgeistigter und ganz primitiver Züge, wie ihn die Griechen in
Ägypten und wir im heutigen Indien und China kennen lernen, wenn
er nicht vor dem unterirdischen Nachdrängen einer jungen Kultur dahinschwindet
wie der antike zur Zeit Diokletians. (Ebd., S. 1156-1157).
Dieser Wirtschaftsbewegung gegenüber sind die Menschen als
Wirtschaftsklasse in Form, wie sie es der Weltgeschichte gegenüber
als politischer Stand sind. Jeder einzelne hat eine wirtschaftliche
Stellung innerhalb der ökonomischen Gliederung so, wie er
irgend einen Rang innerhalb der Gesellschaft einnimmt. Beide Arten von
Zugehörigkeit nehmen gleichzeitig sein Fühlen, Denken und Sichverhalten
in Anspruch. Ein Leben will da sein und darüber hinaus noch etwas
bedeuten; und die Verwirrung unserer Begriffe ist endlich noch dadurch
gesteigert worden, daß politische Parteien, heute wie in hellenistischer
Zeit, gewisse wirtschaftliche Gruppen, deren Lebenshaltung sie glücklicher
gestalten wollten, durch Erhebung in einen politischen Stand gewissermaßen
adelten, wie es Marx mit der Klasse der Fabrikarbeiter getan hat.
(Ebd., S. 1157-1158).
Denn der erste und echte Stand ist der Adel. Von ihm leitet sich der
Offizier und Richter ab und alles, was zu den hohen Regierungs- und Verwaltungsämtern
gehört. Es sind standesartige Gebilde, die etwas bedeuten. Ebenso
gehört zum Priestertum die Gelehrtenschaft (einschließlich
der Ärzte, die in Urzeiten von Priestern und Zauberern nicht zu trennen
sind) mit einer sehr ausgeprägten Art von ständischer Abgeschlossenheit.
Aber mit Burg und Dom ist die große Symbolik zu Ende. Der tiers ist bereits
der Nichtstand, der Rest, eine bunte und vielfältige Sammlung, die als
solche wenig bedeutet außer in Augenblicken des politischen Protestes,
und die sich deshalb Bedeutung gibt, indem sie Partei ergreift. Man fühlt
sich, nicht als Bürger, sondern weil man »liberal« ist, und
also eine große Sache zwar nicht durch seine Person repräsentiert,
aber ihr durch seine Überzeugung angehört. Infolge der Schwäche
dieses gesellschaftlichen Geformtseins tritt das wirtschaftliche in »bürgerlichen«
Berufen, Gilden und Verbänden um so sichtbarer hervor. In den Städten
wenigstens ist ein Mensch zuerst durch das bezeichnet, wovon er lebt.
(Ebd., S. 1158).
Wirtschaftlich ist das erste und ursprünglich fast das einzige
das Bauerntum (Hirten, Fischer und Jäger gehören
dazu;außerdem besteht eine seltsame und sehr tiefe Beziehung zum Bergbau,
wie die Verwandtschaft der alten Sagen und Bräuche lehrt; die Metalle werden
dem Schacht nicht anders abgelockt wie das Korn der Erde und das Wild dem Forst;
aber für den Bergmann sind die Metalle auch etwas, das lebt und wächst.),
die schlechthin erzeugende Art von Leben, die jede andre erst möglich
macht. Auch die Urstände gründen ihre Lebenshaltung in früher
Zeit durchaus auf Jagd, Viehhaltung und Ackerbesitz, und noch für Adel
und Geistlichkeit der Spätzeiten ist es die einzig vornehme Möglichkeit,
»begütert« zu sein. Ihr steht die vermittelnde, erbeutende
Lebensart des Handels (von der urzeitlichen Seefahrt bis
zum weltstädtischen Börsengeschäft; aller Verkehr auf Flüssen,
Straßen, Bahnen gehört dazu.) gegenüber, im Verhältnis
zur kleinen Zahl von gewaltiger Macht und schon ganz früh unentbehrlich,
ein feiner Parasitismus, vollkommen unproduktiv und deshalb landfremd und schweifend,
»frei«, auch seelisch unbeschwert von Sitten und Bräuchen der
Erde, ein Leben, das von anderem Leben sich nährt. Dazwischen wächst
nun eine dritte Art von Wirtschaft heran, die verarbeitende der Technik
in zahllosen Handwerken, Gewerben und Berufen, welche ein Nachdenken über
die Natur zur schöpferischen Anwendung bringen und deren Ehre und Gewissen
an der Leistung haftet. (Vgl. S. 989. Auch die Maschinenindustrie
gehört hierher mit dem rein abendländischen Typus des Erfinders und
Ingenieurs, und praktisch ein großer Teil der modernen Landwirtschaft
....) Ihre älteste, bis in die Urzeit zurückreichende Zunft
und zugleich ihr Urbild mit einer Fülle dunkler Sagen, Bräuche und
Anschauungen sind die Schmiede, die infolge ihrer stolzen Absonderung vom
Bauerntum und der um sie verbreiteten Scheu, die zwischen Achtung und Ächtung
wechselt, oft zu wirklichen Volksstämmen eigner Rasse geworden sind ....
(Ebd., S. 1158-1159).
Mit dem Anbruch jeder Frühzeit beginnt ein Wirtschaftsleben in
fester Form. (Vgl. S. 625.) Die Bevölkerung
lebt durchaus bäuerlich im freien Lande. Das Erlebnis der Stadt ist für
sie nicht vorhanden. Was sich vom Dorfe, von Burg, Pfalz, Kloster, Tempelbezirk
abhebt, ist nicht eine Stadt, sondern ein Markt, ein bloßer Treffpunkt
bäuerlicher Interessen, der gleichzeitig und selbstverständlich eine
gewisse religiöse und politische Bedeutung besitzt, ohne daß von
einem Sonderleben die Rede sein kann. Die Einwohner, auch wenn sie Handwerker
oder Kaufleute sind, empfinden doch als Bauern und werden irgendwie auch
als solche tätig sein. (Ebd., S. 1160-1161).
Eine ganz andere Art von Leben erwacht mit der Seele der Stadt. (Vgl.
S. 661.) Sobald der Markt zur Stadt geworden ist, gibt es nicht mehr
bloße Schwerpunkte des Güterstroms, der durch eine rein bäuerliche
Landschaft geht, sondern eine zweite Welt innerhalb der Mauern, für die
das schlechthin erzeugende Leben »da draußen« nichts ist als
Mittel und Objekt, und aus der heraus ein anderer Strom zu kreisen beginnt.
Das ist das Entscheidende: der echte Städter ist nicht erzeugend im ursprünglich
erdhaften Sinne. Ihm fehlt die innere Verbundenheit mit dem Boden wie mit dem
Gut, das durch seine Hände geht. Er lebt nicht mit ihm, sondern er betrachtet
es von außen und nur in bezug auf seinen Lebensunterhalt. (Ebd.,
S. 1162).
Damit wird das Gut zur Ware, der Tausch zum Umsatz, und an Stelle des
Denkens in Gütern tritt das Denken in Geld. (Ebd., S. 1162).
Damit wird ein rein ausgedehntes Etwas, eine Form der Grenzsetzung,
von den sichtbaren Wirtschaftsdingen abgezogen, ganz wie das mathematische Denken
von der mechanisch aufgefaßten Umwelt etwas abzieht, und das Abstraktum
Geld entspricht durchaus dem Abstraktum Zahl. (Zum folgenden
vgl. Kapitel I, S. 71 ff..) Beides ist vollkommen anorganisch. Das Wirtschaftsbild
wird ausschließlich auf Quantitäten zurückgeführt, unter
Absehen von der Qualität, die gerade das wesentliche Merkmal des Gutes
bildet. Für den frühzeitlichen Bauern ist »seine« Kuh
zuerst gerade dieses eine Wesen und dann erst Tauschgut; für den Wirtschaftsblick
eines echten Städters gibt es nur einen abstrakten Geldwert in der zufälligen
Gestalt einer Kuh, der jederzeit in die Gestalt etwa einer Banknote umgesetzt
werden kann. Ebenso erblickt der echte Techniker in einem berühmten Wasserfall
nicht ein einzigartiges Naturschauspiel, sondern ein reines Quantum unverwerteter
Energie. (Ebd., S. 1162-1163).
Es ist ein Fehler aller modernen Geldtheorien, daß sie von den
Wertzeichen oder sogar vom Stoff der Zahlungsmittel statt von der Form des wirtschaftlichen
Denkens ausgehen. (Mark und Dollar sind so wenig »Geld«
wie Meter und Gramm Kräfte sind. Geldstücke sind Sachwerte. Nur weil
wir die antike Physik nicht kannten, haben wir Gravitation und Gewichtsstück
nicht verwechselt, wie wir es auf Grund der antiken Mathematik mit Zahl und
Größe und infolge der Nachahmung antiker Münzen mit Geld und
Geldstück getan haben und noch tun.) Aber Geld ist wie Zahl und
Recht eine Kategorie des Denkens. Es gibt ein Gelddenken so wie es ein
juristisches, mathematisches, technisches Denken der Umwelt gibt. Von dem Sinnenerlebnis
eines Hauses wird ganz Verschiedenes abgezogen, je nachdem man es als Händler,
Richter oder Ingenieur im Geiste prüft und in bezug auf eine Bilanz, einen
Rechtsstreit oder eine Einsturzgefahr hin wertet. Am nächsten aber steht
dem Denken in Geld die Mathematik. Geschäftlich denken heißt rechnen.
Der Geldwert ist ein Zahlenwert, der an einer Rechnungseinheit gemessen wird.
(Deshalb könnte man umgekehrt das metrische (cm-g)
System eine Währung nennen, und in der Tat gehen sämtliche Geldmaße
von physikalischen Gewichtssätzen aus.) Diesen exakten »Wert
an sich« hat, wie die Zahl an sich, erst das Denken des Städters,
des wurzellosen Menschen hervorgebracht. Für den Bauern gibt es nur flüchtige,
gefühlte Worte in bezug auf ihn, die er im Tausch von Fall zu Fall geltend
macht. Was er nicht braucht oder besitzen will, hat für ihn »keinen
Wert«. Erst im Wirtschaftsbilde des echten Städters gibt es objektive
Werte und Wertarten, die als Elemente des Denkens unabhängig von seinem
privaten Bedarf bestehen und der Idee nach allgemeingültig sind, obwohl
in Wirklichkeit jeder einzelne sein eignes Wertsystem und seine eigne Fülle
der verschiedensten Wertarten besitzt und von ihnen aus die geltenden Wertansätze
(Preise) des Marktes als teuer oder billig empfindet. (Ebenso
sind alle Werttheorien, obwohl sie objektiv sein sollen, aus einem subjektiven
Prinzip entwickelt, und es kann auch gar nicht anders sein. Die von Marx z.B.
definiert »den« Wert so, wie es das Interesse des Handarbeiters
fordert, so daß die Leistung des Erfinders und Organisators als wertlos
erscheint. Aber es wäre verfehlt, sie als falsch zu bezeichnen. All diese
Lehren sind richtig für ihre Anhänger und falsch für ihre Gegner,
und ob man Anhänger oder Gegner wird, entscheiden nicht die Gründe,
sondern das Leben.) (Ebd., S. 1163-1164).
