Zynismus ist das aufgeklärte falsche
Bewußtsein. * (* Die erste »Aufhebung« dieser Definition
findet sich in der fünften Vorüberlegung: die zweite Aufhebung
im Phänomenologischen Hauptstück.)
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 37 |
Die Existentialontologie, die vom Man und seinem Dasein in der
Alltäglichkeit handelt, versucht etwas, was früherer Philosophie
nicht im Traum eingefallen wäre: Trivialität zum Gegenstand
»hoher« Theorie zu machen. Schon dies ist eine Geste, die
unweigerlich den Kynismus-Verdacht auf Heidegger lenkt. Was Kritiker der
Heideggerschen Existentialontologie als einen »Fehler« vorgeworfen
haben, ist vielleicht ihr besonderer Witz. Sie treibt die Kunst der Platitüde
in die Höhen des expliziten Begriffs. Man könnte sie lesen wie
eine umgekehrte Satire, die nicht das Hohe heruntersetzt, sondern das
Niedere hinauf. Sie versucht, das Selbstverständliche so ausdrücklich
und ausführlich zu sagen, daß sogar Intellektuelle es »eigentlich«
verstehen müßten. In gewisser Hinsicht verbirgt sich im Heideggerschen
Diskurs mit seinen skurrilen Verfeinerungen der Begriffsabschattungen
eine logische Eulenspiegelei großen Stils - der Versuch, mystisch
einfaches Wissen vom einfachen Leben, »wie es ist«, in die
fortgeschrittenste europäische Denktradition zu übersetzen.
Heideggers Habitus eines Schwarzwaldbauern, der gern von der Welt zurückgezogen
in seiner Hütte sitzt und grübelt, die Zipfelmütze auf
dem Kopf, war nicht nur eine Äußerlichkeit. Er gehört
wesentlich zu dieser Art zu philosophieren. Es steckt dieselbe anspruchsvolle
Schlichtheit darin. Es zeigt, wieviel Mutwille dazu gehört, unter
modernen Bedingungen überhaupt noch so etwas Einfaches und »Primitives«
zu sagen, daß es sich gegen die komplexen Verschraubungen des »aufgeklärten«
Bewußtseins durchsetzen kann. Wir lesen die Aussagen Heideggers
über das Man, das Dasein in der Alltäglichkeit, über Gerede,
Zweideutigkeit, Verfallensein und Geworfenheit etc. vor dem Hintergrund
der vorangehenden Porträts von Mephisto und dem Großinquisitor:
als eine Reihe von Etüden in höherer Banalität, mit der
sich die Philosophie hinaustastet in das, »was der Fall ist«.
Gerade in dem Heideggers existential-hermeneutische Analyse mit dem Mythos
der Objektivität aufräumt, erzeugt sie den härtesten »Tiefenpositivismus«.
So tritt eine Philosophie auf, die ambivalent teilhat an einem ernüchterten,
säkularisierten und technisierten Zeitgeist; sie denkt jenseits von
Gut und Böse und diesseits der Metaphysik; nur auf dieser dünnen
Linie kann sie sich bewegen.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 370-371 |
Der theoretische Neo-Kynismus unseres Jahrhunderts - die Existenzphilosophie
- demonstriert in seiner Denkform das Abenteuer der Banalität. Was
er vorführt, sind die Feuerwerke der Sinnlosigkeit, die sich selbst
zu verstehen beginnt. Man muß sich die verächtliche Wendung
verdeutlichen, mit der Heidegger im oben zitierten Motto seine Arbeit
in weite Ferne von jeder »moralisierenden Kritik« (Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 167) rückt, als wolle er
betonen, daß zeitgenössisches Denken ein für allemal die
Sümpfe des Moralismus hinter sich gelassen und nichts mehr gemeinsam
habe mit »Kulturphilosophie« (ebd). Die kann ja nicht mehr
sein als »Aspiration« (ebd.): vergeblicher Anspruch, Großdenkerei
und Weltanschauung im Stil des nicht enden wollenden 19. Jahrhunderts.
Dagegen wirkt in der »rein ontologischen Absicht« die brennende
Kühle der realen Modernität, die keiner bloßen Aufklärung
mehr bedarf und mit aller je möglichen analytischen Kritik schon
»durch« ist. Ontologisch denkend, positiv sprechend die Struktur
der Existenz freilegen: zu diesem Zweck stürzt sich Heidegger, um
die Subjekt-Objekt-Terminologie zu umgehen, mit beachtlichem sprachlichen
Mutwillen in einen alternativen Jargon, der aus der Ferne betrachtet gewiß
nicht glücklicher ist als der, den Heidegger meiden wollte, in dessen
Neuartigkeit jedoch etwas vom Abenteuer des Modern-Primitiven hindurchscheint:
eine Verknüpfung von Archaik und Spätzeit, eine Spiegelung des
Frühesten im Letzten. In der »Ausgesprochenheit« der
Heideggerschen Rede kommt das zur Sprache, was ansonsten keiner Philosophie
der Rede wert ist. Eben in dem Augenblick. wo das Denken - explizit »nihilistisch«
- Sinnlosigkeit als Folie jeder möglichen Sinnaussage oder Sinngebung
erkennt, wird zugleich die höchste Entfaltung der Hermeneutik. d.h.
der Kunst des Sinn verstehens, nötig. um den Sinn der Sinnlosigkeit
philosophisch zu artikulieren. Das kann. je nach den Voraussetzungen des
Lesers. ebenso aufregend wie frustrierend sein - ein Kreisen in begriffener
Leere. Schattenspiel der Vernunft.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 371-372 |
Was ist dieses seltsame Wesen, das Heidegger unter dem Namen
Man vorführt? Es gleicht auf den ersten Blick modernen Plastiken,
die keinen bestimmten Gegenstand darstellen und in deren polierte Oberflächen
sich keine »besondere« Bedeutung hineinlesen läßt.
Dennoch sind sie unmittelbar wirklich und zum Anfassen konkret. In diesem
Sinn betont Heidegger, daß das Man keine Abstraktion sei - etwa
ein Allgemeinbegriff, der »alle Iche« umfaßt, sondern
möchte es, als ens realissimum, auf etwas beziehen, was in
jedem von uns präsent ist. Aber es enttäuscht die Erwartung
nach Personhaftigkeit, individueller Bedeutung und existentiell entschiedenem
Sinn. Es existiert, aber es ist bei ihm »nichts dahinter«.
Es ist da wie die moderne, nichtfigürliche Plastik: real, alltäglich,
konkreter Teil einer Welt; jedoch zu keiner Zeit auf eine eigentliche
Person, eine »wirkliche« Bedeutung verweisend. Das Man ist
das Neutrum unseres Ich: Alltagsich, aber nicht »ich-selbst«.
Es stellt gewissermaßen meine öffentliche Seite dar, meine
Mediokrität. Das Man habe ich mit allen anderen gemeinsam, es ist
mein öffentliches Ich, und in bezug auf es hat die Durchschnittlichkeit
immer recht. Als uneigentliches Ich entlastet sich das Man von jeglicher
eigener, höchst persönlicher Entschiedenheit; seiner Natur nach
will es sich alles leicht machen, alles von der äußerlichen
Seite nehmen und sich an den konventionellen Schein halten. In gewisser
Hinsicht verhält es sich so auch zu sich selbst, denn was es »selbst«
ist, das nimmt es ja auch nur so eben hin wie etwas Vorgefundenes unter
anderem Gegebenem. So läßt sich dieses Man nur als etwas Unselbständiges
verstehen, das nichts von sich selbst und für sich allein hat. Was
es ist, wird ihm durch die andern gesagt und gegeben; das erklärt
seine wesentliche Zerstreutheit; ja es bleibt verloren an die Welt, die
ihm zunächst begegnet. Heidegger:
»Zunächst bin
nicht ich im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen
in der Weise des Man. Aus diesemherundalsdieseswerde ich mir selbst
zunächst gegeben. Zunächst ist das Dasein
Man und zu meist bleibt es so.« (Martin Heidegger, Sein
und Zeit, S. 129). »Als Man lebe ich immer schon unter
der unauffälligen Herrschaft der Anderen.« »Jeder
ist der Andere und keiner er selbst. Das Man ... ist das Niemand
....« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 128). |
Diese Man-Beschreibung , mit der Heidegger eine Möglichkeit erobert,
philosophisch vom Ich zu sprechen, ohne es im Stil der Subjekt-Objekt-Philosophie
tun zu müssen, wirkt wie eine Rückübersetzung des Ausdrucks
Subjekt in die Umgangssprache, wo es »das Unterworfene« bedeutet.
(Im Logischen Hauptstück gehe ich dieser »übersetzung«
weiter nach und untersuche, was Unterwerfen und Unterworfenwerden für
die Erkenntnistheorie bedeutet. Vgl. S. 639-641; 652-659.) Wer »unterworfen«
ist, meint, sich »selbst« nicht mehr zu besitzen. Nicht einmal
die Sprache des Man sagt etwas Eigenes, sondern nimmt nur teil am allgemeinen
»Gerede«. In dem Gerede - mit dem man Sachen sagt, die man
eben sagt - verschließt sich das Man gegen das wirkliche Verstehen
des eigenen Daseins sowohl wie auch der besprochenen Dinge. Im Gerede
verrät sich die »Entwurzelung« und »Uneigentlichkeit«
des alltäglichen Daseins. Ihm entspricht die Neugier, die flüchtig
und »aufenthaltlos« dem jeweils Neuesten sich hingibt. Dem
neugierigen Man geht es, soviel es auch »Kommunikation betreibt«,
niemals um wirkliches Verstehen, sondern um dessen Gegenteil, Vermeidung
von Einsicht, Ausweichen vor dem »eigentlichen« Blick ins
Dasein. Dieses Vermeiden belegt Heidegger mit dem Begriff Zerstreuung
- einem Ausdruck, der aufhorchen läßt. Wenn auch alles Bisherige
durchaus überzeitlich und allgemeingültig klingen wollte, so
wissen wir mit diesem Wort auf einmal, an welcher Stelle der modernen
Geschichte wir stehen. Kein anderes Wort ist so vollgesogen vom spezifischen
Geschmack der mittleren zwanziger Jahre - der ersten deutschen Moderne
im Breitenmaßstab. Alles, was wir über das Man gehört
haben, wäre letztlich unvorstellbar ohne die Realvoraussetzung der
Weimarer Republik mit ihrem hektischen Nachkriegs-Lebensgefühl, ihren
Massenmedien, ihrem Amerikanismus, ihrer Kultur- und Unterhal tungsindustrie,
ihrem fortgeschrittenen Zerstreuungsbetrieb. Nur im zynischen, demoralisierten
und demoralisierenden Klima einer Nachkriegsgesellschaft, in der die Toten
nicht sterben dürfen, weil aus ihrem Untergang politisches Kapital
geschlagen werden soll, kann sich aus dem »Zeitgeist« ein
Impuls in die Philosophie abzweigen, das Dasein »existential«
zu betrachten und die Alltäglichkeit in Gegensatz zu stellen zu dem
»eigentlichen«, bewußt-entschlossenen Dasein als »Sein
zum Tode«. Nur nach der militärischen Götterdämmerung,
nach dem »Zerfall der Werte«, nach der coincidentia oppositorum
an den Fronten des Materialkrieges, wo sich »Gut« und »Böse«
gegenseitig ins Jenseits beförderten, wurde eine solche »Besinnung«
auf »eigentliches Sein« möglich. Erst diese Zeit wird
in radikaler Weise auf die innere Vergesellschaftung aufmerksam; sie ahnt,
daß die Wirklichkeit beherrscht wird von den Gespenstern, den Imitatoren,
den außengeleiteten Ich-Maschinen. Jeder könnte ein Wiedergänger
sein statt seiner selbst. Doch wie soll man es erkennen? Wem sieht man
noch an, ob er »er selbst« ist oder nur Man? Das erregt die
penetrante Sorge der Existentialisten um die so wichtige wie unmögliche
Unterscheidung zwischen dem Echten und Unechten, dem Eigentlichen und
dem Uneigentlichen, dem Ausgesprochenen und dem Unausgesprochenen, dem
Entschiedenen und dem Unentschiedenen (das halt »nur so« ist):
»Alles sieht aus wie echt verstanden,
ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht, oder es
sieht nicht so aus und ist es im Grunde doch.« (Martin Heidegger,
Sein und Zeit, 1927, S. 173). |
Die Sprache, scheint es, hält mühevoll das, was bloß »so
aussieht«, und das, was wirklich »so ist«, noch auseinander.
Doch die Erfahrung zeigt, wie alles sich verwischt. Alles sieht aus wie.
An diesem Wie beißt der Philosoph herum. Für den Positivisten
wäre alles, wie es ist; keine Differenz zwischen Wesen und Erscheinung
- das wäre nur wieder der alte metaphysische Spuk, mit dem man Schluß
machen will. Doch Heidegger beharrt auf einer Differenz und hält
an dem Anderen fest, das nicht nur ist »wie«, sondern das
Wesentliche, Echte, Eigentliche für sich hat. Der metaphysische Rest
bei Heidegger und sein Widerstand gegen den reinen Positivismus verraten
sich im Willen zur Eigentlichkeit. Es gibt noch eine andere Dimension«
- auch wenn sie sich dem Aufweis entzieht, weil sie nicht zu den aufweisbaren
»Dingen« gehört. Das Andere läßt sich zunächst
nur behaupten, indem zu gleich versichert wird, es sehe genau so aus wie
das Eine; für die äußerliche Sicht hebt sich das »Eigentliche«
vom »Uneigentlichen« in keiner Weise ab.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 372-378 |
Der Unterschied eigentlich-uneigentlich gibt sich rätselhafter,
als er in Wahrheit ist. Soviel steht von vornherein fest: es kann nicht
der Unterschied in irgendeiner »Sache« sein (schön-häßlich,
wahr-falsch, gut-böse, groß-klein, wichtig-unwichtig), weil
die existentiale Analyse vor diesen Unterschieden operiert. So bleibt
als letzte denkbare Differenz jene zwischen dem entschlossenen und dem
unentschlossenen Dasein, ich möchte sagen: zwischen dem bewußten
und dem unbewußten. Doch darf man den Gegensatz bewußt-unbewußt
nicht im Sinne der psychologischen Aufklärung nehmen (der Unterton:
entschlossen-unentschlossen deutet eher in die gemeinte Richtung); bewußt
und unbewußt sind hier nicht kognitive Gegensätze, auch nicht
solche der In formation, des Wissens oder der Wissenschaft, sondern existentiale
Qualitäten. Wäre es anders, so wäre das Heideggersche Pathos
der »Eigentlichkeit« nicht möglich.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 380 |
Die Konstruktion des Eigentlichen mündet - endlich - aus
in das Theorem vom »Sein zum Tode«, für Heideggers Kritiker
ein Vorwand zur billigsten Empörung: zu mehr als zu morbiden Todesgedanken
kann sich die bürgerliche Philosophie nicht mehr aufraffen! Aschermittwochsphantasien
in parasitären Köpfen! Nehmen wir :von solcher Kritik das Wahrheitsmoment
auf, so besagt sie, daß sich in Heideggers Werk, gegen dessen Intentionen,
der historisch-gesellschaftliche Augenblick spiegelt, in dem es verfaßt
wurde; auch wenn es noch so sehr beteuert, ontologische Analyse zu sein,
liefert es eine unfreiwillige Gegenwartstheorie. Insofern sie dies unfreiwillig
ist, hat der Kritiker wohl ein Recht, eine unfreie, ja verblendete Seite
an ihr zu benennen, ohne daß er von der Aufgabe entbunden wäre,
die erleuchtete Seite zu würdigen. Kein Gedanke ist so intim in seine
Zeit eingebettet wie der des Seins zum Tode; es ist das philosophische
Schlüsselwort im Zeitalter der imperialistischen und faschistischen
Weltkriege. Heideggers Theorie fällt in die Atemwende zwischen dem
Ersten und Zweiten Wel krieg, die erste und zweite Modernisierung des
Massentodes. Sie steht auf halbem Weg zwischen dem ersten Dreigestirn
der Destruktionsindustrie: Flandern, Tannenberg, Verdun und dem zweiten:
Stalingrad, Auschwitz, Hiroshima. Ohne Todesindustrie keine Zerstreuungsindustrie.
Liest man Sein und Zeit nicht »bloß« als Existentialontologie,
sondern auch als verschlüsselte Sozialpsychologie der Moderne, so
öffnen sich Einsichten in Strukturzusammenhänge von größter
Perspektive. Heidegger hat den Zusammenhang zwischen moderner »Uneigentlichkeit«
der Existenz und moderner Todesfabrikation in einer Weise getroffen, die
sich allein dem Zeitgenossen industrieller Weltkriege erschließen
kann. Lockern wir den Bann, den der Faschismusverdacht auf Heideggers
Werk geworfen hat, so verraten sich in der Formel vom »Sein zum
Tode« explosive kritische Potentiale. Dann wird verständlich,
daß Heideggers Todestheorie die größte Kritik des 20.
Jahrhunderts am 19. birgt. Das 19. Jahrhundert nämlich hatte seine
besten theoretischen Energien in den Versuch gesteckt, durch realistische
Groß-Theorien den Tod der anderen denkbar zu machen. (Ich
nehme hier ein Motiv Michel Foucaults auf.) Die großen evolutionistischen
Entwürfe nahmen das Weltböse, soweit es andern zustößt,
hinweg und hinauf in die höheren Zustände späterer, erfüllter
Zeiten: hierin gibt es formale Äquivalenzen zwischen der Vorstellung
von Evolution, dem Begriff der Revolution, dem Begriff der Auslese, des
Kampfs ums Dasein und des Überlebens des Tüchtigeren, der Idee
des Fortschritts und dem Mythos der Rasse. Mit all diesen Konzepten wird
eine Optik erprobt, die den Untergang der anderen objektiviert. Mit Heideggers
Todestheorie kehrt das Denken des 20. Jahrhunderts diesen hybriden, theoretisch
neutralisierten Zynismen des 19. Jahrhunderts den Rücken. Äußerlich
gesehen wechselt nur das Personalpronomen: »Man stribt« wird
zu: »Ich sterbe«. Im bewußten Sein zum Tode revoltiert
die Heideggersche Existenz gegen die »ständige Beruhigung über
den Tod«, auf die eine überdestruktive Gesellschaft unbedingt
angewiesen ist. Der totale Militarismus des Industriekrieges erzwingt
in den Alltagszuständen eine mögliche lückenlose narkotische
Todesverdrängung - oder die Abwälzung des Todes auf die andern:
das ist das Gesetz der modernen Zerstreuung. Die Weltlage ist eine solche,
daß sie den Menschen, würden sie aufmerken, zuflüstert:
Eure Vernichtung ist bloß eine Frage der Zeit, und die Zeit, die
die Vernichtung braucht, bis sie euch erreicht, ist zugleich die Zeit
eurer Zerstreuung. Die kommende Vernichtung setzt ja eure Zerstreuung,
eure Nichtentschlossenheit zum Leben voraus. Das zerstreute Man ist der
Modus unseres Existierens, durch den wir selber in den allgemeinen
Todeszusammenhängen stecken und mit der Todesindustrie kooperieren.
Ich möchte behaupten, daß Heidegger den Anfang des Fadens zu
einer Philosophie der Aufrüstung in Händen hält: denn Aufrüsten
heißt, sich dem Gesetz des Man unterwerfen. Einer der eindrucksvollsten
Sätze aus Sein und Zeit lautet: »Das Man läßt
den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen« (Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 254). Wer aufrüstet,
ersetzt den »Mut zur Angst vor dem eigenen Tod« durch militärischen
Betrieb. Das Militär ist der größte Garant dessen, daß
ich nicht meinen »eigenen Tod« sterben muß; es verspricht
mir Hilfe beim Versuch, das »Ich sterbe« zu verdrängen,
um an seiner Stelle einen Man-Tod zu bekommen, einen Tod in absentia,
einen Tod in politischer Uneigentlichkeit und Betäubung. Man rüstet,
man zerstreut sich, man stirbt.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 380-383 |
Ich finde in Heideggers »Ich sterbe« den Kristallisationskern,
um den sich eine Realphilosophie des erneuerten Kynismus entfalten kann.
Kein Weltzweck darf sich je von diesem kynischen Apriori: »Ich sterbe«
so weit entfernen, daß unsere Tode Mittel zum Zweck werden. Die
Sinnlosigkeit des Lebens - um die sich soviel dummes Nihilismusgeschwätz
schlingt - begründet ja erst dessen volle Kostbarkeit. Dem Sinnlosen
ist nicht nur die Verzweiflung und der Alptraum eines bedrückten
Daseins zugeordnet, sondern auch sinnstiftende Lebensfeier, energetisches
Bewußtsein im Hier und Jetzt und ozeanisches Fest.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 383 |
Was die Gesellschaft uns als Zwecke in ihrem Betrieb vorgibt,
bindet uns immer schon ins uneigentliche Dasein. Der Weltbetrieb tut alles,
um den Tod zu verdrängen - während doch »eigentliches«
Existieren sich erst daran entzündet, daß ich wach erkenne,
wie ich in der Welt stehe, Aug in Aug mit der Todesangst, die sich meldet,
wenn ich im voraus radikal den Gedanken vollziehe, daß ich es bin,
auf den am Ende meiner Zeit mein Tod wartet. Heidegger folgert hieraus
eine ursprüngliche Un-heimlichkeit des Daseins; die Welt könne
ja niemals das sichere, Geborgenheit spendende Zuhause des Menschen werden.
Weil das Dasein von Grund auf unheimlich ist, spürt der »unbehauste
Mensch« (...) einen Drang, sich in künstliche Behausungen und
Heimaten zu flüchten und sich aus der Angst in die Gewöhnungen
und Wohnungen zurückzuziehen.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 384 |
Heidegger ist nicht umsonst ein Zeitgenosse des Bauhauses, des
Neuen Wohnens, des frühen Urbanismus, des Sozialwohnungsbaus, der
Siedlungstheorie und der ersten Landkommunen. Sein philosophischer Diskurs
hat verschlüsselt Anteil an der modernen Problematisierung der Wohngefühle,
des Mythos Haus, des Mythos Stadt. Wenn er von der Unbehaustheit des Menschen
redet, so ist das nicht nur gespeist aus dem Grauen, das der unverbesserliche
Provinzler angesichts moderner großstädtischer Lebensformen
empfindet. Es ist geradezu eine Absage an die häuserbauende, städtebauende
Utopie unserer Zivilisation. Tatsächlich bedeutet der Sozialismus,
sofern er lndustriebejaher sein muß, eine Verlängerung des
städtischen »Geistes der Utopie«; er verspricht ja, aus
der »Unwirtlichkeit der Städte« hinauszuführen,
jedoch mit städtischen Mitteln, und hat eine neue Stadt, die endgültige
Menschenstadt und Heimat vor Augen. So steckt im Sozialismus dieses Typs
immer schon ein von städtischer Misere mitgenährter Traum. Heideggers
Provinzialismus hat dafür kein Verständnis. Er blickt auf die
Stadt mit den Augen einer »ewigen Provinz«, die sich nicht
einreden läßt, daß je etwas Besseres an die Stelle des
Landes treten könnte. Heidegger, so darf der gutwillige lnterpret
sagen, durchbricht die modernen Raumphantasien, wobei die Stadt vom Land
träumt und das Land von der Stadt. Beide Phantasmen sind gleich bedingt
und gleich verzerrt. Heidegger vollzieht, teils buchstäblich, teils
metaphorisch verstanden, eine »posthistorische« Rückkehr
aufs Land.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 384-386 |
Gerade in den Jahren der wüstesten Modernisierung - den
sog. goldenen Zwanzigern - beginnt die Stadt, einst der Ort der Utopie,
ihren Zauber einzubüßen, und vor allem Berlin, Hauptstadt des
frühen 20. Jahrhunderts, trägt das Seine dazu bei, die Metropoleneuphorie
in ein ernüchterndes Licht zu tauchen. Als Brennpunkt der Industrie,
der Produktion, des Konsums und des Massenelends ist sie zugleich der
Entfremdung am meisten ausgeliefert; nirgendwo läßt sich Modernität
so teuer bezahlen wie in den Massenstädten. Das Vokabular der Heideggerschen
Man-Analyse scheint wie geschaffen, dem Unbehagen gebildeter Städter
an der eigenen Lebensform Ausdruck zu geben. Zerstreuungskultur, Gerede,
Neugier, Unbehaustheit, Verfallenheit (an alle möglichen Laster dürfte
man mitdenken), Obdachlosigkeit, Angst, Sein zum Tode: das klingt alles
wie Großstadtmisere, in einem etwas trüben, etwas zu feinen
Spiegel eingefangen. Heideggers Provinzkynismus hat eine heftige kulturkritische
Tendenz. Aber es bezeugt nicht nur einen hoffnungslosen Provinzialismus,
wenn ein Philosoph seines Ranges sich von den bürgerlich-städtischen
und sozialistischen Utopien abkehrt, sondern deutet auf eine kynische
Kehre, in dem Sinne, daß sie die großen Ziele und Projektionen
des städtischen Gesellschaftstraums außer Kraft setzt. Die
Wendung zur Provinz kann auch eine Wendung zu wirklicher Makrohistorie
sein, die von den Regulierungen des Lebens im Rahmen von Natur, Agrikultur
und Okologie präziser Notiz nimmt, als alle bisherigen Industriewelt
bilder es konnten. Die Geschichte, die ein Industriehistoriker schreibt,
wird notgedrungen Mikrohistorie. Die Geschichte des Landes kennt den Puls
einer viel gröeren Zeitlichkeit. Auf kurze Formeln gebracht: die
Stadt ist nicht die Erfüllung der Existenz; die Ziele des Industriekapitalismus
sind es auch nicht; wissenschaftlicher Fortschritt ist es auch nicht;
mehr Zivilisation, mehr Kino, schöner Wohnen, länger Autofahren,
besser Essen: das alles ist es nicht. Das »Eigentliche« wird
immer etwas anderes sein. Du mußt wissen, wer du bist. Bewußt
mußt du das Sein zum Tode erfahren als höchste Instanz deines
Seinkönnens; in der Angst fällt es dich an, und dein Augenblick
ist gekommen, wenn du mutig genug bist, der großen Angst standzuhalten.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 386-387 |
»Eigentliche Angst ist ... bei der Vorherrschaft des Verfallens
und der Öffentlichkeit selten« (Martin Heidegger, Sein und
Zeit, 1927, S. 190). Wer auf das Seltene setzt, trifft eine elitäre
Wahl. Eigentlichkeit sei also eine Sache der wenigen. Woran erinnert das?
Hören wir nicht wieder den Großinquisitor, wie er zwischen
den wenigen und den vielen unterscheidet - den wenigen, die die Last der
großen Freiheit ertragen, und den vielen, die als rebellische Sklaven
leben wollen und nicht bereit sind, wirklicher Freiheit, wirklicher Angst,
wirklichem Sein zu begegnen? Dieser völlig apolitisch gemeinte Elitismus,
der eine Elite der wirklich Existierenden annimmt, mußte fast unweigerlich
ins Gesellschaftliche hinübergleiten und politische Optionen lenken.
Der Großinquisitor besaß hierbei den Vorsprung eines illusionslosen
und zynischen politischen Bewußtseins. Heidegger hingegen war ein
Naiver geblieben, ohne klares Bewußtsein dessen, daß aus dem
traditionellen Gemisch von akademischem Apolitismus, Elitebewußtsein
und heroischer Stimmung fast mit blinder Notwendigkeit unbegriffene politische
Entscheidungen hervorgehen. Eine Zeitlang fiel er - man möchte sagen
also - auf den Zynismus des völkischen Großinquisitors
herein. Seine Analyse bewahrheitete sich unfreiwillig an ihm selbst. Alles
sieht aus wie. Es klingt wie »echt verstanden, ergriffen
und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht«. Der Nationalsozialismus
- »Bewegung«, »Aufstand«, »Entscheidung«
- schien Heideggers Vision von Eigentlichkeit, Entschlossenheit und heroischem
Sein zum Tode zu ähneln, als wäre der Faschismus die Wiedergeburt
des Eigentlichen aus der Verfallenheit, als wäre diese moderne Revolte
gegen die Modernität der wirkliche Beweis einer zu sich selbst entschlossenen
Existenz. Man muß an Heidegger denken, wenn man Hannah Arendts souveräne
Bemerkung über jene Intellektuellen im Dritten Reich zitiert, die
zwar keine Faschisten waren, sich aber zum Nationalsozialismus »etwas
einfallen ließen«. Tatsächlich hat sich Heidegger allerhand
einfallen lassen, bis er merkte, was es »eigentlich« mit dieser
politischen Bewegung auf sich hatte. Der Trug konnte nicht lange dauern.
Gerade die NS-Bewegung sollte klarmachen, was das völkische Man alles
in petto hat - das Man als Herrenmensch, das Man als zugleich narzißtische
und autoritäre Masse, das Man als Lustmörder und Tötungsbeamter.
Die »Eigentlichkeit« des Faschismus - seine einzige - bestand
darin, daß er latente Destruktivität in manifeste verwandelte
und somit in höchst zeitgemäßer Weise teilnahm an dem
Zynismus offener »Ausgesprochenheit«, die mit nichts mehr
hinterm Berg hält. Faschismus, vor allem in der deutschen Spielart,
ist die » Unverborgenheit« der politischen Destruktivität,
auf die nackteste Form gebracht und durch die Formel vom »Willen
zur Macht« zu sich selbst ermutigt. Es geschah, als ob Nietzsche
in der Art eines Psychotherapeuten zur kapitalistischen Gesellschaft gesagt
härte: »Vom Willen zur Macht seid ihr im Grund ja zerfressen,
also laßt es endlich offen heraus und bekennt euch zu dem, was ihr
ohnehin seid!« * - woraufhin die Nazis tatsächlich
dazu übergingen, »es« heraus zulassen, jedoch nicht unter
therapeutischen Bedingungen, sondern inmitten der politischen Realität.
* Eine Würdigung Nietzsches wird immer stark davon abhängen,
wie man den » Willen zur Macht« auffaßt. Ermunterung
zu imperialem Zynismus? Kathartisches Geständnis ? Ästhetisches
Motto ? Selbstkorrektur eines Gehemmten ? Vitalistischer Slogan?
Metaphysik des Narzißmus? Enthemmungspropaganda? |
Vielleicht war es Nietzsches theoretischer Leichtsinn, der ihn glauben
ließ, daß Philosophie sich in provokativen Diagnosen
erschöpfen dürfe, ohne zugleich verbindlich an Therapie
zu denken. Den Teufel darf nur beim Namen nennen, wer eine Abreaktion
für ihn weiß; ihn nennen (sei es Wille zur Macht, sei es Aggression
etc.) heißt, seine Realität anerkennen, sie anerkennen heißt,
sie »entfesseln«.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 387-390 |
Seit Heidegger ist, stark chiffriert, aber doch schon lesbar,
ein Abkömmling des antiken kynischen Impulses wieder dabei, zivilisationskritisch
ins soziale Geschehen einzugreifen; er führt letztendlich das moderne
Technik- und Herrschaftsbewußtsein ad absurdum. Vielleicht
nimmt man der Existentialontologie viel von ihrer anmaßenden Düsterkelt,
wenn man sle als phllosophlsche Eulenspiegelei versteht. Sie macht den
Leuten allerhand vor, um sie dahin zu bringen, wo sie sich nichts mehr
vormachen lassen; sie gibt sich furchtbar spröde, um das Emfachste
zu vermltteln. Ich nenne es: Kymsmus der Zwecke. Inspiriert vom Kynismus
der Zwecke könnte einem Leben wieder warm werden, das am Zynismus
der Mittel die Kälte des Machens, Herrschens und Zerstörens
erlernt hat. Die Kritik der instrumentellen Vernunft drängt darauf,
als Kritik der zynischen Vernunft zuendegeführt zu werden. In ihr
geht es darum, Heideggers Pathos zu entkrampfen und es von der Anklammerung
an das bloße Todesbewußtsein zu befreien. »Eigentlichkeit«,
wenn der Ausdruck überhaupt Sinn geben soll, erfahren wir eher in
Liebe und sexuellem Rausch, in Ironie und Gelächter, Kreativität
und Verantwortung, Meditation und Ekstase. Bei dieser Entkrampfung verschwindet
jener existentialistische Einzige, der am eigenen Tod sein eigenstes Eigentum
zu haben meint. Auf dem Gipfel des Seinkönnens erfahren wir nicht
nur den Weltuntergang im einsamen Tod, sondern mehr noch den Ich-Untergang
in der Hingabe an die gemeinsamste Welt.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 390 |
Zugegeben, der Tod hat zwischen den Weltkriegen die philosophische
Phantasie überschattet und das ius primae noctis mit dem Kynismus
der Zwecke für sich beansprucht, zumindest in der Philosophie. Doch
sagt es nichts Gutes über das Verhältnis der Existenzphilosophie
zur realen Existenz, wenn ihr nur der »eigene Tod« in den
Sinn kommt, wenn man sie fragt, was sie zum wirklichen Leben zu sagen
habe. Eigentlich sagt sie, daß sie nichts zu sagen hat - und zu
diesem Zweck muß sie nichts mit großem N schreiben. Dieses
Paradox kennnzeichnet die gewaltige Denkbewegung des Buches Sein und
Zeit: ein so großer Begriffsreichtum wurde kaum je eingesetzt,
um einen im mystischen Sinne so »armen« Inhalt zu transportieren.
Das Werk dringt auf den Leser ein mit einem pathetischen Aufruf zur eigentlichen
Existenz, hüllt sich aber in Schweigen, wenn man fragen wollte: wie
denn? Die einzige, allerdings fundamentale Antwort, die sich herausziehen
ließe, müßte, entschlüsselt (im obigen Sinne) lauten:
bewußt. Das ist keine konkrete Moral mehr, die Anweisungen
zum Tun und Lassen gibt. Aber wenn der Philosoph nichts mehr an Direktiven
zu geben vermag, so doch eine eindringliche Suggestion zur Eigentlichkeit.
