Am
12. Februar 1809 erblickte Charles Darwin das Licht der Welt. Fünfzig Jahre
später, am 24. November 1859, trat er, als die Entstehung der Arten erschien,
erstmals mit seiner Theorie der Evolution der Lebewesen an die Öffentlichkeit.
Ein Doppeljubiläum, das gefeiert werden will und die Verlage und Feuilletons
seit geraumer Zeit in hektische Betriebsamkeit versetzt.Das hat seine
Berechtigung, denn immerhin haben wir ihm die nachhaltigste »Kränkung
der menschlichen Eigenliebe« (Sigmund Freud) zu verdanken. Seit Darwin,
so jedenfalls die populäre Auslegung, sind wir nicht mehr die »Krone
der Schöpfung«, sondern haben uns mehr oder weniger zufällig von
der einfachsten Form zum komplexen Kulturträger entwickelt. Das schlug vor
150 Jahren wie eine Bombe ein, die Erstauflage war noch vor Erscheinen verkauft
und bereits 1860 erschien eine deutsche Übersetzung des Werkes. Damit begann
eine Rezeptionsgeschichte, die sich schnell verselbständigte, weil Darwin
in Ernst Haeckel einen radikalen Weiterdenker fand, der sich mit den eher behutsamen
Schlußfolgerungen des Engländers nichtzufrieden geben wollte und in
Deutschland das schuf, was man als eine über die Wissenschaft hinausgehende
Weltanschauung bezeichnet: den Darwinismus.Am 19. September 1863 hielt
Haeckel auf der Naturforscherversammlung in Stettin einen Vortrag über die
»Entwicklungstheorie Darwins« und machte deutlich, um was es sich
dabei seiner Meinung nach handelte: um einen Paradigmenwechsel der Wissenschaft.
Wenn wir seinem engen Freund der späteren Jahre, Wilhelm Bölsche, glauben
dürfen, war damit der Siegeszug der Entwicklungslehre in Deutschland eingeläutet.
Denn Haeckel legte nach. Vorträge über die »Entstehung des Menschengeschlechts«
und den »Stammbaum des Menschen« folgten, über Dinge also, über
die sich Darwin überhaupt noch nicht abschließend geäußert
hatte. Die Generelle Morphologie der Organismen (1866) war ein Buch für Fachleute,
das seine Wirkung deshalb nicht entfalten konnte. Aber schon zwei Jahre später
gelang Haeckel ein Massenerfolg mit der Natürlichen Schöpfungsgeschichte,
die auf Vorträge vor gemischtem Publikum zurückging. Bölsche erinnert
sich an die Wirkung: »Zu ihrer Lektüre bildeten wir als Gymnasiasten
einen Geheimbund mit den rigorosesten Satzungen wie Vehme oder Freimaurer. In
der verborgenen Hinterstube einer ziemlich anrüchigen Kölner Bierwirtschaft
hielten wir Sitzungen ab, deren Mittelpunkt das Buch bildete, mit
seinen Embryo- und Monerenbildern, seinen Kühnheiten gegen Himmel und Kirche
(wir wurden zwischendurch konfirmiert!), nebenbei tranken wir das erste verbotene
Glas Wirtshausbier, was den Reiz der Situation erhöhte. In den Debatten aber
steckte eine jugendlich-frische Inbrunst der Anteilnahme an einem jäh eröffneten
unendlichen Gedankenreich
.«Ernst Haeckel feiert in diesem
Jahr auch seine Jubiläen, die etwas in Vergessenheit zu geraten drohen: am
16. Februar seinen 175. Geburtstag und am 9. August seinen 90. Todestag. Anfang
des Jahres 1909 waren Postkarten im Umlauf, auf denen sowohl des 100. Geburtstags
Darwins als auch des 75. Haeckels gedacht wurde. Daß das heute nicht mehr
so ist, hat verschiedene Gründe, die nicht zuletzt in Haeckels Radikalität
liegen. Haeckel hatte bereits während seines Medizinstudiums an einer meereszoologischen
Exkursion (nach Helgoland) teilgenommen, bevor er 1857 zum Dr. med. promovierte.
Da er den Arztberuf als wenig erstrebenswert ansah, begab er sich zunächst
auf eine Forschungsreise nach Italien und widmete sich den Radiolarien (Strahlentierchen).