Während der frühe Mensch Güter vergleicht und nicht nur
mit dem Verstande, berechnet der späte den Wert der Ware, und zwar
nach einem starren qualitätslosen Maß. Jetzt wird nicht mehr das
Geld an der Kuh, sondern die Kuh am Gelde gemessen und das Ergebnis durch eine
abstrakte Zahl, den Preis, ausgedrückt. Ob und in welcher Weise dieses
Wertmaß in einem Wertzeichen sinnbildlichen Ausdruck findet
so wie das geschriebene, gesprochene, vorgestellte Zahlzeichen Sinnbild einer
Zahlenart ist , das hängt vom Wirtschaftsstil der einzelnen Kulturen
ab, die jedesmal eine andere Art von Geld hervorbringen. Diese Geldart ist vorhanden
nur infolge des Vorhandenseins einer städtischen Bevölkerung, die
in ihr wirtschaftlich denkt, und sie bestimmt weiterhin, ob das Wertzeichen
zugleich als Zahlungsmittel dient wie die antike Münze aus Edelmetall und
vielleicht die babylonischen Silbergewichte. Dagegen ist der ägyptische
deben, das nach Pfunden abgewogene Rohkupfer, ein Tauschmaß, aber weder
Zeichen noch Zahlungsmittel, die abendländische und die »gleichzeitige«
chinesische Banknote (jene in sehr bescheidenem Maße
seit Ende des 18. Jahrhunderts durch die Bank von England eingeführt, diese
zur Zeit der kämpfenden Staaten) ein Mittel, aber kein Maß,
und über die Rolle, welche Münzen aus Edelmetall in unserer
Art von Wirtschaft spielen, pflegen wir uns vollkommen zu täuschen: sie
sind eine in Nachahmung der antiken Sitte hergestellte Ware und besitzen
deshalb, am Buchwert des Kreditgeldes gemessen, einen Kurs. (Ebd., S.
1164-1165).
Aus dieser Art von Denken heraus wird der mit dem Leben und dem Boden
verbundene Besitz zum Vermögen, das dem Wesen nach beweglich und
qualitativ unbestimmt ist: es besteht nicht in Gütern, sondern es
wird in solchen »angelegt«. An sich betrachtet ist es ein
rein zahlenmäßiges Quantum von Geldwert. (Die
»Höhe« des Vermögens, was man mit dem »Umfang«
eines Güterbesitzes vergleiche.) (Ebd., S. 1165).
Als Sitz dieses Denkens wird die Stadt zum Geldmarkt (Geldplatz) und
Wertmittelpunkt, und ein Strom von Geldwerten beginnt den Güterstrom zu
durchdringen, zu durchgeistigen und zu beherrschen. Aber damit erhebt sich
der Händler vom Organ zum Herrn des Wirtschaftslebens. Denken in Geld
ist immer irgendwie kaufmännisches, »geschäftliches«
Denken. Es setzt die erzeugende Wirtschaft des Landes voraus und ist deshalb
zunächst immer erobernd, denn es gibt nichts Drittes. Die Worte Erwerb,
Gewinn, Spekulation deuten auf einen Vorteil, welcher den zum Verbraucher wandernden
Dingen unterwegs abgelistet wird, auf intellektuelle Beute, und sind
deshalb auf das frühe Bauerntum, nicht anwendbar. Man muß sich ganz
in den Geist und Wirtschaftsblick des echten Städters versetzen. Er arbeitet
nicht für den Bedarf, sondern für den Verkauf, »für Geld«.
(Ebd., S. 1165).
Die geschäftliche Auffassung durchdringt allmählich jede Art
von Tätigkeit. Mit dem Güterverkehr innerlich verbunden war der ländliche
Mensch Geber und Nehmer zugleich; auch der Händler auf dem frühen
Markte macht kaum eine Ausnahme. Mit dem Geldverkehr erscheint zwischen Erzeuger
und Verbraucher wie zwischen zwei getrennten Welten »der Dritte«,
dessen Denken das Geschäftsleben alsbald beherrscht. Er zwingt den ersten
zum Angebot, den zweiten zur Nachfrage an ihn; er erhebt die Vermittlung zum
Monopol und dann zur Hauptsache im Wirtschaftsleben, und zwingt die beiden andern,
in seinem Interesse in Form zu sein, die Ware nach seiner Berechnung
herzustellen und unter dem Druck seiner Angebote abzunehmen. (Ebd.,
S. 1165).
Wer dieses Denken beherrscht, ist Meister des Geldes. (Bis
zu den modernen Piraten des Geldmarktes, welche die Vermittlung vermitteln und
mit der Ware »Geld« ein Glücksspiel treiben, wie es Zola in
seinem berühmten Roman beschrieben hat.) Die Entwicklung geht in
allen Kulturen diesen Weg. Lysias stellt in seiner Rede gegen die Getreidehändler
fest, daß die Spekulanten im Piräus manchmal das Gerücht verbreiteten,
eine Getreideflotte sei gescheitert oder ein Krieg ausgebrochen, um eine einträgliche
Panik hervorzurufen. In hellenistisch-römischer Zeit war es eine verbreitete
Sitte, auf Verabredung den Anbau zu beschränken oder die Einfuhr stocken
zu lassen, um die Preise hinaufzutreiben. In Ägypten machte das dem abendländischen
Bankverkehr vollkommen ebenbürtige Girowesen des Neuen Reiches (vgl.
Friedrich Preisigke, Girowesen im griechischen Ägypten, 1910; die
damaligen Verkehrsformen standen schon unter der 18. Dynastie auf gleicher Höhe)
Getreidecorner amerikanischen Stils möglich. Kleomenes, der Finanzverwalter
Alexanders des Großen für Ägypten, konnte durch Buchkäufe
den gesamten Getreidevorrat in seine Hand bringen, was eine Hungersnot weithin
in Griechenland hervorrief und ungeheuren Gewinn abwarf. Wer wirtschaftlich
anders denkt, sinkt damit zum bloßen Objekt großstädtischer
Geldwirkungen herab. Dieser Stil ergreift bald das Wachsein der gesamten Stadtbevölkerung
und damit aller, welche für die Lenkung der Wirtschaftsgeschichte ernsthaft
in Betracht kommen. Bauer und Bürger bedeutet nicht nur den Unterschied
von Land und Stadt, sondern auch den von Gut und Geld. Die prunkvolle Kultur
der homerischen und provenzalischen Fürstenhöfe ist etwas, das mit
dem Menschen gewachsen und verwachsen ist wie heute noch vielfach das Leben
auf den Landsitzen alter Familien; die feinere Kultur des Bürgertums, der
»Komfort«, ist etwas von außen Kommendes, das bezahlt
werden kann. (Es steht mit dem bürgerlichen Ideal
der Freiheit nicht anders. In der Theorie und also auch in Verfassungen mag
man grundsätzlich frei sein. Im wirklichen Privatleben der Städte
ist man unabhängig nur durch das Geld..) Alle hochentwickelte Wirtschaft
ist Stadtwirtschaft. Die Weltwirtschaft, diejenige aller Zivilisationen, sollte
man Weltstadtwirtschaft nennen. Die Schicksale auch der Wirtschaft entscheiden
sich nur noch an wenigen Punkten, den Geldplätzen (die
man auch in den übrigen Kulturen Börsenplätze nennen kann, wenn
man unter Börse das Denkorgan einer vollendeten Geldwirtschaft versteht),
in Babylon, Theben, Rom, in Byzanz und Bagdad, in London, New York, Berlin und
Paris. Der Rest ist Provinzwirtschaft, die ihre Kreise dürftig im Kleinen
zieht, ohne sich des vollen Umfangs ihrer Abhängigkeit bewußt zu
sein. Geld ist zuletzt die Form von geistiger Energie, in welcher der Herrscherwille,
die politische, soziale, technische, gedankliche Gestaltungskraft, die Sehnsucht
nach einem Leben von großem Zuschnitt zusammengefaßt sind. Shaw
hat vollkommen recht: »Die allgemeine Achtung vor dem Gelde ist die einzige
hoffnungsvolle Tatsache in unserer Zivilisation ... Geld und Leben sind unzertrennlich
... Geld ist das Leben.« (Vorwort zu »Major
Barbara«.) Zivilisation bezeichnet also die Stufe einer Kultur,
auf welcher Tradition und Persönlichkeit ihre unmittelbare Geltung verloren
haben und jede Idee zunächst in Geld umgedacht werden muß, um verwirklicht
zu werden. Am Anfang war man begütert, weil man mächtig war. Jetzt
ist man mächtig, weil man Geld hat. Erst das Geld erhebt den Geist auf
den Thron. Demokratie ist die vollendete Gleichsetzung von Geld und politischer
Macht. (Ebd., S. 1166-1167).
Es geht ein Verzweiflungskampf durch die Wirtschaftsgeschichte jeder
Kultur, den die im Boden wurzelnde Tradition einer Rasse, ihre Seele,
gegen den Geist des Geldes führt. Die Bauernkriege zu Beginn einer Spätzeit
in der Antike 700500, bei uns 14501650, in Ägypten am
Ausgang des Alten Reiches sind die erste Auflehnung des Blutes gegen
das Geld, das von den mächtig werdenden Städten her seine Hand nach
dem Boden ausstreckt. (Vgl. S. 984.) Die Warnung
des Freiherrn vom Stein: »Wer den Boden mobilisiert, löst ihn in
Staub auf«, deutet auf eine Gefahr jeder Kultur; kann das Geld
den Besitz nicht angreifen, so dringt es in das bäuerliche und adlige Denken
selbst ein; der ererbte, mit dem Geschlecht verwachsene Besitz erscheint dann
als Vermögen, das in Grund und Boden nur angelegt und an und für sich
beweglich ist. (Der »Farmer« ist der Mensch,
den nur noch praktische Beziehung mit einem Stück Land verbindet.)
Das Geld erstrebt die Mobilisierung aller Dinge. Weltwirtschaft ist die zur
Tatsache gewordene Wirtschaft in abstrakten, vom Boden völlig fortgedachten,
verflüssigten Werten. (Die zunehmende Intensität
dieses Denkens erscheint im Wirtschaftsbilde als Wachstum der vorhandenen
Geldmasse, die als etwas ganz abstraktes und eingebildetes mit dem sichtbaren
Vorrat von Gold als einer Ware gar nichts zu tun hat. Die »Versteifung
des Geldmarktes« z.B. ist ein rein geistiger Vorgang, der sich in den
Köpfen einer ganz kleinen Zahl von Menschen abspielt. Die steigende Energie
des Gelddenkens erweckt deshalb in allen Kulturen das Gefühl, daß
der »Geldwert sinkt«, in gewaltigem Maße z.B. von Solon bis
Alexander, nämlich im Verhältnis zur Rechnungseinheit. In Wirklichkeit
sind die geschäftlichen Werteinheiten etwas Künstliches geworden und
mit den erlebten Urwerten der bäuerlichen Wirtschaft gar nicht mehr vergleichbar.
Es ist zuletzt gleichgültig, mit was für Zahlen beim attischen Bundesschatz
auf Delos (454), bei den karthagischen Friedensschlüssen (241, 201) und
dann bei der Beute des Pompejus (64) gerechnet wird und ob wir in einigen Jahrzehnten
von den um 1850 noch unbekannten und uns heute ganz geläufigen Milliarden
zu Billionen übergehen werden. Es fehlt an jedem Maßstab, um etwa
den Wert eines Talents in den Jahren 430 und 30 zu vergleichen, denn das Gold
wie das Vieh und Getreide haben nicht nur ihren Ziffernwert, sondern auch ihre
Bedeutung innerhalb der vorschreitenden Stadtwirtschaft fortgesetzt verändert.
