- Asymmetrien des globalen Reichtums -
Die Brasilianisierung
der Welt Ein Gespräch über die Verteilung
von Arm und Reich.Interview mit Professor Dr. Dr. Franz
Josef RadermacherProfessor Dr. Radermacher, Sie beschäftigen
sich seit Jahren mit der Globalisierung. Ist sie ein naturwüchsiges Ereignis,
ein Prozeß, der uns zwingt, uns ihm zu unterwerfen, oder gibt es hier Gestaltungsräume?Globalisierung
als Begriff trägt verschiedene Bedeutungen. Die katholische Kirche hat vor
2000 Jahren ein Element der Globalisierung eingeführt, und als die Portugiesen
um das Horn von Afrika segelten, ergab sich wieder eine neue Situation des weltweiten
Austauschs. Aber das alles ist im Verhältnis zu dem, was wir in den letzten
Jahren erleben, von einer völlig anderen Qualität. Wir können
heute extrem viele ökonomische und andere Prozesse weltweit über beliebig
große Entfernungen in Minuten- und Sekundengenauigkeit mit Hilfe der modernen
Informationstechnik koordinieren , und durch die unglaublichen Leistungen des
internationalen Flugverkehrs können wir Güter über Nacht von Singapur
nach Hamburg bringen; oft dauert es länger, dieselben Güter von Hamburg
in die Lüneburger Heide hinein zu verteilen, als sie von Singapur nach Hamburg
zu bringen. Der Transport in die Lüneburger Heide ist bei hochwertigen Gütern
wie Computer-Chips erheblich teurer als die Transportkosten von Singapur nach
Hamburg. Das heißt, wir sind jetzt in allen möglichen ökonomischen
Prozessen miteinander vernetzt, und diese Vernetztheit verändert die Qualität
von fast allem. Denken Sie als Analogie an folgendes Beispiel, einen breiten Fluß.
Stellen Sie sich vor, daß es keine Brücke und keine Fähre gibt.
Dann sind die Welten auf den beiden Seiten des Flusses getrennt voneinander. Es
gibt fast keine Wechselwirkung. Wenn Sie nun eine Brücke bauen, sind sie
nicht mehr voneinander getrennt. Damit sind andere Austauschmöglichkeiten,
aber auch andere Konkurrenzbedingungen gegeben. Ähnlich ist es in einem Hochgebirge,
wenn es keine Paß-Straße und keinen Tunnel gibt. Dann kann im Winter
nichts von der einen Seite des Hochgebirges zur anderen. Haben Sie aber einen
Tunnel, dann sind sie jederzeit auf beiden Seiten. In diesem Sinne verändern
neue Transportwege und Kommunikationsmöglichkeiten die Situation von Grund
auf, weil plötzlich Menschen miteinander interagieren können, die das
früher nicht konnten. Hier habe ich eine Zwischenfrage. Sie sagen an
anderer Stelle, daß für schwächere oder einst schwächere
Länder die Teilnahme am modernen Welthandel durchaus eine Chance zur Entwicklung
war. Sie sehen also zumindest hier einen positiven Effekt der Globalisierung. Selbstverständlich,
dieser Effekt ist völlig unzweifelhaft. Denken Sie nur an wirklich wichtige
Dinge. Wenn Menschen krank sind, brauchen sie ein geeignetes Medikament oder ein
Krankenhaus. Wenn ich irgendwo in der Dritten Welt lebe, keinen Zugang zu moderner
Medizin und moderner Technik habe, dann lebe ich eben so, wie die Menschen hier
im Mittelalter lebten: Ich sterbe mit durchschnittlich 35 Jahren. Und wenn einer
eine kaputte Hüfte hat, dann lebt er eben von da an mit kaputter Hüfte.