Also: Du magst tun, was du willst, du magst tun, was du mußt; aber
tu es in einer Weise, daß du dir dessen, was du tust, intensiv bewußt
bleiben kannst. Moralischer Amoralismus - das letzte mögliche Wort
der Existentialontologie zur Ethik? Es scheint, das Ethos bewußten
Lebens wäre das einzige, das in den nihilistischen Strömungen
der Moderne sich behaupten kann, weil es im Grunde genommen keines ist.
Es erfüllt nicht einmal die Funktion einer Ersatzmoral (von der Art
der Utopien, die das Gute in die Zukunft legen und das Böse auf dem
Weg dorthin relativieren helfen). Wer wirklich im Jenseits von Gut und
Böse denkt, findet nur noch einen einzigen für das Leben belangvollen
Gegensatz, der zugleich der einzige ist, über den wir ohne idealistische
Überanstrengungen aus unserem eigenen Dasein heraus Macht haben:
den zwischen bewußtem und unbewußtem Tun. Wenn Sigmund Freud
in einer berühmten Forderung den Satz aufstellte: Wo Es war, soll
Ich werden, würde Heidegger sagen: Wo Man war, soll Eigentlichkeit
werden. Eigentlichkeit wäre - frei interpretiert - jener Zustand,
den wir erlangen, wenn wir in unserem Dasein ein Kontinuum der Bewußtheit
herstellen. (Dies ist ein modemes Äquivalent für das Delphische
Erkenne-Dich-Selbst. Das Freudsche Ich fällt eher ins Man. Ist der
Psychoanalysierte ein Angepaßter, Nivellierter?) Nur das bricht
den Bann der Unbewußtheit, unter dem menschliches Leben, zumal als
vergesellschaftetes, lebt; das zerstreute Bewußtsein des Man ist
dazu verurteilt, diskontinuierlich, impulsiv-reaktiv, automatisch und
unfrei zu bleiben. Das Man ist das Müssen. Demgegenüber erarbeitet
sich bewußte Eigentlichkeit - wir akzeptieren provisorisch diesen
Ausdruck - eine höhere Qualität von Wachheit. Sie legt in ihr
Tun den ganzen Nachdruck ihrer Entschiedenheit und Energie. Der Buddhismus
spricht davon in vergleichbaren Wendungen. Während das Man-Ich schläft,
ist das Dasein des eigentlichen Selbst zu sich erwacht. Wer sich selbst
in einem kontinuierlichen Wachsein erforscht, findet aus seiner Situation,
jenseits der Moralen, was für ihn zu tun ist.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 390-392 |
Wie tief Heideggers systematischer Amoralismus ** reicht,
zeigt sich an seiner Umdeutung des Begriffs Gewissen: er konstruiert,
zugleich vorsichtig und revolutionär, ein »gewissenloses Gewissen«.
** Dieser reflektierte Amoralismus, der paradoxerweise das stumme
Versprechen einer authentischen Sittlichkeit in sich trägt,
hat seinen Gegner im sozialistischen Moralismus gefunden. Auch die
jüngere kritische Theorie hat sich von dem sensibilistischen
Quasi-Amotalismus der ästhetischen Theorie Adornos losgesagt
und steuert in direkter Argumentation auf eine positive Ethik zu.
Das mag in gewisser Hinsicht einen Fortschritt bedeuten - wenn es
nur der Gefahr entgeht, hinter die radikale Modernität des
existentialistischen und ästhetischen Amoralismus zurückzufallen.
Dieser verarbeitet ja bereits die modernen Erfahrungen mit jeglicher
Moral und allen Kategorischen Imperativen: weil diese Formen des
»Sollens« in idealistischen Überanstrengungen enden,
gebiert die imperative Ethik ihre eigenen Totengräber - Skepsis,
Resignation, Zynismus. Der Moralismus treibt uns mit seinem Du-sollst
unweigerlich in ein Ich-kann-nicht. Der Amoralismus hingegen, der
vom Du-kannst ausgeht, rechnet realistisch mit der Chance, daß
das, was »ich kann«, am Ende auch das Richtige sein
wird. Die Wendung zur praktischen Philosophie, die jedes heutige
halbwegs weltgängige Grundlagendenken erfreulich auszeichnet,
darf uns nicht in Versuchung bringen, wieder mit einem kategorischen
Imperativ auf das Sein loszugehen. Kynische Vernunft entwickelt
daher eine nichtimperative Ethik, die zum Können ermutigt,
statt uns in die depressiven Komplikationen des Sollens zu verstricken |
Galt Gewissen in den Jahrtausenden der europäischen Moralgeschichte
als innere Instanz, die mir sagt, was Gut und Böse seien, so versteht
Heidegger es nun als ein leeres Gewissen, das keine Aussagen macht.
»Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens.«
(Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 273) Wieder erscheint
Heideggers charakteristische Denkfigur, die nichts-sagende Intensität.
Jenseits von Gut und Böse gibt es nur das »laute« Schweigen,
das in tensive nicht-urteilende Bewußtsein, das sich darauf beschränkt,
wach zu sehen, was der Fall ist. Gewissen - einst als inhaltliche moralische
Instanz verstanden - nähert sich nun dem puren Bewußt-Sein.
Moral, als Teilhabe an sozialen Konventionen und Prinzipien, betrifft
nur das Verhalten des Man. Als Domäne des eigentlichen Selbst bleibt
nur reines entschlossenes Bewußtsein zurück: vibrierende Präsenz.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 392-393 |
In einem pathetischen Gedankengang entdeckt Heidegger, daß
dieses »gewissenlose Gewissen« einen Aufruf enthalte, der
an uns ergeht - einen »Aufruf zum Schuldigsein«. Schuldig
woran? Keine Antwort. Ist »eigentliches« Leben in irgendeiner
Hinsicht denn a priori schuldig? Kehrt hier die christliche Erbsündenlehre
heimlich wieder? Dann hätten wir den Moralismus nur zum Schein verlassen.
Wenn aber das eigentliche Selbst sein als das Sein zum Tode beschrieben
wird, so liegt der Gedanke nahe, daß dieser »Aufruf zum Schuldigsein«
eine existentielle Verbindung herstellt zwischen dem eigenen Noch-am-Leben-Sein
und dem Tod der anderen. Leben als Sterbenlassen; der eigentlich Lebende
ist einer, der sich als Überlebenden versteht, als jemand, an dem
der Tod eben noch vorübergegangen ist und der den Zeitraum bis zur
erneuten, definitiven Begegnung mit dem Tod als Aufschub begreift.
In diese äußerste Grenzzone amoralischer Reflexion dringt Heideggers
Analyse sinngemäß vor. Daß er sich bewußt ist,
auf explosivem Boden zu stehen, verrät seine Frage: »Aufrufen
zum Schuldigsein, sagt das nicht Aufruf zur Bosheit?« Könnte
es eine »Eigentlichkeit« geben, in der wir uns als entschiedene
Täter des Bösen zeigen? So wie die Faschisten sich auf Nietzsches
Jenseits von Gut und Böse beriefen, um äußerst
diesseitig das Böse zu tun? Heidegger schreckt vor dieser Konsequenz
zurück. Der Amoralismus des »gewissenlosen Gewissens«
ist nicht als Aufruf zur Bosheit gemeint, so wird versichert. Immerhin
macht sich der Heidegger von 1927 noch diese ahnungsvolle Sorge, versäumte
aber 1933 den Augenblick der Wahrheit - und so ließ er sich von
der aktivistischen, dezisionistischen und heroischen Phrasenhülle
der Hitlerbewegung täuschen. Der politisch Naive glaubte, im Faschismus
eine »Politik der Eigentlichkeit« zu finden und gestattete
sich, ahnungslos wie nur ein ... Universitätsprofessor sein konnte,
eine Projektion seiner Philosopheme auf die nationale Bewegung.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 393-394 |
Doch es gilt zu sehen: Heidegger wäre, seiner zentralen,
Denkleistung nach, auch dann kein Mann der Rechten, wenn er politisch
noch verworrenere Sachen gesagt hätte, als es der Fall ist. Denn
er sprengte mit seinem, wie ich es nenne, Kynismus der Zwecke als erster
die utopisch-moralistischen Großtheorien des 19. Jahrhunderts. Er
bleibt mit dieser Leistung einer der Ersten in der Genealogie einer Neuen
und Anderen Linken: einer Linken, die sich nicht mehr an die hybriden
geschichtsphilosophischen Konstruktionen des 19. Jahrhunderts klammert;
die sich nicht im Stil der dogmatisch-marxistischen Großtheorie
(ich ziehe diesen Ausdruck dem Wort Weltanschauung vor) für die Komplizin
des Weltgeistes hält; die nicht auf die Dogmatik der industriellen
Entwicklung ohne Wenn und Aber eingeschworen ist; die die borniert materialistische
Tradition, die sie belastet, revidiert; die nicht nur davon ausgeht, daß
die anderen sterben müssen, damit die »eigene Sache«
durchkommt, sondern die aus der Einsicht lebt, daß es dem Lebendigen
nur auf sich selbst ankommen kann; die in keiner Weise mehr an dem naiven
Glauben hängt, Vergesellschaftung wäre das Allheilmittel gegen
die Mißstände der Modernität. Ohne es zu wissen und zum
guten Teil sogar ohne es wissen zu wollen (hierzulande sogar mit wütender
Entschlossenheit, es nicht wahrzuhaben), ist die Neue Linke eine existentialistische
Linke, eine neo-kynische Linke ich riskiere den Ausdruck: eine Heideggersche
Linke. Das ist, besonders im Land der Kritischen Theorie, die ein
schier undurchlässiges Tabu über den »faschistischen«
Ontologen verhängt hat, ein ziemlich pikanter Befund. Doch wer hat
die Abstoßungsvorgänge zwischen den existentialistischen Richtungen
und der links-hegelianischen kritischen Sozialforschung gründlich
und genau untersucht? Gibt es nicht eine Fülle geheimer Ähnlichkeiten
und Analogien zwischen Adorno und Heidegger? Welche Gründe beherrschen
die augen fällige Kommunikationsverweigerung zwischen ihnen? (Dieser
Fragen hat sich jüngst Hermann Mörchens große Studie über
Heidegger und Adorno angenommen.) Wer könnte sagen, welcher von beiden
die »traurigere Wissenschaft« formuliert hat?
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 394-396 |
Wir haben den Zynismusbegriff bisher in zwei Fassungen vorgetragen,
und eine dritte zeichnet sich nach dem Kabinett der Zyniker ab. In der
ersten heißt es: Zynismus ist das aufgeklärte falsche
Bewußtsein - das unglückliche Bewußtsein in modernisierter
Form. Der Ansatz ist hierbei ein intuitiver, bei einem Paradox beginnend;
er artikuliert ein Unbehagen, das die moderne Welt durchtränkt sieht
von kulturellen Wahnwitzigkeiten, falschen Hoffnungen und deren Enttäuschung,
vom Fortschritt des Verrückten und vom Stillstand der Vernunft, von
dem tiefen Riß, der durch die modernen Bewußtseine geht und
der für alle Zeiten das Vernünftige und das Wirkliche, das,
was man weiß, und das, was man tut, voneinander zu trennen scheint.
Bei der Beschreibung gelangten wir zu einer Pathographie, die schizoide
Phänomene abtastete; sie versuchte, Worte zu finden für die
pervers komplizierten Strukturen eines reflexiv gewordenen, fast mehr
tristen als falschen Bewußtseins, das unter Zwängen der Selbsterhaltung
in einem permanenten Selbstdementi abgewirtschaftet weiterwirtschaftet.
In der zweiten Fassung bekommt der Begriff Zynismus
eine historische Dimension; eine Spannung zeigt sich, die in der antiken
Zivilisationskritik unter dem Namen Kynismus erstmals Ausdruck gefunden
hatte. der Drang von Individuen, gegen die Verdrehungen und Halbvernünftigkeiten
ihrer Gesellschaften sich selbst als vollvernünftig-lebendige Wesen
zu erhalten, Dasein im Widerstand, im Gelächter, in der Verweigerung,
in der Berufung auf die ganze Natur und das volle Leben .... Den Begriff
Zynismus reservieren wir für die Replik der Herrschenden und der
herrschenden Kultur auf die kynische Provokation; sie sehen durchaus was
Wahres daran, fahren aber mit der Unterdrückung fort. Sie wissen
von nun an, was sie tun. Der Begriff erfährt hier eine Aufspaltung
ins Gegensatzpaar: Kynismus - Zynismus, das sinngemäß korrespondiert
mit Widerstand und Repression, genauer: Selbstverkörperung im Widerstand
und Selbstspaltung in der Repression. Vom historischen Ausgangspunkt wird
damit das Phänomen Kynismus abgelöst und zum Typus stilisiert,
der historisch immer wieder auftaucht, wo in Krisenzivilisationen und
Zivislisationskrisen die Bewußtseine aufeinanderstoßen. Kynismus
und Zynismus sind demnach Konstanten unserer Geschichte, typische Formen
eines polemischen Bewußtseins »von unten« und »von
oben«. In ihnen kommt das Widerspiel von Hoch- und Volks-Kulturen
als die Enthüllung der Paradoxien im Innern der hochkulturellen Ethiken
zur Entfaltung. Hier wird nun die dritte Fassung
des Zynismusbegriffs weitergehen zu einer Phänomenologie polemischer
Bewußtseinsformen. Die Polemik dreht sich allemal um die richtige
Erfassung der Wahrheit als »nackter« Wahrheit. Das zynische
Denken nämlich kann nur erscheinen, wo von den Dingen zwei Ansichten
möglich geworden sind, eine offizielle udn eine inoffizielle, eine
verhüllte und eine nackte, eine aus der Sicht der Helden und eine
aus der Sicht der kammerdiener. In einer Kultur, in der man regelmäßig
belogen wird, will man nicht bloß die wahrheit wissen, sondern die
nackte Wahrheit. Wo nicht sein kann, was nicht sein darf, muß
man herausbringen, wie die »nackten« Tatsachen ausehen, egal,
was die Moral dazu sagen wird. In gewisser Weise sind »herrschen«
und »lügen« synonyme. Herrscherwahrheit und Dienerwahrheit
lauten verschieden. In dieser phänomenologischen Sichtung streitbarer
Bewußtseinsfromen müssen wir die Parteinahme zugunsten des
kynischen Standpunktes »aufheben« ....
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 399-401 |
Ich plädiere für eine Fortsetzung des phänomenologischen
Weges.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 601 |
Die Neugier nach den Gründen der Neugier sucht - auch sie
sucht (!) - nach Aufklärungen über die Aufklärung und muß
sich darum ihrerseits nach den Gründen ihrer Neugier befragen lassen.
Gegenaufklärerische Neigungen? Reaktion? Unbehagen in der Aufklärung?
Wir wollen wissen, was es mit dem Wissenwollen auf sich hat. Zuviel »Wissen«
gibt es, von dem man aus den verschiedensten Gründen wünschen
dürfte, wir hätten es nicht gefunden und keine »Aufklärung«
darüber gewonnen. Unter den »Erkenntnissen« sind allzu
viele angsterregende. Wenn Wissen Macht ist, so begegnet uns heute das
einstige Unheimliche, die undurchschaute Macht in der Form von Erkenntnissen,
von Transparenz, von durchschaubaren Zusammenhängen. Wenn einst Aufklärung
- in jedem Wortsinn - der Angstminderung durch Mehrung von Macht diente,
so ist heute ein Punkt erreicht, wo Aufklärung in das einmündet,
was zu verhindern sie angetreten war, Amngstmehrung. Das Unheimliche,
das abgewendet werden sollte, kommt aus dem Schutzmittel wieder zum Vorschein.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 602-603 |
Rationalismus und Mißtrauen sind verschwisterte Impulse,
beide eng mit der gesellschaftlichen Dynamik der aufsteigenden Bourgeosie
und des neuzeitlichen Staates verbunden. Im Ringen verfeindeter und konkurrierender
Subjekte und Staaten um Selbsterhaltung und Hegemonie wird eine neue From
von Realismus hervorgetrieben - eine, die ihren Motor in der Sorge besitzt,
Opfer von Täuschung oder Überwältigung zu werden. Alles,
was uns »erscheint«, könnte ja ein Täuschungsmanöver
eines überwältigenden, bösen Feindes sein. Descartes geht
in seinem Zweifelsbeweis bis zu der monströsen Erwägung, es
möchte vielleicht die ganze Erscheinungswelt nur ein zu unserer Täuschung
berechnetes Blendwerk des genius malignus sein.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 603 |
Aufklärung besitzt in ihrem Kern einen polemischen Realismus,
der den Erscheinungen den Krieg erklärt: nur noch die nackten
Wahrheiten, die nackten Tatsachen sollen gelten. Denn die Täuschungen,
mit denen der Aufklärer rechnet, werden als zwar raffinierte, aber
doch durchschaubare, entlarvbare Manöver eingeschätzt. Verum
et fictum convertuntur. Die Täuschungen sind durchschaubar, weil
sie selbstgemacht sind. Was sich in dieser Welt von selbst versteht, sind
Betrogenwerden, Drohung, Gefahr, nicht Offenheit, Angebot, Sicherheit.
Wahrheit ist also nie »einfach so« zu haben, sondern nur im
zweiten Anlauf, als Produkt der Kritik, die zerstört, was zuvor der
Fall zu sein schien. Wahrheit wird nicht harmlos und kampflos »entdeckt«,
sondern errungen in einem mühseligen Sieg über ihre Vorgänger,
die ihre Maskierung und ihr Gegenteil sind. Die Welt platzt aus den Nähten
vor Problemen, Gefahren, Täuschungen und Abgründen, sobald der
Blick mißtrauischer Forschung sie durchdringt.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 603-604 |
Wir folgten im Groben der Reihe der Kardinalzynismen, um
in sechs Schritten die wesentlichen Manifestationen und Dimensionen von
»Aufklärung« asl polemischer Empirie abzuhandeln: Krieg
und Spionage; Polizei und Aufklärung im Klassenkampf; Sexualität
und Selbstverfeindung; Medizin und Krankheitsverdacht; Tod und Metaphysik;
Naturwissenschaft und Waffentechnik. Daß diese polemische Phänomenologie
einen Zirkel vom Kriegswissen zur Naturwissenschaft von der Waffe schlägt,
ist nicht zufällig; wir bereiten hier »Transzendentale Polemik«
des nächsten Abschnitts vor; sie beschreibt, wie hinter einer Reihe
von Neugierden Kampfzwänge wirken, die die »Erkenntnisinteressen«
steuern. In dieser Phänomenologie vollziehen wir die charakteristischen
Tastbewegungen einer sich selbst noch suchenden »Vollmoderne«,
die es lernt, die Produktivität des cartesischen Zweifels zu bezweifeln
und den Maßlosigkeiten des aufkläreroischen Mißtrauens
zu mißtrauen.
Peter
Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1983, S. 604-605 |
Wäre unser Leben ein normales endliches
Buch, so verbleiben bei ihm ... zwischen dem vorderen Einband und der
Stelle, wo wir für uns selbst zu reden beginnen ein Bündel nicht
aufzuschlagender Seiten. Das besagt nichts anderes, als daß für
Menschen, als endlich sprechende Wesen, der Seinsanfang und der Sprachanfang
unter keinen Umständen zusammenfallen. Denn fängt die Sprache
an, so ist das Sein schon da; will man mit dem Sein beginnen, versinkt
man im schwarzen Loch der Sprachlosigkeit.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
38 |
Ich war schon zur Zeit meines Universitätsstudiums stark
angezogemn vom Werk Wilhelm Diltheys, eines der Begründer der modernen
Geisteswissenschaften. Dilthey war nicht nur der große Denker der
geschichtlichen Tatsachen, der es sich vorgenommen hatte, eine Kritik
der historischen Vernunft zu schaffen; er war auch der erste bemerkenswerte
Theoretiker der Autobiographie. Dilthey ging an der Autobiographie ein
philosophisches Problem ersten Ranges auf. Sehr vereinfacht gesprochen:
Er gab sich auf die Frage: wie ist historische Erkenntnis überhaupt
möglich? die Antwort: so wie autobiographische Selbstkenntnis möglich
ist.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
40 |
Ich komme auf die Idee einer radikalen Autobiographik zurück
und erinnere an das Pathos des Zuständigseins für das ganze
eigene Leben. einschließlich seiner dunklen Anfangsprägungen.
.... Ist nicht die Anfangsvergessenheit, die fast alle natürlich
vorkommenden Formen von Selbstbewußtsein prägt, selbst eine
Tatsache, die im höchsten Grad zu denken geben müßte?
Ist nicht die Enteignung des Selbstbewußtseins von seinem Beginn
nicht auch ein verräterisches Faktum, das auf ein Fehlen deutet und
so eloquent ist wie das Schweigen, mit denen in manchen Familien die Existenz
gewisser Verwandter umgeben wird? Ich muß, wenn ich die Idee der
Autobiographie an ihrer dunkelsten Stelle verteidigen will, daran festhalten,
daß mein realer Seinsanfang zu mir gehört, auch wenn mein Erzählenkönnen
nicht an ihn heranreicht.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
49 |
Erst wenn er (Sokrates)
selbst es soweit gebracht hat, keine Meinungen und keine Theorien mehr
in die Welt zu setzen, kann er die Aufgabe übernehmen, die Meinungsschwangeren
und Theoriegeblähten zu entbinden.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
83 |
Damit die Seele zur Welt und unser Bestes zu sich und anderen
komme, dürfen sich keine bestimmenden Vorstellungen und keine positiven
Überzeugungen in ihr eingenistet haben. Um solchen Einnistungen auf
die Spur zu kommen, verfährt die sokratische Maieutik konsequent
aufdeckend und destruktiv. Ihr Ziel ist es, die Gesprächspartner
in den Lichthof eines allbefassenden hellen Nichtwissens zu führen
und sie zum Gewahrwerden der Unhaltbarkeit und Überflüssigkeit
aller vorgefundenen fixen Meinungen zu bringen. .... Für diesen Vorgang
(des Wissens, als wüßte man nicht)
halten die Ideenhistoriker die mißverständliche Redensart vom
Wissen des Nichtwissens bereit, durch die der Akzent auf Wissen sich wiederum
einschleicht ....
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
85-86 |
Die Geburtshilfe für die Seele wird
dadurch wirksam, daß diese mit Hilfe von Widerlegungen und Beschämungen
in ausweglose Lagen gebracht wird, durch die sie in den Schwebezustand
des Nichtwissens zurückfällt. Wenn der Denkende nicht mehr ein
noch aus weiß, ist er nicht mehr weit von der Weisheit. Paradoxerweise
kommt die Seele der Denkenden nur dann rein zur Welt, wenn sie in eine
fötale Negativität versetzt wird, in der sich keine weltseitigen
Meinungen festhalten können. Die Maieutik ist somit ein Fötalisierungsverfahren
(wie negativ müssen dann erst die Embryonisierungs-
und Zygotisierungsverfahren sein? Anm. HB).
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
86 |
Während die positiven Argumentationen im besten Fall heiße
Köpfe machen, im schlimmsten zum Krieg führen, erzeugt der Durchbruch
durch die Schale der Positivität eine integrale Erinnnerung an die
Wehen. Denn man muß erst an der Barriere der Geburtsvergessenheit
vorbeidenken und -fühlen, ehe sich das fötale Kontinuum auch
im taghellen bewußten Leben wiederherstellt. Über die Art von
Schülern, die sich ins Abenteuer der erotischen Anamnesis tief einlassen,
weiß Sokrates mit Kennerschaft zu sagen: »darin ergeht
es denen, die mit mir umgehen wie den Gebärenden: sie haben nämlich
Wehen und wissen sich nicht zu lassen bei Tag und Nacht, weit ärger
als jene. Und diese Wehen kann meine Kunst erregen sowohl als stillen«
(Platon, Sämtliche Werke, II, S. 572 ff., Übersetzung:
Friedrich Schleiermacher). Die mit mir umgehen - das enthält
einen Hinweis auf die Besonderheit des philosophischen Rapports, in dem
sich der Psychagoge wie ein Psychoanalytiker ante litteram als
Spezialist für unmögliches Begehren profiliert. Weit ärger
als jene - das deutet an, daß in den Wehen der Frauen nur ein
Teil der Qualen auftritt, die sich einstellen können, wenn in der
Bewußtseinsnot der männlichen Erwachsenen das Zurweltkommen
sich im ganzen und wie von innen her reproduziert. Während Frauen
(in der Regel!) seit jeher zum Zurweltbringen
von Kindern Zuflucht nehmen konnten ..., ist das männliche Bewußtsein
vom Zwang, selbst zur Welt zu kommen, gekennzeichnet.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
87 |
In der Hochkultur ist die Lage der Söhne allemal aussichtsreich
ausweglos - im übrigen zeigt sich erst heute auch die Tragödie
der Schwestern, seit die Frauen ihrerseits anfangen, sich der Unmöglichkeit,
eine Tochter zu sein, zu stellen.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
93 |
Der sich ins helle Nichtwissen zurücknehmende
sokratische Weise übt erwachsen-kindliche Enthaltung von der Verursachung
neuer weltlicher Wirkungsketten. Seine Negativität hat keinen anderen
Sinn als den, die Seele aus der positivierten Welt als dem Schauplatz
des Krieges zwischen Identitäten zurückzuziehen. Seine Weisheit
ist die eines profanen Weltvorbehalts. Dieser appelliert jedoch an kein
Jenseits, keine Transzendenz, sondern an die Fülle der Negativität,
die zu den Geburtsrechten jedes Individuums gehört. Die sokratische
Differenz zum Verblendungs- und Gewaltzusammenhang der positiven Meinungen
wird nicht durch Lebensverzicht gewonnen, sondern durch die Erkenntnis,
daß das für uns Beste nicht auf der Linie des Wissens, Wollens
und Könnens liegt, sondern in der Zuwendung zu dem allbefassenden
Nichtwissen, in dem auch das Können und Wollen zur Ruhe und zur Schwebe
finden. Für Sokrates steht darum der Wg der Negativität allein
noch offen.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
93-94 |
Die Idee des Weltvorbehalts selbst, die, um philosophisch zu gelten,
keine theologische sein darf, hängt ... ebenso in der Luft wie die
Kriterien von Dissidenz und Konstruktivität, von Verweigerung und
Teilhabe.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
95-96 |
Hier denkt Heidegger letztlich revolutionärer
als die offiziellen Revolutionäre.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
122 |
Was
die Weitergabegewalten zuletzt immer über den Geist der Freisprüche
siegen läßt, ist die Positivierung der Versprechen und die Nationalisierung
der Universalien. Eben dies ist das Prinzip der magischen Nationen, die Oswald
Spengler entdeckt und benannt hat - und die man auch Taufnationen oder Religionsnationen
nennen könnte. .... Aus dem positven Besitz der unbesitzbaren Befreiungssprachen
ist in allen Hochkulturen ein Übermaß an Unheil erwachsen. Es könnte
wohl sein, daß durch positivierte Erlösungsideen und Befreiungsversprechen
mehr Leid in der Welt hervorgerufen wurde, als vor dem Auftreten solcher Ideen
vorhanden war.
Peter
Sloterdijk, Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen, 1988, S.
172-173 |
Es
ist anthropologisch falsch, davon auszugehen, daß der Mensch ein Individuum
ist; er ist ein historisches Tier; er ist ein Paarwesen. .... Ich sage, Individuen
gibt es nicht, sondern es gibt nur Beziehungen. Es gibt keine Individuen!Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998 |
Der
Mensch ist ein Wesen, das immer von seinem Alliierten her gedacht werden muß
und nicht nur von seinem Selbsterhaltungsimpuls.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998 |
Es
gibt keine Individuen, es gibt nur Paare und ihre Entfaltungen. Und dann hat man
ein anderes Rechtssubjekt, und man hat dann nur Gruppen - die Minimalgruppe ist
das Paar. Dann kommt man zu einer ganz anderen Beschreibung des Rechtssubjekts;
... die Rechte entstehen aus der Tatsache, daß man an etwas teilhat.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998 |
Ich
glaube, das moderne Recht ist der intimste Partner des modernen Individualismus
und von daher auch Handlanger dieser entsetzlichen Auswüchse, die der Kapitalismus
in seinen übelsten Gestalten weltweit hervorruft.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998 |
Der
vorliegende Rechenschaftsbericht vom Anfang und Gestaltwandel der Sphären
ist unseres Wissens der erste Versuch, nach ... Oswald Spenglers ... Morphologie
der Weltgeschichte wieder einem Formbegriff eine höchstrangige Stellung
in einer anthropologischen und kulturtheoretischen Untersuchung zuzuweisen.Peter
Sloterdijk, Sphären I - Blasen, 1998, S. 78 |
Wir
kommen in einen mörderischen Anthropozentrismus hinein, der letztlich selbstmörderisch
ist .... Und es stellt sich heraus, daß letzten Endes auch unter dem Schein
der Allgemeinheit die modernen Menschenrechte Privilegien gewesen sind: es waren
wieder Gattungsprivilegien, die nun in Form einer ermächtigten Herrengattung
gegenüber dem Rest der Natur durchgesetzt werden, und das führt notwendigerweise
in einer vernetzten Welt zu einer selbstmörderischen Entwicklung.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998 |
Es
macht einen ungeheuren Unterschied - das geht bis zu der notwendigen Neuformulierung
der Menschenrechte hin -, ob man in einem Verwüstungsprozeß lebt oder
in einem Schonungsvorgang. .... Der Ausdruck Schonungen in dieser Verwendung geht
übrigens auf Martin Heidegger zurück - ein Ausdruck, der den Vorzug
hat, daß er Philosophen und Förster gleichzeitig zufrieden stellt und
dabei sehr schön zum Ausdruck bringt, worum es geht: Menschen können
sich auf der Erde nicht aufhalten, wenn sie nicht zugleich Verantwortung nehmen
für die Biotope, in denen sie angesiedelt sind - ... sie müssen sich
zur Schonung bekennen ..., sie können anfangen, als neue Nomaden über
die Oberflächen hinwegzuziehen, ... aber sie müssen auch wieder lernen
zu wohnen, und im Wohnen ist natürlich der Imperativ, Schonungen anzulegen,
mitenthalten und damit, die Wüstungen zu korrigiere.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: 45. Baden-Badener Disput, 1998 |
Alle primären kulturellen
Einheiten lassen sich nur als sich selbst erzeugende morphogenetische
Prozesse verstehen. Das unmittelbare Projekt jeder Gemeinschaft ist die
fortgesetzte Selbstbergung der Gruppe in ihrer morphologischen Hülle:
Alle konkreten »Gesellschaften«, die primitiven wie die komplexen,
sind sphäro-poietische Projekte. Die Feststellung ist trivial, daß
die weitaus größte Zahl der Sphärenbildungen in der Geschichte
der menschlichen Gattung kleine clanartige und stammeskulturelle Ensembles
geblieben sind, von denen nur wenigen die Fortbildung zu ethnischen Gebilden
mittleren Formats gelingt - tatsächlich ist schon ein Volk
ein morphologischer Effekt, der, von den Hordenanfängen her gedacht,
ans Unmögliche grenzt, denn er setzt die kulturelle und meist auch
politische Synthesis von Tausenden von Horden (nunmehr: Familien oder
Geschlechtern) voraus. Nur in den seltensten Fällen sind diese Gebilde,
über Volkseinheiten hinausgehend, zu Makrosphären höchster
Ordnung herangewachsen - daß heißt zu Stadtstaaten und multi-ethnischen
Imperien, im Sinne von Spengler ... sogar zu »Kulturen«, die
sich politisch und ontologisch die Form von Welten zu geben vermochten.
Der Ausdruck Welt bezeichnet dann nicht »alles, was der Fall ist«,
sondern alles, was von einer Form oder einer gewußten Grenze
enthalten werden kann.
Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 200-201 |
Wenn
Gunnar Heinsohn ... die jüdische Kontraktualisierung der nachsintflutlichen
Natur durch den Bund als Zeichen eines »kosmischen Optimismus« charakterisieren
zu dürfen glaubt, so gehört dies zu den merkwürdigen Bildern, die
ein hilfloser Philosemitismus zu treiben imstande ist.Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 256 |
Ein
Gestalt-Historiker Spenglerschen Typs, der die Stadt als von Grund auf erstaunliche
Erscheinung betrachtet, müßte ein Phänomenologe sein, der die
begnadete Angst eines Denkens von außen auf sich nimmt - hierin ist Spengler
der unmittelbare Vorgänger von revolutionären Strukturhistorikern wie
Foucault, Deleuze und Guattari. Wenn er vorschlägt, sich zurückzuversetzen
in das Staunen des Frühmenschen, der das unfaßbare Riesengehäuse
mit seinen Mauern und Türmen am Horizont aufragen sieht, so folgt er der
Intuition, daß die Wahrheit über alles, was im äußeren Raum
erscheint, nur durch eine initiatische Raum-Angst erfahren werden kann. Diese
Angst schlägt die Brücke zwischen archaischer Welt und Moderne, weil
sie den zu keiner Zeit ganz absorbierbaren Überschuß der Ekstase über
die Geborgenheit bezeugt. Wird dieser Überschuß für die Theorie
fruchtbar gemacht, so liegt das Feld des genuin modernen Denkens offen. In dem
Maß, wie Spengler aus diesem Überschuß oder dieser Ekstase -
man könnte auch schlichter sagen aus dieser Unsicherheit - denkt, ist seine
Zugehörigkeit zum Abenteuer des wesenhaft zeitgenössischen Denkens unbestreitbar.
Die Sehkraft, die er in seiner Kulturen-Phänomenologie aufbietet, entstammt
der Erfahrung entsicherten Existierens in einer überdehnten, nie mehr im
ganzen heimatlich verklärbaren Welt.Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 267-268 |
Spenglers
Morphologie der Weltgeschichte hat ihr philosophisches Momentum in einer Theorie
der schöpferischen Raum-Angst, die den Menschen der Hochkulturen eine Offenbarung
der dritten Dimension als »Tiefe«, das heißt als Herkunftsraum
des Unumgänglichen, gewährt. Der kühle Morphologe und sein Schatten,
der dem verstörten Urmenschen ähneln will, sollen sich einig werden
in einem Staunen, das in Wahrheit ein Nicht-ganz-glauben-Können, ein Entsetzen
ist. Tatsächlich, was wäre eine mit Urmenschen-Augen angeschaute Stadt
vom Typus der mesopotamischen Gott-Königs-Metropolen anderes als eine Erläuterung
zu der These, daß in den Hochkulturen das Ungeheure als Menschenwerk in
Erscheinung tritt? Und was sind diese Gehäuse von seltsamster Form,
von außen gesehen, anderes als Bergungsmaschinen, mit denen Menschen ihre
spezifische Offenbarung von Weltangst abgearbeitet und ihrem Willen zum Nicht-außen-Sein
monströse Denkmäler errichtet haben?Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 268 |
Spenglers
Schritt zurück vor die Stadt hat also nichts zu tun mit neuzeitlicher Zivilisationskritik,
auch nichts mit dem anti-babylonischen Ressentiment der Juden, das von den Christen
kopiert wurde und seit der Marginalisierung des Christentums als anonymes Ferment
in der Niveaumüdigkeit der Gegenwartskulturen allgegenwärtig umherspukt.