Insbesondere seine Meisterschaft in der Zeichnung dieser einzelligen Meereslebewesen
begründete seinen Ruf als Naturforscher und brachte ihm nach der Habilitation
(in vergleichender Anatomie) auch die außerordentliche Professur in Jena
ein, bald darauf die Professor für Zoologie. Er blieb dieser Universität
bis zu seinem Austritt aus dem Lehramt 1909 treu. Über all die Jahre hinweg
war er auf zahlreichen Auslandsreisen, die ihn bis nach Ceylon führten. Von
Jena aus entfaltete er eine rege Vortrags- und Publikationstätigkeit, die
ihn im Laufe der Zeit zum umstrittensten Wissenschaftler, aber auch zum erfolgreichsten
Sachbuchautor des Kaiserreichs machen sollte.Haeckel hatte schon früh
begonnen, die Entwicklungstheorie Darwins nicht nur als wissenschaftliche Theorie,
die es jetzt zu beweisen oder widerlegen gelte, zu behandeln, sondern als Weltanschauung
des modernen Menschen. Und das fiel, insbesondere seit den neunziger Jahren des
19. Jahrhunderts in Deutschland auf sehr fruchtbaren Boden. Die schlimmsten Mißstände
der Industrialisierung waren durch die Sozialgesetzgebung gemildert worden, Deutschland
prosperierte. Davon profitierte auch die »Arbeiterklasse«, die jetzt
Bedarf an geistigen Gütern anmeldete. Die Gründung von Arbeiterbildungsvereinen,
Volksbühnen und ersten Volkshochschulen war die Folge. Hinzu kam, daß
es in diesen Schichten (und nicht nur in diesen) eine Ablehnung des Christentums
und insbesondere der Kirchen gab, gleichzeitig aber eine »vagierende Religiosität«
(Thomas Nipperdey). Diese Konstellation nutzte Haeckel als bekanntester von zahlreichen
Verkündern der neuen wissenschaftlichen Weltanschauung. Andere, so der bereits
erwähnte Bölsche, verdienten mit Vorträgen vor Arbeitern zeitweise
ihren Lebensunterhalt. Auch Haeckel ging oft und gerne auf Vortragsreisen, um
für die Sache zu werben. Auf einem dieser Vorträge gab er der Weltanschauung
einen Namen, der bald in aller Munde war: Monismus, der das »Band zwischen
Religion und Wissenschaft« bilden sollte. Als Haeckel diesen Begriff 1892
für seine Weltanschauung einführte, war er zwar bereits in Gebrauch,
doch was darunter zu verstehen sei, war (und blieb) umstritten. Als beispielsweise
1908 ein opulenter zweibändiger Sammelband Monismus erschien, unterschied
der Herausgeber 16 Arten des Monismus.Haeckel machte sich in der Folge
daran, dieses Wort mit Inhalt zu füllen, vor allem in seinen, schlau betitelten,
Weltbestsellern Die Welträtsel (1899) und Die Lebenswunder
(1904). Er verstand darunter eine Art metaphysischen Naturalismus, der alle überhaupt
vorhandenen Gebilde und Prozesse aus den Kräften der Natur ableitet. Es handelt
sich dabei um lupenreinen Materialismus, da alle Eigenständigkeit des Geistigen
und die Möglichkeit von Gott als Person geleugnet werden. Den Naturgesetzen
ist alles Sein und Werden unterworfen. So ergibt sich für Haeckel eine schlüssige
Kausalkette: Wie die anorganischen Erscheinungen seien alle Erscheinungen des
organischen Lebens »dem universalen Substanzgesetz« unterworfen. Das
Substanzgesetz besagt nach Kant, daß die Quantität der Materie unveränderlich
ist. Haeckel geht jedoch weiter: »Wie für alle übrigen Organe
unseres menschlichen Körpers, so hat auch für das Gehirn, als das Geistesorgan,
das Biogenetische Grundgesetz unbedingte Geltung.« Das von Haeckel aufgestellte
biogenetische Grundgesetz besagt, daß die Entwicklung des Individuums (Ontogenese)
eine Stammesgeschichte (Phylogenese) im kleinen ist. Haeckel verfolgte mit der