Habe ich aber Zugang zu einer Weltökonomie, die in der Lage ist, mit Medikamenten
die Lebenserwartung um 30 Jahre zu erhöhen und die bei Bedarf ein Hüftgelenk
durch eine technische Komponente ersetzen kann, dann kann ich den Rest meines
Lebens laufen. Insofern bietet ganz unzweifelhaft die moderne Zivilisation eine
unglaubliche Fülle höchst attraktiver Dinge, die rund um den Globus
alle möglichen Menschen haben wollen. Und Globalisierung eröffnet zumindest
eine Chance, daran rasch zu partizipieren.Darf ich das noch einmal
ein wenig auf die Ökonomie zurücklenken. Haben diese schwächeren
Länder, in denen wir wie noch im Mittelalter leben, durch die Teilnahme am
Handel auch eine größere Teilhabe an einem gestiegenen Wohlstand?Allein
die Tatsache, daß es Dinge wie die moderne Medizin gibt, hat zur Folge,
daß zumindest bestimmte Menschen in den ärmeren Ländern den Zugriff
darauf haben werden. Die Mechanismen dieses Zugriffs sind unter Umständen
kompliziert. Die Finanzierung kann mit Kriminalität zusammenhängen,
mit Drogen, mit Prostitution, mit Menschenhandel, wie auch immer. Es gibt auch
in einem armen Land immer Möglichkeiten für bestimmte Gruppen des Landes,
andere Gruppen so „ausplündern“, daß sie in der Folge etwas zu bieten
haben, was in dieser Welt einen Tauschwert hat, um damit an Dinge zu kommen, die
man gerne hätte, ob das nun ein Handy ist oder ein Computer oder ein Auto
oder eben ein Medikament. Was folgt daraus aber?Ich will
auf folgenden Punkt hinaus: Wenn wir von diesen Ländern völlig getrennt
wären, dann wüßten sie gar nicht, daß es diese Dinge gibt,
oder wenn sie es wüßten, hätten sie ganz einfach keine Chance,
an diese Dinge heranzukommen. Sobald wir aber ökonomisch vernetzt sind, wird
es immer einen Mechanismus geben, mit dem zumindest einige in diesem Land zu diesen
Dingen gelangen, und es ergibt sich ein Sickereffekt, wie diese Dinge von dem
einen zu anderen gelangen. Man wundert sich oft, wie viele Menschen in den
ärmeren Ländern über Mobiltelefone verfügen oder auch über
modische Kleidung (auch wenn dies Plagiate unserer Premium-Marken sind). Aber
hier sieht man wieder den nächsten Globalisierungseffekt: Man weiß
jetzt auch hier, was eine Premium-Marke ist und welche Ausstrahlung sie dem bringt,
der sie besitzt. Das führt findige Plagiatoren auf den Plan, die unter den
verrücktesten Bedingungen auf dem Globus die Dinge ähnlich dem Original
produzieren. Dieses Plagiat kann dann, weil die Eigentumsrechte nicht durchgesetzt
werden können, auch preiswert verkauft werden. Und zwar entsprechend den
finanziellen Möglichkeiten des Kunden, der nun mit dieser Art der Ausstattung
versorgt ist. Diese Ausstattung hat den Effekt, daß man in weltweiter Konkurrenz,
z.B. um die Zuneigung von Touristen, einen internationalen Standard vorweisen
kann, und sei er ein Plagiat. Die Vorerwartungen an bestimmte Standards werden
damit erfüllt, und das ergibt wiederum neue Möglichkeiten der eigenen
Wertschöpfung: Die erwähnten Touristen sind eine interessante Devisenquelle.Ich
versuche jetzt einmal, einen Schatten auf dieses Bild zu werfen. Nehmen wir ein
Land, das im Rahmen des globalen Freihandels etwa billige Textilien in den reicheren
Norden exportiert. Wenn dieses Land nun durch ein anderes Land überholt wird,
das noch billigere Textilien exportieren kann, dann liegt die Textilindustrie
des ersten Landes darnieder. Zählt das zu den bekannten „schöpferischen
Zerstörungen“, oder soll ich auch hier einen positiven Effekt erkennen?Sie
kennen meine kritische Haltung dazu, wie das alles abläuft. Man sollte aber
nicht verkennen, daß eine solche Industrialisierung wie in dem ersten von
Ihnen erwähnten Land meist verbunden ist mit dem Aufbau einer Infrastruktur,
das heißt: Es entstehen Gebäude, Straßen, Wasser wird verfügbar,
Telekommunikation etc. Dies alles entsteht im Rahmen von ökonomischen Prozessen,
die zwar keine guten Gehälter produzieren, aber diese Infrastruktur finanzieren.