Er bedeutet vielmehr einen Akt der theorie-ermöglichenden epoché
im Hinblick auf ein kaum noch distanzierbares Milieu und dient der Abstandnahme
des Denkenden von den Blendungen des immer schon städtisch gelebten Lebens,
mitsamt seinen unthematisierten Ansprüchen an Selbsterhöhung, Raumangst-Überwindung,
Entlastung und Reizzufuhr. Die Theorie der Stadt kann nur beginnen mit der Entwöhnung
von den Verwöhnungen, die durch die Stadt erst möglich geworden sind.
Die Stadt denken heißt also über das verwöhnende Wohnen in ihr
so reflektieren, als könnte man anderswo als in ihr zu Hause sein, ja, als
ließe sich das Verlangen, überhaupt irgendwo Wurzeln zu schlagen, im
ganzen einklammern. Wohnen, als wohnte man nicht. Leben, als hätte man weder
Haus noch Stadt im Rücken. Denken wie im freien Fall.Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 269 |
»Ausdehnung
ist alles« - Oswald Spengler hat diesen Satz zum Axiom der zivilisatorischen
Epochen erklärt: »Expansion ist ein Verhängnis, etwas Dämonisches
und Ungeheures, das den späten Menschen des Weltstadiums packt, in seinen
Dienst zwingt und verbraucht ....«Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 850 |
Es
ist dies ein Typus, der in der neuen Eigentums- und Geldwirtschaft die Erfahrung
gewonnen hat, daß Schaden zwar klug macht, doch Schulden klüger. Die
Schlüsselfigur des neuen Zeitalters ist der »Schuldner-Produzenten«
- besser bekannt unter dem Begriff Unternehmer -, der seine Geschäftsverfahren,
seine Meinungen und sich selbst fortwährend flexibilisiert, um mit allen
erlaubten und unerlaubten, erprobten und unerprobten Mitteln an die Gewinne zu
kommen, die ihn befähigen, aufgenommene Kredite rechtzeitig zu tilgen. Diese
Schuldner-Produzenten geben der Idee der geschuldeten Schuld eine revolutionäre,
neuzeitliche Bedeutung: Aus einem moralischen Makel wird ein ökonomisch sinnvolles
Anreizverhältnis. Ohne die Positivierung von Schulden kein Kapitalismus.
Die Schuldner-Produzenten sind es, die das Rad der permanenten Geldrevolution
in der »Bourgeois-Epoche«zu drehen beginnen. (Die
Bestimmung des Unternehmens als Schuldner-Produzent verdanken wir
Gunnar Heinsohn und Otto Steiger, die mit ihrem Buch Eigentum, Zins und Geld
[1996] ein suggestives Modell für die Erklärung der Innovationsdynamik
der neuzeitlichen Wirtschaft als Eigentumswirtschaft vorgelegt haben.).
Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, daß die Erde um die Sonne, sondern
das Geld um die Erde läuftPeter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 855-856 |
Wer
übernähme die Verteidigung Leopolds II. von Belgien, der seine Privatkolonie
Kongo in das »schlimmste Zwangsarbeitslager der Neuzeit« (Peter Scholl-Latour)
verwandelt hatte - mit zehn Millionen Massakrierten?Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 947 |
Vielleicht
ist die Globalisierung, wie die Geschichte überhaupt, das Verbrechen, das
nur einmal begangen werden kann.Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 950 |
Die
neuen Immunitätstechniken empfehlen sich als Existentialstrategien für
Gesellschaften aus Einzelnen, bei denen der Lange Marsch ... zum Ziel geführt
hat - zur Grundlinie des von Spengler richtig prophezeiten Endes jeder Kultur:
jenem Zustand, in dem es unmöglich ist, zu entscheiden, ob die Einzelnen
außergewöhnlich fit oder außergewöhnlich dekadent sind.
enseits dieser Linie verlöre die letzte metaphysische Differenz, die von
Nietzsche verteidigte Unterscheidung von Vornehmheit und Gemeinheit, ihre Kontur,
und was am Projekt Mensch hoffnungsvoll und groß erschien, verschwände
wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.Peter
Sloterdijk, Sphären II - Globen, 1999, S. 1004-1005 |
Die
Kritische Theorie ist tot.Peter
Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.09.1999, S. 35 |
Die
Sonne ist der absolute Sponsor; und deswegen muß ein Aufklärer die
Sonne nachahmen, weil eine Aufklärung, die mehr nimmt als gibt, letzten Endes
gar keine ist - mit anderen Worten: Aufklärung ist nur als angewandte Großzügigkeit
möglich.Wenn
ich von Selbstversuch spreche, denke ich an ... die homöopathische
Bewegung, die auf Samuel Hahnemann zurückgeht. Dieser erstaunliche Kopf hat
im Jahr 1796 ... erstmals das Primzip des effektiven Heilmittels formuliert. Zudem
war er einer der ersten Heiler, die auf die moderne Ungeduld der Patienten mit
adäquaten ärztlichen Angeboten zukamen. Seiner Überzeugug nach
bestand für den Arzt die Notwendigkeit, sich selbst mit allem zu vergiften,
was er später den Kranken zu verordnen gedenkt. Von dieser Überlegung
stammt das Konzept des Selbstevrsuchs: Wer Arzt werden möchte, muß
Versuchstier sein wollen.Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S.
8 |
Der tiefere Grund für diese Wendung
zum Experimentieren am eigenen Leib ist in der romantischen Idee des aktiven Bezugs
zwischen Bild und Sein zu finden. Hahnemann war der Ansicht, daß die Wirkungen
der Dosis beim Gesunden und beim Kranken sich spiegelbildlich zueinander verhalten.
Dem liegt eine anspruchsvolle Semiotik des Arzneimittels zugrunde: Der große
optimistische Gedanke der romantischen Medizin, zu der die Homöopathie wesentlich
gehört, besteht ja darin, daß eine Abbildbeziehung zu unterstellen
sei zwischen dem, was die Krankheit als Phänomenganzheit ist, und den Effekten,
die ein pures Mittel am gesunden Körper hervorruft. Die Homöopathie
denkt auf der Ebene einer spekulativen Immunologie. Und insofern Immunprobleme
immer mehr ins Zentrum der künftigen Therapeutik und Systemik rücken
werden, haben wir es mit einer sehr aktuellen Tradition zu tun, obschon die Wirkungsweise
der homöopathischen Dosen weiterhin im dunkeln bleibt.Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S.
8-9 |
So gesehen gehört die Formulierung
meines Buchtitels eher in die Traditon der romantischen Naturphilosophie, genauer
der deuschen Krankheitsmetaphysik, als in die Linie der französischen Diskurse
über den zerstückelten Körper. Aber mehr noch geht er natürlich
auf Nietzsche zurück, der gelegentlich mit homöopathischen und häufig
mit immunologischen Metaphem gespielt hat. Nicht umsonst läßt Nietzsche
seinen Zarathustra zur Menge sagen: »Ich impfe Euch mit dem Wahnsinn«;
auch das ominöse »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«,
hat einen durch und durch immuntheoretischen Sinn. Nietzsche sah sein ganzes Leben
als eine Impfung mit Dekadenzgiften an und versuchte, seine Existenz als integrale
Immunreaktion zu organisieren. Er konnte sich nicht mit der gepanzerten Harmlosigkeit
des letzten Menschen abfinden, durch die sich dieser gegen die Infektionen der
Zeitgenossenschaft und der Geschichte abschirmt. Daher trat er in seinen Schriften
als ein Provokationstherrapeut auf, der mit gezielten Vergiftungen arbeitet. Diese
Konnotationen klingen in meinem Titel mit.Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S.
9 |
Was Kritische Theorie im Habermas-Stil
eigentlich ist und seit seit jeher war: der Entwurf einer Zivilreligion für
die deutsche Nachrkriegsgesellschaft auf der Basis eines intersubjektiven Idealismus.
Zivilreligionen sind Entwürfe für erwünschte Illusionen.Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S.
64 |
Zunächst sind Menschen einbezogen
in eine bipolare Sphäre, einen intim getönten Beziehungsraum, den es
nur geben kann kraft der Zugehörigkeit und der Zugewandtheit von Zusammenlebenden
zueinander - einen Nähe-Raum also, den man kaum bemerkt, solange man ihm
angehört, und den man vermißt, wenn man ihn verloren hat. Damit Sphären
als solche auffallen, müssen sie zerplatzt sein, und erst als verlorene werden
sie theoriefähig.Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S.
143 |
Mir geht es ... darum, Menschen als
Teile eines akuten Beziehungsgeheimnisses zu beschreiben. Darum sage ich, es gibt
keine Individuen, sondern nur Dividuen es gibt die Menschen nur als Partikel
oder Pole von Sphären.Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S.
144 |
Ich lasse die ganze Ontologie mit der
Zwei-Zahl beginnen. .... Der Spuk fällt weg, wenn wir mit der Zwei beginnen.
Mit dem Denken der Zwei beziehe ich den Standpunkt einer minimalpluralistischen
Ontologie. Was ich die Sphäre nenne, ist von Anfang an nur als dyadische
Form, als Zweieinigkeitsstruktur gegeben.Peter
Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S.
147 |
Man muß das Vorurteil überwinden, das in den Köpfen
des veralteten Kritizismus festsitzt, das Interesse am Raum sei konservativ
und gegenmodern, das an der Zeit dagegen progressiv und emanzipatorisch.
Peter
Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 256 |
Skepsis ist der Habitus, das Überzogene am Gewöhnlichen
auflaufen zu lassen und endgültige Ergebnisse stets als vorläufige
hinzustellen. .... Anders als der Kritizismus, der an Herabsetzungen interessiert
bleibt, hegt die Skepsis Sympathien für Übertreibungen aller
Art, im Bewußtsein, ihnen nicht erliegen zu müssen. Die Voraussetzung
hierfür schafft der freie Geist, der zur Verführung Abstand
hält.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 263, 273 |
Das Projekt »Sphären« läßt sich auch
als Versuch verstehen, das in Heideggers Frühwerk subthematisch eingeklemmte
Projekt Sein und Raum - in einem wesentlichen Aspekt zumindest
- aus seiner Verschüttung zu bergen. Wir sind der Meinung, daß
von Heideggers Interesse an Verwurzelung durch eine Theorie der Paare,
der Genien, der ergänzten Existenz soviel zu seinem Recht kommt,
wie überhaupt von ihm gerettet werxden kann.
Peter
Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001,
S. 403 |
Die
Luxusviktimologien beruhen auf der Entdeckung, daß die moralische Sensibilität
der Öffentlichkeit in der Superinstallation eine symbolische Ressource ist,
die sich materiell bewirtschaften läßt. Weil Helden nach der Aufklärung
nur noch als Opfer möglich sind, muß der Ehrgeiz den Umweg über
den Viktimismus nehmen. Dies gilt für Einzelne wie für Korporationen
und Staaten. Unzählige wetteifern mit amateurischen und professionellen Mitteln
um den Vorzug, sich auf diversen Bühnen als Opfer präsentieren zu dürfen
- besser noch als Super-Opfer, als Angegriffener der Angegriffenen, als Jude der
Juden, als Paria der Parias, als Verdammter der Verdammten dieser Erde. .... Aber
es versteht sich, daß diese Phänomene außer psychologischen Motiven
massive ökonomische Gründe haben.Peter
Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 841, 842 |
Die
Demokraten nach 1945 haben in ihrem antifaschistischen Eifer das Faschismusphänomen
in seiner globalen Ausdehnung chronisch unterschätzt. Die Wahrheit ist, daß
der Faschismus von Lissabon bis nach Shanghai reichte. Das ganze 20. Jahrhundert
ist vom faschistischen Affekt, vom Enthusiasmus des Ressentiments durchzogen.Peter
Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54 |
Daß
sich der linke Faschismus als Kommunismus zu präsentieren beliebte, war eine
Falle für Moralisten. Mao Tse-tung war nie etwas anderes als ein linksfaschistischer
chinesischer Nationalist, der anfangs den Jargon der Moskauer Internationale pflegte.
Gegen Maos fröhlichen Exterminismus gehalten, erscheint Hitler wie ein rachitischer
Briefträger. Doch man scheut noch immer den Vergleich der Monstren.Peter
Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54 |
Das
massivste ideologische Manöver des Jahrhunderts bestand ja darin, daß
der linke Faschismus nach 1945 den rechten lauthals anklagte, um ja als dessen
Opponent zu gelten. In Wahrheit ging es immer nur um Selbstamnestie. Je mehr die
Unverzeihlichkeit der Untaten von rechts exponiert wurde, desto mehr verschwanden
die der Linken aus der Sichtlinie.Peter
Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54 |
In
dem Zusammenhang muss man die Mao-Plakate über den Köpfen der Revoltierenden
von damals verstehen. Die radikale Linke hatte sich selbst die Absolution erteilt,
und die Ikone Mao war ein Garant ihres Verständnisses für den guten
Terror. Die Zersetzungsprodukte dieser Hyperlüge gehen uns bis heute auf
die Nerven.Peter
Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 54 |
Eine
bleibende Kulturleistung der »68er« besteht darin, daß sie die
... Gesellschaft in ein Kollektiv von Halbkranken umgeschaffen haben. Damals wurde
die Therapiegesellschaft auf den Weg gebracht, in der jeder seine verunglückte
Libido erforschen und dem Echo seiner »verbrecherischen« Familiengeschichte
nachhorchen konnte. Doch seit der Sport als Alternative zur ewigen Therapie aufkam
..., hat sich die Lage an der inneren Front entspannt.Peter
Sloterdijk, Die Freigabe aller Dinge, in: Focus, 31, 2005, S. 51 |
Kaum
treten bei Individuen oder Gruppen »Symptome« wie Stolz, Empörung,
Zorn, Ambition, hoher Selbstbehauptungswille und akute Kampfbereitschaft auf,
nimmt der Parteigänger der thymós-vergessenen Kultur Zuflucht
zu der Vorstellung, diese Leute müßten Opfer eines neurotischen Komplexes
sein. Die Therapeuten stehen hier in der Tradition der christlichen Moralisten,
die von der natürlichen Dämonie der Selbstliebe sprechen, sobald die
thymotischen Energien sich offen zu erkennen geben. Haben die Europäer über
den Stolz wie den Zorn nicht von den Tagen der Kirchenväter an zu hören
bekommen, solche Regungen seien es, die den Verworfenen den Weg in den Abgrund
weisen?Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 32 |
Die
Aufgabe lautet also, eine Psychologie des Eigenwertbewußtseins und der Selbstbehauptungskräfte
wiederzugewinnen, die den psychodynamischen Grundgegebenheiten eher gerecht wird.
Das setzt die Korrektur des erotologisch halbierten Menschenbildes voraus, das
die Horizonte des 19. und 20. Jahrhunderts umstellt. Zugleich wird eine empfindliche
Distanzierung von tief eingeschliffenen Konditionierungen der westliuchen Psyche
notwendig, in ihren älteren religiösen Ausprägungen ebenso wie
ihren jüngeren Metamorphosen.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 34-35 |
Zunächst
und vor allem ist Abstand zu gewinnen von der unverhüllten Bigotterie der
christlichen Anthropologie, nach welcher der Mensch in seiner Eigenschaft als
Sünder das hochmutkranke Tier abgibt, dem nur durch Glaubensdemut geholfen
werden kann. Man soll sich nicht einbilden, eine hiervon Distanz schaffende Bewegung
wäre leicht auszuführen oder gar schon vollzogen. Wenngleich die Phrase
»Gott ist tot« jetzt schon von Journalisten geläufig in den Computer
eingegeben wird, bestehen die theistischen Demutsdressuren im demokratischen Konsensualismus
nahezu ungebrochen fort. Es ist, wie man sieht, ohne weiteres möglich, Gott
sterben zu lassen und doch ein Volk von Quasi-Gottesfürchtigen zu behalten.
Mögen die meisten Zeitgenossen von anti-autoritären Strömungen
erfaßt sein und gelernt haben, eigene Geltungsbedürfnisse auszudrücken,
so halten sie doch in psychologischer Sicht an einem Verhältnis semirebellischer
Vasallität gegenüber dem versorgenden Herrn fest. Sie verlangen »Respekt«
und wollen auf die Vorteile der Abhängigkeit nicht verzichten. Noch schwieriger
dürfte es für viele sein, sich von der verhüllten Bigotterie der
Psychoanalyse zu emanzipieren, nach deren Dogmatik auch der kraftvollste Mensch
nicht mehr sein kann als der bewußte Dulder seiner liebeskranken Kondition,
die Neurose heißt. Die Zukunft der Illusionen ist durch die große
Koalition gesichert: Das Christentum wie die Psychoanalyse können ihren Anspruch,
die letzten Horizonte des Wissens vom Menschen zu umschreiben, mit Aussicht auf
Erfolg verteidigen, solange sie sich darauf verstehen, ein Monopol für die
Definition der menschlichen Kondition durch den konstitutiven Mangel, vormals
besser bekannt als Sünde, aufrechtzuerhalten. Wo der Mangel an der Macht
ist, führt die »Ethik der Würdelosigkeit« das Wort.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 35 |
Solange
also die beiden klugen Bigotteriesysteme die Szene beherrschen, ist die Sicht
auf die thymotische Dynamik menschlicher Existenz verstellt, in bezug auf Individuen
nicht weniger als in bezug auf politische Gruppen. Folglich ist der Zugang zum
Studium der Selbstbehauptungs- und Zorndynamik in psychischen und sozialen Systemen
praktisch blockiert. Stets muß man mit den ungeeigneten Konzepten der Erotik
auf die thymotischen Phänomene zugreifen. Unter der bigotten Blockade kommt
die direkte Intention nie wirklich zur Sache, da man sich nur noch mit schrägen
Zügen den Tatsachen nähern kann - immerhin sind diese, ihrer erotischen
Fehlauffassung zum Trotz, nie ganz zu verdunkeln. Ist diese Verlegenheit beim
Namen genannt, wird klar, daß ihr allein durch die Umstellung des grundbegrifflichen
Apparats abzuhelfen ist.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 35-36 |
Geht
man von dem natürlichen Pluralismus thymotischer Kraftzentren aus, muß
mna ihre Beziehungen gemäß deren spezifischen Feldgesetzlichkeiten
untersuchen. Wo reale Kraft-Kraft-Beziehungen gegeben sind, hilft der Rekurs auf
die Selbstliebe der Akteure nicht weiter - oder doch nur in übergeordneten
Aspekten. Statt dessen ist zunächst zu statuieren, daß politische Einheiten
(konventionell als Völker und deren Untergruppen aufgefaßt) in systemischer
Sicht metabolische Größen sind. Sie haben allein als produzierende
und konsumierende, streßverarbeitende, mit Gegnern und anderen entropischen
Faktoren kämpfende Entitäten Bestand. Bemerkenswerterweise haben christlich
und psychoanalytisch geprägte Denker bis heute Mühe zuzgeben, daß
Freiheit ein Begriff ist, der nur im Rahmen einer thymotischen Menschensicht Sinn
ergibt. Ihnen sekundieren mit hohem Eifer die Ökonomen, die den Menschen
als das konsumierende Tier ins Zentrum ihrer Appelle stellen - sie wollen dessen
Freiheit nur bei der Wahl der Futternäpfe am Werk sehen.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 37 |
Durch
Stoffwechseltätigkeiten werden in einem vitalen System erhöhte Innenleistungen
stabilisiert, auf der physischen wie der psychischen Ebene. Das Phänomen
Warmblütigkeit ist hiervon die eindrucksvollste Verkörperung. Mit ihm
vollzog sich, etwa zur »Halbzeit der Evolution«, die Emanzipation
des Organismus von den Umgebungstemperaturen - der biologische Aufbruch in die
Freibeweglichkeit. Von ihr hängt alles ab, was später in den unterschiedlichsten
Sinnabschattungen Freiheit heißen wird. Biologisch betrachtet, bedeutet
Freiheit das Vermögen, das gesamte Potential spontaner Bewegungen zu aktualisieren,
die einem Organismus eigentümlich sind.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 38 |
Die
Lossagung des warmblütigen Organismus vom Primat des Milieus findet ihr mentales
Gegenstück in den thymotischen Regungen der Einzelnen wie der Gruppen. Als
moralischer Warmblüter ist der Mensch auf die Aufrechterhaltung eines gewissen
internen Selbstachtungsniveaus angewiesen - auch dies setzt eine Tendenz zur Loslösung
des »Organismus« vom Vorrang des Milieus in Gang. Wo sich die stolzen
Regungen geltend machen, entsteht auf der psychischen Ebene ein Innen-Außen-Gefälle,
in dem der Selbstpol naturgemäß den höheren Tonus aufweist. Wer
die untechnischen Ausdrucksweisen bevorzugt, kann dieselbe Vorstellung durch die
These wiedergeben, die Menschen besäßen einen angeborenen Sinn für
Würde und Gerechtigkeit. Dieser Intuition hat jede politische Organisation
gemeinsamen Lebens Rechnung zu tragen.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 38 |
Zum
Betrieb moralisch anspruchsvoller Systeme, alias Kulturen, gehört die Selbststimulierung
der Akteure durch die Hebung thymotischer Ressourcen wie Stolz, Ehrgeiz, Geltungswille,
Indignationsbereitschaft und Rechtsempfinden. Einheiten dieser Art bilden in ihrem
Lebensvollzug lokalspezifische Eigenwerte aus, die bis zum Gebrauch universalistischer
Dialekte führen können. Es läßt sich durch empirische Beobachtung
schlüssig nachweisen. wie erfolgreiche Ensembles durch einen höheren
inneren Tonus in Form gehalten werden - an dem im übrigen häufig der
aggressive oder provozierende Stil des Umweltbezugs auffällt. Die Stabilisierung
des Eigenwertbewußtseins in einer Gruppe obliegt einem Regelwerk, das die
jüngere Kulturtheorie als das Decorum bezeichnet. (Vgl. Heiner Mühlmann,
Die Natur der Kulturen - Entwurf einer kulturdynamischen Theorie, 1996).
In Siegerkulturen wird das Decorum verständlicherweise an den polemischen
Werten geeicht, denen man die bisherigen Erfolge verdankt. Daher die enge Liaison
zwischen Stolz und Sieg in allen aus erfolgreich geführten Kämpfen hervorgegangenen
Gemeinwesen. Stolzdynamisch bewegte Gruppen haben es manchmal sogar nicht ungern,
bei ihren Nachbarn und Rivalen unbeliebt zu sein, solange das ihrem Souveränitätsgefühl
Auftrieb gibt.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 38-39 |
Sobald
die Stufe der anfänglichen Interignoranz zwischen mehreren metabolischen
Kollektiven überschritten ist, das heißt, wenn die gegenseitige Nichtwahrnehmung
ihre Unschuld verloren hat, geraten sie unvermeidlich unter Vergleichsdruck und
Beziehungszwang. Dadurch wird eine Dimension erschlossen, die man im weiteren
Sinn als die der Außenpolitik bezeichnen kann. Infolge ihres Füreinanderwirklich-Werdens
fangen die Kollektive an, sich gegenseitig als koexistierende Größen
zu begreifen. Durch Koexistenzbewußtsein werden die Fremden als chronische
Stressoren wahrgenommen, und die Beziehungen zu ihnen müssen zu Institutionen
ausgebaut werden - in der Regel unter der Form von Konfliktvorbereitungen oder
der diplomatischen Bemühung um das Wohlwollen der anderen Seite. Von da an
reflektieren die Gruppen ihr eigenes Wertverlangen in den manifesten Wahrnehmungen
der anderen. Die Gifte der Nachbarschaft sickern in die aufeinander bezogenen
Ensembles ein. Diese moralische Reflexion ineinander hat Hegel mit dem folgenreichen
Begriff der Anerkennung bezeichnet. Er weist damit hellsichtig auf eine mächtige
Quelle von Satisfaktionen oder Satisfaktionsphantasien hin. Daß er damit
zugleich den Ursprung zahlloser Irritationen benannt hat, versteht sich aus der
Natur der Sache. Auf dem Feld des Kampfs um Anerkennung wird der Mensch zu dem
surrealen Tier, das für einen bunten Fetzen, eine Fahne, einen Kelch sein
Leben riskiert.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 39.40 |
Wir
sehen im gegebenen Kontext, daß Anerkennung besser als eine Hauptachse interthymotischer
Beziehungen neu beschrieben werden sollte. Was die zeitgenössische Sozialphilosophie
mit wechselndem Erfolg unter dem Stichwort Intersubjektivität verhandelt
hat, meint häufig nichts anderes als das Gegeneinanderwirken und Ineinanderspielen
von thymotischen Spannungszentren. Wo der landläufige Intersubjektivismus
die Transaktionen zwischen Akteuren in psychoanalytischen und somit letztlich
erotodynamischen Begriffen darzustellen gewohnt ist, empfiehlt es sich künftig
eher, zu einer thymotologischen Theorie des Aufeinanderwirkens mehrerer Ambitionsagenturen
überzugehen. Ambitionen sind zwar durch erotische Abschattungen modifizierbar,
für sich genommen gehen sie jedoch aus einem Regungsherd ganz eigenen Typs
hervor und sind nur von diesem her zu durchleuchten.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 40 |
Sofern
der bürgerlich konditionierte Thymos der psychologische Sitz des von Hegel
dargestelletn Strebens nach Anerkennung ist, wird verständlich, warum ausbleibende
Anerkennung durch relevante Andere Zorn erregt.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 42-43 |
Vor
allem muß heute, gegen Nietzsches ungestümes Resümee, bedacht
werden, daß die christliche Ära, im ganzen genommen, gerade nicht das
Zeitalter der ausgeübten Rache war. Sie stellte vielmehr eine Epoche dar,
in der mit großem Ernst eine Ethik des Racheaufschubs durchgesetzt wurde.
Der Grund hierfür muß nicht lange gesucht werden: Er ist gegeben durch
den Glauben der Christen, die Gerechtigkeit Gottes werde dereinst, am Ende der
Zeiten, für eine Richtigstellung der moralischen Bilanzen sorgen. Mit dem
Ausblick auf ein Leben nach dem Tode war in der christlichen Ideensphäre
immer die Erwartung eines überhistorischen Leidensausgleichs verbunden. Der
Preis für diese Ethik des Verzichts auf Rache in der Gegenwart zugunsten
einer im Jenseits nachzuholenden Vergeltung war hoch -hierüber hat Nietzsche
klar geurteilt. Er bestand in der Generalisierung eines latenten Ressentiments,
das den aufgehobenen Rachewunsch selbst und sein Gegenstück, die Verdammnisangst,
ins Herzstück des Glaubens, die Lehre von den Letzten Dingen, projizierte.
Auf diese Weise wurde die Bestrafung der Übermütigen in alle Ewigkeit
zur Bedingung für das zweideutige Arrangement der Menschen guten Willens
mit den schlimmen Verhältnissen. Die Nebenwirkung hiervon war, daß
die demütigen Guten selbst vor dem zu zittern begannen, was sie den übermütigen
Bösen zudachten. Wir werden hiervon unten im Kapitel über den Zorn Gottes
und die Errichtung der jenseitigen Rachebank ausführlicher handeln.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 49 |
Bei
Kränkungen, die krank machen, ist Rache doch die beste Therapie.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 84 |
Alle
Geschichte ist die Geschichte von Zornverwertungen.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 100 |
Aus
dem Zorn Gottes sollte die menschliche Rache werden - und aus dem Warten auf die
jenseitige Vergeltung eine diesseitige Praxis ....Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 276 |
Rache
..., was sie ihrer thymotischen Natur nach seit je bedeutet - ... die Behebung
des unerträglichen Mangels an Leiden, der in einer Welt voll ungesühnten
Unrechts herrscht.Peter
Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 276 |
Die
Philosophen sind von Berufs wegen ja als Welterklärer angetreten. Und sie
bekennen sich zunächst und zumeist dazu, einen unbescheidenen Beruf auszuüben,
wobei Unbescheidenheit hier, wenn möglich, von der Sache her motiviert wird
und nicht vom persönlichen Drang dessen, der sich zu diesem Beruf gemeldet
hat - so wie man ja auch bei Polizisten eigentlich nicht unterstellt, daß
sie eine natürliche Affinität zum Verbrechen haben, sondern mehr zu
seiner Bekämpfung, so hat auch der Philosoph einen natürlichen
Drang zur Vielwissenheit und nicht zur Unwissenheit.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Lesezeichen, 2006 |
Man
soll den Anspruch, die Welt besser zu machen, nicht aufgeben, wenn man sich vorher
darüber verständigt hat, was »besser« bedeutet, und ich
würde sagen: Das Bessere muß als Funktionsbegriff, nicht als Substanzbegriff,
aber als Funktionsbegriff verstanden werden, nämlich, daß die verschiedenen
um Verwirklichung ringenden Kräfte im Menschen in eine Balance miteinander
gebracht werden. Und wir sind im Moment stark unbalanciert; der Westen
ist ... ein »Kontinent« der Gier geworden, also er ist durch und durch
erotisiert im ... schlechten Sinne des Wortes. Wir erleben im Moment in einem
geschichtlich beispiellosen Ausmaß eine Weltherrschaft der Gier, und gegen
die müßte ... das Stolzzentrum seinen Einspruch anmelden und sagen:
»Wer bin ich denn, daß ich mich bei der Vorherrschaft gieriger Impulse
ertappen lasse?« Also: der Thymotiker wäre der Mensch, der zeigen
möchte, daß er nicht nur ein großer Gieraffe ist und ein Verschlinger,
eine große Verdauungsmaschine, sondern daß er ein Spender ist, ein
Geber.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Lesezeichen, 2006 |
Seltsam,
man darf nicht den Israelis empfehlen, Israel aufzugeben, aber der Menschheit
darf man nahe legen, sich einen anderen Planeten zu suchen.Peter
Sloterdijk, in: Zeit, 2006 |
Seit Heidegger wissen wir, daß die Krümmung
des Seins als Krümmung der Zeit verstanden werden muß. Was
man die Existenz des Menschen nennt, ist keine Gerade zwischen Anfang
und Ende. Vielmehr wird die existentiale Linie durch eine seltsame Spannung
verbogen: Die »Enden der Parabel«, die ein einzelnes Leben
ausmacht, markieren Abschnitte im Kreis des Seins.
Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 20 |
Deutscher
Idealismus .... In philosophische Hinsicht war der Idealismus eine logische und
ethische Ambition, die vor keiner Zuspitzung zurückschreckte, nämlich
die paradoxe Unternehmung, Freiheit zum Zentralmotiv von strenger Systembildung
zu machen. .... Der Idealismus wollte sich unentbehrlich machen als ein Beweisverfahren,
mit dem dargelegt wurde, daß auch die Bürgerlichen machttauglich und
machtwürdig sind, sofern es ihnen nur gelingt, an einem geschichtlich neuen
Typus von Adel teilzuhaben. .... Damit trat Idealismus hervor als der Versuch,
die Welt im Ganzen auf die Spitze zu stellen, eine Spitze, die einen ontologisch
anspruchsvollen Namen trug, den des »Subjekts« - was heißen
soll: das, was zugrunde liegt oder modern verstanden: was zugrunde tut,
was »an der Basis« aller Lagen alles vollbringt. Wo so gedacht wird,
kommt das Höchste als das Breiteste daher. Was das Oberste war, soll nun
etwas sein, was jedem zukommt. Was höchste Auszeichnung war, wird allegmeines
Merkmal und alltägliche Anrede. Das Geheimnis der Enthusiasmupolitik ist
demnach, daß sie die ganze Gesellschaft in den Adelsstand erhebt - oder
wie Schiller in der ersten Fassung der Ode sagt -, daß Bettler Fürstenbrüder
werden.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 35-37 |
Die
Musik des Zur-Welt-Kommens ist ein Wille zur Macht als Klang, der sich auf der
Linie eines von innen kommenden Kontinuums hervorbringt und der sich selbst will
wie eine nichtunterlaßbare Lebensgebärde; die Musik des Rückzugs
hingegen strebt, nach dem Zerbrechen des Kontinuums, in den akosmischen Schwebezustand
zurück, in dem sich das verletzte Leben, als Unwille zur Macht, sammelt und
heilt. Darum gibt es in der Primärgestik aller Musik einen Dualismus von
Ausfahrt und Heimkehr. Dem ersten Pol entspricht ein adventisches Motiv, das ganz
auf Exodus, Ertönenwollen und Vortreten an die Rampe angelegt ist, dem zweiten
ist ein nirwanischer Zug eigentümlich, der auf Einkehr und Zustandekommen,
auf Erlöschen und Ruhen zielt.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 57 |
Das
Denken ist im Subjekt wie der Ton in der Violine - kraft eines Schwingungsverhältnisses.