Es bleibt nur die Tatsache, daß die Geldmenge, welche mit dem Bestand
an Wertzeichen und Zahlungsmitteln nicht verwechselt werden darf, ein alter
ego des Denkens ist.) Das antike Gelddenken hat seit den Tagen Hannibals
ganze Städte in Münze, ganze Völkerschaften in Sklaven verwandelt
und damit in Geld, das sich von allen Seiten nach Rom bewegt, um dort als Macht
zu wirken. Das faustische Gelddenken »erschließt« ganze Kontinente,
die Wasserkräfte riesenhafter Stromgebiete, die Muskelkraft der Bevölkerung
weiter Landschaften, Kohlenlager, Urwälder, Naturgesetze und wandelt sie
in finanzielle Energie um, die irgendwo in Gestalt der Presse, der Wahlen, der
Budgets und Heere angesetzt wird, um Herrscherpläne zu verwirklichen. Immer
neue Werte werden aus dem geschäftlich noch indifferenten Weltbestand abgezogen,
»des Goldes schlummernde Geister«, wie John Gabriel Borkman sagt;
was die Dinge abgesehen davon noch sind, kommt wirtschaftlich nicht in Betracht.
(Ebd., S. 1167-1168).
Jede Kultur besitzt, wie ihre eigne Art in Geld zu denken, so auch ihr
eignes Symbol des Geldes, durch das sie ihr Prinzip der Wertung im Wirtschaftsbilde
sichtbar zum Ausdruck bringt. Dies Etwas, eine Versinnlichung des Gedachten,
steht den für Ohr und Auge gesprochenen, geschriebenen, gezeichneten Ziffern,
Figuren und andern[1168] Symbolen der Mathematik an Bedeutung völlig gleich,
ein tiefes und reiches Gebiet, das noch fast unerforscht daliegt. Nicht einmal
die Grundfragen sind richtig gestellt worden. Es ist deshalb heute noch ganz
unmöglich, die Geldidee zu umschreiben, welche dem ägyptischen Naturalien-
und Geldgiroverkehr, dem babylonischen Bankwesen, der chinesischen Buchführung
und dem Kapitalismus der Juden, Parsen, Griechen, Araber seit Harun al Raschid
zugrunde liegt. Möglich ist nur eine Gegenüberstellung des apollinischen
und faustischen Geldes, des Geldes als Größe und des Geldes
als Funktion. (Zum folgenden vgl. Kapitel I, S. 71
ff..) (Ebd., S. 1168-1169).
Dem antiken Menschen erscheint auch wirtschaftlich die Umwelt als Summe
von Körpern, die ihren Ort wechseln, wandern, sich drängen, stoßen,
vernichten, so wie es Demokrit von der Natur beschreibt. Der Mensch ist Körper
unter Körpern. Die Polis ist als Summe davon ein Körper höherer
Ordnung. Der gesamte Lebensbedarf besteht aus körperlichen Größen.
Also stellt auch ein Körper das Geld dar, so wie eine Apollostatue die
Gottheit darstellt. Um 650 ist, gleichzeitig mit dem Steinkörper des dorischen
Tempels und der allseitig frei durchgebildeten Statue auch die Münze entstanden,
ein Metallgewicht von schön geprägter Form. Der Wert als Größe
war längst vorhanden und ist so alt wie diese Kultur überhaupt. Bei
Homer wird unter Talent eine kleine Menge goldener Geräte und Schmucksachen
von bestimmtem Gesamtgewicht verstanden. Auf dem Schilde des Achill sind »zwei
Talente« abgebildet, und noch zur Römerzeit war die Gewichtsangabe
auf Silber- und Goldgefäßen allgemein üblich. (Ebd., S.
1169).
Die Erfindung des klassisch geformten Geldkörpers aber ist so außerordentlich,
daß wir seine tiefe, rein antike Bedeutung noch gar nicht begriffen haben.
Wir halten ihn für eine jener berühmten »Errungenschaften der
Menschheit«. Allenthalben werden seitdem Münzen geprägt, so
wie überall Statuen auf Straßen und Plätzen herumstehen. So
weit reicht unsere Macht. Wir können die Gestalt nachahmen, aber ihr die
gleiche wirtschaftliche Bedeutung geben können wir nicht. Die Münze
als Geld ist eine rein antike Erscheinung und nur in einer ganz euklidisch
gedachten Umgebung möglich; hier hat sie aber auch das gesamte Wirtschaftsleben
gestaltend beherrscht. Begriffe wie Einkommen, Vermögen, Schuld, Kapital
bedeuten in antiken Städten etwas ganz anderes als bei uns, weil nicht
wirtschaftliche Energie damit gemeint ist, die von einem Punkte ausstrahlt,
sondern eine Summe von Wertgegenständen, die sich in einer Hand befinden.
Vermögen ist immer ein beweglicher Barvorrat, der durch Addition
und Subtraktion von Wertsachen verändert wird und mit Grundbesitz gar nichts
zu tun hat. Beide sind im antiken Denken völlig getrennt. Kredit besteht
im Leihen von Bargeld in der Erwartung, daß es als solches wieder zurückgegeben
werden kann. Catilina war arm, weil er trotz seiner großen Güter
(vgl. Sallust, Catilina, 35, 3) niemand
fand, der ihm zu politischen Zwecken Bargeld anvertraute, und die ungeheuren
Schulden römischer Politiker (vgl. S. 1134) haben
nicht einen entsprechenden Grundbesitz zur Unterlage, sondern die bestimmte
Aussicht auf eine Provinz, deren bewegliche Sachwerte ausgebeutet werden konnten.
(Wie schwer es dem antiken Menschen war, sich den Umsatz
einer körperlich nicht allseitig abgegrenzten Sache wie Grund und Boden
in körperliches Geld vorzustellen, zeigen die Steinpfähle (oroi)
auf griechischen Grundstücken, welche die Hypothek darstellen sollten,
und der römische Kauf per aes et libram, wobei gegen eine Münze
eine Erdscholle vor Zeugen überreicht wurde. Einen wirklichen Güterhandel
hat es infolgedessen nie gegeben, und ebensowenig etwas wie Tagespreise für
Ackerland. Ein regelmäßiges Verhältnis zwischen Bodenwert und
Geldwert ist im antiken Denken ebenso unmöglich wie ein solches zwischen
Kunstwert und Geldwert. Geistige, also unkörperliche Erzeugnisse wie Dramen
oder Fresken besaßen wirtschaftlich überhaupt keinen Wert. Über
den antiken Rechtsbegriff der Sache vgl. S. 653.) Erst das Denken in
körperlichem Geld macht eine Reihe von Erscheinungen begreiflich:
die Massenhinrichtung von Reichen unter der zweiten Tyrannis und die römischen
Proskriptionen, um einen größeren Teil der umlaufenden Bargeldmasse
in die Hand zu bekommen, das Einschmelzen der delphischen Tempelschätze
durch die Phoker im Heiligen Kriege, der Kunstschätze von Korinth durch
Mummius, der letzten römischen Weihgeschenke durch Cäsar, der griechischen
durch Sulla, der kleinasiatischen durch Brutus und Cassius, ohne Rücksicht
auf den Kunstwert, weil man die edlen Stoffe, Metalle und Elfenbein, brauchte.
(Schon zur Zeit des Augustus kann von den antiken Kunstwerken
aus Edelmetall und Bronze nicht viel übrig gewesen sein. Selbst der gebildete
Athener dachte viel zu unhistorisch, um eine Statue aus Gold und Elfenbein nur
deshalb zu schonen, weil sie von Phidias war. Man erinnere sich, daß an
dessen berühmter Athenefigur die Goldteile abnehmbar angefertigt waren
und von Zeit zu Zeit nachgewogen wurden. Die wirtschaftliche Verwendung war
also von vornherein ins Auge gefaßt.) Was bei den Triumphen an
Statuen und Gefäßen aufgeführt wurde, war in den Augen der Zuschauer
bares Geld, und Mommsen konnte den Versuch machen (vgl.
Ges. Schriften, IV, 200 ff.), den Ort der Varusschlacht nach Münzfunden
zu bestimmen, weil der römische Veteran sein ganzes Vermögen in Edelmetall
auf dem Körper trug. Antiker Reichtum ist kein Guthaben, sondern ein Geldhaufen;
ein antiker Geldplatz ist nicht Mittelpunkt des Kredits wie die heutigen Börsenplätze
und das ägyptische Theben, sondern eine Stadt, in welcher sich ein erheblicher
Teil des Bargeldbestandes der Welt gesammelt hat. Man darf annehmen, daß
zur Zeit Cäsars weit über die Hälfte des antiken Goldes sich
jederzeit in Rom befand. (Ebd., S. 1169-1171).
Aber als diese Welt in das Zeitalter
der unbedingten Geldherrschaft getreten war, etwa seit Hannibal, reichte die
natürlich begrenzte Masse von Edelmetall und stofflich wertvollen Kunstwerken
innerhalb ihres Machtgebietes nicht mehr aus, um den Bedarf an Barmitteln zu
decken, und es entstand ein wahrer Heißhunger nach neuen geldfähigen
Körpern. Da fiel der Blick auf den Sklaven, der eine andere Art von Körper,
aber nicht Person sondern Sache war (vgl. S. 625)
und deshalb als Geld gedacht werden konnte. Erst von da an wird der antike Sklave
etwas Einzigartiges in der gesamten Wirtschaftsgeschichte. Die Eigenschaften
der Münze haben sich auf lebendige Objekte ausgedehnt, und damit tritt
neben den Metallbestand der durch die Plünderungen von Statthaltern und
Steuerpächtern wirtschaftlich »erschlossenen« Gebiete deren
Menschenbestand. Es entwickelt sich eine bizarre Art von Doppelwährung.
Der Sklave hat einen Kurs, was vom Grund und Boden nicht gilt. Er dient
zur Anhäufung großer Barvermögen, und erst infolge davon erscheinen
jene ungeheuren Sklavenmassen der Römerzeit, die aus einem andern Bedarf
gar nicht zu erklären sind. Solange man nur soviel Sklaven hielt, als man
gewerblich brauchte, war ihre Zahl gering und aus Kriegsbeute und Schuldknechtschaft
leicht zu decken. (Der Glaube, daß die Sklaven selbst
in Athen oder Ägina jemals auch nur ein Drittel der Bevölkerung ausgemacht
hätten, ist vollkommen sinnlos. Die Revolutionen seit 400 [vgl. S. 1066]
setzen im Gegenteil eine gewaltige Überzahl der freien Armen voraus.)
Erst im 6. Jahrhundert hat Chios mit der Einfuhr gekaufter Sklaven (Argyroneten)
den Anfang gemacht. Ihr Unterschied gegen die viel zahlreicheren Lohnarbeiter
war zunächst politisch-rechtlicher und nicht wirtschaftlicher Natur. Da
die antike Wirtschaft statisch und nicht dynamisch ist und die planmäßige
Erschließung von Energiequellen nicht kennt, so waren die Sklaven der
Römerzeit nicht da, um ausgebeutet zu werden, sondern sie wurden beschäftigt,
so gut es ging, um in möglichst großer Zahl gehalten werden zu können.