Wer je in einem afrikanischen Land ohne Infrastruktur war, der weiß, daß
hier überhaupt keine international vergleichbare Wertschöpfung möglich
ist. Daß jetzt die Industrie weiterwandert, bedeutet, daß die
Löhne in diesem Land schon so hoch sind, daß man in einem anderen Land
niedrigere Löhne findet. Das heißt aber: Die Arbeiter haben offenbar
Alternativen, da sie mit den theoretisch möglichen niedrigeren Löhnen
nicht zufrieden sind. Das deutet darauf hin, daß in diesem Prozeß
letzten Endes schon ein anderes ökonomisches Niveau erreicht wurde. Man kann
es auch so sagen: Die Löhne fallen nicht auf null zurück, denn wenn
sie das täten, hätten die Unternehmen keinen Grund weiterzuwandern.
Was übrigens auch bleibt, ist der Stand der Ausbildung. Jede Ansiedlung
ist auch ein Ausbildungsprogramm. Man lernt in diesem Prozeß nicht nur lesen
oder wie man irgendwelche Köpfe drückt, sondern auch die Benutzung der
Infrastruktur, die Benutzung einer Uhr, die Organisation von individueller Mobilität.
Zwar mögen die Löhne inadäquat sein, aber man muß hinzurechnen,
was an Infrastruktur und Ausbildung parallel erfolgt.Sie haben bei
manchen Gelegenheiten aber auch die unter den heutigen Umständen der Globalisierung
entstehenden negativen Effekte erwähnt. Welche Effekte sind das?Ich
sehe zumindest sechs: Zunächst einmal sind in dem beschriebenen Prozeß
die Bedingungen für die Arbeitnehmer der betreffenden Länder schlechter,
als sie sein müßten. Man könnte den Prozeß sicher besser
organisieren. Dann passiert vieles, was hier vor sich geht, zu Lasten der
Umwelt. Das heißt, Verlagerungen von Produktionen rechnen sich, hohe Renditen
werden erschlossen, aber der Preis ist eine langfristige Zerstörung der Umwelt.
Das ist schlecht für die betroffenen Länder, das ist langfristig auch
schlecht für uns. Dann läuft der Prozeß gegenwärtig sehr
oft auch zu Lasten der Arbeitnehmer in den reichen Ländern, denn sie geraten
unter einen enormen Druck, der soziale Abwärtsspiralen und wachsende Arbeitslosigkeit
in Gang setzt. Obwohl in den reicheren Ländern nach wie vor ein Wachstum
des Bruttosozialprodukts pro Kopf zu beobachten ist, geht es signifikanten Teilen
der Bevölkerung schlechter: Sie partizipieren nicht an dem erzeugten Wohlstandsgewinn.