Menschen sind, sofern sie denken, gleichsam Musikinstrumente für Vorstellungen,
die die Welt bedeuten. Wenn das »Instrument« auf sich selbst achtgibt,
so ist ihm klar: Ich bin kein funadementum inconcussum, sondern ein medium
percussum.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 68 |
Emanzipation
von Wortschatz, Grammatik, Rhetorik und Phonetik. .... Entbunden von semantischer
Sklaverei, tritt der Klang aus dem Schatten und gibt mit einer unerhörten
Frische und Nacktheit sich selbst zu hören. .... Von der ersten bis zur letzten
Zeile lautet seine Botschaft: Ich bin nur zu hören; ich bin ein Text, der
die frohe Botschaft vom Nicht-Bedeuten in die Welt setzt. .... Bedeutungslosigkeit
bedeutet.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 71 |
Im
Anthropologie-Kapitel aus Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften,
1817, finden sich im Abschnitt über die »fühlende Seele«
einige Formulierungen, die mit den Mitteln philosophischer Psyhologie den Entwicklungen
moderner Tiefenpsychologie um mehr als hundertfünfzig Jahre vorgreifen. Hegel
artikuliert zum ersten Mal die Idee, daß eine noch völlig leere, erfahrungslose,
leidlose und daher unbestimmte Seele von den Vibrationen des mütterlichen
Mediums bestimmend und prägend durchdrungen wird.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 72 |
Die
auditive Geburt des Kindes geht, wie man heute weiß, dem physischen Austritt
um einige Monate voraus.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 74 |
Bei
Schopenhauer vollzieht sich ein Durchbruch, nach dem der Weltgrund selbst, der
Wille, als unmittelbar musikalischer vorgestellt wird.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 76 |
Als
ein Wesen, das im Kommen ist, ist der Mensch wesenhaft ein Tier, das von innen
kommt. »Innen« bedeutet hier: Fötalität, Nicht-Manifestation
bzw. Latenz, Verborgenheit, Wasser, Familiarität, Schoßhaftigkeit und
Häuslichkeit. Zur-Welt-Kommen muß demnach fünffach verstanden
werden - gynäkologisch als Geburt, ontologisch als Welteröffnung, anthropologisch
als Elementwechsel vom Flüssigen ins Feste, psychologisch als Erwachsenwerden,
politisch als Einrücken in Machtfelder.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 87-88 |
Auch
das Licht der Aufklärung macht Erfahrungen mit seinem Schatten. Es ... entdecken
die meisten Kommentataoren die Notwendigkeit einer »Abklärung der Aufklärung«
bzw. einer Kritik der lichtbringerischen Vernunft. Was landläufig Postmoderne
genannt wird, hat eines seiner überzeugendtsen Motive in dieser Nachuntersuchung
von Aufklärungsfolgen.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 99 |
Aus
der Synthese von Marktkapitalismus und Wohlfahrtsstaat ... der »aufgeklärten«
westlichen Industrienationen ... entspringt gleichfalls kein Zustand allgemeiner
Genugtuung, sondern eine ... Zweideutigkeit, der die großen Perspektiven
und Projektionen abhanden gekommen zu sein scheinen.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 99-100 |
Im
Rückblick auf die Geschichte des optischen Idealismus ... zeigt sich, daß
inzwischen die gesamte verwestlichte Hemisphäre der Welt zu einem »Abend«land
geworden ist.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 100 |
Ist
nun in Reaktion auf das Unbehagen am Zwielicht mit einer postmodernen Wiederkehr
der Lichtreligionen zu rechnen? Gewisse Indizien sprechen hierfür.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 100-101 |
Ist
die letzte Sicht nichts anders als das ewige Blinzeln der letzten Menschen, die
in die glutlose Abendsonne schauen? .... Wenn zutrifft, daß nichts
in der Technologie ist, was nicht schon zuvor in der Metaphysik gewesen war, dann
hat eine lichtmetaphysisch vorgeformte Menschheit Aussicht darauf, zuletzt in
ein selbstgemachtes großes Licht zu blicken - »heller als tausend
Sonnen«.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 102 |
Der
moderne Könner kann immer weniger immer besser.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 143 |
»Wir
sind nie revolutionär gewesen.« .... Man muß
zwei gefährliche Kategorien aus seinem Wortschatz herausnehmen: Die eine
ist der Begriff der Revolution, ... die andere ist der Begriff der Massen ....
Sollte es tatsächlich so etwas wie effektive (so genannte revolutionäre)
Wirklichkeitsveränderung geben, dann wird sie sich daran zeigen, daß
eine neue Technologie einen Lebenslauf expliziert und dadurch verändert und
vorantreibt. .... Ein Techniker entscheidet sich immer für das Vorantreiben
der Technologie. Alles Erfolgreiche ist operativ ....Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 235 |
So
kommt es, daß sich die moderne Kunstausstellungskunst in ihrer Tautologisierung
festschraubt: Das Herstellen von Kunst dreht sich um ein Ausstellen von Kunst,
das sich um ein Herstellen von Ausstellungen dreht.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 413-414 |
Die
Selbstaufstellung von Messen, Museen, Galerien ist der Selbstoffenbarung der Werke
zuvorgekommen; sie hat den werken die Seinsweise der Selbstreklame aufgezwungen.
Seither müssen Werke selbstapplaudierend sein. In der Reklame besitzt die
aletheia ihren äußersten Vorposten. .... Sicher ist nur: Kein
Bild kann noch so viel bedeuten wie der wiederverwendbare Haken, an dem es vorübergehend
hängt.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 415 |
Ich
komme hier auf das zurück, was ich in der Kritik der zynischen Vernunft
als Anlauf zu einer philosophischen Antiphilosophie versucht habe. Ich zeigte
dort die Notwendigkeit einer Geistesgegenwart, die sich jenseits der moralischen
vorstellenden Automatismen entfaltet, auch jenseits der genormten Diskurse, die
sich als Theorie präsentieren, und jenseits der routinierten und reflexhaften
Aktivitäten, die sich beim gesunden Menschenverstand als »Praxis«
beliebt machen wollen. Die Kritik der zynischen Vernunft war ein wie auch
immer fehlerhafter Versuch, die Philosophie in Richtung auf eine Schule der Geistesgegenwart
voranzubringen.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 485 |
Es
ist jetzt vielleicht eine Woche her, da erschien mir Einstein im Traum. .... Er
erzähle mir, daß er mit sinem Kollegen Gott, genauer gesagt, mit dessen
dritter Person seine viel mißverstandene Energiegleichung noch einmal durchgerechnet
habe. Und da habe es ihm um ein Haar den Kopf zersprengt, als er plötzlich,
durch eine kleine Umstellung der Faktoren, die Weltformel fand, ja vielmehr, als
er selber die Weltformel wurde. .... Ich fürchtete schon, er würde im
nächsten Augenblick ganz formellos verschwinden. Aber dann nahm sich Einstein
noch einmal zusammen, und er schrieb sich selbst an eine schwarze Tafel, wobei
mir Hören und Sehen verging, denn er sdchrieb, wenn ich es mir richtig gemerkt
habe: Universum (U) gleich Intelligenz (I) minus Antiintelligenz (AI), wobei gilt:
I gleich Meditation durch den Widerstandsfaktor der Vorstellung in der Zeit; AI
gleich Wiederholungsmaterie multipliziert mit dem Quadrat des Sitzfleischdurchmessers.
Als Einstein sich schon fast ganz an die Tafel geschrieben hatte, deutete er noch
an, daß der Kollege von Weizsäcker schon auf der richtigen Spur zur
Weltformel sei, nur daß er doch um alles in der Welt den Beharrungskoeffizienten
an eine andere Stelle setzen sollte. Dann explodierte Einstein mitsamt der schwarzen
Tafel, und es blieb von der ganzen Erscheinung nichts anders übrig als ein
gewisses Kitzeln in der Atmosphäre, das ich trotz meiner dürftigen physikalischen
Kenntnisse sofort als das kosmische Hintergrundkitzeln identifizierte.Peter
Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 487, 488-489 |
Saint-Just
... hatte in seinen Überlegungen der republikanischen Institutionen
... geschrieben ...: »Die Kinder gehören bis zum 5. Lebensjahr
der Mutter, danach bis zu ihrem Tode der Republik«. Das heißt:
Das ist die Abschaffung der Freiheit im Namen der Immanenz bzw. im Namen
der Abschaffung der Zwei-Welten-Theorie.
Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett,
2007 |
Geschichte
ist ... genau der Prozeß, in dem man nie ausgelernt haben wird.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise, 2008 |
Wir
haben seit 200 Jahren eine Wirtschaftswissenschaft, die gar keine Wissenschaft
ist. Es ist eine ... verkappte Theologie - in vielen Fällen -, eine Wissenschaft,
die ihre Unwissenschaftlichkeit hinter einem riesigen Aufwand an Mathematik verbirgt.
Das kann man ja übrigens in allen Wissenschaften beobachten: je unwissenschaftlicher
sie sind, desto mathematischer werden sie. Auch die positivistische Psychologie
unserer Tage, die den Menschen überhaupt nicht mehr kennt, arbeitet sehr
gern mit mathematischen Modellen, und die Wirtschaftswissenschaft im letzten halben
Jahrhundert ist ja ein reines Spielfeld für mathematisierende Spinner geworden.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise, 2008 |
Wir
haben ungefähr 10 Millionen Menschen, die in der Millionärskategorie
leben. Wir haben etwa 1000 Milliardäre. Wir haben etwa 10 Millionen, die
in der Kategorie der Multimillionäre operieren. Da entsteht ein neues, abstraktes
Übervolk, das dieselben Eigenschaften aufweist wie der alte europäische
Adel .... Wir ersetzen Grundbesitz heute durch Zugang zu Informationsmitteln,
zu Lebensmitteln, zu Privelgien .... Wir sind in einer rasanten Refeudalisierung
- das ist völlig klar, aber sie geht nicht mehr über Grund und Boden,
sondern sie läuft über Zugangsprivilegien. Und natürlich ist niemand
privilegierter als derjenige, der innerhalb des 10-Millionen-Volkes mit seinesgleichen
auf gleicher Ebene kommunzieren kann.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise, 2008 |
Auf
der einen Seite die Refeudalisierung und auf der anderen Seite die Konversion
in den autoritären Kapitalismus.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Philosophisches zur Krise, 2008 |
Der
Staat bedroht die Bürger mit seiner Schwäche.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2008 |
Viele
Diagnostiker verstecken sich ja heute hinter einer Komplexitätsrhetorik,
indem sie sagen: »Die Dinge sind so kompliziert, daß wir sie nicht
lösen können. Gott sei Dank müssen wir sie nicht lösen und
können deswegen weitermachen.« .... Ein Habitus, der sich in unserer
Gesellschaft breit gemacht hat, Komplexität als Ausrede dafür zu verwenden,
daß man Passivität einübt.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2008 |
Es
gibt ein starkes Argument eines deutschen Staatsrechtlers ...: »Wer Menschheit
sagt, will betrügen« (Carl Schmitt). Das heißt, man täuscht
ein »Super-Wir« vor, daß es noch gar nicht gibt, daß in
Wirklichkeit wiederum eine maskierte partikulare Stimme ist. Nach dem Schema hat
ja übrigens auch die Ideologiekritik in den letzten 200 Jahren funktioniert.
Da treten z.B. so ein paar französische Rechtsannwälte ... auf - es
sind vielleicht ein paar 100 Leute - und nennen sich selbst »die Menschheit«.
Daraus ist die französische Revolution hervorgegangen. Und so funktioniert
das immer. Es gibt immer eine kleine Avantgarde - die nennt sich selbst »Menschheit«
- und trägt sozusagen die Flamme vor allen anderen her und sagt: »Alles
hört auf mein Kommando!«Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2008 |
Carl
Schmitt würde sagen: der erfolgreichste Superorganismus, den wir bisher hervorgebracht
haben, ist dieser ... zweipolige Nationalstaat, in dem der Markt und ein
hinreichend regulierungsfähiger staatlicher Apparat eine sinnvolle Synergie
miteinander erzeugen. Alles, was darüber hinaus liegt, gelingt uns noch nicht.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, 2008 |
Der
Theologe ist der Anwalt der Gläubigen vor der Vernunft.Peter
Sloterdijk, in Sat 1, 18.05.2008, 23.35 Uhr |
Neben
Alan Greenspan ist Onkel Dagobert ein Charaktertitan.Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118 |
Was
heute Krise heißt, ist die Weltverschwörung der Spießer.Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118 |
Diese
vorgeblich heftigste Wirtschaftskrise der jüngeren Geschichte: sie ist die
spießigste und muffigste Angelegenheit, die sich seit Menschengedenken zugetragen
hat. Die Art und Weise, wie regierende Hausmeister im Dunkeln Megamilliarden hin-
und herschieben, ist eine Beleidigung für jede Intelligenz. Demgegenüber
waren der Schwarze Freitag und die Weltwirtschaftskrise nach 1929 ein Shakespeare-Drama.Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118 |
Heute
sehen wir nur noch Aktenkofferträger in viel zu hohen Positionen, die hinterm
Schalter große Politik machen. Obendrein redet man immerzu von der Gier,
als ob sie die Vorgänge auch nur von fern erklärte. Die Wahrheit ist,
der viel zitierte Bereicherungstrieb spielt in der Angelegenheit eine völlig
untergeordnete Rolle. Es ist nicht die Gier, die das System antreibt, die Fehlsteuerung
geht von den Zwängen des Billigkreditsystems aus: Wenn die Zentralbanken
kostenloses Geld ausspucken, wäre es für echte Global Player ruinös,
es nicht zu nehmen.Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118 |
Heute
sehen wir nur noch Aktenkofferträger in viel zu hohen Positionen, die hinterm
Schalter große Politik machen.Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118 |
Obendrein
redet man immerzu von der Gier, als ob sie die Vorgänge auch nur von fern
erklärte. Die Wahrheit ist, der viel zitierte Bereicherungstrieb spielt in
der Angelegenheit eine völlig untergeordnete Rolle. Es ist nicht die Gier,
die das System antreibt, die Fehlsteuerung geht von den Zwängen des Billigkreditsystems
aus: Wenn die Zentralbanken kostenloses Geld ausspucken, wäre es für
echte Global Player ruinös, es nicht zu nehmen.Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118 |
Im
übrigen könnte man behaupten, in jedem Europäer steckt ein Inflationist:
Seit dem Beginn der Neuzeit hat sich in den Menschen Europas das Märchenmotiv
vom leistlosen Einkommen mit archetypischer Gewalt festgesetzt. Von unserer psychischen
und kulturellen Struktur her sind wir Schatzsucher, die den Schatz nicht mehr
im Jenseits, sondern auf der Erde vermuten. Wenn es um Reichtum geht, neigen wir
zum Wunderglauben - daneben sind mittelalterliche Menschen pure Rationalisten.Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118 |
Unzählige
meinen allen Ernstes, das Leben sei ihnen einen Schatzfund schuldig.Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118 |
Die
Reichen sind gegenwärtig noch eine Klasse und keine Spezies, aber könnten
es werden, wenn man nicht aufpaßt. Es dürfte gegenwärtig auf der
Erde rund 10 Millionen Menschen in der Millionärs- und Multimillionärskategorie
geben, dazu schon über 1000 Milliardäre. Aus diesen Vermögenseliten
bildet sich ein neues abstraktes Übervolk, das dieselben Eigenschaften aufweist,
die man vom alten europäischen Adel kannte: Sie denken kosmopolitisch, sie
reisen viel, sie leben mehrsprachig, sie sind gut informiert und beschäftigen
die besten Berater, sie reden ständig über Beziehungen, Sport, Kunst
und Essen. Beim Volksthema Sex bleiben sie diskret. .... Jeremy Rifkin hat vor
ein paar Jahren ein Buch (»Access - Das Verschwinden des Eigentums«,
2000) vorgelegt, das indirekt die Entstehung des neofeudalen Systems behandelt:
Wir ersetzen, so seine These, heute Grundbesitz durch Zugang zu privilegierten
Gütern, zu wertvollen Informationen, zu Luxusobjekten, zu elitären Adressen,
zu exquisiten Kanälen und machtnahen Korridoren. Zugangskompetenz ist heute
das Schlüsselgut, nicht Grundeigentum. Wir beobachten eine rasante Refeudalisierung
auf überterritorialem Niveau. Und naturgemäß lebt niemand feudaler
als jemand, der innerhalb des neuen Metavolks, des 10-Millionen-Volkes der Reichen,
von gleich zu gleich kommuniziert.Peter
Sloterdijk, Unruhe im Kristallpalast, in: Cicero; Januar 2009, S. 118 |
Den
Armen erscheint die Welt als ein Ort, an dem die nehmende Hand der anderen sich
schon alles angeeignet hat, bevor sie selber den Schauplatz betraten.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Der
Sündenfall geschieht, sobald der Privatbesitz aus dem Gemeinsamen ausgegrenzt
wird. Er zeugt sich fort in jedem späteren ökonomischen Akt.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Auf
dem Grund jeder revolutionären Respektlosigkeit findet man die Überzeugung,
daß das Früher-Dagewesensein der jetzigen »rechtmäßigen«
Besitzer letztlich nichts bedeutet. Von der Respektlosigkeit zur Enteignung ist
es nur ein Schritt.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Alle
Avantgarden verkünden, man müsse mit der Aufteilung der Welt von vorn
beginnen.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Wer
bei der anfänglichen Landnahme zugegriffen hat, wird auch bei späteren
Machtnahmen ganz vorn sein.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Das
Movens der modernen Wirtschaftsweise ist ... keineswegs im Gegenspiel von Kapital
und Arbeit zu suchen. Vielmehr verbirgt es sich in der antagonistischen Liaison
von Gläubigern und Schuldnern. Es ist die Sorge um die Rückzahlung von
Krediten, die das moderne Wirtschaften von Anfang an vorantreibt - und angesichts
dieser Sorge stehen Kapital und Arbeit auf derselben Seite.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Immerhin,
in diesen Finanzkrisentagen erfährt man es schon aus den Boulevardzeitungen:
Der Kredit ist die Seele jedes Betriebs, und die Löhne sind zunächst
und zumeist von geliehenem Geld zu bezahlen - und nur bei Erfolg auch aus Gewinnen.
Das Profitstreben ist ein Epiphänomen des Schuldendienstes, und die faustische
Unruhe des ewig getriebenen Unternehmers ist der psychische Reflex des Zinsenstresses.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Es
würde sich an dieser Stelle nicht lohnen, die Irrtümer und Mißverständnisse
aufzuzählen, die der abenteuerlichen Fehlkonstruktion des Prinzips Eigentum
auf der von Rousseau über Marx bis zu Lenin führenden Linie innewohnen.
Der letztgenannte hat vorgeführt, was geschieht, wenn man die Formel von
der Expropriation der Expropriateure aus der Sphäre sektiererischer Traktate
in die des Staatsparteiterrors übersetzt. Ihm verdankt man die unüberholte
Einsicht, daß die Schicksale des Kapitalismus wie die seines vermeintlichen
Gegenspielers, des Sozialismus, untrennbar sind von der Ausgestaltung des modernen
Staates.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Um
die unerhörte Aufblähung der Staatlichkeit in der gegenwärtigen
Welt zu ermessen, ist es nützlich, sich an die historische Verwandtschaft
zwischen dem frühen Liberalismus und dem anfänglichen Anarchismus zu
erinnern. Beide Bewegungen wurden von der trügerischen Annahme animiert,
man gehe auf eine Ära geschwächter Staatswesen zu. Während der
Liberalismus nach dem Minimalstaat strebte, der seine Bürger nahezu unfühlbar
regiert und sie bei ihren Geschäften in Ruhe läßt, setzte der
Anarchismus sogar die Forderung nach dem vollständigen Absterben des Staates
auf die Tagesordnung. In beiden Postulaten lebte die für das 19. Jahrhundert
und sein systemblindes Denken typische Erwartung, die Ausplünderung des Menschen
durch den Menschen werde in absehbarer Zeit an ein Ende kommen: im ersten Fall
durch die überfällige Entmachtung der unproduktiven Aussaugungsmächte
Adel und Klerus; im zweiten durch die Auflösung der herkömmlichen sozialen
Klassen in entfremdungsfreie kleine Zirkel, die selber konsumieren wollten, was
sie selber erzeugten.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Die
Erfahrung des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, daß Liberalismus wie Anarchismus
die Logik des Systems gegen sich hatten. Wer eine gültige Sicht auf die Tätigkeiten
der nehmenden Hand hätte entwickeln wollen, hätte vor allem die größte
Nehmermacht der modernen Welt ins Auge fassen müssen, den aktualisierten
Steuerstaat, der sich auch mehr und mehr zum Schuldenstaat entwickeln sollte.
Ansätze hierzu finden sich de facto vorwiegend in den liberalen Traditionen.
In ihnen hat man mit beunruhigter Aufmerksamkeit notiert, wie sich der moderne
Staat binnen eines Jahrhunderts zu einem geldsaugenden und geldspeienden Ungeheuer
von beispiellosen Dimensionen ausformte.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Dies
gelang ihm vor allem mittels einer fabelhaften Ausweitung der Besteuerungszone,
nicht zuletzt durch die Einführung der progressiven Einkommensteuer, die
in der Sache nicht weniger bedeutet als ein funktionales Äquivalent zur sozialistischen
Enteignung, mit dem bemerkenswerten Vorzug, daß sich die Prozedur Jahr für
Jahr wiederholen läßt - zumindest bei jenen, die an der Schröpfung
des letzten Jahres nicht zugrunde gingen. .... Inzwischen hat man sich längst
an Zustände gewöhnt, in denen eine Handvoll Leistungsträger gelassen
mehr als die Hälfte des nationalen Einkommensteuerbudgets bestreitet.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Voll
ausgebaute Steuerstaaten reklamieren jedes Jahr die Hälfte aller Wirtschaftserfolge
ihrer produktiven Schichten für den Fiskus, ohne daß die Betroffenen
zu der plausibelsten Reaktion darauf, dem antifiskalischen Bürgerkrieg, ihre
Zuflucht nehmen.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Angesichts
der bezeichneten Verhältnisse ist leicht zu erkennen, warum die Frage, ob
der »Kapitalismus« noch eine Zukunft habe, falsch gestellt ist.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Wir
leben gegenwärtig ja keineswegs »im Kapitalismus« - wie eine
so gedankenlose wie hysterische Rhetorik neuerdings wieder suggeriert -, sondern
in einer Ordnung der Dinge, die man cum grano salis als einen massenmedial
animierten, steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher
Grundlage definieren muß. Offiziell heißt das schamhaft »Soziale
Marktwirtschaft«. Was freilich die Aktivitäten der nehmenden Hand angeht,
so haben sich diese seit ihrer Monopolisierung beim nationalen und regionalen
Fiskus überwiegend in den Dienst von Gemeinschaftsaufgaben gestellt. Sie
widmen sich den sisyphushaften Arbeiten, die aus den Forderungen nach »sozialer
Gerechtigkeit« entspringen. Allesamt beruhen sie auf der Einsicht: Wer viel
nehmen will, muß viel begünstigen.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
So
ist aus der selbstischen und direkten Ausbeutung feudaler Zeiten in der Moderne
eine beinahe selbstlose, rechtlich gezügelte Staats-Kleptokratie geworden.
Ein moderner Finanzminister ist ein Robin Hood, der den Eid auf die Verfassung
geleistet hat. Das Nehmen mit gutem Gewissen, das die öffentliche Hand bezeichnet,
rechtfertigt sich, idealtypisch wie pragmatisch, durch seine unverkennbare Nützlichkeit
für den sozialen Frieden - um von den übrigen Leistungen des nehmend-gebenden
Staats nicht zu reden. Der Korruptionsfaktor hält sich dabei zumeist in mäßigen
Grenzen, trotz anderslautenden Hinweisen aus Köln und München. Wer die
Gegenprobe zu den hiesigen Zuständen machen möchte, braucht sich nur
an die Verhältnisse im postkommunistischen Rußland zu erinnern, wo
ein Mann ohne Herkunft wie Wladimir Putin sich binnen weniger Dienstjahre an der
Spitze des Staates ein Privatvermögen von mehr als 20 Milliarden Dollar zusammenstehlen
konnte.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Den
liberalen Beobachtern des nehmenden Ungeheuers, auf dessen Rücken das aktuelle
System der Daseinsvorsorge reitet, kommt das Verdienst zu, auf die Gefährdungen
aufmerksam gemacht zu haben, die den gegebenen Verhältnissen innewohnen.
Es sind dies die Überregulierung, die dem unternehmerischen Elan zu enge
Grenzen setzt, die Überbesteuerung, die den Erfolg bestraft, und die Überschuldung,
die den Ernst der Haushaltung mit spekulativer Frivolität durchsetzt - im
Privaten nicht anders als im Öffentlichen.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Autoren
liberaler Tendenz waren es auch, die zuerst darauf hinwiesen, daß den heutigen
Bedingungen eine Tendenz zur Ausbeutungsumkehrung innewohnt: Lebten im ökonomischen
Altertum die Reichen unmißverständlich und unmittelbar auf Kosten der
Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne dahin kommen, daß die
Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben und dies zudem
auf mißverständliche Weise, nämlich so, daß sie gesagt bekommen
und glauben, man tue ihnen unrecht und man schulde ihnen mehr.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Tatsächlich
besteht derzeit gut die Hälfte jeder Population moderner Nationen aus Beziehern
von Null-Einkommen oder niederen Einkünften, die von Abgaben befreit sind
und deren Subsistenz weitgehend von den Leistungen der steueraktiven Hälfte
abhängt. Sollten sich Wahrnehmungen dieser Art verbreiten und radikalisieren,
könnte es im Lauf des 21. Jahrhunderts zu Desolidarisierungen großen
Stils kommen. Sie wären die Folge davon, daß die nur allzu plausible
liberale These von der Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven der
längst viel weniger plausiblen These von der Ausbeutung der Arbeit durch
das Kapital den Rang abläuft. Das zöge postdemokratische Konsequenzen
nach sich, deren Ausmalung man sich zur Stunde lieber erspart.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Die
größte Gefahr für die Zukunft des Systems geht gegenwärtig
von der Schuldenpolitik der keynesianisch vergifteten Staaten aus. Sie steuert
so diskret wie unvermeidlich auf eine Situation zu, in der die Schuldner ihre
Gläubiger wieder einmal enteignen werden - wie schon so oft in der Geschichte
der Schröpfungen, von den Tagen der Pharaonen bis zu den Währungsreformen
des 20. Jahrhunderts. Neu ist an den aktuellen Phänomenen vor allem die pantagruelische
Dimension der öffentlichen Schulden. Ob Abschreibung, ob Insolvenz, ob Währungsreform,
ob Inflation - die nächsten Großenteignungen sind unterwegs. Schon
jetzt ist klar, unter welchem Arbeitstitel das Drehbuch der Zukunft steht: Die
Ausplünderung der Zukunft durch die Gegenwart. Die nehmende Hand greift nun
sogar ins Leben der kommenden Generationen voraus - die Respektlosigkeit erfaßt
auch die natürlichen Lebensgrundlagen und die Folge der Generationen.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Die
einzige Macht, die der Plünderung der Zukunft Widerstand leisten könnte,
hätte eine sozialpsychologische Neuerfindung der »Gesellschaft«
zur Voraussetzung. Sie wäre nicht weniger als eine Revolution der gebenden
Hand. Sie führte zur Abschaffung der Zwangssteuern und zu deren Umwandlung
in Geschenke an die Allgemeinheit - ohne daß der öffentliche Bereich
deswegen verarmen müßte. Diese thymotische Umwälzung hätte
zu zeigen, daß in dem ewigen Widerstreit zwischen Gier und Stolz zuweilen
auch der Letztere die Oberhand gewinnen kann.Peter
Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: F.A.Z, 13.06.2009 |
Ich
werde zeigen, daß eine Rückwendung zur Religion ebensowenig möglich
ist wie eine Rückkehr der Religion - aus dem einfachen Grund, weil es keine
»Religion« und keine »Religionen« gibt, sondern nur mißverstandene
spirituelle Übungssysteme ....Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 12 |
Wir
haben Grund, bei Menschen nicht bloß mit einem einzigen Immunsystem zu rechnen,
dem biologischen, das in evolutionärer Sicht an erster, in entdeckungsgeschichtlicher
jedoch an letzter Stelle steht. In der Humansphäre existieren nicht weniger
als drei Immunsysteme, die in starker kooperativer Verschränkung und funktionasler
Ergänzung übereinandergeschichtet arbeiten: Über den weitgehend
automatisierten und bewußtseinsunabhängigen biologischen Substrat haben
sich beim Menschen im Lauf seiner mentalen und soziokulturellen Entwicklung zwei
ergänzende Systeme zur vorwegnehmenden Verletzungsverarbeitung herausgebildet:
zum einen die sozio-immunologsichen Praktiken, insbesondere die juristischen und
solidarischen, aber auch die militärischen, mit denen Menschen in »Gesellschaft«
ihre Konfrontationen mit fern-fremden Aggressoren und benachbarten Beleidigern
oder Schädigern abwickeln; zum anderen die symbolischen beziehungsweise psycho-immunologischen
Praktiken, mit deren Hilfe es den Menschen von alters her gelingt, ihre Verwundbarkeit
durch das Schicksal, die Sterblichkeit inbegriffen, in Form von imaginären
Vorwegnahmen und mentalen Rüstungen mehr oder weniger gut zu bewältigen.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 21-22 |
Weil
es sich so verhält, ist Kulturwissenschaft möglich; und weil nicht-naiver
Umgang mit symbolischen Immunsystemen heute zu einer Überlebensbedingung
der Kulturen selbst geworden ist, ist Kulturwissenschaft nötig.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 22-23 |
Der
Übergang von der Natur in die Kultur und umgekehrt steht seit jeher weit
offen. Er führt über eine leicht zu betretende Brücke - das übende
Leben.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 25 |
Die
effektivsten Anthroptechniken entstammen der Welt von gestern - und die heute
lautstark angepriesene oder verworfene Gentechnik wird für lange Zeit, selbst
wenn sie in größerem Maßstab beim Menschen praktikabel und akzeptabel
würde, am Umfang dieser Phänomenen gemessen nur eine Anekdote bleiben.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 126 |
Religionen
gibt es nicht.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 133 |
Ich
erinnere an die in der Einleitung erläuterte These, daß es beim Menschen
nicht nur ein Immunsystem gibt, sondern deren drei, wobei die religiösse
Komplex fast ganz in den Funktionskreis des dritten Immunsystems fällt.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 134 |
Nietzsches
»Artisten-Metaphysik« kann an den Vorgaben der darwinistischen Biologie
unbemüht anknüpfen. Unter dem Aspekt der Unwahrscheinlichkeitsbetrachtung
sind natürliche Arten und »Kulturen« - letztere definiert als
traditionstüchtige Menschengruppen mit einem hohen Dressur- und Kunstfertigkeitsfaktor
- Phänomene auf demselben Spektrum. In der Naturgeschichte der Artifizalität
stellt die Natur-Kultur-Schwelle keinen besonders nennenswerten Einschnitt dar;
allenfalls einen Höcker in einer Kurve, die von diesem Punkt an schneller
steigt. Das einzige Privileg der Kultur gegenüber der Natur besteht in ihrer
Fähigkeit, die Evolution als Kletterpartie auf dem Mount Improbable
zu beschleunigen. Beim Übergang von der genetischen zur symbolischen oder
»kulturellen« Evolution akzeleriert sich der Gestaltprozeß bis
zu dem Punkt, an dem die Menschen auf die Erscheinung des Neuen zu eigenen Lebzeiten
aufmerksam werden. Von da an nehmen Menschen zu ihrer eignen Innovationsfähigkeit
Stellung - und zwar bis vor kurzem fast immer ablehnend.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 188-189 |
Während
Fortpflanzung bisher immer dem Primat der erzeugenden Seite unterstand und an
der geglückten Wiederkehr des Alten im Jüngeren sein Erfolgskriterium
besaß, soll in Zukunft das Kind den Vorrang genießen - diesen erlangt
es, wenn es, wie Nietzsche unmißverständlich sagt, das Eine wird, das
mehr ist als die zwei, die es schufen. Diejenigen, die das nicht wollen,
heißen letzte Menschen.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 191 |
Wie
die westliche Welt den Schrecken der Arbeitslosigkeit kennt (der soziologische
Name der Depression), so die östliche den Horror der Übungslosigkeit.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 421-422 |
Auf
der Wiederholung ruht der Bestand der Welt - womit gegen das Einmalige nichts
gesagt ist, außer daß man es mißbraucht, wenn man nur um das
Goldene Kalb »Ereignis« tanzt. Es liegt in der Natur der Naturen,
Wiederholungssysteme für das Bewährte zu sein, und für Kulturen
gilt das in nahezu gleichem Maß.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 505 |
Wer
Belege für die explizite Aufhebung des 5. Gebots im 20. Jahrhundert sucht,
wird zuerst bei den intellektuellen Interpreten der russischen Revolution
fündig.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 623 |
Der
Mensch ist ein Lebewesen, das zur Unterscheidung der Wiederholung verdammt ist.
.... Was seine Vernunft trübt, sind ncht zufällige Irrtümer und
okkasionelle Wahrnehmungefehler - es ist die ewige Wiederkehr der Klischees, die
wahres Denken und freies Wahrnehmen verunmöglichen.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 639, 640 |
Das
ursprüngliche ethische Leben ist reformatorisch. Stets will es die schlechte
Wiederholung gegen die gute tauschen. Es möchte korrupte Lebensformen durch
integre ersetzen. Es strebt danach, dem Unreinen auszuweichen und ins Reine einzutauchen.
.... In diesem Rahmen emergiert individualisierte Freiheit in ihrer ältesten
und heftigsten Gestalt.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 641 |
Durch
die Sezession der Übenden wird das gesamte Ökosystem menschlichen Verhaltens
auf veränderte Grundlagen gestellt. Wie alle Explizitmachungen bewirkt auch
das Auftauchen der frühen Übungssysteme eine radikale Modifikation des
jeweiligen Bereichs ....Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 642 |
Der
Mensch ist ein Lebewesen, das nicht nicht üben kann - wenn üben heißt:
ein Aktionsmuster so wiederholen, daß infolge seiner Ausführung die
Disposition zur nächsten Wiederholung verbessert wird.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 643 |
Immunsysteme
sind verkörperte bzw. institutionalisierte Verletzungs- und Schädigungserwartungen,
die auf der Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem beruhen. Während
sich die biologische Immunität auf die Ebene des Einzelorganismus bezieht,
betreffen die beiden sozialen Immunsysteme die überorganismischen, sprich
die kooperativen, transaktionalen, konvivialen Dimensionen menschlicher Existenz.
Das solidaristische System garantiert Rechtsicherheit, Daseinsvorsorge und Verwandtschaftsgefühle
jenseits der jeweils eigenen Familien; das symbolische gewährt Weltbildsicherheit,
Kompensation der Todesgewißheit und generationenübergreifende Normenkonstanz.