Man bevorzugte Prunksklaven, die sich auf irgend etwas verstanden, weil sie
bei gleichem Unterhalt einen höheren Wert darstellten; man vermietete sie,
wie man bares Geld auslieh; man ließ sie Geschäfte auf eigene Rechnung
treiben, so daß sie reich werden konnten (vgl. S.
1160); man unterbot mit ihnen die freie Arbeit, alles nur, um wenigstens
die Erhaltungskosten dieses Kapitals zu decken. (Das ist
der Gegensatz zur Negersklaverei unserer Barockzeit, die eine Vorstufe der
Maschinenindustrie darstellt: eine Organisation von »lebendiger«
Energie, bei welcher man vom Menschen endlich zur Kohle überging, und das
erste erst dann als unmoralisch empfand, als das zweite eingebürgert war.
Von dieser Seite betrachtet, bedeutet der Sieg des Nordens im amerikanischen
Bürgerkrieg (1865) den wirtschaftlichen Sieg der konzentrierten Energie
der Kohle über die einfache Energie der Muskeln.) Die Mehrzahl konnte
gar nicht voll beschäftigt werden. Sie erfüllten ihren Zweck, indem
sie einfach da waren, als ein Geldvorrat, den man zur Hand hatte und dessen
Umfang nicht an die natürlichen Grenzen der damals vorhandenen Goldmenge
gebunden war. Und damit stieg allerdings der Sklavenbedarf ins Ungemessene und
führte über Kriege, die nur der Sklavenbeute wegen unternommen wurden,
hinaus zu Sklavenjagden von Privatunternehmern längs allen Küsten
des Mittelmeeres, die von Rom geduldet wurden, und zu einer neuen Art, Vermögen
zu machen, indem man als Statthalter die Bevölkerung ganzer Landstriche
aussog und dann in die Schuldknechtschaft verkaufte. Auf dem Markt von Delos
sollen an einem Tage zehntausend Sklaven verkauft worden sein. Als Cäsar
nach Britannien ging, wurde die Enttäuschung in Rom über die Goldarmut
des Volkes durch die Aussichten auf reiche Sklavenbeute aufgewogen. Für
antikes Denken war es ein und dieselbe Operation, wenn etwa bei der Zerstörung
von Korinth die Statuen ausgemünzt und die Einwohner auf den Sklavenmarkt
gebracht wurden: in beiden Fällen hatte man körperliche Gegenstände
in Geld verwandelt. Den äußersten Gegensatz dazu bildet das Symbol
des faustischen Geldes, des Geldes als Funktion, als Kraft, dessen Wert in seiner
Wirkung, nicht in seinem bloßen Dasein liegt. Der neue Stil dieses Wirtschaftsdenkens
erscheint schon in der Art, wie die Normannen um 1000 ihre Beute an Land und
Leuten zu einer wirtschaftlichen Macht organisierten. (Vgl.
S. 1019 f.. Die Verwandtschaft mit der ägyptischen Verwaltung des Alten
Reiches und der chinesischen der frühesten Dschouzeit ist unverkennbar.)
Man vergleiche den reinen Buchwert im Rechnungswesen ihrer Herzöge,
aus dem die Worte Scheck, Konto und Kontrolle stammen (die
clerici in diesen Rechnungskammern sind das Urbild der modernen Bankbeamten
[engl. clerk]), mit den gleichzeitigen »Talenten Goldes«
der Ilias, und man erhält gleich am Anfang den Begriff des modernen Kredits,
der aus dem Vertrauen auf die Kraft und Dauer einer Wirtschaftsführung
hervorgeht und mit der Idee unseres Geldes beinahe identisch ist. Diese durch
Roger II. auf das sizilische Normannenreich übertragene Finanzmethode hat
der Hohenstaufe Friedrich II. um 1230 zu einem gewaltigen System ausgebaut,
das in seiner Dynamik weit über das Vorbild hinausging und ihn »zur
ersten Kapitalkraft der Welt« machte. (Hampe,
Deutsche Kaisergeschichte, S. 246. Leonardo Pisano, dessen Liber Abaci
(1202) für das kaufmännische Rechnen weit über die Renaissance
hinaus maßgebend war, und der außer dem arabischen Ziffernsystem
auch die negativen Zahlen als Debitum eingeführt hat, wurde von dem großen
Hohenstaufen gefördert.) Und während diese Verschwisterung
von mathematischer Denkkraft und königlichem Machtwillen von der Normandie
nach Frankreich eindrang und 1066 auf das erbeutete England in großartigem
Maßstab angewandt wurde der englische Boden ist heute noch dem
Namen nach königliche Domäne , wurde sie in Sizilien von den
italienischen Städterepubliken nachgeahmt, deren regierende Patrizier sie
bald vom Gemeindehaushalt auf ihre eigenen Handelsbücher und damit auf
das kaufmännische Denken und Rechnen der ganzen abendländischen Welt
übertrugen. Wenig später wurde die sizilische Praxis auch vom Deutschritterorden
und der aragonischen Dynastie übernommen, worauf sich vielleicht das mustergültige
Rechnungswesen Spaniens unter Philipp II. und Preußens unter Friedrich
Wilhelm I. zurückführen läßt. (Ebd., S. 1171-1174).
Entscheidend aber wurde, »gleichzeitig« mit der Erfindung
der antiken Münze um 650, die der doppelten Buchführung durch Fra
Luca Pacioli (1494). »Es ist eine der schönsten Erfindungen des menschlichen
Geistes«, heißt es in Goethes Wilhelm Meister. In der Tat darf sich
ihr Urheber seinen Zeitgenossen Kolumbus und Kopernikus ohne Scheu zur Seite
stellen. Den Normannen verdanken wir die Kontenrechnung, den Lombarden diese
Buchführung. Es sind die germanischen Stämme, welche die beiden
verheißungsvollsten Rechtswerke der frühen Gotik geschaffen haben
(cgl. S. 645 f.) und von deren Sehnsucht nach fernen
Meeren die beiden Entdeckungen Amerikas ihren Anstoß erhielten.
»Die doppelte Buchhaltung ist aus demselben Geiste geboren wie die Systeme
Galileis und Newtons. .... Mit denselben Mitteln wie diese ordnet sie die Erscheinungen
zu einem kunstvollen System, und man kann sie als den ersten auf dem Grundsatz
des mechanischen Denkens aufgebauten Kosmos bezeichnen. Die doppelte Buchhaltung
erschließt uns den Kosmos der wirtschaftlichen Welt nach derselben Methode
wie später die großen Naturforscher den Kosmos der Sternenwelt ....
Die doppelte Buchhaltung ruht auf dem folgerichtig durchgeführten Grundgedanken,
alle Erscheinungen nur als Quantitäten zu erfassen.« (Werner
Sombart, Der moderne Kapitalismus, II, S. 119.) (Ebd., S.
1174).
Die doppelte Buchführung ist eine reine Analysis des Wertraums,
bezogen auf ein Koordinatensystem, dessen Anfangspunkt »die Firma«
ist. Die antike Münze hatte nur ein arithmetisches Rechnen mit Wertgrößen
gestattet. Wiederum stehen sich Pythagoras und Descartes gegenüber. Man
darf von der Integration eines Unternehmens sprechen, und die graphische Kurve
ist in der Wirtschaft wie der Wissenschaft das gleiche optische Hilfsmittel.
Die antike Wirtschaftswelt gliedert sich wie der Kosmos Demokrits nach Stoff
und Form. Ein Stoff in der Form der Münze ist Träger der wirtschaftlichen
Bewegung und drängt die Bedarfsgrößen von gleichem Wertquantum
an den Ort ihrer Verwendung. Unsere Wirtschaftswelt gliedert sich nach Kraft
und Masse. Ein Kraftfeld von Geldspannungen liegt im Räume und erteilt
jedem Objekt, unter Absehen von dessen besonderer Art, einen positiven oder
negativen Wirkungswert (eng verwandt mit unserm Bilde
vom Wesen der Elektrizität ist der Vorgang des Clearing, bei dem der positive
oder negative Geldstand mehrerer Firmen (Spannungszentren) untereinander durch
einen reinen Denkakt ausgeglichen und der wahre Stand durch eine Buchung versinnbildlicht
wird; vgl. Band I, Kapitel VI, S. 482 ff.), der durch einen Bucheintrag
dargestellt wird. »Quod non est in libris, non est in mundo.«
Aber das Sinnbild des hier gedachten funktionalen Geldes, das was allein
mit der antiken Münze verglichen werden darf, ist nicht der Buchvermerk
und auch nicht der Wechsel, Scheck oder die Banknote, sondern der Akt, durch
welchen die Funktion schriftlich vollzogen wird und als dessen bloßes
geschichtliches Zeugnis das Wertpapier im weitesten Sinne zu gelten hat.
(Ebd., S. 1174-1175).
Aber daneben hat das Abendland in starrer Bewunderung der Antike Münzen
geprägt, nicht nur als Hoheitszeichen, sondern in dem Glauben, daß
das bewiesenes Geld sei, dem Wirtschaftsdenken wirklich entsprechendes Geld.
Ganz ebenso ist schon in gotischer Zeit das römische Recht übernommen
worden mit seiner Gleichsetzung von Sache und körperlicher Größe,
und die euklidische Mathematik, die auf dem Begriff der Zahl als Größe
aufgebaut war. So kam es, daß die Entwicklung dieser drei geistigen Formenwelten
sich nicht wie die der faustischen Musik in rein aufblühender Entfaltung
vollzog, sondern in Gestalt einer fortschreitenden Emanzipation vom
Größenbegriff. Die Mathematik ist bereits mit dem Ausgang des
Barock zum Ziele gelangt. (Vgl. Band I., Kapitel I, S.
71 ff..) Die Rechtswissenschaft hat ihre eigentliche Aufgabe bis jetzt
noch nicht einmal erkannt (vgl. S. 655), aber sie
ist diesem Jahrhundert gestellt, und zwar fordert sie, was für den römischen
Juristen selbstverständlich war, die innere Kongruenz von Wirtschaftsdenken
und Rechtsdenken und die gleiche Vertrautheit mit beiden. Der durch die Münze
symbolisierte Geldbegriff deckt sich vollkommen mit dem Geist des antiken Sachenrechts;
für uns ist das nicht im entferntesten der Fall. Unser gesamtes Leben ist
dynamisch angelegt, nicht statisch und stoisch; deshalb sind Kräfte, Leistungen,
Beziehungen, Fähigkeiten Organisationstalent, Erfindergeist, Kredit,
Ideen, Methoden, Energiequellen das Wesentliche, und nicht das bloße
Dasein körperlicher Sachen. Das »römische« Sachdenken
unsrer Juristen ist deshalb ebenso lebensfremd wie eine Geldtheorie, die bewußt
oder unbewußt vom Geldstück ausgeht. Der gewaltige Münzbestand,
der in Nachahmung der Antike bis zum Ausbruch des Weltkriegs stets vermehrt
worden ist, hat sich zwar eine Rolle abseits vom Wege geschaffen, aber mit der
inneren Form der modernen Wirtschaft, ihren Aufgaben und Zielen hat er nichts
zu tun, und sollte er infolge des Krieges endgültig aus dem Verkehr verschwinden,
so würde damit nichts verändert sein. (Der Kredit
eines Landes beruht in unsrer Kultur auf seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
und deren politischer Organisation, welche den Finanzoperationen und Buchungen
den Charakter wirklicher Geldschöpfungen gibt, und nicht auf einer irgendwo
eingelagerten Goldmenge. Erst der antikisierende Aberglaube erhebt die Goldreserve
zum wirklichen Kreditmesser, weil ihre Höhe nun nicht mehr vom Wollen,
sondern vom Können abhängt. Die umlaufenden Münzen aber sind
eine Ware, die im Verhältnis zum Landeskredit einen Kurs besitzt
je schlechter der Kredit, desto höher steht das Gold, bis zu dem
Punkte, wo es unbezahlbar wird und aus dem Verkehr verschwindet, so daß
man es nur noch gegen andere Waren erhalten kann; das Gold wird also
wie jede Ware an der buchmäßigen Rechnungseinheit gemessen, nicht
umgekehrt, wie es das Wort Goldwährung andeutet und bei kleinen
Zahlungen als Mittel dient, wie gelegentlich die Briefmarke auch. In Ägypten,
dessen Gelddenken dem abendländischen erstaunlich ähnlich ist, hat
es auch im Neuen Reiche nichts der Münze irgendwie Ähnliches gegeben.