Formulierung eines solchen Gesetzes, das empirisch nicht zu belegen war, ein monistisches
Ziel: Organisches Leben sollte sich nicht vom Anorganischen und der Mensch sich
nicht vom Tier unterscheiden. Das Bewußtsein sei wie jede andere »Seelentätigkeit«
eine Naturerscheinung, die dem »obersten, alles beherrschenden Substanzgesetz
unterworfen« sei. Es gebe auch »in diesem Gebiete keine einzige Ausnahme
von diesem höchsten kosmologischen Grundgesetze
«.Unter
Monismus verstand Haeckel daher eine auf diesen Gesetzen basierende »einheitliche
naturgemäße Weltanschauung«, verbunden mit der Forderung einer
darauf basierenden »vernünftigen Lebensführung«. Einen
weiteren Aufschwung der Kultur könne es nur geben, wenn die »vernünftige
monistische Naturerkenntnis« zur allgemeinen Weltanschauung werde. Zu diesem
Zweck gründete Haeckel 1906 den Deutschen Monistenbund (DMB), der allerdings,
als im Zuge von Weltkrieg und Nachkrieg die harmonische Weltanschauung an Einfluß
verlor, in der Bedeutungslosigkeit versank und 1933 schließlich verboten
wurde. Doch das Verhältnis des Nationalsozialismus zu Haeckel war ambivalenter
als es dadurch scheinen mag. Zu Lebzeiten war Haeckel der sozialdemokratischen
Vereinnahmung des Darwinismus entgegengetreten, indem er darauf bestanden hatte,
daß die »zunehmende Ungleichheit der Menschen und ihrer Lebensverhältnisse
eine notwendige Folge der Kultur« und die »Selektionstheorie von Darwin«
ein »aristokratisches Prinzip« sei. Politisch stand Haeckel rechts,
war Mitglied im Alldeutschen Verband und verstand Politik als fortgesetzte Biologie.
Sein Eintreten für Erbgesundheit und Euthanasie wurde nach 1933 zwar zur
Pionierleistung hochgejubelt, konnte sich aber im Kaiserreich vor allem der Unterstützung
durch »fortschrittliche« linke Kreise sicher sein. Mißtrauisch
beäugt wurden vom NS auch sein Atheismus und Materialismus. Also wurde er
von seinen Anhängern zum Gottsucher und Lebensphilosophen erklärt. Daß
Haeckel mit diesen ideologischen Auseinandersetzungen nicht viel gemein hatte,
sondern ein Kind des 19. Jahrhunderts war (das am 9. August 1919 starb), wurde
dabei übersehen. Um das zu verstehen, genügt es, sich einmal das restaurierte,
von Haeckel als ganz im Jugendstil gehaltene Kultstätte der Wissenschaft
konzipierte Phyletische Museum in Jena anzuschauen.Unabhängig davon
hat sich eine Behauptung Haeckels als ganz besonders folgenreich für die
Entwicklung der biologischen Wissenschaften überhaupt erwiesen. Die sogenannte
»Evolutionäre Erkenntnistheorie« finden wir nicht erst bei Konrad
Lorenz, sondern bereits bei Ernst Haeckel, der diesen Punkt zur Entscheidungsfrage
»Kant oder Darwin?« erhebt: »Auch die absolut sicheren
Erkenntnisse der Mathematik und Physik, die Kant für synthetische Urteile
a priori [vor jeder Erfahrung] erklärt, sind ursprünglich durch
die phyletische Entwicklung der Urteilskraft entstanden und auf stetig wiederholte
Erfahrungen und darauf gegründete Schlüsse a posteriori zurückzuführen.«
Dies bedeutet: Unser Erkenntnisvermögen ist in Anpassung an die Welt entstanden
und kann diese demnach erkennen, wenn auch nicht abschließend. 1941 veröffentlichte
Lorenz seinen Artikel »Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger
Biologie«, den er in seinem Buch Die Rückseite des Spiegels zu einer
Evolutionären Erkenntnistheorie ausbaute, dabei aber nicht im Naturalismus
steckenblieb, wie das noch bei Haeckel (und auch beim frühen Lorenz) der
Fall ist, sondern zu dem Schluß kommt, daß das »geistige Leben
des Menschen eine neue Art von Leben« ist. (Ebd., Februar 2009). |