Auch auf dieser Ebene gilt die Definition: »Leben« ist die Erfolgsphase
eines Immunsystems.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 709-710 |
»Leben«
ist die Erfolgsphase eines Immunsystems. Wie das biologische Immunsystem können
auch das solidaristische und das symbolische Phasen der Schwäche, ja sogar
der Beinahe-Erfolglosigkeit durchlaufen. Solche äußern sich in der
Selbst- und Welterfahrung der Menschen als Labilität des Wertbewußtseins
und als Ungewißheit hinsichtlich der Belastbarkeit unserer Solidaritäten.
Ihr Zusammenbruch ist mit dem Kollektivtod gleichbedeutend.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 710 |
Alle
Geschichte ist die Geschichte von Immunsystemkämpfen.Peter
Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009; S. 712 |
Vermutlich
sind Fragen des Nehmens und Gebens - neben der Sexualität - die sensitivsten
Angelegenheiten, die überhaupt vor Publikum verhandelt werden können.
Es sind die Fragen, die unverkennbar die thymotischen (die stolzhaften, die zornhaften
und die ressentimenthaften) Leidenschaften aufwühlen - Affekte, denen ich
in meinem Buch »Zorn und Zeit« einigermaßen umfangreiche Überlegungen
gewidmet habe.Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z,
27.09.2009 |
Ich stelle noch einmal in Kürze
dar, worauf mein aktueller Aufsatz im Rahmen der »Krise-des-Kapitalismus-Debatte«
der F.A.Z. hinaus wollte: Der moderne Steuerstaat hat das Zeitalter der einseitigen
Plünderung der Armen durch die Mächtigen beendet - eine Tatsache, die
schlechthin niemand auf der Welt bedauern dürfte. Der Proudhonsche Satz:
»Eigentum ist Diebstahl« hatte die alte Ordnung der Dinge polemisch
auf den Begriff gebracht. Seither hat die politische Moderne ein weltgeschichtlich
beispielloses System der Umverteilung erarbeitet, in dem der zugleich liberale
und soziale Staat sich Jahr für Jahr rund die Hälfte aller Wertschöpfungsergebnisse
der wirtschaftenden Gesellschaft aneignet und diese nach Maßgabe seiner
Funktionen und Pflichten neu verteilt - in der Bundesrepublik Deutschland macht
die Abschöpfungsmasse seit dem Jahr 2000 regelmäßig eine Summe
von etwa 1000 Milliarden Dollar aus. Der »nehmende Staat« beruft sich
- zumindest auf dem linken Parteienspektrum - noch heute auf die Überzeugung,
daß gegen den ungerechten primären Diebstahl nur ein korrigierender
gerechter Gegendiebstahl Abhilfe schafft: Marxistisch heißt diese Prozedur
seit dem 19. Jahrhundert Expropriation der Expropriateure.Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z,
27.09.2009 |
Mein
Aufsatz nimmt gegenüber dieser Entwicklung eine bedingungslos bejahende Perspektive
ein. Seit Jahren werde ich nicht müde, auf einschlägigen Konferenzen
meine Überzeugung zu bekennen, daß die progressive Einkommenssteuer
die maßgeblichste moralische Errungenschaft seit den Zehn Geboten darstellt.
Weil ich die Denkfigur des Gegendiebstahls wichtig, um nicht zu sagen: epochal
bedeutsam finde (sie hat von Rousseau über Marx und Lenin bis hin zu Steinbrück
Geschichte gemacht), verwende ich für sie gelegentlich auch das provozierende
Wort »Kleptokratie« - ein Ausdruck, der geeignet ist, Habende und
Nichthabende aus ihrem dogmatischen Schlummer zu wecken.Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z,
27.09.2009 |
Als unverbesserlicher
Verteidiger einer sozialdemokratischen (oder wie ich der Deutlichkeit zuliebe
sage: semi-sozialistischen) Logik habe ich nur einen einzigen, allerdings schwerwiegenden
Einwand gegen die bestehenden Verhältnisse vorzubringen: Ich nehme daran
Anstoß, daß niemand das aktuelle System der Zwangsbesteuerung als
solches in Frage stellt - auch wenn man hin und wieder über die »Vereinfachung«
der Besteuerungsverfahren und über deren Reform im Sinne der »sozialen
Gerechtigkeit« diskutiert. Nirgendwo wird auch nur hypothetisch darüber
nachgedacht, ob es nicht besser insgesamt durch eine geregelte Praxis der öffentlichen
Spenden zu ersetzen wäre. Tatsächlich endet mein Aufsatz mit dem Aufruf
zu einem moralisch und politisch anspruchsvollen Gedankenexpriment: Angenommen,
der moderne Staat brauchte tatsächlich genau die Summen, die er heute durch
Zwangssteuern eintreibt: So soll er sie erhalten.Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z,
27.09.2009 |
Jedoch: Wäre es dann nicht
viel würdevoller und sozialpsychologisch produktiver, dieselben Beträge
würden nicht durch fiskalische Zwangsabgaben aufgebracht, sondern in freiwillige
Zuwendungen von aktiven Steuerbürgern an das Gemeinwesen umgewandelt? Würde
man nicht erst nach dieser Umstellung von Enteignung auf Spende wirklich von einer
Zivilgesellschaft sprechen dürfen, in der die Bürger mit dem Gemeinwesen
durch eine permanente Selbstüberwindung und eine stetige Bestätigung
des Etwas-Übrig-Habens fürs Allgemeine und Gemeinsame verbunden sind?
Würde nicht erst durch eine solche Veränderung die Wende von einer gierbeherrschten
zu einer stolzbewegten Gesellschaftsform bewirkt, von der so viele Kritiker der
bestehenden Verhältnisse - gerade auch im linken Spektrum - zu träumen
schienen? Was soll überhaupt aus einer Linken werden, die exklusiv an den
Begriffen »Enteignung« und »Besteuerung« klebt und der
zu einer Ethik der Gabe schlechterdings nichts einfällt?Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z,
27.09.2009 |
Ein letztes Wort zu dem von
Ihnen geäußerten Wunsch, eine breite Debatte über den Gegensatz
von »Professorenphilosophie und »literarischer Philosophie
in Gang zu setzen: Dies könnte nur dann zu einer erhellenden Auseinandersetzung
führen, wenn es den so bezeichneten Gegensatz wirklich gäbe. In Wahrheit,
fürchte ich, existiert eine solche Front allein in der Einbildung von verständnislosen
externen Beobachtern. Es gibt nur plausible und unplausible Argumente, kreatives
und stagniertes Denken, mutige und feige Reflexion, großzügige und
bornierte Gesinnung, interessante und langweilige Schreibweise. Es wäre verrückt
zu glauben, solche Gegensätze hätten etwas mit dem »Gattungsunterschied«
zwischen akademischem und literarischem Theorie-Stil zu tun. Dies wäre eine
Beleidigung für die guten Autoren auf beiden Seiten und ein Affront gegen
die guten Leser hier wie dort. Nun urteilen Sie selbst, wo unser ziemlich boshafter
und sehr leseschwacher Philosophieprofessor (Axel Honneth
aus der »Frankfurter Schule«; Anm. HB) einzuordnen ist.Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z,
27.09.2009 |
Was lernt man aus der ganzen
Affäre? Ich denke: nichts, was nicht längst offenkundig war. Ich besitze
seit längerer Zeit eine beachtliche Sammlung an Beispielen dafür, wie
weit manche abgehängte Kollegen bei der Zurschaustellung ihrer Stagnation
und Frustration zu gehen bereit sind. Nun hat unser unglücklicher Frankfurter
Professor (Axel Honneth aus der »Frankfurter Schule«;
Anm. HB) ein neues Beispiel hinzugefügt. Enthält es eine neue
Information? Ich sehe keine, außer vielleicht dieser: So, wie es kein staatlich
festlegbares Limit für die Gier von Finanzmanagern gibt, so gibt es auch
keine legale Obergrenze für Giftkonzentrationen in glücklosen Philosophieprofessoren.Peter
Sloterdijk, Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in: F.A.Z,
27.09.2009 |
Ein Gutes
hat die Krise ja: sie führt zu einem rapiden Vertrauensverlust in die Standardtheorien
der Volkswirtschaft, wir wie sie seit 200 Jahren gekannt haben. Ich habe noch
nie so viele offene Bankrotterklärungen für kursierende Theorien gelesen
wie während des letzten Jahres. Ich muß zugeben: ich habe die immer
mit Genugtuung gelesen, weil ich zweifellso nicht der einzige Konsument dieser
Theorien bin, der seit langem von dem Gefühl begleitet worden ist, daß
... - in diesen 200 Jahren, die wir Volkswirtschaftstheorien betreiben - ... wir
überhaupt noch nicht zur Sache gekommen sind. Weswegen ich ja auch immer
wieder auf dieses Buch von Otto Steiger und Gunnar Heinsohn (Eigentum,
Zins und Geld) hinweise, wo ich das Gefühl habe: da kippt die
Theorieszene in eine schlüssige Figur um, die offenbar das Zeug dazu hat,
ein stabiles Modell zu liefern, an dem man sich in Zukunft orientieren kann.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2009 |
Also:
Theorien sterben auf breiter Front; wir sind in einer »Darwinistischen Idealsituation«,
auch wenn zum Theoriesterben noch sehr viele Pensionierungen stattfinden müssen.
.... Es könnte sein, daß diese neuen Theorien, die eine Art Verhaltensforschung
im Bereich des irrationalen Verhaltens von Menschen ansiedeln, und eine sehr stark
rational strukturierte Theorie des Wirtschaftszusammenhangs ..., die den Zusammenhang
zwischen Eigentum, Zins und Geld betrifft: da gibt es möglicherweise ein
konvergente Bewegung. Ich meine, dies wahrzunehmen, zumindest in der Hinsicht,
daß die Skepsis gegen die traditionellem Theorien immer mehr um sich greift.
Und immer mehr Bankleute geben doch offen zu, daß sie nicht verstehen, was
sie tun.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2009 |
Was
macht aber das breite Publikum ... in dieser spannenden und tragischen Welt? Die
Menschen fordern ja doch ihre Rechte auf Wohlstand ein, aber noch mehr vielleicht
sogar ihre Rechte auf Illusionen. Und dabei denkt man - im Blick auf diese kollektiven
Stimmungen - an ein starkes Bild, das Friedrich Nietzsche geprägt hat, in
dem er den Menschen beschreibt als ein Geschöpf, das auf dem Rücken
eines Tigers in Träumen hängt und der erwachend nicht weiß, ob
er absteigen soll oder besser in seine Träumerei zurückkehrt. Ich glaube,
wir stehen heute vor der Wahl, entweder weiter zu träumen oder zu lernen,
wie man Tiger domestiziert. - Guten Abend.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2009 |
Im
finanztheoretischen Jargon heißen Leistungsträger die 25 Millionen
Steueraktiven, die vorläufig noch damit einverstanden sind, in Deutschland
zu leben, und aus deren Einkommen sowie aus den davon abzuführenden Abgaben
praktisch alles stammt, was die 83-Millionen-Population des Landes am Leben hält.
Wer es genauer wissen will, kann offiziellen Tabellen die aktuellen Zahlen entnehmen:
Allein das obere Zwanzigstel der Leistungsträger bestreitet gut 40% des Gesamtaufkommens
an Einkommenssteuern, das obere Fünftel 70%.Peter
Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009,
S. 106 |
Insbesondere haben Ricardo
und Marx die folgenschwerste Verwirrung gestiftet, als sie dozierten, die »Wertschöpfung«
gehe letztlich ausschließlich au den Faktor »Arbeit« zurück.
Es gibt vermutlich keine zweiten Fall in der Geschicht der Ideen, in dem ein theoretischer
Irrtum so große praktische Folgen nach sich zog. Auf ihm basiert ein bis
heute virulentes System der Leistungsträgerverleumdung, das sich über
zweihundert Jahre von den Frühsozialisten bis zu den Postkommunisten erstreckt.
Der Zeitpunkt scheint gekommen, den Pflock endlich tief genug in den Boden einzuschlagen,
damit nie wieder hinter die entscheidende Erkenntnis zurückgegangen wird:
daß in der modernen objektiv sozialdemokratisierten Staats- und Gesellschaftswirklichkeit
die Leistungsträger im genannten Sinn summa summarum zu einer gebenden
Größe geworden sind. Sie können auf der Geberseite mit eindrucksvollen
Summen in Erscheinung treten, weil sie und solange sie als Erwirtschafter von
Einkommen nicht unbelohnt bleiben. Gewiß, es gab und gibt hierbei Exzesse,
die nach Korrektur verlangen, im 21. Jahrhundert nicht anders als im 19. Wer aber
reflexhaft »Kapitalismus« ruft, beweist nur, daß er nichts begriffen
hat. Wir brauchen statt ökonomischer Halbgedanken ein neues und zu Ende durchdachtes
Modell vom Nexus zwischen Eigentum, Zins und Geld. Im Klartext: Es ist Zeit, Gunnar
Heinsohn zu lesen.Peter
Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger, in: Cicero, November 2009,
S. 106 |
Bürgertum bedeutet
eigentlich so etwas wie »Adel für Alle«, nämlich: Staatsbürgertum.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Mai 2010 |
Die
Mitte wird von zwei Seiten unter Druck gesetzt. Die Mitte läßt sich
von den Spekulanten viel Geld abnehmen und führt ihrerseits enorme Summen
... in dieses soziale Segment ab, das wir hier die Transferempfänger genannt
haben.Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Mai 2010 |
Wie
wir noch längst nicht alle Konsequenzen aus dem Satz »Gott ist tot«
gezogen haben, sind uns auch bei weitem noch nicht sämtliche Implikationen
des Satzes »der reine Beobachter ist tot« bewußt.Peter
Sloterdijk, Scheintod im Denken, 2010, S. 14 |
Man
könnte die historischen Komplikationen im Verhältnis zwischen Philosophie
und Politik am besten durch vier Modifikationen der Herrin-Magd-Beziehung wiedergeben:
Die antike Philosophie stellte sich als eine Herrin vor, die die Politik zu ihrer
Magd machen wollte. Im christlichen Weltalter wurde sie selbst zur Magd der Theologie.
Die neuzeitliche Philosophie unternahm einen neuen Anlauf, zur Herrin der Welt
zu werden, konnte diesen Anspruch jedoch nur verwirklichen, indem sie die Wissenschaften
aus sich entließ, die ihrerseits zu Mägden der faktischen Herrin Technik
wurden. Die Philosophie verliert schließlich den Kampf um die Macht auf
der ganzen Linie ....Peter
Sloterdijk, Scheintod im Denken, 2010, Anmerkung 32, S. 83 |
In
jedem authentischen Austausch zwischen Menschen ist der Vorsprung des Gebens uneinholbar.
Gerechtigkeit kann nur jenseits der Symmetrie von Nehmen und Geben gedacht werden.
Sie läßt sich nie ohne Ungleichheit und Einseitigkeit vorstellen.Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 45 |
Und
je weiter man heute nach links schaut, desto reaktionärere Konzepte blicken
zurück.Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 50 |
Mitte
sein heißt heute: riskieren, zwischen zwei Undankbarkeiten zerrieben zu
werden.Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 52 |
Es
ist nicht ganz einfach, vor unseren christlich-miserabilistischen Hintergrund
ein positives Verhältnis zum Reichtum zu entwickeln. Wir sprechen leiber
Arme selig als Millionäre.Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 63 |
Einwanderung
ohne Bedingungen ..... Die Bundesrepublik Deutschland ist der karikativste Staat
der Menschheitsgeschichte ....Peter
Sloterdijk, in der TV-Sendung: Das Philosophische Quartett, Oktober 2010 |
Je
weiter man heute nach links schaut, desto reaktionärere Konzepte blicken
zurück.Peter
Sloterdijk, Warum ich doch recht habe, in: Die Zeit, 02.12.2010 |
Die
gute Nachrhicht heute lautet: Die Renaissance ist nicht vorüber.Peter
Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite, 2010, S. 64 |
In
Wahrheit ist Freiheit nur ein anderes Wort für Vornehmheit, das heißt
für die Gesinnung, die sich unter allen Umständen am Besseren, am Schwierigeren
orientieren, eben weil sie frei genug ist für das weniger Waharscheinliche,
das weniger Vulgäre, das weniger Allzumenschliche..Peter
Sloterdijk, Streß und Freiheit, 2011, S. 57-58 |
Ich
habe nur die Judikative, die Legislative und die Exekutive genannt, aber die Spekulative
habe ich nicht bemerkt.Peter
Sloterdijk, Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief
durch, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011 |
Niemand
mehr ist heute Nationalsozialist, aber alle sind Sozialnationalisten.Peter
Sloterdijk, Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief
durch, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011 |
Habermas
... baut wie immer seine Häuser vom Dach aus.Peter
Sloterdijk, Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief
durch, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011 |
Es
gibt ja längst die ganz große Koalition der Postdemokraten, die heute
die europäischen Schicksale unter sich aushandeln. Natürlich ist es
eine wohlwollende Postdemokratie, aber es ist eine, die die Mitwirkung des Bürgers
an all den Manövern nach wie vor nur in dieser würdelosen, vom Absolutismus
abgeleiteten Form der Zwangsfiskalität erzwingen will. Bei Habermas gäbe
es mehr Parlamentsbetrieb und mehr Wahlen, aber im Grunde wäre sein Europa
dasselbe Monster aus 27 Zwangssteuerstaaten, bei dem jetzt schon den Bürgern
Hören und Sehen vergeht, nur mit mehr symbolischem Überbau. Wenn die
Europäer noch etwas mehr Stolz hätten, könnte man dieses Spiel
mit ihnen nicht mehr treiben.Peter
Sloterdijk, Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief
durch, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011 |
Ich
glaube, der Staat hat mit seinem Zentralbankwahn in den letzten 20 Jahren kapitale
Fehler gemacht, und jetzt, da man die Folgen der Fehler sieht, will er sie beheben,
indem er die Fehler in noch größerem Maßstab wiederholt. Man
muß ja nur die Ergebnisse dieses Flutens der Märkte einigermaßen
aufmerksam studieren. Das Resultat ist, daß dieses Geld ja zum allergrößten
Teil, zu etwa 80 bis 90 Prozent, nicht in die reale Wirtschaft geht, sondern in
die Finanzspekulation. Wir haben es also mit rein technischen Zentralbankfehlern
zu tun .... Es sind die Zentralbankfehler, die der Spekulation Tür und Tor
geöffnet haben. Ich glaube deswegen auch kein Wort von dieser Gierpsychologie,
die im Augenblick so gesellschaftsfähig ist. Natürlich gibt es einen
Haben-wollen-Reflex in den Menschen, vor allem in der Form von Auch-Haben. Es
gibt den Sammeltrieb bei den Frauen und die Beuteerwartung bei den Männern,
und in unserem hermaphroditischen Zeitalter gehen beide Aneignungsreflexe ständig
durcheinander. Aber wer hat denn das leichte Geld so hingelegt, daß jeder
Passant ein Idiot sein müßte, der es nicht mitnimmt? Es sind letztlich
die Zentralbanker gewesen, die die Spekulation ermöglicht haben.Peter
Sloterdijk, Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief
durch, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011 |
Die
Wirtschaftswissenschaft macht auf mich den Eindruck einer Disziplin, die ihre
Grundlagen verloren hat. Die ganze Fakultät ist in einem desolaten Zustand.
Man bekommt mehr und mehr das Gefühl, die Theorien als solche sind sich selbst
wahrmachende Fiktionen, die man an keinem äußeren Maßstab festmachen
kann. Für den Erkenntnistheoretiker ist das keine ganz neue Beobachtung.
Niklas Luhmann hat schon vor 20 Jahren statuiert: Gute Theorie ist wie Instrumentenflug
über einer geschlossenen Wolkendecke. Sichtflug ist nur für Amateure,
der Durchblick bis auf den Grund ist für den Sozialwissenschaftler immer
schädlich, weil er den Einflüsterungen seiner Subjektivität und
Sentimentalität erliegt.Peter
Sloterdijk, Die Staaten verpfänden die Luft und Banken atmen tief
durch, in: Handelsblatt, 17. Dezember 2011 |
Sie
kennen sicher Sebastian Haffners Buch Erinnerungen eines Deutschen. Darin
wird berichtet, wie gebannt die 14- bis 16-Jährigen während des Ersten
Weltkriegs die tägliche Frontberichterstattung verfolgten. Das brachte rezeptionspsychologisch
einen historisch neuen Effekt hervor: die Zwangskollektivierung der Aufmerksamkeit.
Es war, als verfolgte das Volk der Jüngeren ein jahrelanges Champions-League-Turnier.
Die Jungen von 1914 bis 1918 waren daher medial indirekt darauf vorbereitet, als
Hitler seine Rückrunde verlangte. Aus der im Sommer 1914 über uns verhängten
Zwangskollektivierung durch Erregungsmedien sind wir bis heute nicht ausgestiegen.Peter
Sloterdijk, Vielleicht waren wir zu früh, Gespräch,
in: Zeit-Online, 11. Mai 2012 |
Aufmerksamkeit auf sich selbst - das ist
ja einfach die Art und Weise, wie moderne Subjekjtivität funktioniert.
Wirr sind zur Selbstbezüglichkeit verurteilt beziehungsweise zu ihr
erzogen worden. Das hat vor allem mit den Egotechniken zu tun, die unser
Leben seit 200 Jahren prägen.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 37 |
Die
menschliche Existenz ist immer durch eine Art anthropologische Differenz bestimmt:
Auf der einen Seite gibt es Menschen, denen es schon gelungen ist, Menschen zu
sein in diesem erhöhten Sinn, und solchen, die im Bereich der Vorstufen herumwerkeln.
Seit dem zweiten Jahrtausend vor Christus hat sich die anthropologische Differenz
vor allem in der Differenz zwischen dem heiligen und dem profanen Menschen zum
Ausdruck gebracht. Indien ist das Mutterland dieser Differenz ..., in der Antike
nimmt sie in einer indogermanischen Interpretation die Idee des Weisen an. Die
ganze Geschichte ist die Geschichte einer anthropologischen Differenz zwischen
Menschen, die es in einer spezifischen Hinsicht etwas weiter gebracht haben, und
Menschen, die es nicht so weit gebracht haben.Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch, in:
Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38 |
Gautama
Buddha hat etwas erreicht - das haben alle seine Mitmenschen gemerkt -, was er
niemandem auf gezwungen hat. Sondern er hat andere immer nur belehrt und damit
ein natürliches Gefälle des Seins und des Wissens mitgeteilt, das für
all diejenigen, die in den Bereich seiner Lehre gekommen sind, quasi unwiderstehlich
gewirkt hat. .... Das Anziehende ist daran, daß Buddha keine bloßen
Verhaltensimperative gibt, sondern jeder Imperativ immer auch mit einer Art Übungsregel
verknüpft wird.Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch, in:
Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38 |
Auch
das Christentum hat eine Übungskultur um sich herum ausgebildet, die die
anthropologische Unwahrscheinlichkeit des Christseinkönnens mit einer unglaublichen
Heftigkeit zum Ausdruck gebracht hat. Da kamen nämlich dann die Hochleistungschristen
auf die Bühne, haben sich von den griechischen Athleten das ganze Vokabular
ausgeliehen bis hin zum Gebrauch der beiden griechischen Trainingswörter
»melete« und »askesis«. Die ersten Mönche haben sich
offen heraus die Athleten Christi genannt. Und für ein ganzes Jahrtausend,
eigentlich bis zu Luther, war ja das Christentum in erster Linie Mönchsreligion.
Mit anderen Worten: Die Übermenschforderung ist die Substanz der Anthropologie
der alten Hochkulturen.Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch, in:
Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38 |
Die
Moderne baut die Übermensch-Problematik ab, nicht auf. Wir versuchen
ja eher, einen egalitären Ausgleich zwischen den Hochleistern und den Nichtleistern
herbeizuführen. Wir haben eine Fülle von Lebensformen geschaffen, um
diese Differenz abzubauen. Das Zeitalter der anthropologischen Differenz ist für
uns im wesentlichen beendet: Wir geben nicht zu, daß es substanzielles
Königtum gibt. Wir geben nicht zu, daß es substanzielle Weisheit
gibt. Wir geben nicht zu, daß es substanzielle Heiligkeit gibt. Und
wir geben auch nicht zu, daß es substanzielle Genies gibt. Also die
vier Formen der anthropologischen Differenz, die ... prägend gewesen
sind, sind jetzt mehr oder weniger erledigt. Darum hat Max Scheler vom Zeitalter
des Ausgleichs gesprochen - er meinte damit, die alte Spannung zwischen Geist
und Leben komme an ihr Ende.Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch, in:
Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 38 |
Sobald
so eine Höhenposition errichtet ist, ist der Inhaber dieser Position eigentlich
mehr ein Zeuge dieser Differenz und nicht so sehr ihr Propagandist. Er ist mehr
ein Zeuge dafür, daß es Vertikalspannungen gibt. Die ruft das Ressentiment
auf den Plan, und daher haben wir, seit es Hochkultur gibt, auch eine Ressentimentindustrie.
Deshalb kann man den Beruf des Philosophen auch nicht ausüben, wenn man nicht
das Schierlingsbechertrinken täglich mitübt.Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch, in:
Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 39 |
Als
öffentliche Person muß man ein ständiges Training absolvieren
in der Unterscheidung zwischen dir selber und deinem Medienbild, diesem Avatar,
der da draußen zirkuliert. In meinen nun veröffentlichten Tagebuchnotizen
gibt es auch eine lustige Passage, in der ich mich selber als eine Art Voodoo-Puppe
beschreibe, die von gutartigen Menschen mit Nadeln gespickt wird und dazu benutzt
wird, guten Menschen zu Überlegenheitsgefühlen zu verhelfen. Menschen
lieben ja ihre Meinungen und vor allen Dingen ihre Ablehnungen. Meine Beobachtung
sagt mir, wenn ein Mensch einmal zu einer Art bevorzugter Ablehnung in Bezug auf
irgendeine Person gekommen ist, dann hält er an einer solchen Position mit
einer gewissen Leidenschaft fest, weil sie ein Teil der eigenen Persönlicjkeit
ist. Haß ist identitätsstiftend.Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch, in:
Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 39 |
Meine
Primärwahrnehmung ist, daß nur wirklich wenige Menschen in einer authentischen
Vertikalspannung leben.Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch, in:
Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 40 |
Früher
war es ja eher so, daß der Köder durch eine exemplarische Persönlichkeit
ausgelegt worden ist. Meistens aus dem Feld der vierfachen Eminenzen - die Heiligen,
die Könige, die Helden und die Genies. Das ist diese
Vierfaltigkeit der menschlichen Köder, die den anderen Menschen zeigen,
was nach vorne und oben möglich ist. Wenn man sich aber vor dieser Köderung
in Sicherheit bringen möchte, dann entsteht ein ganz anderes Regime, das
zum großen Teil identisch ist mit dem, das wir heute beobachten. Da wird
die Vertikaldifferenz nicht durch diese vier Höhenpositionen repräsentiert,
sondern durch Ranking -dieses zeitgenössische Instrument zur Interpretation
von Vertikaldifferenz. Aber hinter allem Ranking steht ja die nihilistische Vermutung,
daß a) dies alles nur äußere Evaluierungen sind und b) dies über
den wirklichen Wert der Dinge nichts aussagt. Soziologisch gesprochen tritt an
die Stelle des Vorbilds der Promi.Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch, in:
Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 40 |
Darauf
möchte ich auch hinaus. Ich sage, das einzige, was vor den verrücktmacherischen
Dimensionen des Lebens in Vertikalspannung retten kann, ist, daß man sie
zwar anerkennt, aber sich nicht in selbstdestruktive Formen des Vergleichs hineinbegibt.
Die Menschheit hat bis auf den heutigen Tag kein stärkeres Mittel, unglücklich
zu machen, entdeckt, als den direkten Vergleich mit Überlegenen. Gleichzeitig
ist das ganze Leben eine einzige Veranstaltung zur Demonstration von Differenzen
zwischen Menschen, die die Sache so gut machen, wie sie können, und anderen,
die es besser machen. Man muß wissen, daß der Vergleich die moralische
Höllenmaschine ist, die das menschliche Leben verwüstet. Zugleich ist
er unausweichlich. Man muß wissen, wie man die schädlichen Vergleiche
stoppt, um den langen Lauf des Lebens genau in der Geschwindigkeit zu bewältigen,
die für mich die jetzt mögliche und richtige ist.Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch, in:
Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41 |
Der
Sportkörper und der Geistkörper sind nicht unabhängig voneinander
zu denken. Das Gehirn ist ein überwältigend aktives Marathonorgan, so
daß jeder Denkende gar nicht anders kann als sich mit den Äußerungen
der übrigen Läufer - die nicht notwendigerweise Konkurrenten sind -
auseinanderzusetzen. Das ist das größte moralische Geheimnis: Wie man
dem Gift des Vergleichs zugleich heilsame Wirkung abverlangt. Man kann das Gift
als Gegengift verwenden, indem man begreift, du könntest an keiner anderen
Stelle laufen, als du es jetzt tust, und angesichts deines Trainingsniveaus auch
nicht schneller.Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch, in:
Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41 |
Die Urform der Anthropotechnik ist die Pädagogik. Die Pädagogen
wollten aus Kindern, die man sich als polymorphe Nichtskönner vorgestellt
hat, Alleskönner machen. Die Grundidee der sophistischen Pädagogik
ist, daß der vollendete Mensch alles können soll. Dies ist
das Ziel der klassischen Paideia: Das Leben strebt nach Vollständigkeit,
das Leben selber ist per se Vielseitigkeit.
Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch, in:
Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41 |
Ja,
das Leben ist Dekathlon, der allgemeine Zehnkampf. Daß jeder Mensch in seiner
Zehnkämpfer- oder Allkämpfer-Eigenschaft ernst genommen wird und deswegen
nach allen Seiten lernen muß, das ist die große Intuition der Sophisten
gewesen. Das erstaunliche Ideal der sophistischen Erziehungsprogramme ist, aus
dem Menschen ein Wesen zu machen, das der größten Bedrohung des Menschseins
bis ins Äußerste widersteht, nämlich der Amechania. Griechisch:
die Hilflosigkeit - wenn man keine mechane mehr hat, keine List, keinen
Trick, kein Hilfsmittel. Amechania ist der Zustand, in dem sich das menschliche
Wesen schlechterdings niemals befinden soll. Alle Erziehung ist Überwindung
der Amechania.Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch, in:
Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41 |
Wenn
der Sophist der Prototyp des Erziehers ist, und wenn das Wesen der Erziehung darin
besteht, den Menschen Hilfsmittel gegen das Versinken in Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit
anzubieten, dann sollte man mit Leib und Seele Sophist sein.Peter
Sloterdijk, Das Leben ist ein Zehnkampf, Gespräch, in:
Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 41 |
Im
Oberseminar kommt die Debatte auf Otto Röslers Überlegungen zu den Risiken
der CERN-Experimente, die 2009 beginnen sollen. Rösler führt aus, es
sei nicht mit absoluter Gewißheit auszuschließen, daß sich bei
den Teilchenkollisionen in dem Large Hadron Collider ein winziges Schwarzes
Loch bildet, das nicht sofort (wie man allgemein erwartet) zerstrahlt, sondern
sich irgendwie stabilisiert. Träte das ein, so würde es die typischen
Eigenschaften eines solchen Objekts entwickeln, nämlich alle Materie um sich
herum aufzufressen. Die Vorstellung ist in ihren Konsequenzen furchterregend,
obschon die Idee eines Weltuntergangs durch physikalische Grundlagenforschung
auch etwas Erhabenes besitzt. Das Schwarze Loch made in Swizzerland würde
aufgrund seiner noch sehr kleinen, aber schon überdichten Masse im freien
Fall zum Erdmittelpunkt hinuntersausen und von dort aus sein Werk verrichten -
zur Enttäuschung derer, die meinten, aus Gründen der Fairneß müßten
Genf und Umgebung zuerst eingesaugt werden. Die Implosion beträfe alle Orte
an der Peripherie des Planeten gleichzeitig und symmetrisch. Die Materie der Erde
würde gerade mal ausreichen, um auf eine Kugel von der Größe einer
Honigmelone zu schrumpfen. Im Zusammenhang mit diesen Visionen tauchte unter den
Teilnehmern des Seminars die Frage auf, ob es ein bürgerliches Widerstandsrecht
in bezug auf Risiken von Forschung gibt. Wer den Eigenwillen des Wissenschaftsbetriebs
kennt, wird an ein solches Recht nicht glauben, geschweige denn an seine Umsetzung.
Wie sollte das geschehen? Können Bürger gegen Elementarteilchen auf
die Straße gehen?Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 44 |
Schlechte
Nachrichten von der Europa-Front: Die Iren haben beim Referendum über den
Lissabon-Vertrag mit Nein votiert wie vor ihnen schon die Franzosen und die Holländer.
Da sieht man einmal mehr, wie sehr die Völker auf der Baustelle Europa stören.
Man möchte meinen, im irischen Nein komme ein verblüffender Zusatz an
Undankbarkeit zum Tragen, da ja die Iren als die größten Nutznießer
der EU gelten. Das Elend ist, daß die Neinsager überall so tun können,
als hätten sie nur das vertrackte Vertragswerk von Lissabon abgelehnt, seien
aber ansonsten die besten aller Europäer. In Wahrheit liegt dem Nein alles
mögliche zugrunde, auch Giftiges und Ungestehbares. In Frankreich war es
seinerzeit besonders der zähe souveränistische Reflex gewesen, in Verbindung
mit dem sehr verständlichen Wunsch, dem alten Staatskasper Chirac eins auszuwischen,
zudem ein diffus populäres anti-europäisches Ressentiment. Der französische
Nein-Cocktail von 2005 war komplizierter, als ein Leitartikel fassen kann - ein
Gebräu aus landeseigenen Widerstandsmythen, anti-brüsseler Trotzgesten,
germanophoben Reflexen, ironischen Elysee-Verhöhnungen, bedeutsam-philisterhaften
Besserwissereien, konspirationsfrohen Internetaktionen, spätjakobinischem
Negationseifer und anarchistischer Freude am Debakel- die Agitationen des Sozialisten
Fabius nicht zu vergessen, der sich von der Nein-Welle ins Präsidentenamt
tragen lassen wollte. Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 44-45 |
Geschichte
ist für uns in erster Linie das Reich der Enttäuschungen. Das wollen
die nicht einsehen, die heute affirmativ hinausposaunen: Die Geschichte geht weiter
- als ob dies eine gute Nachricht wäre. In den letzten Jahren sind zwei Dutzend
Anti-Fukuyama-Bücher erschienen (unter anderem von Ralf Dahrendorf und Joschka
Fischer), fast alle von biederer Tendenz und ohne das geringste Gespür für
die interessante Pointe der These vom Ende der Geschichte. Wer für die Konservierung
der Geschichte plädiert, bekennt sich, ohne es zur Kenntnis zu nehmen, zu
den kommenden Enttäuschungen - und zu den Illusionen, die ihnen vorausgehen.