Andere, kleinere Gruppen partizipieren dafür doppelt: Sie saugen alles ab,
was an Wachstum überhaupt entsteht, ziehen aber zusätzlich auch noch
Ressourcen der übrigen Bevölkerung zu sich herüber und haben einen
zusätzlichen relativen Vorteil dadurch, daß ein Teil der Bevölkerung
zurückstecken muß. Die Globalisierung fördert damit bei uns
also eine Asymmetrie in einem Umfang, den wir politisch (das heißt: demokratisch,
mehrheitlich) nicht wollen. Sie hebelt in einem gewissen Sinn die Demokratie aus. Ferner
eröffnet dieser Prozeß den Unternehmen auch noch zahlreiche Möglichkeiten,
sich der Besteuerung zu entziehen, womit auf dem Globus ein Wettlauf um die Absenkung
von Unternehmenssteuern einhergeht, wodurch die Balance und letztlich der Reichtum
der reicheren Länder unterminiert wird. Aus der Sicht bestimmter Eliten ist
dies womöglich höchst attraktiv: Das Gesamtsystem wird zwar ärmer,
als es sein müßte, aber sie, die Eliten, werden dabei relativ betrachtet
viel reicher. Brasilien gehört unter dem Aspekt des sozialen Ausgleichs
zu den schlechtesten Ländern der Welt. Wenn wir den Globus als Ganzes betrachten,
nimmt der soziale Ausgleich zwar insgesamt zu, aber dadurch, daß sowohl
die ärmsten Länder als jetzt auch die reichen Länder sich in Richtung
brasilianischer Verhältnisse bewegen. Das kann kein wünschenswerter
Zustand sein. Wenn Sie von „Eliten“ sprechen: Sind das dieselben Eliten,
die die Regeln der Globalisierung festlegen? Meinen Sie damit die Eliten bestimmter
Länder, die die Macht haben, Globalisierungsregeln global durchzusetzen?
Ist das ein verschwörungstheoeretischer Ansatz, und läßt sich
ein solcher rechtfertigen?Ich glaube, daß auch ein verschwörungstheoretischer
Ansatz in bestimmten Situationen durchaus Sinn machen kann, weil es auf diesem
Globus schon eine Menge Verschwörungen gegeben hat. Die Erfindung der Figur
der Verschwörungstheorie ist eine der besten Abwehrstrategien der Verschwörer,
um mit diesem Tabu der Absurdität die Diskussion über eben diese Verschwörung
zu verhindern. Aber ich will hier gar nicht verschwörungstheoretisch
argumentieren, sondern von Interessenlagen her. Wenn man Menschen die Möglichkeit
eröffnet, Millionen oder gar Milliarden Dollar Eigentum kurzfristig anzuhäufen,
indem bestimmte Regeln (etwa der Besteuerung) verändert werden oder die Produktion
in Länder verlagert wird, in denen es bestimmte Umweltschutzgesetze nicht
gibt, dann ist nicht einzusehen, warum diese Personen etwas völlig Legales
nicht tun sollten, wenn es sich rechnet. Und wenn das viele erfolgreich tun, müssen
es zum Schluß sogar die tun, die es eigentlich nicht tun wollen, weil sie
sonst im Markt, im Wettbewerb keine Chancen haben. Und wenn die Möglichkeit
besteht, auf die Regeln derart Einfluß zu nehmen, daß es sich noch
mehr rechnet, dann wird dafür auch gesorgt. Das tun in der Regel nicht diejenigen,
die die Vermögen besitzen, sondern diejenigen, die diese Vermögen verwalten.Sprechen
wir hier von Kreditinstituten oder schon von Politikern?Weder noch.
Wir sprechen hier von Top-Kräften im Investmentbanking, von Spitzenberatern,
von Menschen, die neue Finanzmarktinstrumente wie z. B. Hedge-Fonds kreieren.
Alle diese Leute sagen jemandem, der Geld hat: Gib mir dein Geld, ich passe darauf
auf, und ich werde dir eine hohe Rendite besorgen und mich selber dabei legitimerweise
auch reich machen. Das bedeutet, daß bestimmte Personen unter unheimlichem
Druck stehen, einerseits ihre hohen Renditeversprechen zu erfüllen und andererseits
auf diesem Weg auch noch für sich selber zu sorgen. Diese Personen sind gezwungen,
jeden nur erdenklichen Trick zu finden, etwa die Vermeidung von Umweltbelastungskosten
und die Vermeidung von Steuern und Sozialabgaben, um diese Versprechen umzusetzen.