Die schriftliche Überweisung genügte vollkommen, und von 650 an bis
zur Hellenisierung durch die Gründung von Alexandria wurden die ins Land
kommenden antiken Münzen in der Regel zerhackt und als Ware nach Gewicht
verrechnet.) (Ebd., S. 1175-1176).
Unglücklicherweise entstand die moderne Nationalökonomie im
Zeitalter des Klassizismus, wo nicht nur Statuen, Vasen und steife Dramen als
die allein wahre Kunst galten, sondern auch schön geprägte Münzen
als das allein wahre Geld. Was Wedgwood seit 1768 mit seinen zartgetönten
Reliefs und Tassen, das erstrebte im Grunde Adam Smith eben damals mit seiner
Werttheorie: die reine Gegenwart greifbarer Größen. Denn es entpricht
durchaus der Verwechslung von Geld und Geldstück, wenn der Wert einer Sache
an der Größe einer Arbeitsmenge gemessen wird. Da ist »Arbeit«
nicht mehr ein Wirken innerhalb einer Welt von Wirkungen, das Arbeiten,
das dem inneren Range, der Intensität und der Tragweite nach unendlich
verschieden ist, in immer weiteren Kreisen fortwirkt und wie ein elektrisches
Kraftfeld gemessen, aber nicht abgegrenzt werden kann, sondern das ganz stofflich
vorgestellte Resultat davon, das Gearbeitete, ein greifbares Etwas, an
dem nichts bemerkenswert erscheint als eben der Umfang. (Ebd., S. 1176-1177).
Aber die Wirtschaft der europäisch-amerikanischen Zivilisation
ist ganz im Gegenteil auf einer Arbeit aufgebaut, die einzig durch ihren inneren
Rang gekennzeichnet ist, mehr als jemals in China und Ägypten, um von der
Antike zu schweigen. Wir leben nicht umsonst in einer Welt wirtschaftlicher
Dynamik: die Arbeit der Einzelnen wird nicht euklidisch addiert, sondern steht
in funktionaler Beziehung zueinander. Die lediglich ausführende
Arbeit, von der Marx allein Kenntnis nimmt, ist nichts als die Funktion einer
erfindenden, anordnenden, organisierenden Arbeit, die der andern erst Sinn,
relativen Wert und die Möglichkeiten gibt, überhaupt getan zu werden.
Die ganze Weltwirtschaft seit Erfindung der Dampfmaschine ist die Schöpfung
einer ganz kleinen Zahl überlegener Köpfe, ohne deren hochwertige
Arbeit alles andere nicht da wäre, aber diese Leistung ist schöpferisches
Denken und kein »Quantum« (und für unser
Sachenrecht also bis jetzt nicht vorhanden), und ihr Gegenwert besteht
also auch nicht in einer Anzahl von Geldstücken, sondern sie ist
Geld, faustisches Geld nämlich, das nicht geprägt, sondern als
Wirkungszentrum gedacht wird aus einem Leben heraus, dessen innerer Rang
den Gedanken zur Bedeutung einer Tatsache erhebt. Denken in Geld erzeugt
Geld: das ist das Geheimnis der Weltwirtschaft. Wenn ein Organisator großen
Stils eine Million auf ein Papier schreibt, so ist sie da, denn seine Persönlichkeit
als Wirtschaftszentrum bürgt für eine entsprechende Erhöhung
der Wirtschaftsenergie seines Gebietes. Das und nichts anderes bedeutet für
uns das Wort Kredit. Aber alle Goldstücke der Welt würden nicht ausreichen,
der Tätigkeit des Handarbeiters einen Sinn und damit Geldwert zu geben,
wenn mit der berühmten »Expropriation der Expropriateure« die
überlegenen Fähigkeiten aus ihren Schöpfungen beseitigt und diese
damit entseelt, willenlos, zu leeren Gehäusen würden. Darin ist Marx
Klassizist wie Adam Smith und ein echtes Produkt des römischen Rechtsdenkens:
er sieht nur die fertige Größe, nicht die Funktion. Er möchte
die Produktionsmittel von denen trennen, deren Geist durch Erfindung von Methoden,
Organisation von leistungsfähigen Betrieben, Eroberung von Absatzgebieten
aus einem Haufen Stahl und Mauerwerk erst eine Fabrik macht, und die ausbleiben,
wenn ihre Kraft keinen Spielraum findet. (Gesetzt den
Fall, daß Arbeiter die Führung der Werke übernehmen, so würde
damit nichts geändert. Entweder sie können nichts: dann geht alles
zugrunde; oder sie können etwas: dann werden sie innerlich selbst Unternehmer
und denken nur noch an die Behauptung ihrer Macht. Keine Theorie schafft diese
Tatsache aus der Welt; so ist das Leben.) (Ebd., S. 1177-1178).
Wer eine Theorie der modernen Arbeit geben will, der denke an diesen
Grundzug alles Lebens; es gibt Subjekte und Objekte jeder Art von Lebensführung,
und der Unterschied ist um so ausgeprägter, je bedeutender, je formvoller
das Leben ist. Jeder Strom von Dasein besteht aus einer Minderheit von Führern
und einer gewaltigen Mehrheit von Geführten, jede Art von Wirtschaft
also aus Führerarbeit und ausführender Arbeit. Aus der Froschperspektive
von Marx und den sozialethischen Ideologen überhaupt wird nur die letzte,
kleine, massenhafte sichtbar, aber sie ist nur vermöge der ersten da, und
der Geist dieser Welt von Arbeit kann nur von den höchsten Möglichkeiten
aus erfaßt werden. Der Erfinder der Dampfmaschine ist maßgebend,
nicht der Heizer. Auf das Denken kommt es an. (Ebd., S. 1178).
Und ebenso gibt es Subjekte und Objekte des Denkens in Geld: solche,
die es kraft ihrer Persönlichkeit erzeugen und lenken, und solche, die
von ihm erhalten werden. Das Geld faustischen Stils ist die aus der Wirtschaftsdynamik
faustischen Stils abgezogene Kraft, und es gehört zum Schicksal
des Einzelnen zur Wirtschaftsseite seines Lebensschicksals , ob
er durch den inneren Rang seiner Persönlichkeit einen Teil dieser Kraft
darstellt oder ihr gegenüber nichts als Masse ist. (Ebd., S. 1178-1179).
Das Wort Kapital bezeichnet den Mittelpunkt dieses Denkens, nicht den
Inbegriff dieser Werte, sondern das, was sie als solche in Bewegung hält.
Kapitalismus gibt es erst mit dem weltstädtischen Dasein einer Zivilisation,
und er beschränkt sich auf den ganz kleinen Kreis derer, welche dies Dasein
durch ihre Person und Intelligenz darstellen. Der Gegensatz dazu ist Provinzwirtschaft.
Erst die unbedingte Herrschaft der Geldmünze über das antike Leben,
auch dessen politische Seite, erzeugt das statische Kapital, die aformh,
den »Ausgangspunkt«, der durch sein Vorhandensein immer neue Massen
von Dingen mit einer Art von Magnetismus an sich zieht. Erst die Herrschaft
der Buchwerte, deren abstraktes System durch die doppelte Buchführung von
der Persönlichkeit gleichsam abgelöst ist und mit eigener innerer
Dynamik fortarbeitet, hat das moderne Kapital hervorgebracht, dessen Kraftfeld
die Erde umspannt. (Erst seit 1770 also werden die Banken
als Kreditmittelpunkte eine wirtschaftliche Macht, die auf dem Wiener Kongreß
zum erstenmal in die Politik eingreift. Bis dahin besorgte der Bankier vorwiegend
Wechselgeschäfte. Die chinesischen und selbst die ägyptischen Banken
haben eine andere Bedeutung, und die antiken Banken auch im cäsarischen
Rom sollte man besser Kassen nennen. Sie sammelten Steuererträge in Bargeld
ein und liehen Bargeld gegen Wiedererstattung aus; so werden die Tempel mit
ihrem Metallvorrat an Weihgeschenken zu »Banken«. Der Tempel von
Delos lieh jahrhundertelang zu 10% aus.) (Ebd., S. 1179).
Unter der Einwirkung des antiken Kapitals nimmt das Wirtschaftsleben
die Form eines Goldstroms an, der von den Provinzen nach Rom und zurück
fließt und der immer neue Gebiete sucht, deren Bestände an verarbeitetem
Gold noch nicht »erschlossen« sind. Brutus und Cassius führten
das Gold der kleinasiatischen Tempel in langen Maultierkolonnen auf das Schlachtfeld
von Philippi man begreift, was für eine Wirtschaftsoperation die
Plünderung eines Lagers nach der Schlacht sein konnte , und schon
C. Gracchus wies darauf hin, daß die mit Wein gefüllten Amphoren,
die von Rom in die Provinzen gingen, mit Gold gefüllt zurückkehrten.
Dieser Zug nach dem Goldbesitz fremder Völker entspricht durchaus
dem heutigen Zug zur Kohle, die im tieferen Sinn keine »Sache«,
sondern ein Schatz von Energie ist. (Ebd., S. 1179-1180).
Es entspricht aber auch dem antiken Hang zur Nähe und Gegenwart,
wenn zum Ideal der Polis das Wirtschaftsideal der Autarkeia tritt. Der
politischen Atomisierung der antiken Welt sollte die wirtschaftliche entsprechen.
Jede dieser winzigen Lebenseinheiten wollte einen eignen und ganz in sich geschlossenen
Wirtschaftsstrom haben, der unabhängig von allen andern, und zwar in Sehweite,
kreiste. Den äußersten Gegensatz dazu bildet der abendländische
Begriff der Firma, ein ganz unpersönlich und unkörperlich gedachtes
Kraftzentrum, dessen Wirkung nach allen Seiten ins Unendliche ausstrahlt und
das der »Inhaber« durch seine Fähigkeit, in Geld zu denken,
nicht darstellt, sondern wie einen kleinen Kosmos besitzt und leitet,
das heißt in seiner Gewalt hat. Diese Zweiheit von Firma und Inhaber wäre
dem antiken Denken gänzlich unvorstellbar gewesen. (Der
Begriff der Firma war schon in spätgotischer Zeit als ratio oder negotiatio
ausgebildet und läßt sich durch kein Wort einer antiken Sprache wiedergeben.