Die wichtigste Voraussetzung für den Fortgang der Geschichte ist seit jeher
die nachwachsende Naivität der folgenden Generationen. Es ist der Anfängergeist,
der die Dinge immer wieder von vorne startet. Die Jugend zerstört die Erfahrungen
der Älteren durch ihre fatale Fähigkeit, bei Null zu beginnen. Sie entwertet
die mühsam erworbenen Enttäuschungen, die doch das Beste waren, was
die Alten besaßen. Die ungebrannten Kinder werfen die Weisheit der Eltern
auf den Müll. Das einzige, was hoffen ließe, wäre eine Jugend,
die durch Mißtrauen wettmacht, was ihr an Enttäuschung fehlt. Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 45-46 |
14.
Juni 2008, Wien. .... Mit dem Rad die größere Runde an der Donau
bis Tulln und zurück. Bin rechtzeitig wieder zu Hause, um a) die Zahnschmerzen,
die seit Monaten nie ganz verschwunden waren, wieder mit einer Dosis Ibu niederzukämpfen,
b) mir ein Glas Burgenland-Roten zu genehmigen, c) das Spiel zwischen Spanien
und Schweden anzusehen, d) speziell für Günther Netzer die Zeitmaschine
neu erfinden zu wollen, damit er in seine Spielerzeit zurückreist statt zu
kommentieren.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 46 |
Was
Fatalismus bedeutet, kann man beim Sport erleben -und nirgendwo so klar wie in
der Unumkehrbarkeit der Fehlentscheidungen von Schiedsrichtern. Im Deutschen hat
man dafür das herrlich absurde Wort »Tatsachenentscheidung« erfunden,
das passive Gegenstück zu Fichtes überdrehtem Begriff »Tathandlung«,
der ein Vorbote des Hyperaktivitätssyndroms in der Philosophie war. In Wahrheit
wird durch die irreversiblen Entscheidungen der Schiedsrichter eine religiöse,
genauer eine ontologische Disposition angesprochen - die Bereitschaft zur Unterwerfung
unter die Macht des Faktischen. Die Pointe dabei: Die Unterwerfung muß auch
dann vollzogen werden, wenn du mit eigenen Augen gesehen hast, daß die Entscheidung
falsch war. Das ist ohne die abstrakte Ehrfurcht vor der lenkenden Instanz nicht
zu denken, erst recht nicht ohne die Dressur, sich protestlos unter Verfahren
und Diktate zu beugen. (Man könnte über eine gemeinsame Wurzel von Rechtsprozeduren,
Gottesurteilen und Spielregeln nachdenken.) Nur die Unterwerfung (»Kastration«)
löst in den Menschen die »ontologische Reaktion « aus, sprich
die Hinnahme eines Resultats, bei welcher der Gedanke an Revision nicht mehr aufkommt.
Im Licht dieser Überlegungen wird klar, wie abwegig die Versuche sind, die
Schiedsrichterrolle durch Torkameras, Videobeweise usw. zu objektivieren. Zum
Fußball als reguliertem Schicksalsdrama auf dem Rasen gehören drei
Mannschaften. Nimmt man der Mannschaft im schwarzen Trikot die Freiheit, falsch
zu pfeifen, hat man das Spiel ruiniert.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 46-47 |
Das
Referendum-Nein (in Irland und anderswo) ist die staatliche zugesicherte Form
der Revolte. Um 1900 hätte man das vielleicht den weiblichen Widerstand genannt.
Der geht darauf aus, dem Herrn einen Streich zu spielen, wenn er am großzügigsten
war. Man überrascht ihn mit Negativität, wo er es am wenigsten erwartet.
Für einmal hat die Psychoanalyse recht: Hysteriker sind auf der Suche nach
einem Herrn, um ihn tyrannisieren zu können.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 47 |
Der
erste Schurkenstaat der Moderne, das revolutionäre Frankreich ....Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 53 |
Nach
jüngeren Statistiken gibt es in Deutschland 826000 »Millionäre«,
sprich Personen, die mehr als 1 Million Euro an Privatvermögen besitzen.
Weltweit sollen es 10,1 Millionen sein. Nach herkömmlichem Sprachgebrauch
sind diese Leute natürlich keine echten Millionäre mehr, sondern gewöhnliche
Wohlhabende, das bequeme 1 Prozent jeder Population. Die früher so genannten
Millionäre haben sich nach oben abgesetzt, in die Vermögensstratosphäre,
wo man mit dem Hundertfachen, dem Tausendfachen der simplen Million rechnet. Von
den Lebenswirklichkeitendieser sehr kleinen Gruppen wissen wir weniger als von
verlorenen Stämmen am Amazonas.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 55 |
3.
Juli 2008, Karlsruhe. Regentag. Man liest, der Menschenrechtsrat der United
Nations habe den »Schutz religiöser Gefühle« höher
eingestuft als das Recht auf Meinungsfreiheit. Ein historisches Datum. Die Schutzidee
hat die höchste Ebene erreicht. Von jetzt an wird alles Immunologie. Die
Welt ist die Summe aller Protektionismen. Die Protektionisten selbst nehmen hiervon
zumeist nicht Kenntnis, weil wohlwollende Verhältnisse, indem sie reziprok
schützend sind, den Schein von Schutz-nicht-nötig-Haben erzeugen.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 59 |
Der
Verfasser der Petersburger Gespräche ahnte nicht, daß bei seinem protestantischen
Zeitgenossen Hegel die stärkere Lösung des Rätsels gefunden worden
war: Gott läßt die Ereignisse der Geschichte nicht bloß zu, er
verwirklicht sich in ihnen. Die Prüfung besteht nicht darin, ihnen zu widerstehen,
sondern darin, sich an ihre Spitze zu setzen.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 114 |
Gäbe
es eine objektive Geschichte der »Kritik«, würde man erkennen,
wie einseitig man den Begriff zumeist gebrauchte. Man verstand darunter bis heute
fast immer die Abrechnung der Gerechten und Progressiven mit dem schlechten »Bestehenden«
und die Attacke dert Vernunft gegen das mißratene Alte. Was dabei übersehen
wird, ist die Tatsache, daß seit 1789 der größere Teil der »Kritik«
von konservativer Seite vorgebracht wird. Unentwegt geht man mit dem schelchten
»Bewegenden« ins Gericht und findet tausend Gründe, über
dem mißratenen Neuen den Stab zu brechen.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 114 |
Inwiefern die Biologie bei Homo sapiens verquere Wege geht: Die
Fixierung der juvenilen Merkmale beim Menschen, bis hin zu der ... sogenannten
Neotenie, die mysteriöserweise die Beibehaltung mancher fötalen
Züge in der menschlichen Physiologie bedeutet, bringt es mit sich,
daß der Behaarungsbefehl nicht ausgeführt wird, durch den wir
ein dichtes Fell bekämen - wahrscheinlich wird ein hormonelles Signal
unterdrückt, das die Behaarung auslösen würde. Dazu muß
man bedenken: Neugeborene Affen sind zunächst so nackt wie wir und
legen sich ein Fell zu, wenn es an der Zeit ist. Diese Zeit kommt bei
uns nicht mehr. Wir bleiben so minimal behaart, daß man mit einiger
Berechtigung sagt, wir seien nackt - was man von keinem erwachsenen Tier
behaupten würde. Auch der Schnauzenbildungsbefehl wird nicht mehr
ausgeführt, wir behalten die infantilen Gesichter und können
uns von Angesicht zu Angesicht anchauen. Der Befehl, die weiblichen Genitalien,
die bei den weiblichen Jungaffen wie bei den Menschenfrauen zuerst vorne
in subventraler Position liegen, in die hintere, subcaudale Position zu
verschieben, wird ebenfalls nicht mehr beachtet. Von der Biologie der
Befehlsverweigerung versteht man noch wenig. Es scheint, der Menschenkörper
antwortet auf die Anordnungen der animalischen Natur, die zu einem erwachsenen
Tier führen sollten, mit der Melvilleschen Formel: » I would
prefer not to«. Mit der Weigerung, ein Fell zu tragen, beginnt die
Mutation zum nackten Affen, der Amulette und Seidenstoffe bevorzugt.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 123-124 |
Nach Luther kann jeder, der es wissen will, verstehen, wie, wann
und warum dienen und rebellieren dasselbe bedeuten.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 126 |
Die Sphärologie ist die Methode, die Geräumigkeit der
Welt millionenfach zu erhöhen, während die üblichen Diskurse
der Globalisierung die Welt degoutant verkleinern.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 131 |
Der weltweite Erfolg der Psychoanalyse beruht nicht zuletzt auf
der kollektiven und teilweise mutwilligen Ignorierung des Westermarck-Effekts,
den man in dem Satz: »Frühe häusliche Vertrautheit zwischen
Personen blockiert erotisches Begehren« zusammenfassen kann. Dieses
Theorem, das von dem finnischen Soziologen ... (er starb ... im September
1939) vor allem mit Blick auf Geschwisterbeziehungen entwickelt worden
war, läßt sich plausibel auf die Eltern-Kind-Beziehungen ausweiten.
Der Mann Ödipus konnte seine Mutter nur zur Frau nehmen, weil er
sie für eine Fremde hielt. Bei ihm war die erotische Neutralisierung
durch Vertrautheit nicht eingetreten. Trifft diese
Beobachtung zu (und sie trifft zu! Anm. HB),
kann es keinen allgemein verbreiteten Ödipus-Komplex geben, weil
normale Jungen im nahen Umgang mit ihren Mütter aufwachsen und als
begehrende Subjekte in der »ödipalen« Konstellation nicht
in Frage kommen. Folglich wird die Ablenkung des Begehrens von der Mutter
nicht durch das väterliche Verbot bewirkt .... Vielmehr geht das
erotische Verlangen, wenn es erwacht, von sich aus exogame Wege, der Vater
spielt bei Ablenkung des Eros vom Primärobjekt so gut wie keine Rolle,
allenfalls als Modell dafür, wie man sich als Interessent gegenüber
einer weiblichen Person zu benehmen hat - und selbst das ist nicht überzeugend
erwiesen ....
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 136-137 |
Goethe selbst war eine Kraft, die alles tat und immer wieder tat,
was nötig war, um aus einen unfertigen Goethe einen weniger unfertigen
zu machen. Das prinzip des höheren Lebens ist übender Fleiß.
Geboren sind wir schon, zur Welt aber kommt nur, wer sich vorwärtsarbeitet.
Kreatives Leben gebiert sich selbst. Weil dabei nicht alle gleich weit
kommen, gibt es eine Ungleichheit zwischen Menschen, von der die Soziologie
nichts weiß. Das ist es, was ich in meinem Buch als Anthropotechnik
beschreibe. Goethe hat deren Prinzip in einem enoremen Satz festgelegt:
»Eine tätige Skepsis: welche unablässig bemüht ist,
sich selbst zu überwinden, um durch geregelte Erfahrung zu einer
Art von bedingter Zuverlässigkeit zu gelangen.« (Maximen
und Reflexionen 1203).
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 150-151 |
Wovon
träumt Frankreich denn seit 1871, wenn nicht von den Zeiten vor der Niederlage?Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167 |
Cioran
... läßt Spenglers Thesen über das Schicksal des Abendlandes aufs
französische Format schrumpfen.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167 |
Cioran ... ware ja der Anti-Soziologe par excellence ....
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 167 |
Wie
die Franzosen nach der libération plötzlich neben den Siegern
aufmarschierten, als ob nie etwas gewesen wäre, in dopppelter Heuchelei ...,
so haben die Niederländer nach 1945 sich etwas vorgemacht und ihre Nachkriegswirklichkeit
auf einen nicht selbst erfochtenen Sieg aufgebaut. Die nachträgliche nukleare
Großmannssucht der Franzosen ist das formale Äquivalent der nachträglichen
kosmopolitischen Umarmungssucht der Holländer.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 176 |
Worauf
die bürgerliche Gesellschaft hinaus will, nämlich auf die Aufhebung
des Zwangs zur Arbeit unter beibehaltung ihrer Belohungen ....Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 184 |
Lizenz
zum Genießen .... Die Anfänge des Konsums liegen in der europäischen
Romantik, nachdem Rousseau ... das Recht des Einzelnen auf eine sich selbst genießende
Nutzlosigkeit proklamiert hatte.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 186 |
Die
hölheren Positionen ... werden im allgemeinen von Individuen innegehalten,
von denen kein Mensch imstande wäre zu sagen, worin sie sich ausgezeichnet
hätten.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 192 |
Hegel:
»Der freie Mensch ist nicht neidisch, sondern anerkennt das gern, was groß
und erhaben ist, und freut sich, daß es ist.« (Grundlinien der
Philosophie des Rechts, S. 47).Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 194 |
Norbert
Bolz ...: »Der Haß auf den Feind wird ersetzt durch den Neid auf den
Erfolgreichen.« (Diskurs über die Ungleichheit, S. 113).Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 1947 |
Woran
würde man das Ende der Geschichte erkennen? Vielleicht am Aufhören der
Sorge.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 197 |
Weil
Kunst in Überproduktion schwimmt, muß sie die Flucht in die Überbewertung
des Wertlosen antreten - eine Form der Umwertung der Werte ....Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 204 |
Philosophie
ist Training in Sterblichkeit, hierin dem älteren Christentum verwandt.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 207 |
Goethe
über die Folgem der französischen Revolution: Bis dahin war alles Streben,
danach war alles Fordern.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 478 |
Das
potentiell viel wichtigere Buch Thymos and Civilisation fand nie seinen Autor. Fukuyama hätte es beinahe vorgelegt, doch verpaßte er die Chance,
indem er die Materialien zu dem Werk in seinem hochtönenden Traktat über
das Ende der Geschichte versteckte - neben Spenglers Untergang des Abendlandes
der Anwärter auf den Titel des meistzitierten ungelesenen Buchs des 20. Jahrhunderts.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 480 |
Bei
Norbert Bolz eine schöne Idee: das Eigentum sei als »Exoskelett«
des Individuums aufzufassen. Das Wort verwendet man sonst für die Hülle
von Insekten oder weichen Tieren mit harter Umschalung.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 488 |
Um
den ursprünglichen Sinnumfang des Worts »Menschenrechte« richtig
einzuschätzen, ist es nüttzlich, zu wissen, daß sich z.B. unter
den ersten 16 Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, die zwischen
1788 und 1848 amtierten, 12 sklavenhaltende Patrizier aus den Südstaaten
befanden, darunter Thomas Jefferson, der Autor der Unabhängigkeitserklärung,
und George Washington, der Übervater der US-Amerikaner.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 578 |
Von Heinsohn ein Papier, in dem es heißt:, Europa ist ...
ein Sozialhilfebündnis. Es sollte nicht verboten sein, über
seine Zerlegung und Neukonfiguration nachzudenken. Heinsohn zerschneidet
es fröhlich in drei neue Blöcke: ein Bündnis der nördlichen
Monarchien, eine hochpotente Alpenkonföderation und einen südlichen
Block, in dem die Mittelmeerländer unter sich wären. Eine jede
der neu zugeschnittenen Einheiten könnte sich als lebensfähiger
erweisen als die Brüsseler Union, die ein Gesamtkunstwerk aus gegenseitiegn
Behinderungen darstellt.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 583 |
Die ... 100 Millionen arbeitslosen Jugendlichen ..., die bis zum
Jahre 2020 die »Länder des Halbmonds« unter Streß
setzen. Wer zudem die USA dafür tadelt, sie hätten ebenfalls
die Chance zu einem ermunternden Signal an die jungen Ägypter verpaßt,
begreift nichts vom strategischen Wert der nordafrikanischen Vorgänge
auf dem us-amerikanischen Schachbrett. Für die Spielmacher in Washington
laufen die Dinge, wie sie sollen, solange sie in ihrer Summe dafür
sorgen, daß die Europäer in den kommenden Jahrzehnten den nordafrikanischen Klotz am Bein haben werden.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 586-587 |
Es
muß in Goethes Leben einen Tage gegeben haben, von dem an er sich zum Goethe-Experten
wandelte.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 589 |
Nur
Goethe weiß, wie Goethes Werk zu rezipieren ist.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 590 |
Permanent macht Goethe das Große Graecum, das Große
Persicum, das Große Sinologicum. Zuletzt ist er ganz Chinese und
spielt mit sich selbst Verbotene Stadt.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 590 |
Schon
jetzt setzt Italien die nördlichen Nachbarn unter Druck, ihm die unwillkommenen
Zuwanderer so bald wie möglich abzunehmen.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 596 |
Im übrigen hatte Muammar al-Gaddafi bei seinem Staatsbesuch
in Italien im Auigust 2010 die Europäer vor potentiellen Millionenheeren
afrikanischer Zuwanderer in den kommenden Jahren gewarnt und zu deren
Ruhigstellung am Ort Bleibegelder in Höhe von vielen Milliarden Euro
aus europäischen (sprich: deutschen; Anm. HB)
Kassen gefordert. Von offiziellen Reaktionen der EU auf diesen Droh-Hinweis
wurde nichts bekannt.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 596 |
Weil
es keine Buchstaben gibt, bleibt dem chinesischen Denken der Elementarismus bzw.
der Atomismus unbekannt.Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 597 |
Die arabischen Revolten erzeugen ein Nebenprodukt, das von den
Wirtschaftsblättern noch nicht erfaßt wurde: Sie stellen die
Forbes-Listen der größten Vermögen in einem wesentlichen
Segment als Fiktionen bloß. In die Spitzenzone der Tabellen gehören
seit längerem die despotischen Kleptokraten von Mubarak und Ben Ali
bis zu Putin und Gaddafi, die in den gängigen Listen der reichsten
Royals von König Bhumipol bis Hans Adam II. naturgemäß
nicht auftauchen (ebenso die noch reicheren, also
mächtigeren Kleptokraten; Anm. HB). Auch ein gut Teil der
großen Vermögen ist bastardisch geworden.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 600 |
Was die Moderne in moralgeschichtlicher Sicht bedeutet: Sie emanzipiert
die Schuldner, zumal den großen, mehr und mehr von der Verfolgung
durch den Gläubiger und spricht den sozialen Versager von eigener
Schuld frei. Mehr noch, das Leiden-Machen als Vergeltung für unreturnierte
Schulden wird verpönt, der Bankrotteur kommt schmerzlos davon, ein
Leidensausgleich findet nicht mehr statt. Wenn es der Staat ist, der sich
bis zum Bankrott überschuldet, heißt es sogar, nicht der Schuldner,
der Gläubiger ist schuldig.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 610 |
Es soll in Deutschland im Jahr 2010 circa 110000 legale und gemeldete
Abtreibungen gegeben haben, davon nicht mehr als 3% aufgrund von medizinischer
und kriminologischer Indikation. Der Umfang der Dunkelziffer wird auf
200% geschätzt, wonach die Gesamtzahl der Schwangerschaftsabbrüche
bei 300000 gelegen haben dürfte (eher bei 400000;
Anm. HB). Das bedutet bei 675000 Lebendgeburten im selben Zeitraum,
daß jedes dritte Kind an der Wand der Unwillkommenen zerschellte.
(In der EU, den USA und Kanada zusammen sind
es übrigens rd. 4 Millionen an der Wand der Unwillkommenen Zerschellte!
Anm. HB).
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 613 |
Wenn wir gehen werden, werden wir das Gefühl haben, wir hätten
unsere Kindheit in der Antike verbracht, unsere mitteleren Jahre in einem
Mittelalter, das man die Moderen nannte, und unsere älteren Tage
in einer monströsen Zeit, für die wir noch keinen Namen haben.
Peter
Sloterdijk, Zeilen und Tage, 2012, S. 639 |
Augustinus ... löste mit seiner veschärften
Sünden-Doktrin eine Verdüsterung aus, von der sich die westliche
Welt bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt. Er wollte sich nicht
damit zufriedengeben, den außerparadiesische status quo der
Menschen demütig zur Kenntnis zu nehmen. Er drängte darauf,
den Fall tiefer zu motivieren, indem er ihn zu einem Entfremdungsdrama
zwischen Mensch und Gott übderhöhte, bei dem die Rolle des böse
lachenden Drittem dem Satan zufiel, dem selbstverliebeten Anführer
der aufrührerischen Engel.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
12 |
Den Hebelpunkt für seine Lehre von der anhaltenden Erblichkeit
der Sünde findet Augustinus im Generationenprozeß: Wie das
zweigeschlechtliche Leben als solches ist die Sünde eine sexuell
übertragbare Krankheit. Mehr noch: Der Modus der Übertragung,
der Geschlechtsakt, beinhaltet die Wiederholung der ersten Sünde,
weil er nicht ohne superbia, das heißt nicht ohne die überhebliche
Selbstbevorzugung des Geschöpfs vor seinem Schöpfer, zustande
kommt. Der sexuelle Höhepunkt ist die Spur des teuflischen Hochmuts,
in dem sich die Kreatur von ihrem Ursprung abwendet, um sich selber an
die erste Stelle zu rücken. (Vgl.: De Civitate Dei, 14. Buch,
Abschnitt 15: »Der Hochmut der Übertretung ist schlimmer als
die Übertretung selbst,«) Wären die Menschen fähig
geblieben, sich fortzupflanzen, ohne ihren sinnlichen Aufruhr zu genießen,
wären sie dem Heil näher geblieben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
16 |
Es gehört zu Augustinus' problematischen Verdiensten, wenn
die westliche Zivilisation durch seine Anregungen einen Gedanken der Erblichkeit
von Schuld, Sünde und Korruption zu entwickeln vermochte, der es
mit dem indischen Konzept des Karma von ferne aufnehmen konnte. Indem
Augustinus alle spontanen Intuitionen der moralischen Alltagsvernunft
auf den Kopf stellte, konzipierte er eine Form von Sündigkeit, die
durch die Tatsachen der Fortpflanzung unmittelbar auf sämtliche Nachkommen
Adams überging - einzig den jungfräulich empfangenen Erlöser
ausgenommen. Mit Hilfe seines Erbsünde-Konzepts gelang dem melancholischen
Bischof die Konstruktionm eines Kontinuums irdischer Geschichte, das ganz
im Zeichen der zugleich angeborenen und immer spontan erneuerten Auflehung
der Einzelnen gegen Gott stünde. .... Der Mensch wird wie Gott, indem
er dessen Privileg, nein sagen zu können, auf Gott selbst anwendet.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
17-18 |
Erbsündenlehre in moderner Zeit .... Schon Rousseau lieferte
eine weltliche Umschreibung der Doktrin, indem er die Vertreibung aus
dem Paradies der Eigentumslosigkeit als den Gründungsakt der bürgerlichen
Gesellschaft auslegte: An die Stelle der Erbsünde tritt die erste
Regung des Sinns für Privatbesitz: Mit dem Satz: »Dies gehört
mir« beginnt die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft,
die nach Rousseau eine einzige Sequenz von Entfremdungen und Verkünstlichungen
darstellt. .... Er enttheologisiert das Böse und verlagert die Quelle
der Korruption auf das Feld des Sozialen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
19-20 |
Erblichkeit als solche erscheine jetzt als Makel, gegen den die
Modernen sich auflehnen, wo immer es ihnen gelingt, einen Widerstandspunkt
zu entdecken. Sie weisen immer öfter zurück, was sie an alten
Mitgiften bedrückt - ob es die Versklavung durch biologische Determinierungen
ist oder die Prägungnen durch Klasse, Schule, Kultur und Familie.
Das solche »Versklavungen« durch das Herkommen zugleich positive
Bedingungen konkreten, geglückten, bestimmten Lebens sein könnten,
mögen die Agenten der Losreißung nicht gerne wahrhaben. Im
übrigen gesellen sich zu diesem Ensemble von Fatalitäten in
der neuzeitlichen Kreditwirtschaft die Gläubiger, die auf der Rückzahlung
von Darlehen so hartnäckig bestehen wie vormals die Rachegöttinnen
auf der Exekution eines Fluchs.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
23-24 |
Wo immer das Interesse an Enterbung und Neubeginn aufflammt, stehen
wir auf dem Boden der authentischen Moderne. Dynamit, Utopie, Arbeitsniederlegung,
Familienrecht, genetische Manipulation, Drogen und Pop sollen die Sprengstoffe
liefern, um die Erbmasse des sogenannten Bestehenden in die Luft zu jagen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
24 |
Die Säkularisation der Erbsünde hat zwar das metaphysische
Gift neutralisiert, das, destilliert in der Hexenküche des Augustinismus,
im »Abendland« über anderthalb Jahrtausende weitergereicht
wurde. Doch hat die Ausschaltung der Erb-Belastung a priori zugleich
den Blick auf zahlreiche Formen ambivalenter Erblichkeiten im säkularen
Bereich freigegeben. Um vorsichtiger zu reden: Sie hat das Bewußtsein
von den Schwierigkeiten des Erbe-, Nachkomme- und Schuldner-Seins auf
neue Bahnen gelenkt. Ein Massenansturm auf Positionen des »voraussetzungslosen
Lebens« garantiert den Modernisierungen ihren Zulauf. In diesem
Punkt ist die entente cordiale zwischen dem Liberalismus und dem
Sozialismus mit Händen zu greifen. Die scheinbar unversöhnlichen
Gegenspieler sind die besten Freunde, wenn es darum geht, die familialen,
genealogischen und in erfolgreihen Filiationen gegründeten Prämisen
des »sozialen Lebens« zu verdunkeln.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
24-25 |
Zum Verständnis der modernen Welt gehört ... eine säkulare
Hermeneutik der Korruption. .... Man muß demonstrieren, warum der
mensch ... als das korrumpierbare Tier existiert .... Ebenos ist darzustellen,
wodurch er sich von Korruption befreit. Eine zeitgenössische Ethik
soll erläutern können, wie Korruption durch Wandlungen und Erholungen
korrigierbar sind.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
27-28 |
In den Tagen von Madame (de Pompadour [1721-1764];
HB) ist der Futurismus vage und unentschieden. Noch bezeichnet
das Wort »Geschichte« wie seit jeher die Kunde davon, wie
es vorzeiten eigentlich gewesen ist. Man schreibt sie wie in alter Zeit,
um zu erfahren, was früher war und warum man im Gewesenen die Richtlinien
für das Heutige findet. Historia magistra vitae. Zunächst
sind es wenige, die Zweifel am Primat des Geschehenen vor dem Kommenden
anmelden. Noch weniger zahlreich sind die Abgeklärten, die schon
verstanden haben, das aus gewesener Geschichte zu keiner Zeit etwas gelernt
wurde, allen Sammlungen exemplarischer Erzählungen zum Trotz. Gleichwohl,
auf diese kleine Zahl von Zweiflern und ihre Werbung für die Blickwende
ins Noch-Nicht werden die ungeborenen Generationen hören.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
33 |
Hegel hatte es als erster begriffen: In einer epochalen Formulierung
nennt er die Wirklichkeit die »Möglichkeit des Folgenden«
(Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse, 1808-1811,
§ 151).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
34 |
Der revolutionäre Hiatus riß das konventionelle Band
der Epochen entzwei. Wo Filiationen geherrscht hatten - getreue Übergaben
des väterlichen Erbes auf Nachkommen und Nachkommen von Nachkommen,
wie fiktiv auch immer -, hoben die Unterbrechungen des Herkommens tiefe
Gräben aus. Alles Leben wird neu datiert: Was später lebt, lebt
nach dem Einschnitt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
37-38 |
Über Nacht hatten die Haupt- und Staatsaktionen der großen
Welt sich in ein Improvisationstheater gewndelt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
38 |
Was bestehet und beharrt, wird im Unrecht sein; was vorwärts
geht und für Freiheiten trommelt, hat alles Recht auf seiner Seite.
Das erwachende Ungeheuer erweist sich als ein moralisierendes Geschöpf.
Von Anfang an verfügt es über Wege und Mittel, das Gewesene
ins Unrecht zu setzen. Die Welt der Väter scheint entrechtet, die
Könige werden der Despotie bezichtigt ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.38-39 |
Auch die neueste Gegenwart nimmt an der Entmündigung der
Vergangenheit teil, insofern sie selber schon morgen die die Vergangenheit
seiner zukünftigen Gegenwart sein wird..
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
39 |
Das Unrecht, bestehen zu wollen, ist das neue Gesicht der Erbsünde.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
39 |
Leo Trotzki sprach später von der »permanenten Revolution«,
um Stalins Politik des »Sozialismus in einem Land« (die er
folgerichtig als einen »Nationalsozialismus« im sowjetischen
Gewand bezeichnete) zurückzuweisen und einen anderen Modus internationalisierter
Umwälzung zu fordern.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
40 |
Aus der Sicht des ultrakatholischen savoyardischen Diplomaten
(Joseph de Maistre; HB), von 1802 bis 1816
im Dienste des Hauses Piemont-Sardinien ... in Sankt Petersburg tätig,
bedeutete die französische Revolution mitsamt ihrem Umschlagen in
den napoleonischen Expanionismus ... eine neue Qualität der Allianz
zwischen dem Menschlichen und dem Infernalischen, ja sie erschien ihm
geradezu als ein Totentanz, aufgeführt von menschengestaltigen Puppen:
Deren Schrittfolgen seien ihm in die Glieder gefahren, nachdem die Kirche
in Frankreich ihe Macht verloren hatte, die auf dem Grund der Seelen lauernden
Traumbosheiten in Schach zu halten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
55-56 |
Napoleon selbst hatte nicht versäumt, die Devise seines Handelns
auszusprechen, als er im Dresdener Dialog mit Metternich bemerkte: »Ein
Mann wie ich pfeift auf das Leben von einer Million Menschen«.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
58 |
Im Kopier-Vorgang ist die Möglichkei, das Nachkommen »aus
der Art schlagen«, seit jeher angelegt. Kulturen kennen wie Gene
die Mutation als Normalrisiko. Die Gefahr, die eigenen Kinder könnten
zu »schrecklichen Kindern« werden, ist so alt wie die höhere
Kultur ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
78 |
Die Bannung der Gefahr der Fehkopie brachte den älteren »Konservatismus«
hervor ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
78 |
Alle Generationen nach dem Hiatus tragen das Risiko riskanter
und schädlicher Mutation in unvergleichlich höherem Maß
in sich als ihre Vorgänger.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
79 |
Den schrecklichen Kindern gehen oft ratlose Eltern, manchmal perverse
Eltern, voraus.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
79 |
Die moderne Freiheit ist ... die innere Spur des allzu weit geöffneten
Hiatus zwischen den Verhältnissen der Vergangenheit und den Möglichkeiten,
die die Zukunftswelt offeriert.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
83 |
Der zivilisationsdynamische Hauptsatz lautet:
Im Weltprozeß nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien
freigesetzt, als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung
gebunden werden können.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
85 |
Das heißt: Der chronische Überschuß an Mobilisierungen
von Aktivitäten und die fortschreitende Auslösung tatbewegter
Ereignisströme, die sich in objektiven Relikten niedercshlagen, treibt
das Weltverhältnis und Wirklichkeitserlebnis der Modernen in stetig
wachsende Asymmetrien.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
85 |
Aus dem zivilisationsdynamischen Hauptsatz, wonach die Summe der
Freisetzungen von Energien im Zivilisationsprozeß regelmäßig
die Leistungsfähigkeit kultivierender Bindekräfte übersteigt,
lassen sich, je nach Grundstimmung und Geschmack des Interpreten, mehr
als zwanzig tragische und erheiternde Folgesätze ableiten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
87 |
Der zivilisationsdynamische Hauptsatz und seine fünfundzwanzig
Untersätze ergänzen die Thesen Niklas Luhmanns über die
Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme in der Moderne durch eine systemhistorische
Dimension, wobei sie den Akzent auf die »Emissionen« bzw.
die Wirkungsüberschüsse modernisierter Praxisspiele setzen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
91 |
War die Moderne das Weltalter der Projekte, erweist sich die Postmoderne
als das Zeitalter der Reparaturen (die Postmoderne
hat noch lange nicht angefangen, es sind überhaupt keine Reparaturen
in Sicht, also geht die Moderne erst einmal noch weiter - spätmodern;
HB).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
93 |
Waren Fortschritt und Reaktion die Leitbegriffe des 19., sind
Pfusch und Reparatur die des 21. Jahrhunderts (keine
Reparaturen in Sicht; HB).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
93 |
Global Governance. Der Ausdruck bezeichnet ein Vorhaben,
das praktisch und faktisch nicht gelingt, weil in der Welt der lokal zersplitterten
Agenden immer anderes wichtiger sein wird als die Sorge ums Ganze.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
93 |
Auf den nach wie vor anarchisch verfaßten bzw. unverfaßten
höheren Ebenen des Weltgeschehens ist die Koordination von Störfall
und Reparatur noch schwerer zu erreichen als auf nachgeordneten Stufen..
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
93 |
Zunehmend erweisen sich die staatlichen Agenturen als Figuren
der Drift von labilen zu labileren Zuständen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
94 |
Der altaufklärerische Glaube an eine seinsgesetzlich garantierte
Symmetrie von Problemen und Lösungen erodiert mit jedem Tag mehr.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
94 |
Man sitzt meistens in der ersten Reihe, wenn es gilt, dem überdehnten
Staat bei der Selbstverwaltung seiner Ohnmacht zuzusehen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
94 |
Ob Wahrnehmungen dieser Art einen zureichenden Grund bieten, die
Möglichkeit des Lernens aus der Geschichte insgesamt in Abrede zu
stellen - wie es von Hegel bis Gumbrecht gelegentlich erwogen wurde -,
mag offenbleiben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
94 |
Napoleon ... will die Dynastie schaffen, von der widerwillig schon
verstanden haben muß, daß es sie niemals geben kann. Er weiß
und will nicht wissen, daß Monstren keine Kinder haben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
121 |
Wie beiläufig gelang ihm (Walter Serner;
HB) in der älteren Version der Lockerung die bedeutendste
Begriffsbildung seines Jahrzehnts für die Existenz im aufklaffenden
Raum: »Lückenwut«. Sie ist die stärkste Version
dessen, was Heidegger fast zur selben Zeit als »Geworfenheit«
bezeichnete.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
141-142 |
Man findet den faschistischen Impuls - den Willen zum Weiterkämpfen
nach dem Krieg der Kriege - an vielen Orten, auch solchen, an denen er
sich nicht so nennt, nicht zuletzt bei denen, die sich besonders lauthals
als dessen Gegenteil deklarieren (die wahren Faschisten
sind stets die Linken, erst recht dann, wenn sie sich »Antifaschisten«
nennen; HB). Faschismus ist die Zustimmung zur Unmöglichkeit
der Demobilisierung. Er manifestiert sich in dem Bestreben, unter Waffen
und im Angriff zu bleiben ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
146-147 |
Faschismus ist der Wille zum Dasein im ununterbrochenen Aufmarsch
- Mussolini definierte ihn als den »Horror vor dem bequemen Leben«.