Genauso müssen sie Mitarbeiter in reichen Ländern loswerden. Anders
würden sich ja diese absurd hohen Renditen auf Eigenkapital, die mittlerweile
die Norm sind, überhaupt nicht realisieren lassen. Die unglaublichen
Gewinnmargen, die in diesem Spiel gebraucht werden, lassen sich nur generieren,
wenn man sich der demokratischen Kontrolle in Form vernünftiger Gesetze zur
Finanzierung der systemischen Voraussetzungen für Wohlstand entzieht und
diese lästige Pflicht auf andere abschiebt, nämlich auf den kleinen
Mittelstand und die Arbeitnehmer. Sie sagen, der Reichtum auf dem
Globus sei insgesamt ungleicher verteilt, als das in Brasilien der Fall ist. Ist
es dieser Zustand, den Sie einmal die „Brasilianisierung der Welt“ nannten, oder
wie muß ich diesen Begriff verstehen?Zunächst ist die
Erkenntnis wichtig, daß der Globus noch ungleicher organisiert ist als Brasilien,
obwohl Brasilien zu den im sozialen Bereich ungleichsten Ländern gehört.
Man kann das quantifizieren. Man fragt dazu: Welcher Anteil des Bruttosozialprodukts
eines Landes landet als Einkommen nach Steuern und Sozialtransfers bei den reichsten
20 Prozent der Bevölkerung? Wenn das genau 20 Prozent sind, haben wir eine
kommunistische Gesellschaft, und die ist ökonomisch nicht besonders erfolgreich.
Bei den sozialen Demokratien dieses Globus liegt dieser Anteil bei etwa 35 bis
47 Prozent; die Nordeuropäer liegen bei 35, die Deutschen etwa bei 40, bei
47 Prozent die USA, das ungleichste unter den reichen Ländern. Oberhalb von
47 Prozent findet man nur noch arme Länder. Unter ihnen gibt es Länder
mit extrem hoher Ungleichheit, und zu den schlimmsten Beispielen gehört Brasilien
mit 65 Prozent. Das heißt, 80 Prozent der Bevölkerung müssen sich
dort mit 35 Prozent des Kuchens begnügen. In diesen Zahlen Brasiliens
spiegelt sich letzten Endes die alte Kolonialstruktur. In Finnland ist es genau
umgekehrt wie in Brasilien. Dort akkumulieren die 20 reichsten Prozent der Bevölkerung
35 Prozent des Bruttosozialprodukts als Einkommen und die 80 Prozent übrigen
die restlichen 65 Prozent. Selbst in Finnland haben die reichsten 20 Prozent im
Mittel mehr als doppelt so viel Einkommen wie die 80 Prozent. Aber in Brasilien
ist es eben nicht nur mehr als doppelt so viel, sondern gleich achtmal so viel.
Diese Bedingungen der Ungleichheit machen ein Land arm, weil sie zur Folge
haben, daß ein großer Teil der Bevölkerung nicht ausreichend
ausgebildet werden kann. Insofern ist das Zahlen signifikanter Steuern von Beziehern
hoher Einkommen die Voraussetzung dafür, ein reiches Land zu sein. Insbesondere
muß da, wo die größte Wertschöpfung stattfindet, besteuert
werden. In den besonders ungleich organisierten Ländern geschieht das völlig
unzureichend, dort werden wenig Steuern bezahlt, die Arbeit ist billig, zuhauf
gibt es dort all das, was die Marktfundamentalisten immer für Deutschland
fordern, aber diese Länder sind bitter arm. Das zeigt, worum es wirklich
geht. Reichtum ist nur zu produzieren in Ländern mit guter Infrastruktur
und gut ausgebildeter Bevölkerung, und das verlangt Querfinanzierung und
Steuerzahlung. Und der Globus, sagten Sie, ist noch ungleicher organisiert
als Brasilien.Ja, denn insgesamt haben auf dem Globus die 20 Prozent
Reichsten, und das sind überwiegend die Menschen in den OECD-Ländern,
85 Prozent des Kuchens, die übrigen 80 Prozent nur noch 15 Prozent. Wenn
man sich fragt, warum der Globus noch ungleicher organisiert werden konnte als
frühere Kolonialsysteme, dann gibt es dafür mindestens zwei Gründe.