Negotium bezeichnet für den Römer einen konkreten Vorgang [»ein
Geschäft machen«, nicht »haben«].) (Ebd.,
S. 1180).
Deshalb bedeuten die abendländische und die antike Kultur ein Maximum
und Minimum von Organisation, die dem antiken Menschen selbst als Begriff
vollkommen gefehlt hat. Seine Finanzwirtschaft ist das zur Regel erhobene Provisorium:
da werden reiche Bürger in Athen und Rom mit der Ausrüstung von Kriegsschiffen
belastet; die politische Macht des römischen Ädils und seine Schulden
beruhen darauf, daß er Spiele, Straßen und Gebäude nicht nur
ausführt, sondern auch bezahlt, und sich später allerdings durch die
Plünderung seiner Provinz wieder bezahlt machen durfte. An Einnahmequellen
dachte man erst, wenn man sie brauchte, und man nahm sie ohne jedes Vorausdenken
so in Anspruch, wie es der augenblickliche Bedarf forderte, auch wenn sie dadurch
zerstört werden mußten. Plünderung der eignen Tempelschätze,
Seeraub an Schiffen der eignen Stadt, Konfiskation von Vermögen der eignen
Mitbürger waren alltägliche Finanzmethoden. Waren Überschüsse
vorhanden, so wurden sie an die Bürger verteilt, ein Verfahren, dem z.B.
Eubulos in Athen seinen Ruf verdankte. (Vgl. Robert von
Pöhlmann, Griechische Geschichte, 1914, S. 216 f.) Es gab
weder einen Etat noch etwas wie Wirtschaftspolitik. Die »Bewirtschaftung«
der römischen Provinzen war ein öffentlicher und privater Raubbau,
der von Senatoren und Geldleuten betrieben wurde ohne Rücksicht darauf,
ob und wie die abgeführten Werte wieder ergänzt werden konnten. Der
antike Mensch hat nie an eine planmäßige Steigerung des Wirtschaftslebens
gedacht, nur an das augenblickliche Ergebnis, das erreichbare Quantum von barem
Geld. Ohne das alte Ägypten wäre das kaiserliche Rom verloren gewesen:
hier lag zum Glück eine Zivilisation, die seit einem Jahrtausend an nichts
gedacht hatte als an die Organisation ihrer Wirtschaft. Der Römer verstand
weder diesen Lebensstil noch konnte er ihn nachahmen (vgl.
Alfred Gercke / Eduard Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft,
III, S. 291.), aber der Zufall, daß hier eine unerschöpfliche
Quelle von Geld für den floß, welcher die politische Macht über
diese Fellachenwelt besaß, hat die Erhebung der Proskriptionen zu einer
Sitte unnötig gemacht. Die letzte dieser Finanzoperationen in Gestalt einer
Schlächterei war die vom Jahre 43, kurze Zeit vor der Einverleibung Ägyptens.
(Vgl. Kromayer in Hartmanns Röm. Gesch., S.
150.) Die Goldmasse, welche Brutus und Cassius damals aus Asien heranführten
und die ein Heer und damit die Weltherrschaft bedeutete, machte die Ächtung
der 2000 reichsten Bewohner Italiens nötig, deren Köpfe um der ausgesetzten
Belohnung willen in Säcken auf das Forum geschleppt wurden. Man war nicht
mehr in der Lage, die eignen Verwandten, Kinder und Greise, Leute, die sich
nie mit Politik befaßt hatten, zu schonen, wenn sie einen Schatz an barem
Gelde besaßen. Das Ergebnis wäre zu gering geworden. (Ebd.,
S. 1180-1181).
Aber mit dem Hinschwinden des antiken Weltgefühls in der frühen
Kaiserzeit erlischt auch diese Art des Denkens in Geld. Die Geldmünzen
werden wieder zu Gütern, weil der Mensch wieder bäuerlich lebt
(*), und so erklärt sich das ungeheure Abströmen
des Goldes seit Hadrian in den fernen Osten, für das man bis jetzt keine
Erklärung fand. (* Die Juden dieser Zeit waren die
Römer[vgl S. 951 f.). Dagegen sind die Juden damals Bauern, Handwerker,
kleine Gewerbetreibende [vgl. ... Mommsen, Röm. Gesch. V, S. 471),
d.h. sie üben die Berufe aus, welche in gotischer Zeit das Objekt
ihrer Handelsgeschäfte geworden wären. In derselben Lage befinden
sich heute »Europa« gegenüber die Russen, deren ganz mystisches
Innenleben das Denken in Geld als Sünde empfindet. [Der Pilger in Gorkis
Nachtasyl und die ganze Gedankenwelt Tolstois; vgl. S. 792, 898]. Hier liegen
heute wie in Syrien zur Zeit Jesu zwei Wirtschaftswelten übereinander [vgl. S.
788 ff.], eine obere, fremde, zivilisierte, die von Westen eingedrungen ist
und zu der als Hefe der ganz abendländische und unrussische Bolschewismus
der ersten Jahre gehört, und eine stadtlose, nur unter Gütern lebende
in der Tiefe, die nicht rechnet, sondern ihren unmittelbaren Bedarf eintauschen
möchte. Man muß die Schlagworte der Oberfläche als eine Stimme
auffassen, aus welcher der ganz mit seiner Seele beschäftigte einfache
Russe den Willen Gottes heraushört. Der Marxismus unter Russen beruht auf
einem inbrünstigen Mißverständnis. Man hat das höhere Wirtschaftsleben
des Petrinismus ertragen, aber weder geschaffen noch anerkannt. Der Russe bekämpft
das Kapital nicht, sondern er begreift es nicht. Wer Dostojewski zu lesen
versteht, wird hier eine junge Menschheit ahnen, für die es noch gar
kein Geld gibt, nur Güter in bezug auf ein Leben, dessen Gewicht nicht
auf der Wirtschaftsseite liegt. Die »Angst vor dem Mehrwert«, die
vor dem Kriege manchen bis zum Selbstmord getrieben hat, ist eine unverstandene
literarische Verkleidung der Tatsache, daß der Gelderwerb durch Geld für
das stadtlose Güterdenken ein Frevel ist, aus der werdenden russischen
Religion heraus gedacht eine Sünde. So wie heute die Städte des Zarentums
verfallen und der Mensch in ihnen wieder wie im Dorfe lebt, unter der Kruste
des städtisch denkenden, rasch hinschwindenden Bolschewismus, so hat er
sich von der westlichen Wirtschaft befreit. Der apokalyptische Haß
der auch das einfache Judentum zur Zeit Jesu gegen Rom beherrschte richtete
sich nicht nur gegen Petersburg als Stadt, als Sitz einer politischen Macht
westlichen Stils, sondern auch als Mitte eines Denkens in westlichem Geld, was
das ganze Leben vergiftet und in eine falsche Bahn gelenkt hat. Das Russentum
der Tiefe läßt heute eine noch priesterlose, auf dem Johannesevangelium
aufgebaute dritte Art des Christentums entstehen, die der magischen unendlich
viel näher steht als der faustischen, die deshalb auf einer neuen Symbolik
der Taufe beruht und, weit entfernt von Rom und Wittenberg, in einer
Vorahnung künftiger Kreuzzüge über Byzanz hinweg nach Jerusalem
blickt. Damit allein beschäftigt, wird es sich die Wirtschaft des
Westens wieder gefallen lassen, wie der Urchrist die römische, der gotische
Christ die jüdische, aber es beteiligt sich innerlich nicht mehr an ihr.
[Hierzu , S. 788 ff., 835, 898, 921 Anm. 1.]) Das Wirtschaftsleben in
Gestalt eines Goldstroms war unter dem Heraufdringen einer jungen Kultur erloschen,
und deshalb hat auch der Sklave aufgehört, Geld zu sein. Dem Abfluß
des Goldes geht jene massenhafte Freilassung der Sklaven zur Seite, die durch
keins der zahlreichen kaiserlichen Gesetze seit Augustus aufzuhalten war, und
unter Diokletian, dessen berühmter Maximaltarif sich überhaupt nicht
mehr auf eine Geldwirtschaft bezieht, sondern eine Tauschordnung für
Güter darstellt, ist der Typus des antiken Sklaven nicht mehr vorhanden.
(Ebd., S. 1181-1182).
Die
Maschine
Die Technik ist so
alt wie das frei im Raume bewegliche Leben überhaupt. .... Die entscheidende
Wendung in der Geschichte des höheren Lebens erfolgt, wenn das Fest-stellen
der Natur - um sich danach zu richten - in ein Fest-machen übergeht, durch
das sie absichtlich verändert wird. Damit wird die Technik gewissermaßen
souverän, und die triebhafte Urerfahrung geht in ein Urwissen über,
dessen man sich deutlich »bewußt« ist. Das Denken hat sich vom
Empfinden emanzipiert. Erst die Wortsprache hat diese Epoche heraufgeführt.
(Ebd., S. 1183-1184).Man
»weiß«, was man will, aber es muß vieles geschehen sein,
um das Wissen zu haben, und man täusche sich nicht über den Charakter
dieses »Wissens«. Durch die zahlenmäßige Erfahrung kann
der Mensch mit dem Geheimnis schalten, aber er hat es nicht enthüllt. Das
Bild des modernen Zauberers: eine Schalttafel mit ihren Hebeln und Bezeichnungen,
an welcher der Arbeiter durch einen Fingerdruck gewaltige Wirkungen ins Dasein
ruft, ohne von ihrem Wesen eine Ahnung zu haben, ist das Symbol der menschlichen
Technik überhaupt. Das Bild der Lichtwelt um uns, so wie wir es kritisch,
zerlegend, als Theorie, als Bild entwickelt haben, ist nichts als
eine solche Tafel, auf der gewisse Dinge so bezeichnet sind, daß auf eine
Berührung hin gewisse Wirkungen mit Sicherheit erfolgen. Das Geheimnis bleibt
nicht weniger drückend.(Die »Richtigkeit«
physikalischer Kenntnisse. d.h. ihre bis zum Augenblick durch keine Erscheinung
widerlegte Anwendbarkeit als »Deutung«, ist ganz unabhängig
von ihrem technischen Werte. Eine sicherlich falsche und in sich widerspruchsvolle
Theorie kann für die Praxis wertvoller sein als eine »richtige«
und tiefe, und die Physik hütet sich längst, die Worte falsch und
richtig im populären Sinne überhaupt auf ihre Bilder statt auf die
bloßen Formeln anzuwenden.) Aber durch diese Technik greift das
Wachsein doch gewaltsam in die Tatsachenwelt; das Leben bedient sich des
Denkens wie eines Zauberschlüssels, und auf der Höhe mancher Zivilisation,
in deren großen Städten, erscheint endlich der Augenblick, wo technische
Kritik es müde ist, dem Leben zu dienen, und sich zu seinem Tyrannen aufwirft.
Eine Orgie dieses entfesselten Denkens von wahrhaft tragischen Maßen erlebt
die abendländische Kultur eben jetzt.
(Ebd., S. 1184-1185).Man
hat den Gang der Natur belauscht und sich Zeichen gemerkt. Man beginnt sie nachzuahmen
durch Mittel und Methoden, welche die Gesetze kosmischen Taktes sich zunutze machen.
Der Mensch wagt es, die Gottheit zu spielen und amn begreift, daß die frühesten
Verfertiger und Kenner dieser künstlichen Dinge - denn hier ist dei Kunst
als Gegenbegriff von Natur entstanden -, vor allem die Hüter der Schmiedekunst
von den andern als etwas ganz Seltsames betrachtet, scheu verehrt oder verabscheut
wurden. (Ebd., S. 1185).Es
versteht sich von selbst, daß der antike Mensch, euklidisch wie er sich
in seiner Umwelt fühlt, schon dem Gedanken an der Technik feindselig gegenübersteht.