Faschismus ist die Stimmung, die sich in der Überzeugung kondensiert,
das Wort »Nachkriegszeit« sei nicht mehr als eine Verbindung
sinnloser Silben (Morpheme; HB). ER gründet
in dem nach 1917 und 1918 links wie rechts epidemisch gewordenen Glauben,
ein Krieg ohne ein Danach habe begonnen, ja, dieser umfassendere Krieg
sei seit jeher in Gang gewesen. Man dürfe sich der Einberufung in
ihn nicht entziehen. Er speist sich aus dem Antrieb, der dem Dadaismus
diametral entgegengesetzt ist. Um mit Oswald Spengler zu reden: Faschismus
ist die Pose von Leuten, die die Mobilmachung mit dem Sieg verwechseln.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
147 |
Ohne Zweifel war Lenin einer der wichtigsten Impulsgeber für
sämtliche Bewegungen, die den Weltkrieg in einen Folgekrieg weitertragen
wollten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
148 |
Der Bezugsrahmen der Oktoberereignisse (von
1917; HB) war die »historische« Selbstermächtigung
einer zahlenmäßig unbedeutenden Gruppe von Putschisten, die
im Falle ihres Erfolgs als Revolutionäre gelten wollten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
149 |
Für Lenins magisch-analoges Denken bedeutete die »Februar-Revolution«
(Anführunsgstriche von mir; HB) nichts
anderes als das Gegenstück zu der von Radikalen seit jeher verachteten
»bürgerlichen« Revolution von 1789 (allerdings
gab und gibt es es in Rußland gar kein Bürgertum! HB).
Der Führer der Ereignisse nach dem Oktober 1917 war entschlossen,
direkt vom 14. Juli 1789 in den September 1793, den Beginn des Terrors
(der Schreckensherrschaft; HB), überzugehen,
ohne den Fehler der Jakobiner zu wiederholen: daß sie eben den Männern
des Thermidor (... als der zivile Rückschlag gegen den Terrorherrscher
um Robespierre begann) zuviel Spielraum für Oppsition gegen die Diktatur
gelassen hatten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
151 |
Das wichtigste Instrument zur Implantierung einer Politik à
la 1793 in die russische Nachkriegsrealität war die von Lenin ersonnene
»Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen die
Konterrevolutionäre und Sabotage« (abgekürzt WeTscheKa
oder Tscheka): Mit ihrer Gründung im Dezember 1917 - nur wenige Wochen
nach dem Putsch - stellte er unter Beweis, wie gründlich er die Lektion
des französischen Terrors gelernt hatte. Er wußte, daß
die Vollbeschäftigung der Guillotine seinerzeit nicht genügt
hatte, um die Diktatur der Tugend zu festigen: Nie w+ürde eine Revolution
in Sicherheit sein, solange sie Individuen am Leben ließ, die zu
einer Aktion wie der des Thermidor fähig bleiben. Die Gefahr für
die junge Revolution ging nach seiner Analyse nicht so sehr vom Einsatz
terroristischer Mittel und dem Widerwillen der »Bourgeoisie«
(Anführunsgstriche von mir, denn, wie gesagt,
eine Bürgertum gab und gibt es in Rußland nicht; HB)
gegen sie aus, sondern von ihrer halbherzigen Anwendung. Seine historische
Aufgabe würde den Terror erst in dem Augenblick erfüllen, wenn
es niemand mehr wagte, sich gegen ihn aufzulehnen. Die historische Mission
der Tscheka bestand darin, den Mut zur Verneinung der bolschewistischen
Herrschaft im Lauf der Zeit zu einer unrussischen Eigenschaft zu machen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
152-153 |
In diesem Land würde es niemals einen Thermidor geben: Lenisn
Entschlüsse von 1917 und 1918 ergeben erst Sinn im Licht dieses psychopolitischen
Axioms. Die »Dekrete über den Roten Terror« vom September
1918 schrieben nicht nur der Geheimpolizei scharfe Direktiven vor, sie
schufen darüber hinaus die doktrinalen Anfänge des Systems der
»Besserungslager« (GULag), in denen das Konzept der Lebensvernichtung
durch Arbeit unter dem Vorwand der politischen Erziehung in die Praxis
umgesetzt wurde. Noch ahnte niemand, was die Erschaffung einer solchen
Gegenwelt bewirken würde: In den lagern entwickelte sich ein zweiter
Arbeitsbegriff, der den ersten bloßstellte. Die Strafarbeitswelt
bildete die Parodie auf den Archipel der Normalarbeit und verlieh dem
Begriff »Arbeiterklasse« einen sklavischen Klang, während
diese in offiziellen Reden zum Träger aller Tugenden erhoben wurde.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
153 |
Lenins Verlautbarungen des hektischen Jahres 1918 verraten, wie
schnell sich für ihn der Stil des zweiten Krieges verdeutlichte.
Aus der Sicht des Schreibtisch-Liguidators sollten sich Exekutionen in
Desinfektionsmaßnahmen verwandeln: Die Exterminierung von Gegnern
glich glich für ihn der Beseitigung von schädlichen Insekten.
Lenins Artikel vom 7. und 10. Januar 1918 über die »Säuberung
der russischen Erde von allem Ungeziefer« erwiesen sich auch terminologisch
als riichtungweisend.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
160 |
Niemand hat die Informalisierung des Scharfrichter-Wesens in der
russischen »Oktober-Revolution« (Anführunsgstriche
von mir; HB) und seine in der Stalin-Ära erreichte Inflation
präziser erfaßt als Alexander Solschenyzin: »Die Tscheka
... war ein in der menschheitsgeschichte einmaliges Straforgan, das in
einer einzigen Instanz die Kompetenzen der bespitzelung, der Verhaftung,
der Voruntersuchung, der Anwaltschaft, des Gerichts und der Urteilsvollstreckung
vereinigte.« (Ders., Der Archipel Gulag, Band 1, a.a.O.,
S. 39).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
160-161 |
Stalins Diktum »Menschen weg, Problem weg« formuliert
den russischen Weg zur Sachlichkeit.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
165 |
Generalstaatsanwalt Januarjewitsch Wyschinsky - ein kunstgerecht
nach oben Gestürzter - ... schloß ... seine Ausführungen
am 11. März 1938 mit den Worten, daß alle anderen (er hatte
für zwei der Angeklagten nur langjährige Lagerstrafen gefordert)
»wie räudige Hunde ersxchossen werden müssem! Unser Volk
verlangt das eine: Zertretet das verfluchte Nattrengezücht"!
Die Zeit wird vergehen, Unkraut und Disteln werden die Gräber der
abscheulichen Verräter überwuchern .... Wir, unser Volk, werden
weiterhin mit unserem geliebten Führer und Lehrer, dem großen
Stalin, den vom letzten Abschaum und Unrat der Vergangenheit gesäuberten
Weg beschreiten, vorwärts und immer weiter vorwaärts, dem Kommunismus
entgegen!«
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
167, 168-169 |
»Ich gestehe alle meine Verbrechen. Was für eine Rolle
würde es für die Bedeutung dieses Falls spielen, wenn ich hier
vor Ihnen versuchen wollte, die Tatsache zu beweisen, daß ich von
vielen der Verbrechen ... erst hier im Gerichtssaal etwas erfahren habe?«
(Christian Rakowski, zitiert nach: Robert Conquest, Der Große
Terror, a.a.O., S, 445).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
169 |
Die nach-stalinistische Sowjetunion hätte ihre revolutionäre
Dynamik allein in einem noch weiter forcierten Sturz nach vorn absichern
können. Ein Subjekt für diese Wahnbewegung jedoch ließ
sich nicht finden (weil sie gar nicht mehr steigerbar
war; HB), ein drittes Stockwerk der Terror-Überbietung war
nicht mehr zu errichten - es hätte den nuklearen oder chemischen
Krieg gegen das noch immer unzufriedene Sowjetvolk erfordert. Als einziger
kam Mao Tse-tung diesem Ansatz indirekt nahe, als er gegenüber Chruschtchov
gelegentlich die Idee äußerte, er würde gern die Hälfte
des chinesischen Volks, das damals 600 Millionen Menschen zählte,
für einen siegreichen Atomkrieg gegen die USA opfern, wenn damit
die Hegenomie des Kommunismus zu sichern wäre.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
178 |
Da nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an weitere Steigerungen
der Gewalt nach innen nicht ernsthaft zu denken war, so intensiv auch
in den Lagern die Routinen der Lebensvernichtung durch Arbeit weitergingen,
zwang sich statt dessen die von Chruschtchov eingeleitete Wende in die
Entstalinisierung auf. .... Sie brachte einen verzögerten Thermidor
hervor ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
178-179 |
Der Kalte Krieg ließ sich ... als Ersatz für
die ausbleibende Iteration des Stalinismus verwenden, doch taugte er nicht
zur Fortsetzung des Mythos vom großen Oktober. Immerhin konnten
sich Lenin und Stalin gemeinsam der Leistung rühmen, einen Thermidor
zu ihren Lebzeiten unmöglich gemacht zu haben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
179 |
Mit der Zäsur der Moderne werden im Bereich der bildenden
Künste die erreichten Standards außer Kraft gesetzt und als
»akademische« Hemnisse kreativer Fähigkeiten verspottet.
An die Stelle des selbstverstärkenden Könnens-Kreises tritt
ein Regime selbstverstärkender Regelverletzungen, ja eine Meta-Regel
der selbstverstärkenden Abweichungen vom Erwarteten, bis hin zu mutwilligen
Unterbietung aller Erwartungen an das artistische Wesen der Kunst. Seither
operiert das Pop-Segment des modernen Kunstbetriebs offensiv auf der Abfall-Stufe,
als sollte die Doktrin aingeübt werden, nur das, was weniger als
Kunst ist, könne noch wirkliche Kunst, ja mehr als Kunst sein.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
198 |
Die Allianz der beiden Selbstverstärkungssysteme aus kreditbasiert-zinsgetriebener
Wirtschaft und innovations-getriebenem Maschinenbau resultierte in dem
bis heute mächtigsten Komplex halbblind vorwärtsstrebender Tendenzen,
die man noch immer unter dem ungeschickten Terminius »Kapitalismus«
zusammenfaßt, obschon es, wäre es um einen wahren Namen gegangen,
von Anfang an Techno-Kreditismus hätte heißen müssen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
199 |
Durch die Aufhebung der Golddeckung im Jahr 1971 war ... demonstriert
worden, wie wenig die USA gesinnt waren, ihren Drang zur Überdehnung
ihrer Ausgaben zu zügeln - ihr Leitwährungsprivileg bot ihnen
auch ohne Goldmagie weiterhin die Chance zu Kontoüberziehungen ohne
Limit.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
209 |
Daher kann der 15. August 1971 als das zweite Schicksalsdatum
der jüngeren Wirtschafts- und Sozialgeschichte gelten. Damals gab
der US-Präsident Richard Nixon (1913-1994) die Abkehr der Vereinigten
Staaten vom Prinzip der Golddeckung des Dollars bekannt. An eben dem Tag,
an dem die katholische Kirche die Aufnahme der Mutter Gottes in den Himmel
feiert, begannvor den Augen der ganzen Welt die Höllenfahrt des »postmodernisierten«
(Anführunsgstriche von mir; HB) Geldes,
das sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte nicht nur von der Bindung an
Edelmetalle losmachte. Es ließ auch mehr und mehr die Grundlage
in der Besicherung durch verpfändbares Eigentum hinter sich (Gunnar
Heinsohn & Otto Steiger, Eigentum, Zins und Geld, 1996), um
sich einem phantomhaften System von Erwartungs-Erwartungen und Brutto-Inlands-Prognosen
anzuvertrauen - was man den makroökonomischen Stil des kontrollierten
Sturzflugs nennen könnte.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
209-210 |
Die Kluft zwischen dem Goldpreis von einst und dem von jetzt verrät
nicht nur die Machtergreifung des Inflationismus, der von der Mainstream-Ökonomie
gern bagatellisiert wird, sofern man seine Existenz nicht rundweg leugnet;
auch bringt sie nicht bloß das steige Mißverhältnis zwischen
knappen Beständen und hoher Nachfrage zum Ausdruck. Die wahre Bedeutung
der Erhöhung des Goldpreises um das fast 50fache des garantierten
Anfangswerts binnen weniger jahrzehnte liegt darin, daß sie einen
abgründigen Wandel der Glaubensverhältnisse hinsichtlich ökonomischer
Wertbestände bezeugt. Der Wertglaube selbst ist seit geraumer Zeit
in die inflationäre Drift einbezogen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
210 |
Einen angemesserenen Begriff für die aktuellen Zustände
hat jüngst der Publizist Gabor Steingart in die Debatte geworfen,
als er zur Charakterisierung der überspannten Ungleichgewichtswirtschaft
den Terminus »Bastardökonomie« vorschlug: Er bezeichnet
die zutiefst illegitime, von den Akeuren regelmäßig geleugnete,
sachlich jedoch evidente Komplizenschaft zwischen Regierungen, Notenbank-ouverneuren
und Hochfinanz-Agenturen, die - wahrscheinlich ohne einem Masterplan zu
folgen - kein anderes Ziel verfolgt, als den erreichten Grad an Unhaltbarkeit
durch den Übergang zu einem noch höheren Grad derselebn Verlegenheit
zu »stabilisieren«. Der »Bastard« ist in diesem
Fall der circulus vitiosus, der aus der pervers-intimen Beziehung
eines enthemmten Staatsausgabensystems mit einem aus den Fugen geratenen
Bankensystem entsprang. (Gabor Steingart, Unser Wohlstand und seine
Feinde, 2013, S. 135 ff., besonders S, 203.)
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
214 |
Immer häufiger erreichen Staaten, Unternehmen und Privathaushalte
den Punkt, von dem an der Kredit auch dem Tüchtigen die Zukunft nicht
mehr erschließt, sondern versperrt: Wachsende Schuldendienste zehren
immer größere Teile aktueller Einkünfte auf - bis die
Linie überschritten ist, jenseits welcher ältere Schulden nur
noch durch eine Kaskade neuer Schulden in ein auf Dauer paralysiertes
Morgen verschoben werden. Diese Situation verdient es, »posthistorisch«
genannt zu werden: Von ihr wird Arnold Gehlens klassische Definition der
Posthistoire als Zustand hoher »Beweglichkeit über stationären
Grundlagen« vollendet erfüllt - indes man das Wort »stationär«
gern durch das Wort »unhaltbar« ersetzen möchte.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
218 |
Frühe »Kulturen« - aufgefaßt als Ensembles
von Obsessionen, die mehraltrige menschliche Kollektive im Griff halten,
gleich ob es sich um Sippen, Stämme oder Ethnien handelt - erleben
die unverhandelbare Notwendigkeit ihres Daseins in der von ihnen selbst
generierten und ihren Teilnehmern ungefragt aufgedrungenen Überzeugung,
daß die Lebensweise, die den Mitgliedern des Kollektivs eingeprägt
wurde, es unter allen Umständen verdient, im Dasein der Nachkommen
wiederholt zu werden. Wer einer Kultur in diesem Sinn »angehört«,
muß sich früher oder später dazu bereit erklären,
eine durch Elternschaft zu bestätigende Besessenheit weiterzureichen.
Was man von den Alten selber empfangen und erlitten hat, soll um jeden
Preis in den Jungen fortleben. - Kein Mensch der alten Welt hat dieses
Axiom bezweifelt. Für die Angehörigen der älteren Fortpflanzungsketten
sind Wiederholbarkeit und Wahrheit ihres modus vivendi ein und
dasselbe. Eigene Kinder haben, das heißt zunächst nicht mehr
und nicht weniger als dafür sorgen, daß hinreichend ähnliche
Kopien der Älteren in den Jungen entstehen. Ähnlich genug scheinen
die Nachkommen geraten zu sein, wenn die unvermeidlichen mutativen Variationen,
genetisch wie kulturell, durch die konstanten Muster in Schach gehalten
werden. (Vor dem Zeitalter der Schrift wird dieser Effekt durch die Unduldsamkeit
des »Habitus« bzw. der neuronal gefestigten Verhaltensmuster
garantiert. Schrift erlaubt die Auslagerungen von Intolereanz ins äußere
Medium bzw. in die »Institutionen«. Sie setzt die Flexibilisierung
frei, die man eines Tages als Navigation in den »Spielräumen
des Verstehens«, das heißt als Hermeneutik bzw. als Ausübung
des Rechts auf Subjektivität, beschreibt.)
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
222 |
An Mut zur Erziehung hat es den Alten nie gefehlt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
223 |
In den kulturspezifischen Imperativen fand (und
findet; Anm. HB) alles wesentliche Sollen im Modus der Vorentschiedenheit
Platz.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
223 |
Der größte Teil des relevanten Wissens ältester
Tage war in obligatorischen Erzählungen niedergelegt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
223 |
Von Urzeiten her galten die fortpflanzungsbereiten Besessenen
als Inbegriff der normalen Menschen. Normalität ist Besessenheit
ohne Trance. Was war homo sapiens in früheren Tagen anderes
als ein von Silben, Jagdtechniken und Heiratsregeln bewohntes Tier?
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
223 |
Die Normalen der ältesten Zeiten hatten nie eine Wahl, indessen
sie in der Nuzeit durchwegs Menschen sind, die anders könnten, indes
sie vorgeben, der Notwendigkeit zu gehorchen. Während die Modernen
sich darauf berufen, durch Arbeiten, Bedürfnisse und Projekte besessen
- das heißt »beschäftigt« - zu sein, äußert
sich die jede zweite Möglichkeit ausschließende Besessdenheit
der frühen Menschen in ihrer Sorge um die modellnahe Reproduktion
ihrer ererbten Lebensweise. Für sie sind Fortpflanzung und Wirklichkeit
dasselbe. Obsession und Beschäftigung sind für sie noch nicht
zu unterscheiden. Wer damals nicht Vehikel seiner Kultur sein konnte,
hatte keine »Wirklichkeit« zu vermitteln. Kulturvehikel wurde,
wer seine Kinder aus der Ahnenwelt in die Nachkommenwelt beförderte
- und so dafür sorgte, daß die Kette der Nachahmungen nicht
reißt, weder genetisch noch didaktisch.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
223-224 |
Die frühe Kultur überwältigt die Ihren durch Alternativlosigkeit,
und nur als überwältigende hält sie sich am Leben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
224 |
Die »Wirklichkeit« der Modernen wird dagegen überwiegend
aus der Nachahmung von modellgebenden Zeitgenossen bestimmt. Mit der Heraufkunft
des Aktualismus geht im Zivilisationsprozeß die nicht-genealogische
Nachahmung in Führung. Gabriel Tarde (1843-1904) war der erste Soziologe,
der im unabwendbaren Sieg der Mode über die Sitte das starke Merkmal
der zeitgenössischen Zivilisationsdynamik erkannte. Seit dem Erscheinen
seines Werks Über die Nachahmung, 1890, stünden der modernen
»Gesellschaft«, wäre sie die lernende Kommune, die zu
sein sie vorgibt, die Konzepte zur Verfügung, um die Ablösung
der Nachahmung von den generativen Übermittlungen und ihre Umstellung
auf außergenealogische, mehr oder weniger gleichzeitige Ausgangspunkte
zu begreifen. Daß sie davon bis heute nichts hören wollte,
zählt zu dem Merkwürdigkeiten moderner Wissenskultur.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
225 |
Durch die überwiegende Nachahmung des Neuen gerät das,
was man das »kulturelle Erbe« - die mehraltrig bewährte
Nachahmung - nannte (und nennt; Anm. HB),
in jähen Verfall und macht der einaltrigen Nachahmung, der Orientierung
an aktuellen und unerwiesenen Mustern, Platz.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
226 |
Hauptfaktoren des Mimesis-Wechsels ...: zum einen die Preisgabe
eigener Überlieferungen aufgrund des Anschlusses an eine überlegene
Zivilisation (Ökumenismus), zum anderen die erzwungene Teilnahme
an einer Hybridisierung von oben (Imperialismus), an dritter Stelle die
Sezession einer Teilkultur von der Leitkultur unter dem Vorwand der Rückkehr
zu den wahren Quellen (Reformation und Renaissance).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
227 |
Alle drei Formen des Nachahmungswechsels erweisen sich in zivilisationsgeschichtlicher
Sicht als Nährböden der Abweichung und der Mehrdeutigkeit. Aus
ihm erwuchsen unter den Nachkommen entwickelter Völker jene unvorhersehbaren,
in Hegels Terminologie »welthistorischen« »Individuen«,
die weder willens noch fähig waren (und sind;
Anm. HB), der prekär gewordenen Wiederholung aus subalterner
Psoition zu dienen. Nota bene: »Individuum« im spezifischen,
nicht bloß genetischen Sinn ist, wer im eigenen Dasein einen Kulturwandel
austrägt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
227 |
Jene unruhigen Einzelnen, die aufgrund imposanter »personaler«
Inspirationen anderes im Sinn hatten (und haben;
Anm. HB) als die unveränderte Weitergabe des Bisherigen -
merke ebenso: Inspiration ist Resultat des Zusammenstoßes widersprüchlicher
Codes in einer Psyche -, jene Beunruhiger also, die es wagten (und
wagen; Anm. HB), an moralische Verwandlung, an kollektive
Metanoia, an politische »Verwirklichung« philosophisch-kosmologischer
Konzepte zu denken: Sie rückten (und rücken;
Anm. HB), seit früh-hochkulturellen Tagen ein in die Kohorten
der »schrecklichen Kinder« - all dieser aus der Art Geschlagenen,
der Verräter am Herkommen und Totengräber des Habitus, von denen
moderne Zeiten behaupten werden, sie hätten die Menschheit »vorangebracht«
(Anführunsgstriche von mir; HB). Sie
waren es, die ihre Herkunftskulturen mit unwillkommener Variation in Unruhe
versetzten (und versetzen; Anm. HB):
in der Antike selten, im Übergang zwischen Mittelalter und Renaissance
bereits in höherer Frequenz, in der Moderne chronisch und mit unbeirrbarer
Angriffslust, um nicht von Angriffspflicht zu reden.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
227-228 |
Hatte nicht einer Wortführer der Jugendbewegung um 1900 in
Deutschland allen Ernstes davon gesprochen, daß die Menschheit von
jeher ständig sich selbst einen feind gebiert: »ihre junge
Generation, ihre Kinder« (Gustav Wyneken, Schule und Jugendkultur,
a.a.O., S. 13)?
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
228 |
Hat man zugegeben, daß das Eigentümliche von Kultur
in Replikationskompetenz besteht, wird der hartnäckige Konservatismus
der frühen Völker umittelbar verständlich. Whitehead: »Es
ist der Anfang der Weisheit, wenn man begreift, daß die Routine
das Fundament des sozialen Lebens ist« (ders., Abenteuer der
Ideen, a.a.O., S. 207). Ohne den Willen zur selbstähnlichen Wiederholung
in nachkommenden Generation und ohne die wache Sorge um die Eliminierung
maligner Variation hätten die älteren Träger kultureller
Lebensmuster ... ihre langen Reisen im Zeitenstrom nicht bewältigen
können. Paläontologen wollen anhand von Knochenfunden herausgefunden
haben, daß steinzeitliche Hirschjäger in Nordwesteuropa ihre
Ritual bei der Opferung der Beute über zehntausend Jahre hin konstant
wiederholten, was einer Reproduktionserfolgsreihe von vierhundert Generationen
entspricht.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
233 |
Andererseits gilt: Seit dem Auftreten der ersten großen
Originellen in der Antike ist dem Zivilisationsprozeß das fortschreitende
Riskantwerden der Kopiervorgänge inhärent. Man könnte auch
sagen: der neue Modus der Überlieferung - die Verdoppelung der Kultur
durch die alphabetisierende Schule und die Infiltrierung erster Formen
von »Wissenschaft« - fördert die zunehmende Widerständigkeit
neuer Generationen gegen ihre Prägung durch die Autorität der
Vorfahren, bis schließlich in der Moderne mit den Super-Institutionen
... prinzipiell innovationsorientiertze Kräfte auftreten. Sie bieten
der Parteinahme für die herrschende Sitte selbstbewußt Paroli
....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
235 |
Ob er will oder nicht, der von der Sittenmacht überwältigte
Mensch küßt immer den Stiefel der Überlieferung. ....
Er findet seine Genugtuung darin, aus sich selbst nichts anderes zu machen
als das, was das Herkommen aus ihm gemacht hat. Die Ehre des Einzelnen
besteht in den älteren Kulturen darin, ein Sproß seiner Eltern
oder ein Exemplar seines Stammes zu sein. Du brauchst nur den Namen deines
Vaters oder deines Volks oder deiner Polis zu nennen, und jeder weiß,
mit wem er es zu tun hat. .... Das Verfehlen der ethnischen Norm wäre
die Schande, die das mißglückte Exemplar seines Stammes unter
den Erdboden versinken ließe.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
238-239 |
Die Bejahung der lokalen Präge-Gewalt ist das Wesen der ursprünglichen
Ethik, sofern sie überall den impliziten Grundsatz: »Du sollst
der Nachkomme deiner Vorfahren sein« ins Fleisch der nächsten
Generation einbrennt - je impliziter, desto automatischer und wirksamer.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
239 |
Der Kopierfehler zwischen den Generationen, gewollt und ungewollt,
kommt dem Effekt gleich, den man nach Augustinus als die Erbsünde
bezeichnet. Kopierfehler wiederholen und verstärken sich in der Folge
- zunächst nur in der westlichen Welt, die vom 14. und 15. Jahrhundert
als erste Zivilisation sytematisch auf Neuerung ausgeht - so oft und so
lange, bis das Kollektiv in seiner Mehrheit nur noch ein Aggregat aus
Deserteuren aus dem älteren Herkommen darstellt -, womit die Definition
einer modernen »Gesellschaft« geboten wäre. Modern ist
diese in dem Maß, wie sie ihre Vorbilderr und Verhaltensmuster im
Einaltrigen und Gleichzeitigen findet.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
240-241 |
In Wahrheit ist die die Neigung der Vatermacht-Ordnung zur maskulinen
Seite hin nur eine bewährte List der kulturellen Evolution - so wie
die Bevorzugung der weiblichen Seite bei der Betreuung der Nachkommenschaft
unter den Lebendgebärenen eine andere List der biologisch-präkulturellen
Evolution darstellt, um Fortpflanzungserfolge langfristig zu optimieren.
Der weisungsbefugte Vater verkörpert vielmehr die Humanisierung der
Wiederholung unter den Bedingungen der förmlichen Transmission. Für
die Weitergabe einer Kultur ist es von einer bestimmten Stufe der Evolution
an nicht mehr damit getan, wenn die Typen eines lokalen symbolischen Systems
im Copy-Shop der Sozialisation auf die Nervensysteme der nachfolgenden
Generationen überspielt werden, mitsamt den Härte-Dressuren,
die in alter Zeit zur psychischen Grundausrüstung der Nachkommenschaft
gehörten. Der Kopiervorgang muß über die mechanisch-imitative
Dimension hinaus personalisiert werden: Er übersetzt sich in ein
Geschehen, das uaf dre Vaterseite die Geste der Übergabe, auf der
Sohnesseite die Geste der Übernahme ins Spiel bringt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
245 |
Die humanisierte Wiederholung zwischen Vätern und Söhnen
gerät zu einem Psychodrama, das nie ohne Risiko des Mißlingens
auszuführen ist. Nur die erbrechtlich und psychodynamisch
komplette Figur der Weitergabe, die sich bei den juristisch begabten Römern
aus traditio - wörtlich: der Aushändigung eines Guts
- und successio - dem Nachrücken des Rechtssubjekts in die
Würden, Rechte und Pflichten des Erbes - erfüllt den Tatbestand
der personalisierten Wiederholung, den man im starken Sinn des Wortes
Überlieferung nennt. Ihr richtiger Name lautet Transmission - wörtlich:
die Weitersendung.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
246 |
Durch Transmissionsrituale gelngt es älteren Hochkulturen,
das Intervall zwischen den Generationen zu formalisieren und am schädlichen
Aufklaffen zu hindern.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
246 |
In diesem Vorgang erweisen sich Psotionoerung und Personen-Schöpfung
als dasselbe. Es genügt für den Vater nicht, einen leiblichen
Sohn gezeugt zu haben - er muß ihn auch als solchen »annehmen«.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
246 |
Die erfolgreichsten Traditionskulturen snd jene, die sich daruif
verstanden, das Sensibelste mit dem Stabilsten in eins zu setzen: Si bauen
darauf, die Seelenarbeit der Söhne werde die Stärken des Vaters
integrieren und ihre Schwächen ausgleichen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
251 |
Die Botschatt des Mythos ist rational zu entziffern: Läßt
man den Abgrund zur Fortpflanzung zu, so legt er unvermeidlich sein stärkstes
Wesensmerkmal, das Prinzip Diskontinuität, in seine Brut. Die setzt
sich nicht umsonst aus lauter vom Herkommen losgerissenen Mißgestalten
zusammen, von denen die Mehrzahl zugleich die ersten, die einzigen und
eo ipso die letzten ihrer »Art« sind. Der wahre Name
des väterlichen Tartaros ist Bodenlosigkeit: Nach Hesiod würde
ein eherner Amboß neun Tage und Nächte im freien Fall stürzen,
bevor er auf dem Grund aufschlüge.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
261 |
Wenn der Abgrund Vater wird, trItt sem »Erbgut« in
einer Nachkommenschaft aus Lebewesen zutage, die keinen Halt in gattungs-
und artgemäßen Formen finden. Allen diesen Monstren, Abgrundwesen
und grellen Schimären ist ihre mahnende Funktion im Imaginären
der griechischen Kultur gemeinsam. Da die Selbstauffassung der Griechen
durchwegs auf der Entgegensetzung von Zivilisation und Wildnis oder besser:
von Stadt und undomestizierter Natur beruht, verkörpern die monströsen
Lebewesen der Urzeit nicht anders als die Mischgeschöpfe am Rand
der Welt, von denen Herodot soviel Seltsames zu berichten weiß -
die zivilisatorisch unverzichtbare Aufgabe, die Menschen der kultivierten
Zone unablässig an ihr Engagement zugunsten des human-politischen
modus vivendi zu erinnern. (Dem vorsokratischen Philosophen Empedokles
(ca. 495 - ca. 435) sind Ansätze einer Evolutionstheorie zu verdanken,
in der hesiodische Motive rationalisiert werden. Ihm zufolge brachte die
Erde anfangs zusammenhanglose Glieder hervor: »Ihr entsprossen viele
Köpfe ohne Hälse, Arme irrten für sich allein umher, ohne
Schultern, und Augen schweiften allein herum, der Stirnen entbehrend.«
[Die Vorsokratiker, übersetzt und eingeleitet von Wilhelm
Capelle, 1968, S. 216]. Empedokles führt die hesiodischen Komposit-Monstren
auf disiecta membra zurück, die alle möglichen Zusammensetzungen
erproben, ehe sie sich zur stimmigen Gestalt fügen. Man könntein
seinen isolierten Gliedern eine organische Vorübung zum Elementarismus
sehen. Die wohldefinierte Spezies ist auch bel diesem Denker spätes
Resultat, nicht Ausgangspunkt der Entwicklung. Noch in Johann Gottlieb
Herders Werk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
[1784-1791], Band I, S. 273 f., wirkt das vorsokratische Motiv einer experimentierenden
Natur weiter, in welcher die »Buchstaben« der organischen
Gestalten sich schließlich zu einem »natürlichen Consensus
der Formen« bzw. zu wohldefinierten Spezies und Gattungen zusammensetzen,
indes Mißgestalten oder »Bastardarten« wie der Centaur,
der Satyr, die Scylla, die Meduse nicht reproduktionsfähig sind.)
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
261-262 |
Ja, die Zivilisation selbst ist nach der Auffassung ihrer antik-hellenischen
Mitglieder nichts anderes als ein Bollwerk gegen die Auflösung der
Grenzen zwischen den Arten und Ordnungen. Auch die ständige Warnung
vor der Hybris jener kategorische Imperativ des griechischen ethos
verfolgt kein anderes Ziel, als die Sterblichen zur Respektierung der
Grenzen nach oben, nach unten und nach außen zu ermahnen: Sie sollen
sich weder mit den Göttern verwechseln noch mit den Tieren und den
Barbaren vermischen. Das Leben der Polis setzt die ständige Zurückweisung
des Abgrunds voraus, der sich virtuell jedesmal auftut - bessser: der
immer dann seine Chance wittert -, sobald Individuen einer wohldefinierten
Spezies, namentlich ein Paar von Angehörigen des menschengestaltigen
zoon politikon, den Versuchunternehmen, ihre Art und ihre Lebensweise
in eigenen Nachkommen formkonstant zu wiederholen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
262 |
Mit diesem Hinweis vor Augen läßt sich die Frage untersuchen,
ob nicht auch in den geglückt scheinenden Generationsprozessen traditionsgerecht
hervorgebrachter Menschenein monströses Moment zum Vorschein kommen
kann, sobald die sozialen Verhältnisse es zulassen, daß der
unter allen Umständen zu verdeckende Hiatus sich im Übergangvon
Vätern zu ihren Söhnen erneut in aggressiveren Formen manifestiert.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
262-263 |
Mögen die Väter in der Polis scheinbar wohlgeratene
Nachkommen in die Welt setzen - gegen das Risiko der psychischen und moralischen
Monstrosität bei ihren Kindern bleiben sie nur unzulänglich
geschützt. Gerade in der riskanten Lebensform der großen Macht-Stadt,
in der sich Völker, Mythen, Finten und Ambitionen mischen, macht
sich das zivilisationsdynamische Grundgesetz bemerkbar, wonach durch den
aktuellen modus vivendi unvermeidlich mehr unvorhersehbare Energien,
mehr unbekannte Unruhen und mehr neuartige Störungen der bestehenden
Ordnung freigesetzt werden, als diese mit ihren bordeigenen Mitteln unter
Kontrolle bringen kann.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
263 |
Zur Bewältigung dieser Herausforderung hatten die Griechen
die in ihrer Zeit neuartige Disziplin der paideia geschaffen, die
als die Matrix der okzidentalen Pädagogik gilt. Das Wort paidagogós
weckte im athenischen Altertum durchaus keine noblen Vorstellungen: Es
bezeichnete den Sklaven, der dafür zu sorgen hatte, daß sich
die Jungen auf dem Weg zur Schule anständig benahmen. Sie sollten
mit gesenktem Blick zum Unterricht streben, ohne den lüsternen Augen
der erfahrenen Päderasten mit Gegenblicken zu antworten. Die paidagogoi
waren in erster Linie Aufseher und Dompteure, damit beauftragt, die Knabenwildheit
zu dämpfen wobei häufige Schläge als das allgemein empfohlene
Mittel zur Erzeugung tugendhafter Verhaltenheit geschätzt waren.