Brasilien ist immerhin eine Demokratie, das heißt: Die Ärmsten dürfen
in Brasilien wählen. Das setzt das politische System genügend unter
den Druck, die Interessen der Ärmsten zumindest marginal zu beachten. Auf
dem Globus haben wir das Gegenteil einer demokratischen Struktur. Und zwar nicht
deshalb, weil einzelne Länder nicht demokratisch wären, das ist sekundär;
das wirkliche Thema ist vielmehr die Nicht-Demokratie in den Beziehungen zwischen
den Staaten. Wir haben die Situation, daß 100 Millionen US-Amerikaner einen
Präsidenten wählen und 6,5 Milliarden Menschen mit ihm leben müssen.
Die G-8-Staaten, 1,2 Milliarden, wählen ihre Präsidenten, und der Rest
des Globus muß mit diesen Präsidenten leben. Und mit ihren
Politiken.Ja, und diese Politiken bestimmen das Leben der übrigen
Milliarden mehr als das, was ihre eigene Regierung tut. Alle diese Menschen dürfen
nicht mitbestimmen, wenn die Strukturen festgelegt werden, die wesentlich das
Leben dieser Menschen determinieren. Unser Demokratie-Problem auf dem Globus ist
also ein Demokratie-Problem zwischen den Staaten. Mit dem Ergebnis, daß
die meisten Menschen auf dieser Erde keinen ihrer Anzahl äquivalenten Einfluß
auf das Geschehen haben. Noch deutlicher gesagt: Das Geschehen bestimmen die Bevölkerungen
in den reichen Ländern, im besonderen die US-Bevölkerung, im besonderen
die Eliten in den reichen Ländern, im besonderen die Machteliten in den USA.
Und das ist in Brasilien nicht ganz so gravierend. Dort darf jeder wählen,
weshalb die Ärmsten in Brasilien mehr Gehör finden als die Ärmsten
auf dem Globus in Bezug auf die den Globus betreffenden Fragen. Die Ärmsten
in Brasilien haben außerdem Reisefreiheit. Das heißt, sie können,
von Ausnahmen abgesehen, dahin gehen, wo der Wohlstand in Sichtweite ist, z. B.
in die Slums am Rand der Großstädte. Damit üben sie vor Ort einen
gewissen Druck aus. Die Ärmsten auf dem Globus können aber nicht in
die Welt der Reichen gehen. An keiner Stelle ist die reiche Welt so brutal wie
bei der Abschottung gegen die Normalbürger der armen Welt. Wer
kommen darf, sind die Green Cards, also „beste Gehirne“ oder sonstwie positiv
selektierte Untermengen. Die saugt man sich zum Nulltarif heraus, einer der größten
Plünderungsfeldzüge unserer Zeit. Güter, Waren, Wissen, Geld –
das alles darf sich frei bewegen, nur die Menschen nicht. Weil also der Globus
zwei Mechanismen nutzen kann, die eine Demokratie wie Brasilien nicht nutzen kann,
nämlich die meisten Menschen nicht mitwählen zu lassen und diese auch
nicht dahin gehen zu lassen, wo der Reichtum ist, kann man auf dem Globus eine
Ungleichheit verwirklichen, die es selbst in den sozial ungleichsten Ländern
nicht gibt. Das klingt nach Absicht.Absicht oder nicht.
Es sind zumindest instinktiv verfolgte Programme der Absicherung der eigenen Situation.