Meint man mit antiker Technik etwas, das sich mit entschiedenem Streben über
die allverbreiteten Fertigkeiten der mykenischen Zeit erhebt, so gibt es keine
antike Technik. ().
Diese Trieren sind vergrößerte Ruderboote, die Katapulte und Onager
ersetzen Arme und Fäuste und können sich mit den assyrischen und chinesischen
Kriegsmaschinen nicht messen, und was Heron und andere seines Schlages betrifft,
so sind Einfälle keine Erfindungen. Es fehlt das innere Gewicht, das Schicksalvolle
des Augenblicks, die tiefe Notwendigkeit. Man spielt hier und da mit Kenntnissen
- warum auch nicht -, die wohl aus dem Osten stammten, aber niemand achtet darauf,
und niemand denkt vor allem daran, sie ernstlich in die Lebensgestaltung einzuführen.
(Ebd., S. 1185-1186).Etwas
ganz anderes ist die faustische Technik, die mit dem vollen Pathos der dritten Dimension
... auf die Natur eindringt, um sie zu beherrschen. Hier und nur hier ist
die Verbindung von Einsicht und Verwertung selbstverständlich. Die Theorie ist von Anfang an Arbeitshypothese (vgl. S. 929). (Ebd.,
S. 1186).Die
chinesische Kultur hat fast alle abendländischen Erfindungen auch gemacht,
aber der Chinese schmeichelt der Natur etwas ab, er vergewaltigt sie nicht. Er
empfindet wohl den Vorteil seines Wissens und macht Gebrauch davon, aber er stürzt
sich nicht darauf, um es auszubeuten. (Ebd., S. 1186).
Der faustische Erfinder und Entdecker
ist etwas Einzigartiges. Die Urgewalt seines Wollens, die Leuchtkraft
seiner Visonen, die stählerne Energie seines praktischen Nachdenkens
müssen jedem, der aus fremden Kulturen herüberblickt, unheimlich
und unverständlich sein, aber sie liegen uns allen im Blute. Unsre
ganze Kultur hat eine Entdeckerseele. Ent-decken, das was man nicht
sieht, in die Lichtwelt des inneren Auges ziehen, um sich seiner zu bemächtigen,
das war vom ersten Tage an ihre hartnäckigste Leidenschaft. Alle
ihre großen Erfindungen sind in der Tiefe langsam gereift, durch
vorwegnehmende Geister verkündigt und versucht worden, um mit der
Notwendigkeit eines Schicksals endlich hervorzubrechen. Sie waren alle
schon dem seligen Grübeln frühgotischer Mönche ganz nahegerückt.
Wenn irgendwo, so offenbart sich hier der religiöse Ursprung alles
technischen Denkens. Diese inbrünstigen Erfinder in ihren Klosterzellen,
die unter Beten und Fasten Gott sein Geheimnis abrangen, empfanden
das als einen Gottesdienst. Hier ist die Gestalt Fausts entstanden,
das große Sinnbild einer echten Erfinderkultur. Die scientia
experimentalis, wie zuerst Roger Bacon die Naturforschung definiert
hatte, die gewaltsame Befragung der Natur mit Hebeln und Schrauben beginnt,
was als Ergebnis in den mit Fabrikschloten und Fördertürmen
übersäten Ebenen der Gegenwart vor unsern Augen liegt. Aber
für sie alle bestand auch die eigentlich faustische Gefahr, daß
der Teufel seine Hand im Spiele hatte, um sie im Geist auf jenen Berg
zu führen, wo er ihnen alle Macht der Erde versprach. Das bedeutet
der Traum jener seltsamen Dominikaner wie Petrus Peregrinus vom perpetuum
mobile, mit dem Gott seine Allmacht entrissen gewesen wäre. Sie
erlagen diesem Ehrgeiz immer wieder; sie zwangen der Gottheit ihr Geheimnis
ab, um selber Gott zu sein. Sie belauschten die Gesetze des kosmischen
Taktes, um sie zu vergewaltigen, und sie schufen so die Idee der Maschine
als eines kleinen Kosmos, der nur noch dem Willen des Menschen gehorcht.
Aber damit überschritten sie jene feine Grenze, wo für die allbetende
Frömmigkeit der andern die Sünde begann, und daran gingen sie
zugrunde, von Bacon bis Giordano Bruno. Die Maschine ist des Teufels:
so hat der echte Glaube immer wieder empfunden. (Ebd., S. 1186-1187).
Eine Leidenschaft im Erfinden zeigt schon die gotische Architektur - die
man mit der gewollten Formenarmut der dorischen vergleiche - und unsre gesamte
Musik. Es erscheinen der Buchdruck und die Fernwaffe. (Das griechische Feuer will
nur erschrecken und zünden; hier aber wird die Spannkraft der Explosionsgase
in Bewegungsenergie umgesetzt. Wer das ernsthaft vergleicht, der versteht den
Geist abendländischer Technik nicht.). Auf Kolumbus und Kopernikus folgen
das Fernrohr, das Mikroskop, die chemischen Elemente und endlich die ungeheure
Summe der technischen Verfahren des frühen Barock. (Ebd., S. 1187-1188).
Dann aber folgt zugleich mit dem Rationalismus
die Erfindung der Dampfmaschine, die alles umstürzt und das
Wirtschaftsbild von Grund aus verwandelt. Bis dahin hatte die Natur Dienste
geleistet, jetzt wird sie als Sklavin ins Joch gespannt und ihre
Arbeit wie zum Hohn nach Pferdestärken bemessen. Man ging von der
Muskelkraft des Negers, die in organisierten Betrieben angesetzt wurde,
zu den organischen Reserven der Erdrinde über, wo die Lebenskraft
von Jahrtausenden als Kohle aufgespeichert liegt, und richtet heute den
Blick auf die anorganische Natur, deren Wasserkräfte schon zur Unterstützung
der Kohle herangezogen sind. Mit den Millionen und Milliarden Pferdekräften
steigt die Bevölkerungszahl in einem Grade, wie keine andre Kultur
es je für möglich gehalten hätte. Dieses Wachstum ist ein
Produkt der Maschine, die bedient und gelenkt sein will und dafür
die Kräfte jedes Einzelnen verhundertfacht. Um der Maschine willen
wird das Menschenleben kostbar. Arbeit wird das große Wort
des ethischen Nachdenkens. Es verliert im 18. Jahrhundert in allen Sprachen
seine geringschätzige Bedeutung. Die Maschine arbeitet und zwingt
den Menschen zur Mitarbeit. Die ganze Kultur ist in einen Grad von Tätigkeit
geraten, unter dem die Erde bebt. (Ebd., S. 1188).
Was sich nun im Laufe kaum eines Jahrhunderts entfaltet, ist
ein Schauspiel von solcher Größe, daß den Menschen einer
künftigen Kultur mit andrer Seele und andern Leidenschaften das Gefühl
überkommen muß, als sei damals die Natur ins Wanken geraten.
Auch sonst ist die Politik über Städte und Völker hinweggeschritten;
menschliche Wirtschaft hat tief in die Schicksale der Tier- und Pflanzenwelt
eingegriffen, aber das rührt nur an das Leben und verwischt sich
wieder. Diese Technik aber wird die Spur ihrer Tage hinterlassen, wenn
alles andere verschollen und versunken ist. Diese faustische Leidenschaft
hat das Bild der Erdoberfläche verändert. Es ist das hinaus-
und hinaufdrängende und eben deshalb der Gotik tief verwandte Lebensgefühl,
wie es in der Kindheit der Dampfmaschine durch die Monologe des Goetheschen
Faust zum Ausdruck gelangte. Die trunkene Seele will Raum und Zeit überfliegen.
Eine unnennbare Sehnsucht lockt in grenzenlose Fernen. Man möchte
sich von der Erde lösen, im Unendlichen aufgehen, die Bande des Körpers
verlassen und im Weltraum unter Sternen kreisen. Was am Anfang die glühend
hinaufschwebende Inbrunst des heiligen Bernhard suchte, was Grünewald
und Rembrandt in ihren Hintergründen und Beethoven in den erdfernen
Klängen seiner letzten Quartette ersannen, das kehrt nun wieder in
dem durchgeistigten Rausch dieser dichten Folge von Erfindungen. Deshalb
entsteht dieser phantastische Verkehr, der Erdteile in wenigen Tagen kreuzt,
der mit schwimmenden Städten über Ozeane setzt, Gebirge durchbohrt,
in unterirdischen Labyrinthen rast, von der alten, in ihren Möglichkeiten
längst erschöpften Dampfmaschine zur Gaskraftmaschine übergeht
und von Straßen und Schienen sich endlich zum Flug in die Lüfte
erhebt; deshalb wird das gesprochene Wort in einem Augenblick über
alle Meere gesandt; deshalb bricht dieser Ehrgeiz der Rekorde und Dimensionen
hervor, die Riesenhallen für Riesenmaschinen, ungeheure Schiffe und
Brückenspannungen, wahnwitzige Bauten bis in die Wolken hinauf, fabelhafte
Kräfte, die auf einen Punkt zusammengedrängt sind und dort der
Hand eines Kindes gehorchen, stampfende, zitternde, dröhnende Werke
aus Stahl und Glas, in denen sich der winzige Mensch als unumschränkter
Herr bewegt und endlich die Natur unter sich fühlt. (Ebd.,
S. 1188-1189).
Und diese Maschinen werden in ihrer Gestalt immer mehr entmenschlicht,
immer asketischer, mystischer, esoterischer. Sie umspinnen die Erde mit
einem unendlichen Gewebe feiner Kräfte, Ströme und Spannungen.
Ihr Körper wird immer geistiger, immer verschwiegener. Diese Räder,
Walzen und Hebel reden nicht mehr. Alles, was entscheidend ist, zieht
sich ins Innere zurück. Man hat die Maschine als teuflisch empfunden,
und mit Recht. Sie bedeutet in den Augen eines Gläubigen die Absetzung
Gottes. Sie liefert die heilige Kausalität dem Menschen aus und sie
wird schweigend, unwiderstehlich, mit einer Art von vorausschauender Allwissenheit
von ihm in Bewegung gesetzt. (Ebd., S. 1189-1190).
Niemals hat sich ein Mikrokosmos dem Makrokosmos
überlegener gefühlt. Hier gibt es kleine Lebewesen, die durch
ihre geistige Kraft das Unlebendige von sich abhängig gemacht haben.
Nichts scheint diesem Triumph zu gleichen, der nur einer Kultur geglückt
ist und vielleicht nur für eine kleine Zahl von Jahrhunderten.
(Ebd., S. 1190).
Aber gerade damit ist der faustische Mensch
zum Sklaven seiner Schöpfung geworden. Seine Zahl und die
Anlage seiner Lebenshaltung werden durch die Maschine auf eine Bahn gedrängt,
auf der es keinen Stillstand und keinen Schritt rückwärts gibt.