Die wirklichen Lehrer der Jugend, die didáskoloi, traten
hingegen als »Sophisten«, sprich als Weisheitsvermittler oder
»Klugmänner«, auf, bevor sie von ihren Konkurrenten,
die sich in plakativer Bescheidenheit »Philosophen«, Liebhaber
der Weisheit, nannten, in die Schranken gewiesen wurden. Der Wettbewerb
zwischen den beiden Typen von Lehrern um ihre junge Klientel und deren
schwankende Eltern wurde auf kürzeie Sicht von den Sophisten zu ihren
Gunsten entschieden, da sie ihre Kunst der Knabenlenkung plausibler und
ohne Rücksicht auf die Herkunft der Kinder, wenn auch teurer, anzupreisen
wußten, während in ideengeschichtlicher Perspektive die Philosophen
aus ihm als Sieger hervorgingen. Erst in jüngerer Zeit erlebt die
Sophistik ein diskretes Comeback, bei dem sie als Quelle von Design, Rhetorik,
Reklame und Demokratie rehabilitiert wird.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
263-264 |
Erziehung beruhte in den griechischen poleis der klassischen
Zeit auf dem Konzept der gespaltenen Vaterschaft, wonach der leibliche
Vater den Knaben in einem geeigneten Alter der Lenkung durch einen »Lehrer«
zu übergeben hatte. (Vgl. Dieter Lenzen, Vaterschaft, a.a.O.,
S. 76f.. Die antike Übergabe des Zöglings an den Lehrer präfiguriert
von ferne die in der Neuzeit sich aufzwingende Arbeitsteilung zwischen
Elternhaus und Staat, wobei der letztere die Tendenz erkennen läßt,
immer mehr vormals familiäre Aufgaben an seine Funktionäre,
namentlich Erzieher, Lehrer, Therapeuten und Sozialarbeiter, zu übertragen.)
Dieser sollte von da an die Funktionen geistiger Vaterschaft ausüben
und die Jungen bis zum Epheben-Alter von 18 Jahren in die Künste
des polis-gemäßen Erwachsenenlebens initiieren - dem schloß
sich eine teils militärische, teils musische Weiterbildung an.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
264 |
Paideia bedeutete an erster Stelle die höhere Kultivierung
der Redefähigkeit, ohne welche die Existenz des zoon politikón
nicht zu denken war. Auf dem Umweg über das hellenisierte Rom, das
vorchristliche wie das christianisierte, wurde das griechische System
der Doppelvaterschaft für die alteuropäische Erziehungskultur
folgenreich: Die in der athenischen Antike erprobte Arbeitsteilung zwischen
Vätern und Lehrern behielt ihre Kraft bis zum Beginn der nahezu ungebrochen,
von den seltenen Fällen abgesehen, in denen Vaterschaft und Lehramt
konvergierten wie in den rabbinischen Familien und den protestantischen
Pfarrhäusern. Funktionslos wurde das klassische Arrangement erst
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Feminisierung
der Lehrberufe die männlichen Lehrer marginalisierte und ihren Zweitväterstatus
zerstörte - um von der allgemeinen Degradierung der Vaterposition
in den modernen »Gesellschaften« noch nicht zu reden.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
264-265 |
Daß sich die Bevölkerung der griechischen Städte
schon um die Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts über
die ethischen Risiken und politischen Nebenwirkungen desneuen sophistischen
paideia-Betriebs Gedanken machte, läßt sich unter anderem
an den Produktionen des athenischen Theaters ablesen: In seiner Komödie
Die Wolken, im Jahr 423 erstmals aufgeführt- ohne Erfolg im
Dramatiker-Wettbewerb -, bringt Aristophanes den Betrieb einer Sophisten-Anstalt
auf die Bühne, wobei er sich auf Kosten des Erz-Sophisten Sokrates
über die amoralischen Tendenzen der Rhetorik- und Dialektik-Schulen
in der aggressivsten Weise lustig macht. Für den unerbittlichen Komödiendichter
steht fest, daß die neuerdings so erfolgreiche Zunft der Lehrer
nichts anderes ist als eine Organisation von Profiteuren der Krise, die
aus dem raschen Zerfall der städtischen Sitten Vorteil ziehen: Sie
unterweisen ihre Schüler inder bedenklichen, um nicht zu sagen korrupten,
gleichwohlzeitgemäßen Kunst, als Anwälte einer schlechten
Sache vor Gericht und in der Volksversammlung zu siegen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
265 |
Aristophanes gelingt in seinem Stück eine Entdeckung, die
man im Licht heutiger Erfahrungen als prophetisch bezeichnen kann: Er
legt den inneren Zusammenhang zwischen dem urbanen Kreditsystem und den
ideologischen Künsten seiner Zeit offen, die in der Verdrehung überlieferter
Kulturmuster gründen - in der Tradition Brechts wäre hier von
einer »Umfunktionierung« zu sprechen. Bei dem athenischen
Komödiendichter fragen an erster Stelle die zahlungsunwilligen Schuldner
nach den Diensten der Sophisten, um sichihrer Pflichten gegen die Gläubiger
zu entledigen. Wenn sie jedoch - wie der attische Bauer Strepsiades, die
Hauptfigur der genannten Komödie - außerstande sind, die Kunst
der Wort- und Sinnverdrehung im Rechtsstreit noch selber zu erlernen,
so schicken sie eben ihre Söhne, im gegebenen Fallden jungen Pheidippides,
in die Sophisten-Schule, damit siesich dort zu unbesiegbaren Advokaten
ausbilden lassen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
265-266 |
Es sind demnach zwei Arten von Unredlichkeit, die inder Komödie
dem Spott der Öffentlichkeit preisgegeben werden - die des betrügerischen
Schuldners, der seine Gläubiger täuschen möchte, und die
des skrupellosen Rhetoriklehrers, der die legitimen Ansprüche der
Gläubiger durch Verfahrensfinten und Wortverdrehungen wirkungslos
machen soll. Der junge Mann erscheint somit - über seine eigenen
Tendenzen zur Verwahrlosung hinaus - als das Opfer und Medium von zwei
gleichzeitigen Korruptionen, die sich in ihm zu einer monströsen
Individualität vereinen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
266 |
Was Aristophanes in Die Wolken vorführt, ist nicht
nur eine »wertkonservative« Satire über das moralische
Abdriften der Polis, das augenfällig wurde, seit vor Gericht wie
in der Volksversammlung die offensichtlich schlechte Sache die erfolgreiche
wurde - eine Beobachtung, die als frühes Indiz für die zunehmende
Abspaltung des förmlichen Prozeßrechts von den alltäglichen
Gerechtigkeits-Intuitionen streitender Parteien gewertet werden kann.
Das Bühnengeschehen reflektiert darüber hinaus die Auflösung
des griechischen Patriarchats im Verlauf städtischer Aufklärung,
zuder die neuen Erziehungsangebote aus der »Denkerei« der
Sophisten das Ihre beitragen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
266 |
In ihren letzten Szenen legt die bittere Komödie den Hiatus
inmitten der bürgerlichen Gesellschaft ohne Umschweife offen: Der
Abgrund zwischen dem zeugenden und dem gezeugten Element klafft unter
zivilisierten Menschen wieder auf, als ob erneut die Monstren-Generierung
auf dem Planstünde, nicht eine humane Filiation in der kulturstolzestender
Städte Attikas.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
266-267 |
Um den Einbruch des diskontinuierlichen Faktors in das generative
Geschehen zu demonstrieren, stellt Aristophanes dem Publikum Athens zunächst
die basale pädagogischeTriade vor: den Vater Strepsiades, den Lehrer
Sokrates und den Sohn Pheidippides. Hierbei achtet er darauf, daß
es der Vater ist, der seinen Sohn dem Lehrer in aller Form zuführt,
damit dieser an ihm die im häuslichen Milieu begonnene Erziehungsarbeit
vollende. Freilich werden Vater und Lehrer von Anfang an als selbstsüchtige
Parteigänger der schlechten Sache präsentiert - weswegen dIe
Aushändigung des Sohns[ an den Lehrer kein anderes Resultat erbringt,
als daß dieser seinerseits in die Korruption initiiert wird.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
267 |
Aus diesen Ausgangsbedingungen folgt nicht bloß die gewöhnliche
Schlechtigkeit, wie sie vom unredlichen Schuldner verkörpert wird,
es entsteht eine Kunstform der Korruption, die nur als Ergebnis der sophistischen
Rhetorik erlangt werden kann: Die wortverdreherische Ungerechtigkeit wird
zur Grundlage eines ertragreichen Berufs. Bei diesem Erziehungsversuch
erweist sich der junge Pferdenarr Pheidippides als Naturtalent: Hatte
er bis dahin sein Leben als Tagedieb und Verschwender des väterlichen
Vermögenszugebracht, so entwickelt er sich in der Schule des Sokrates
über Nacht zu einem diplomierten Monstrum, entschlossen,die neuerworbene
Kunstfertigkeit am eigenen Vater zu erproben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
267 |
Pheidippides hatte die Quelle der Ungerechtigkeit durch den Anschauungsunterricht
seines Vaters erfaßt - sein Sprung an die Mündung jedoch setzt
eine Beihilfe zum höheren Betrug voraus, wie nur die neue »Bildung«
sie liefert: Wenn der alte Strepsiades seinem Sohn vorgemacht hatte,wie
das erste Unrecht aus der Gesinnung des zahlungsunwilligen Schuldners
entpringt, so wird Sokrates dem verblüfften Zögling erklären,
wie Unrecht sich vollenden läßt, indem man die Idee der Zurückzahlung
als solche mit den Mitteln sophistischer Umkehrung unterwandert. Durch
solche Nachhilfe gewitzt, wendet der junge Mann seine neuen Erkenntnisse
unmittelbar auf sein persönliches Verhältnis zum Vater an, indem
er sich zynisch als dessen loyalen Schuldner präsentiert: »Wohl
ist's ein Glück, vertraut zu sein mit dem System des Tages, // Und
hoch herabzusehen auf den Quark der alten Sitte: // Solang ich die Gedanken
nur auf Roß und Wagen lenkte, // Vermocht ich ohne Anstoß
nicht drei Worte vorzubringen. // Seit mich mein Vater selbst von all
den Possenabgezogen, // Und ich mir Dialektik und Rhetorik angeeignet,
// Da zeig ich klar: der Sohn hat recht, der seinen Vater prügelt!
// ... Ich ... frage dich vor allem: hast du mich als Kind geschlagen?«
// Strepsiades: »Nun ja, aus Lieb und Sorge nur für
dich!« // Pheidippides: Aha! Nun sage, // Ist's da nicht
billig, daß auch ich dir meine Liebe zeige, // Und prügle dich,
da offenbar dies Lieben heißt: das Prügeln?
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
267-268 |
Gegen den Einwand des Vaters, es sei in aller Welt verboten, daß
Kinder die Hand gegen die Eltern erheben, plädiert Pheidippides in
bestem sophistischem Stil dafür, dieses veraltete Gesetz durch ein
Gesetz von heute abzulösen, wonach der Sohn dem Vater künftig
die Schläge heimzahlen solle, die er in seiner Kindheit von ihm erhalten
hat. Ganz unverkennbar parodiert der bedenkliche Sohn die in der Zurückzahlungspflicht
gegründete Idee des Kredits, indem er an falscher Stelle zurückzahlen
möchte. Auch läßt er das Argument des Vaters nicht gelten,
er, Pheidippides, besitze ja seinerseits das Züchtigungsrecht, falls
ihm einmal ein Sohn geboren werde: Sollte er nämlich kinderlos bleiben,
so habe er in seinen jungen Tagen »ganz umsonst geheult«.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
268-269 |
Zu guter oder schlimmer Letzt läßt Pheidippides den
Vater wissen, es sei mit der Androhung von Schlägen für ihn
selbst nicht genug: Er habe vor, ebenso die Mutter zu verprügeln
wie den eigenen Erzeuger. Strepsiades: Wie, was? Was sagst du?
Noch einen ärgern Frevel! Pheidippides: Wie? Und wenn ich
nun als Anwalt der schlechten Sach erhärten kann, Pflicht sei's,
die Mutter durchzubleun? Strepsiades: Vermagst du das, dann bleibt
dir nichts mehr übrig, als vom Felsen dich zu stürzen ins Verbrecherloch,
mit Sokrates und deiner schlechten Sache! (Vgl. Aristophanes, Die Wolken,
in: Sämtliche Komödien, a.a.O.,; Neubearbeitung der Ubersetzung
von Ludwig Seeger [1845-1848], S. 166-168.)
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
269-270 |
Daß der Komödiendichter nicht eine bloße Satire
auf das Schulwesen seiner Zeit im Sinn hat, ist kaum zu bezweifeln. Er
bringt das Resultat einer mißlungenen Filiation zur Anschauung,
indem er den sophistisch aufgeklärten Sohn metaphorisch unter die
Monstren versetzt: Das Geschöpf, das sich, seinem Schicksal gehorchend,
vom Felsen in die Tiefe stürzen soll, ist ja kein anderes als die
Sphinx, die Tochter der Echidna und des Typhon, die einst als Stadtgöttin
Thebens ihre Tyrannei ausübte und vom Rätseldeuter Ödipus
überwunden worden war. Strepsiades begreift, daß sein Sohn
zu einer Kreatur des Abgrunds geworden ist, seit er ihn der Sophistenschule
ausgeliefert hatte. Die erwies sich nicht nur als ein Seminar der Respektlosigkeit,
vielmehr geradewegs als ein Treibhaus genealogischer Verwirrungen. In
ihm wird der Sinn für Transmission und Erbe durch eine unangebrachte
Konzeption von symmetrischen Transaktionen zwischen Vorgänger und
Nachfolger verdrängt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
270 |
Zugleich dürfte Aristophanes einer der wenigen Zeugen sein,
die den latent muttermörderischen Grundimpuls der Philosophie als
solcher in deren Entstehungszeit bemerkten und komödiantisch zu Protokoll
gaben: Der Sohn, der beweisen kann, daß er jetzt auch die Mutter
schlagen müsse, hat das Geheimnis der Schule im Schnelldurchgang
begriffen. Nachdem der unbußfertige Schuldner den Ur-Meter der Polis-Gerechtigkeit,
die Zurückzahlung des Kredits, in Gefahr gebracht hat, unterhöhlt
die Sophistik den Archetypus der Moral, die Kindestreue zu den Eltern
- die im übrigen auch in der konfuzianischen wie in der römischen
Ethik den Grundpfeiler alles Wohlverhaltens bildete. Über dem Portal
der platonischen Akademie hätte nicht nur die bekannte Ausladung
an die Adresse der mathematisch Ungebildeten (ageometroi) stehen
können, sondern ebenso die Devise: »Willkommen im Muttermord-Labor!«
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
270 |
Beobachtungen dieser Tendenz bilden den harten Kern des Vorwurfs
der »Gottlosigkeit« - aseheia -, der gut zwanzig Jahre
später im Prozeß gegen Sokrates (399 v. Chr.) erhoben wird.
Der Vorwurf ist nicht ganz unbegreiflich, wenn man weiß, daß
die athenische öffentliche »Religion« (eusebeia)
auf der Ehrfurcht vor den Göttern, den Eltern und den Vorfahren beruhte.
Wurde eines dieser Elemente angegriffen, rückte der Sturz der übrigen
Größen in drohende Nähe. Von nichts anderem handeln die
aristophanischen Wolken: Sie stellen der Sache nach einen theatralisierten
Asebie-Prozeß dar, an dessen Ende die Höchststrafe: Gelächter
gegen die Schuldigen, verhängt wird.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
270-271 |
Wie tief die Griechen bereits in klassischer Zeit das Aufklaffen
des Hiatus in den generativen Prozessen verspürten, drückt sich
in einer Vielzahl von mythischen und anekdotischen Motiven aus, die das
prekäre genealogische Band zwischen der Stadtkulturfamilie und ihren
schrecklichen Kindern umkreisen. Waren nicht auch die zahlreichen Geschichten,
die über Alkibiades, den glänzendsten und unberechenbarsten
der Söhne Athens, im Umlauf waren, im Grunde nur besorgte Hinweise
auf den Einbruch des Monströsen in die biedere Stadt - in diesem
Fall des Genialisch-Monströsen, das in der Gestalt eines überbegabten
jungen Mannes über die bestehende Ordnung hinausdrängte? Nichts
bezeugt die zivilisationsdynamische Verwandtschaft zwischen Sokrates,
dem beunruhigenden Sophisten, undAlkibiades, dem übermobilen Strategen,
nachdrücklicherals die Tatsache, daß gegen beide von ihrer
Vaterstadt der Vorwurf religiöser Unkorrektheit erhoben wurde. Alkibiades
selbst hatte zudem die Monstrosität des Sokrates durch den Vergleich
mit den Silenen offengelegt. Es scheint plausibel zu vermuten, Sokrates
sei nach dem über ihn verhängtenTodesurteil auch deswegen in
Athen geblieben, weil er sich auf keinen Fall nachsagen lassen wollte,
er habe sich seinen hochverräterischen Schüler zum Vorbild genommen,
der nach seinem mit einem Schuldspruch beendeten Asebie-Prozeß (415
v. Chr.) aus der Stadt geflohen und ins Lager des spartanischen Erzfeinds
übergelaufen war, um von dort aus, horribile dictu, auf die
Seite des Überfeindes aller Griechen, der Perser, zu wechseln.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
271 |
In Alkibiades war für die Hellenen das Problem der Spätkultur«
spürbar geworden: Diese bringt unvermeidlich das Herauswachsen der
schrecklichen Kinder aus den patrioi nomoi mit sich. Alkibiades
tauchte als Vorbote des »freien Individuums« unter seinen
Landsleuten auf - frei nicht nur von den vergilbten Vätersitten,
sondern auch vonden Loyalitätspflichten gegenüber der eigenen
Polis. Seine verheerende Modernität zeigte sich in dem Umstand, daß
er über die Gabe verfügte, allen alles zu sein - ein inspirierender
Redner, solange er zu Athenern sprach, ein frugaler Kriegsmann, wenn er
mit Spartanern ins Feld zog, ein prunkvoller Asiate, sobald er inmitten
von Persern tafelte. In ihm kündigte sich der Sieg der Mode über
die Sitte an. Schon im 5. Jahrhundert vor Christus begann in der polyvalenten
Stadt die Nachahmung des Gegenwärtigen die Nachahmung des Alten zu
übertreffen. Gegen einen Mann von solcher Statur und Tendenz sollte
den Geistern von gestern allein noch der Auftragsmord Abhilfe schaffen:
vollstreckt im Jahr 404 im Namen der herrschenden Biederkeit Athens.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
271-272 |
Der erzwungen-freiwillige Tod des Sokrates im Jahr 399 hingegen
bezeichnet die Schwelle, von welcher an die neuen »freien Individuen«
den Auftrag verspürten, die von altersher bestehenden Sitten im Namen
von empirisch unerwiesenen, doch schon allgemein Geltung beanspruchenden
Prinzipien zu unterwandern. Nichts anderes war der soziale Effekt der
post-sokratischen Aufklärung und ihrer Konsolidierung in den kanonischen
Philosophenschulen. Was man in römischer Zeit das »Abendland«
und später »Europa« nennen wird, ist die politische Konsequenz
des individualistischen Martyriums, das ein gesprächsfreudiger Stadtstreicher
auf sich nahm, um die Legitimität des im universalistischen Dialekt
vorgebrachten Neuen gegen die entkräfteten lokalen Sitten zu demonstrieren.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
272 |
Der Name Platons erinnert daran, daß nach 399 v. Chr. der
»wahre Schüler« seines Meisters zur Schlüsselfigur
des weiteren Kulturprozesses werden sollte: Er zeigte seine souveräne
Lehrbefugnis aus der Position des Schüler-gewesen-Seins vor, indem
er die eigene umstürzend neue Lehre von den Ideen dem Lehrer Sokrates
unterschob. Als Paulus fast ein halbes Jahrtausend später die Figur
des »Apostels« erfand, um seine Botschaft vom Kreuz in die
Welt hinauszutragen, war die rebellisch umgebaute Autoritätsmaschine
komplett, um die zivilisatorische Ausnahme, die Europa heißt, auf
ihre unverwechselbare Weise in Gang zu setzen. Europa ist das Resultat
einer Jahrtausende währenden Unterwanderung väterlicher Transmissionen
durch die kombinierten Wirkungen von machthabenden Schülern und etablierten
Aposteln - mithin von Söhnen, die aus dem Schatten der Väter
treten, um die Überlieferung in unvorhergesehene Richtungen zu lenken.
Was man heute das »freie Individuum« nennt, ist der Endverbraucher
von Subversionen, an deren Anfänge sich niemand erinnert. Ob der
Apfel nicht weit vom Stamm fällt, ist nicht wichtig, solange er ins
Bodenlose fällt.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
272-273 |
Auch der wirkungsmächtigste Mythos des griechischen Theaters
die Geschichte vom König Ödipus, läßt sich unterdem
Licht der Sorge um die drohende genealogische Deregulierung mit erneuertem
Verständnis wiederlesen: Sie spiegelt das Monströs-Werden des
Helden wider, dem es durch eine Laune des Schicksalsloses bestimmt worden
war, mitseiner ihm unbekannten Mutter Nachkommen zu zeugen. Hierdurch
verletzte er, ohne es zu wollen und zu wissen, die sakrale Asymmetrie
zwischen den Generationen, die eine rückwärtsgewandte Paarung
als Rückfall in den Abgrund der Animalität untersagt, mehr noch:
Er ließ die Diskretion vermissen, die praktisch jede Zeugung zwischen
Verwandten ersten Grades als Sturz in den Höllenschlund einer titanischen
Chaotik verbannt. Wo man die konstitutive Asymmetrie des Generationengeschehens
mißachtet, werden die zur falschen Fortpflanzung verführten
Individuen in die Position von letzten Menschen katapultiert, die sich
in perverser Gleichzeitigkeit nebeneinander positionieren und miteinander
paaren, statt nach dem heilsamen Gesetzen aufeinanderzufolgen. - Die Paarung
von Mutter und Sohn ist weit davon entfernt, nur eine erotische Aberration
zu bilden - sie steht für eine Mesalliance von ontologischer Mächtigkeit:
Sie zieht Wahnsinn, Reue und Irrfahrt nach sich, weil sie das Subjekt
aus der positionellen Ordnung des Lebens entwurzelt. Indem sie die genealogische
consecutio temporum auf den Kopf stellt, lädt sie das Anfangschaos
ein, sich inmitten der humanen Ordung einzunisten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
273-274 |
Es besteht kein Zweifel, daß man eines Tages begreifen wird,
wodurch Sigmund Freuds epoche-machende Fehllektüre des Ödipus-Mythos
bedingt war. .... Auf das 20. Jahrhundert zurückblickend, das als
historisches Eldorado der Halbwahrheiten auch die Ära der Psychoanalyse
war, stellt sich die Frage, welche Verbrechen alle diese zahllosen Analysanden
begangen haben könnten, um so viele mit der Fahndung nach den Tätern
unbegangener Untaten verbrachte Stunden zu rechtfertigen.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
276, 277 |
Das gesamte Schriftwerk des Paulus kann gelesen werden, als habe
er unablässig den für ihn nicht aussprechbaren Satz umkresit:
»Wo Generation war, soll imitative Nachfolge werden«. Wir
zeugen nicht mehr, wir taufen undb rufen hervor. Wir pflanzne uns nicht
fort, wir lehren und bekehren. Wir glauben nicht mehr an eine Zukunft,
die in eigenen Kindern liegt, wir bereiten uns für eine völlig
andere Welt vor, die sich uns durch das baldige Ende des aktuellen Äons
erschließen wird.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
291 |
Der Übergang zum Dasien christlicher Zeit hatte seinen Preis:
Mit der Erfindung der Geschichte als der Zeitspanne »nach Christus«.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
298 |
In den Redaktionen der Evangelisten Matthäus und Lukas kündigen
sich die späteren Schicksale des Christentums an: Sie sind am besten
mit der Formel »Re-Genealogisierung der anti-genealogischen Revolte«
zu umschreiben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
302 |
Der Sinn der Reformation bestand nicht zuletzt darin, die brüdergemeindliche
Anarchie gegen die politische Patristik der katholischen Kirche - von
Carl Schmitt als Macht der römischen »Form« verteidigt
- wieder ins Recht zu setzen. - und dies im leben jedes einzelnen Gläubigen,
außerhalb der Klostermauern, zwischen lärmerfüllten Werkstätten
und choralsingenden Gemeinden.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
304 |
Im Wirkungsbereich des Modells »Heilige Familie wird
mithin jeder christlich erzogene Sohn kraft seiner Einführung in
die jesuanische Position dazu angeleitet, sein Dasein potentiell als das
eines von Gott gezeugten Bastards zu verstehen ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
306 |
Den Gedanken, wonach Zivilisation von einer gewissen Entwicklungsstufe
an die »Integration« eines Elements an Störendem, Heterogenem,
Fremdem zu ihren Voraussetzungen zählt, hat zuerst Hegel in seinen
Reflexionen über das frühe Griechentum als Einheit von »aufgehobenen«
Gegensätzen ausgesprochen: »Der wahrhafte Gegensatz, den der
Geist haben kann, ist geistig; es ist eine Fremdartigkeit in sich selbst,
durch welche allein der Geist die Kraft zu sein, gewinnt .... Jedes welthistorische
Volk ... hat sich auf diese Weise gebildet. So haben sich die Griechen,
wie die Römer, aus einer coluvies, aus einem Zusammenfluß
verschiedener Nationen entwickelt.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
Vorlesungen über die Philsosophie der Geschichte, 1. Abschnitt,
Die Elemente des griechischen Geistes).
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
314 |
Es war Gabriel Tarde, der den Strukturwandel der Nachahmungen
an den tag förderte, indem er die Überordnung der Mode über
die Sitte als ein Merkmal modernisierter Verhältnisse hervorkehrte.
In dem Begriff der Mode ... verbirgt sich, wie oben ausgeführt, der
zivilisationsdynamische explosive Sachverhalt, daß in ihr die Nachahmung
des Gleichzeitigen die Oberhand gewinnt, während im passéistisch
strukturierten Universum der Sitte die Nachahmung von Vorfahren den Ton
angab.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
327 |
Aus dem Dispens-Betrieb der römischen Kirche entwickelte
sich im Spätmittelalter ein mit einzigartiger Routiniertheit ausgebauter
Wirtschaftszweig: Gemeinsam mit dem Reliquiengeschäft umd dem Ablaßhandel
rief er am Vorbaend der Reformation eine veritable Volkswirtschaft der
Sünde ins Leben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
333-334 |
Der Angriff auf die erblichen Differenzen wird mit der Freisetzung
eines permanenten Wettbewerbs zwischen neuen, vorgeblich chancengleichen
Kandidaten auf die besseren Plätze bezahlt, der unvermeidlich zahllose
Verlierer produziert. Dies mag den sozialpsychologisch paradoxen Effekt
erklären, warum moderne Gesellschaften bei historisch beispiellosem
hohem Wohlstand, massiver Umverteilung und explodierender Lebenserwartung
mit der chronischen Verdüsterung ihrer Grundstimmung zu ringen haben.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
392 |
Was man in heutigen Diskursen den Egalitarismus nennt, ist in
seinen konkreteren Anfängen rückblickend leicht als die Offensive
der Bastarde und anderen Trägern von Erbnachteilen gegen das bestehende
System rechtlich verfestigter Diskriminierungen zu erkennen. Wer in das
Wort »Gleichberechtigung« hineinhorcht, wird Chöre des
Ressentiments und der Bitterkeit bemerken.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
395 |
Erklärungen allgeminer »Menschenrechte« am Ende
des 18. Jahrhunderts. Mit diesen Sprechakten, zeitgemäß, unumgänglich,
hochherzig und uneinlösbar, wie sie waren, setzte das nie mehr zu
beendende Weltalter der Reklamationen ein.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
425 |
Wie Hegel vorhersah, hatte die Geschichte tatsächlich aufgehört,
die Lehrmeisterin des Lebens zu sein.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
446 |
Ist es noch nötig zu betonen, daß das, was Sigmund
Freud in seiner metapsychologischen Studie Das Ich und das Es von
1923 das Über-Ich nennen wird, nichts anderes ist als eine affirmative
Formulierung dessen, was in Stirners Diktion von 1844 unverblümt
»Besessenheit« durch verinnerlichte kollektive Normen hieß?
Das Freudsche Über-Ich ist die Formalisierung der Instanz, die das
Ich in den Status des Angeklagten versetzt. Was Freud in seiner Rolle
als Generalstaatsanwalt der Zivilisation nicht zu den Akten nahm, ist
die fast 80 Jahre zuvor getätigte Aussage des Zeugen Stirner, in
der sich das ich zu seiner Unanklagbarkeit geäußert hatte.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
456 |
Stirner ... wählt die Position der strikt lokalen und von
jeder Verallgemeinerung himmelweit entfernten, hier und da erneuerten
selbstgenießenden Selbsterzeugung. So tritt er aus der Geschichtszeit
aus und wechselt in die Sphäre des nachgeschichtlichen Rentenbezugs
über. Er meidet die Überanstrengung, idem er sich implicite
auch bei der Selbstproduktion das Recht auf Faulheit zuspricht: Zwar setzt
das Ich sich selbst, aber nur, wenn es dazu Lust hat.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
460 |
Wo Fichte doziert hatte: »Handle wie keiner!«, repliziert
Stirner: »Tu, was allein du auf der Welt tun kannst: Genieße
dich selbst!«.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
461 |
In Stirners Der Einzige und sein Eigentum erreicht das
schreckliche Kind der Neuzeit seine Reflexionsgestalt. Er tritt als Endverbraucher
von Chancen, Gütern und Beziehungen auf. Der unbußfertige fröhliche
Egoist schneidet seine Verbindungen nach rückwärts wie vorwärts
förmlich, mit expressiver Unhöflichkeit ab. Seine erste Regung
ist das Bedürfnis, niemandem zu Dank verpflichtet zu sein.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
468 |
»Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie.
Das Rhizom geht durch Wandlung, Ausdehnung, Eroberung, Fang und Stich
vor sich .... Im Rhizom geht es um ... Werden aller Art.«
(Gilles Deleuze & Félix Guattari, Rhizom, S. 35.) Das unsichtbare
unterirdische Geflecht gegen den sichtbar aufsprossenden, nach oben strebenden
Baum ....
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
472 |
Die ererbte und erworbene Blindheit der konventionellen westlichen
Kulturwissenschaften für Fragen der Filiation kehrt ... in den post-colonial
studies schematisch wieder. Sie wiederholen den Basisfehler der westlichen
Moderne, die immer die
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
480 |
Man kann den Ausdruck »Weltzivilisation« nicht verwenden,
ohne daß Benutzungsgebühren anfallen. Macht man sich eine prozessule
Sicht auf die globale Dynamik zu eigen, kommt man nicht umhin, das Gesetz
wachsender Fragilität bei zunehmender Verfestigung zu unterschreiben.
Die Systemarchitektur des Globalitätsgebäudes wird sich infolge
machtgetriebener Gegenseitigkeiten auf absehbare Zeit dem aktuellen modus
operandi gemäß replizieren, maifester Einsturztendenzen
ungeachtet. Der Weltinnenraum des Kapitals dehnt sich unaufhaltsam aus.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
484 |
Die Ausweitung der Staatsdienste inden rund 200 im Uno-Raum angemeldeten
politischen Körpern zieht die Modernisierung der Korruption nach
sich - für diesmal konventionell verstanden als Unterwanderung des
Rechts durch Angehörige der öffentlichen Dienste, die nicht
sehen, was dem Charme eines zweiten Einkommen widerstehen könnte.
Die wachsende Aktivität der »Staatsdiener« in staatsunfähigen
Kulturen wird ohne explodierende Korruption - und mitwachsende Klagen
gegen sie - nicht zu haben sein. Als Garanten der Korruption wird die
Mehrheit der etablierten wie der improvisierten Nationalstaaten das 21.
Jahrhundert zu dem machen, was aes aus der Sicht des 22. gewesen sein
wird. Sie bereiten ihr Versagen vor, das man ihnen vorwerfen wird, sollten
die Bilanzen eines Tages offengelegt werden.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
484-485 |
Kurzum, in unseren Tagen kann niemand wissen, was den Sachgehalt
von sirenischen Wörtern wie »Nachhaltigkeit« und »Zukunftsfähigkeit«
ausmacht. Wer imstande wärfe, zwischen Gang, Drift und Sturz zu unterscheiden,
müßte prophetisch begabt sein. Dies ist der Zustand, auf den
Heidegger anspielte, als er seine Bemerkung aussprach, nur noch ein Gott
könne uns retten.
Peter
Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, 2014, S.
488 |
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