Man kann dabei noch weitergehen. Es gab früher
das Phänomen der so genannten Bantuisierung. Als in Südafrika den Menschen
mit schwarzer Hautfarbe die Bürgerrechte vorenthalten wurden, stand das Land
mit dieser Apartheit vor der Weltgemeinschaft als Paria da; die Regierung kam
danach auf den Gedanken, im Innern des Landes kleine „Staaten“ auszuweisen, die
schwarze Bevölkerung völkerrechtlich in diesen kleinen Staaten zu verorten
und ihnen dort, wo man sie zur Arbeit brauchte, zu erlauben, daß sie die
neue „Staatsgrenze“ überqueren. Wenn sie dann keine Südafrikaner mehr
gewesen wären, sondern nur Bürger ihrer kleinen Enklaven, hätte
man sie wie arbeitsuchende Gastarbeiter behandeln können. Diesen müssen
völkerrechtlich nicht die Bürgerstandards des Gastlandes voll gewährt
werden. Die künstliche Herbeiführung dieses Zustandes nennt man Bantuisierung.
Elemente solcher Bantuisierungsüberlegungen kann man im Augenblick sehr gut
in Israel beobachten: Es gibt dort Vorschläge, das Palästinenserproblem
durch eine Bantuisierungsstruktur zu lösen. Israel behielte dabei praktisch
alles attraktive Land für sich, und die Palästinenser würden völkerrechtlich
in ihre kleinen Enklaven geschoben, die man dann den „Palästinensischen Staat“
nennt. Wenn man sie dann über die Grenze kommen läßt, muß
man ihnen nicht die Rechte einräumen, die man bei einer Annexion des Ganzen
einräumen müßte. Dieses Sich-Herummogeln um völkerrechtliche
Verpflichtungen geht solange auf diesem Weg, wie es souveräne Staaten gibt. In
gewissem Sinn produziert die Globalisierung nun eine Bantuisierung im größeren
Stil. Denn wenn die Globalisierung die Welt in ein einziges weltökonomisches
System bringt, wir aber die Fiktion der Souveränität der Staaten aufrechterhalten,
dann haben wir heute bereits die armen Menschen in ihrem Bantustan sitzen, in
ihren eigenen Staaten, wir müssen diese Bantustans gar nicht mehr schaffen,
aus der Sicht der globalen Ökonomie ist das schon da. Während für
diejenigen auf der reichen Seite alles erlaubt ist, gilt das für die anderen
nicht. Die Reichen können überall hin, sie haben auch überall die
Gültigkeit ihrer Eigentums- und Wirtschaftslogik über die Welthandelsorganisation
(WTO) und weitere Regelsysteme durchgesetzt. Für die reichen Länder,
die die globalen ökonomischen Prozesse organisieren, ist der Globus fast
so wie ein einziger Staat. Nur wenn es um die Bürgerrechte der Menschen geht
oder wenn irgendwo „Dreck“ preiswert gelagert werden soll, wenn man billig an
Rohstoffe kommen will oder moderne Sklaven (auf „Vertragsbasis“) benötigt,
wird die Frage zurückverwiesen an die Souveränität des Nationalstaates,
als wäre dieser ein Bantustan. Darf ich noch einmal auf den Begriff
der „Brasilianisierung“ zurückkommen? Wo starten wir?Wir haben
folgendes festgestellt: Der Globus ist ungleicher organisiert als Brasilien, Brasilien
ungleicher als Finnland. „Brasilianisierung“ bedeutet nun aus Sicht der Ärmsten
des Globus, daß die weltweite Entwicklung in Richtung Brasilien geht. Das
ist für viele ein Fortschritt. Doch leider wird das im Moment so organisiert,
daß dieser Fortschritt nur zu einem hohen Preis zu haben ist, den Preis
nämlich, daß sich auch Finnland in Richtung Brasilien bewegt, ebenso
Deutschland, ebenso die USA.Durch die Logik der Verhältnisse?Unter
anderem dadurch, daß sich die interessantesten Wertschöpfungssegmente
in der heutigen Globalisierung weitgehend der Besteuerung entziehen. Damit geht
dem Staat wertvolles Steuervolumen verloren, gleichzeitig marschiert die Arbeit
nach Vietnam, damit gehen Arbeitsplätze und Einkommen und Steuern auf Arbeitseinkommen
verloren; ein Teil des Geldes fließt jetzt zu den Vietnamesen, und Vietnam
bewegt sich in Richtung Brasilien, und der andere Teil des Geldes geht zu wenigen
Menschen in reichen Ländern zu Lasten der vielen Menschen in reichen Ländern.