Der Bauer, der Handwerker, selbst der Kaufmann erscheinen plötzlich
unwesentlich gegenüber den drei Gestalten, welche sich die Maschine
auf dem Weg ihrer Entwicklung herangezüchtet hat: dem Unternehmer,
dem Ingenieur, dem Fabrikarbeiter. Aus einem ganz kleinen Zweige des
Handwerks, der verarbeitenden Wirtschaft, ist in dieser eitlen Kultur
und keiner andern der mächtige Baum aufgewachsen, welcher über
alle sonstigen Berufe seinen Schatten wirft: die Wirtschaftswelt der
Maschinenindustrie. Sie zwingt den Unternehmer wie den Fabrikarbeiter
zum Gehorsam. Beide sind Sklaven, nicht Herren der Maschine, die
ihre teuflische geheime Macht erst jetzt entfaltet. Aber wenn die sozialistische
Theorie der Gegenwart nur die Leistung des letzten hat sehen wollen und
für sie allein das Wort Arbeit in Anspruch nahm, so ist diese doch
nur durch die souveräne und entscheidende Leistung des ersten möglich.
Das berühmte Wort von dem starken Arm, der alle Räder stillstehen
läßt, ist falsch gedacht. Anhalten - ja, aber dazu braucht
man nicht Arbeiter zu sein. In Bewegung halten - nein. Der Organisator
und Verwalter bildet den Mittelpunkt in diesem künstlichen und komplizierten
Reich der Maschine. Der Gedanke hält es zusammen, nicht die Hand.
Aber gerade deshalb ist eine Gestalt noch wichtiger, um diesen
stets gefährdeten Bau zu erhalten, als die ganze Energie unternehmender
Herrenmenschen, die Städte aus dem Boden wachsen lassen und das Bild
der Landschaft verändern, eine Gestalt, die man im politischen Streit
zu vergessen pflegt: der Ingenieur, der wissende Priester der Maschine.
Nicht nur die Höhe, das Dasein der Industrie hängt vom
Dasein von hunderttausend begabten, streng geschulten Köpfen ab,
welche die Technik beherrschen und immer weiter entwickeln. Der Ingenieur
ist in aller Stille ihr eigentlicher Herr und ihr Schicksal. Sein Denken
ist als Möglichkeit, was die Maschine als Wirklichkeit ist. Man hat,
ganz materialistisch, die Erschöpfung der Kohlenlager gefürchtet.
Aber solange es technische Pfadfmder von Rang gibt, gibt es keine Gefahren
dieser Art. Erst wenn der Nachwuchs dieser Armee ausbleibt, deren Gedankenarbeit
mit der Arbeit der Maschine eine innere Einheit bildet, muß die
Industrie trotz Unternehmertum und Arbeiterschaft erlöschen. Gesetzt
den Fall, daß das Heil der Seele den Begabtesten künftiger
Generationen näher liegt als alle Macht in dieser Welt, daß
unter dem Eindruck der Metaphysik und Mystik, die heute den Rationalismus
ablösen, das wachsende Gefühl für den Satanismus
der Maschine gerade die Auslese des Geistes ergreift, auf die es ankommt
- es ist der Schritt von Roger Bacon zu Bernhard von Clairvaux -, so wird
nichts das Ende dieses großen Schauspiels aufhalten, das ein Spiel
der Geister ist, bei dem die Hände nur helfen dürfen.
(Ebd., S. 1190-1191).
Die abendländische Industrie hat die alten Handelsbahnen der übrigen
Kulturen verlagert. Die Ströme des Wirtschaftslebens bewegen sich nach den
Sitzen der »Königin Kohle« und den großen Rohstoffgebieten
hin; die Natur wird erschöpft, der Erdball dem faustischen Denken in Energien
geopfert. Die arbeitende Erde ist der faustische Aspekt; in ihrem Anblick stirbt
der Faust des zweiten Teils, in dem die unternehmende Arbeit ihre höchste
Verklärung erfahren hat. Nichts ist dem ruhend gesättigten Sein der
antiken Kaiserzeit mehr entgegengesetzt. Der Ingenieur ist es, der dem römischen
Rechtsdenken am fernsten steht, und er wird es durchsetzen, daß seine Wirtschaft
ihr eignes Recht erhält, in dem Kräfte und Leistungen die Stelle von
Person und Sache einnehmen. (Ebd., S. 1192).
Aber ebenso titanisch ist nun der Ansturm
des Geldes auf diese geistige Macht. Auch die Industrie ist noch erdverbunden
wie das Bauerntum. Sie hat ihren Standort und ihre dem Boden entströmenden
Quellen der Stoffe. Nur die Hochfinanz ist ganz frei, ganz ungreifbar.
Die Banken und damit die Börsen haben sich seit 1789 am Kreditbedürfnis
der ins Ungeheure wachsenden Industrie zur eigenen Macht entwickelt und
sie wollen, wie das Geld in allen Zivilisationen, die einzige Macht
sein. Das uralte Ringen zwischen erzeugender und erobernder Wirtschaft
erhebt sich zu einem schweigenden Riesenkampf der Geister, der auf dem
Boden der Weltstädte ausgefochten wird. Es ist der Verzweiflungskampf
des technischen Denkens um seine Freiheit gegenüber dem Denken in
Geld. (Dies gewaltige Ringen einer sehr kleinen Zahl stahlharter Rassemenschen
von ungeheurem Verstand, wovon der einfache Städter weder etwas sieht
noch versteht, läßt von fern betrachtet, welthistorisch also,
den bloßen Interessenkampf zwischen Unternehmertum und Arbeitersozialismus
zur flachen Bedeutungslosigkeit herabsinken. Die Arbeiterbewegung ist,
was ihre Führer aus ihr machen, und der Haß gegen die Inhaber
der industriellen Führerarbeit hat sie längst in den Dienst
der Börse gestellt. Der praktische Kommunismus mit seinem »Klassenkampf«,
einer heute längst veralteten und unecht gewordenen Phrase, ist nichts
als ein zuverlässiger Diener des Großkapitals, das ihn wohl
zu benützen weiß.) (Ebd., S. 1192).
Die Diktatur des Geldes schreitet vor und nähert sich einem natürlichen
Höhepunkt, in der faustischen wie in jeder andern Zivilisation. Und nun geschieht
etwas, das nur begreifen kann, wer in das Wesen des Geldes eingedrungen ist. Wäre
es etwas Greifbares, so wäre sein Dasein ewig; da es eine Form des Denkens
ist, so erlischt es, sobald es die Wirtschaftswelt zu Ende gedacht hat, und zwar
aus Mangel an Stoff. Es drang in das Leben des bäuerlichen Landes ein und
setzte den Boden in Bewegung; es hat jede Art von Handwerk geschäftlich umgedacht;
es dringt heute siegreich auf die Industrie ein, um die erzeugende Arbeit von
Unternehmern, Ingenieuren und Ausführenden gleichmäßig zu seiner
Beute zu machen. Die Maschine mit ihrer menschlichen Gefolgschaft, die eigentliche
Herrin des Jahrhunderts, ist in Gefahr, einer stärkeren Macht zu verfallen.
Aber damit steht das Geld am Ende seiner Erfolge, und der letzte Kampf beginnt,
in welchem die Zivilisation ihre abschließende Form erhält: der zwischen
Geld und Blut. (Ebd., S. 1193).
Die Heraufkunft des Cäsarismus
bricht die Diktatur des Geldes und ihrer politischen Waffe, der Demokratie.
Nach einem langen Triumph der weltstädtischen Wirtschaft und ihrer
Interessen über die politische Gestalttmgskraft erweist sich die
politische Seite des Lebens doch als stärker. Das Schwert siegt über
das Geld, der Herrenwille unterwirft sich wieder den Willen zur Beute.
Nennt man jene Mächte des Geldes Kapitalismus, und Sozialismus den
Willen, über alle Klasseninteressen hinaus eine mächtige politisch-wirtschaftliche
Ordnung ins Leben zu rufen, ein System der vornehmen Sorge und Pflicht,
die das Ganze für den Entscheidungskampf der Geschichte in fester
Form hält, so ist das zugleich ein Ringen zwischen Geld und Recht.
(Zu dem die Interessenpolitik der Arbeiterparteien auch gehört, denn
sie wollen die Geldwerte nicht überwinden, sondern besitzen.) Die
privaten Mächte der Wirtschaft wollen freie Bahn für ihre Eroberung großer Vermögen. Keine Gesetzgebung soll ihnen im Wege stehen.
Sie wollen die Gesetze machen, in ihrem Interesse, und sie bedienen sich
dazu ihres selbstgeschaffenen Werkzeugs, der Demokratie, der bezahlten
Partei. Das Recht bedarf, um diesen Ansturm abzuwehren, einer vornehmen
Tradition, des Ehrgeizes starker Geschlechter, der nicht im Anhäufen
von Reichtümern sondern in den Aufgaben echten Herrschertums jenseits
aller Geldvorteile Befriedigung findet. Eine Macht läßt
sich nur durch eine ander stürzen, nicht durch das Prinzip, und
es gibt dem Geld gegenüber keine andere. Das Geld wird nur vom Blut
überwältigt und aufgehoben. Das Leben ist das erste und
letzte, das kosmische Dahinströmen in mikrokosmischer Form. Es ist
die Tatsache innerhalb der Welt als Geschichte. Vor dem unwiderstehlichen
Takt der Geschlechterfolgen schwindet zuletzt alles hin, was das Wachsein
in seinen Geisteswelten aufgebaut hat. Es handelt sich in der Geschichte
um das Leben und immer nur um das Leben, die Rasse, den Triumph des Willens
zur Macht, und nicht um den Sieg von Wahrheiten, Erfindungen oder Geld.
Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: sie
hat immer dem stärkeren, volleren, seiner selbst gewisseren Leben
Recht gegeben, Recht nämlich auf das Dasein, gleichviel ob es vor
dem Wachsein recht war, und sie hat immer die Wahrheit und Gerechtigkeit
der Macht, der Rasse geopfert und die Menschen und Völker zum Tode
verurteilt, denen die Wahrheit wichtiger war als Taten, und Gerechtigkeit
wesentlicher als Macht. So schließt das Schauspiel einer hohen Kultur,
diese ganze wundervolle Welt von Gottheiten, Künsten, Gedanken, Schlachten,
Städten, wieder mit den Urtatsachen des ewigen Blutes, das mit den
ewig kreisenden kosmischen Fluten ein und dasselbe ist. Das helle, gestaltenreiche
Wachsein taucht wieder in den schweigenden Dienst des Daseins hinab, wie
es die chinesische und römische Kaiserzeit lehren; die Zeit siegt
über den Raum, und die Zeit ist es, deren unerbittlicher Gang den
flüchtigen Zufall Kultur auf diesem Planeten in den Zufall Mensch
einbettet, eine Form, in welcher der Zufall Leben eine Zeitlang dahinströmt,
während in der Lichtwelt unserer Augen sich dahinter die strömenden
Horizonte der Erdgeschichte und Sternengeschichte auftun. (Ebd.,
S. 1193-1194).
Für uns aber, die ein Schicksal in diese Kultur und diesen Augenblick
ihres Werdens gestellt hat, in welchem das Geld seine letzten Siege feiert und
sein Erbe, der Cäsarismus, leise und unaufhaltsam naht, ist in einem eng umschriebenen Kreise die Richtung des Wollens und Müssens gegeben, ohne das es sich nicht
zu leben lohnt. Wir haben nicht die Freiheit, dies oder jenes
zu erreichen, aber die, das Notwendige zu tun oder nichts. Und eine Aufgabe,
welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst,
mit dem einzelnen oder gegen ihn. (Ebd., S. 1194-1195).Ducunt
fata volentem, nolentem trahunt ().
(Ebd., S. 1195). |