Und diese Länder bewegen sich von ihren 35 oder 40 Prozent Anteil für
die 20 Prozent Reichsten hin zu 40, 50 oder mehr Prozent. Das heißt, bei
uns nimmt die Ungleichheit zu, und auch wir bewegen uns somit auf brasilianische
Verhältnisse zu. Weltweit betrachtet ist das sogar eine Konvergenz, auf die
die Freimarkt-„Apostel“ auch immer wieder gern hinweisen. Am Ende ergibt das
einen Globus mit einer ökonomischen Struktur, bei der Arm und Reich nicht
mehr im wesentlichen über die Länderstrukturen verteilt sind wie bisher,
sondern es gibt überall, in jeden Land, die wenigen Prozent Reiche, und alle
anderen werden ärmer. Man kann das als positive Entwicklung in Richtung
eines weltweiten Ausgleichs sehen, allerdings nur um den Preis des Rückbaus
des erreichten Niveaus an sozialem Ausgleich in den reichen Ländern. Historisch
gesehen ist dieses Niveau eine Folge der Durchsetzung der Demokratie, teilweise
hart erkämpft gegen Eliten und Feudalstrukturen, die das mit aller Macht
bekämpft haben. Indem Mächte dieses Charakters jetzt die Möglichkeit
der Ausbreitung auf dem Globus haben, sind die 80 Prozent Betroffenen auf dem
Globus nicht richtig organisiert, weder in Welt-Gewerkschaften noch in Welt-Sozialbewegungen.
Sie können den 20 Prozent (oder auch den 20 Prozent dieser 20 Prozent) nicht
politisch das aufzwingen, was den Globus maximal reich machen würde. Dann
müßten die internationalen Wertschöpfungssegmente zumindest unter
vernünftigen Strukturen ihre Steuern bezahlen. Aus der Sicht der Superreichen
der Welt ist dies insgesamt eine Rückkehr zu Verhältnissen, die wir
in langen Revolutionen und langen Kämpfen bei uns überwunden haben.Ein
Prozeß also, der den reichen Ländern eher negative Folgen beschert.Für
die jeweils 80 Prozent Ärmeren der Bevölkerung der reichen Länder
ist der Prozeß jedoch extrem negativ. Für andere sieht das anders aus.
Und die anderen agieren. Jetzt werden die Philosophien zusammengebaut, die
sagen: Der Mensch ist frei; der Mensch muß für sich selber Verantwortung
tragen, der Mensch muß sein eigenes Leben gestalten; der Mensch muß
für sich selber vorsorgen; wir sind jetzt so reich, wir brauchen keinen Staat
mehr, der sich doch nur um sich selber kümmert. Der Mensch, der Entrepreneur,
ist der Herr seiner eigenen Zukunft. Das heißt: Zum Schluß gibt es
die Erfolgreichen, und die anderen sind selber schuld. In dieser Philosophie ist
jemand, der enteignet wird, nicht jemand, der enteignet wird, sondern jemand,
der nicht genügend Entrepreneur war, die Chancen dieser Welt so zu nutzen,
daß er reicher wurde. Das wird dann auch so interpretiert: Erfolg ist diesem
Menschen gar nicht so wichtig, der will lieber seine Ruhe haben, einen freien
Nachmittag, der will sich nicht anstrengen. Das geht so weit, daß die Betroffenen
diese Philosophie selbst glauben; sie glauben, daß sie zu Recht da landen,
wo sie sind, also nicht auf Grund systemischer Bedingungen, sondern wegen des
eigenen Versagens. Weil sie nämlich die neue Philosophie akzeptieren und
sich selber als den Versager sehen.Wenn das so ist, dann möchte
man ja gern annehmen, daß auch noch andere Menschen die Dinge so sehen,
wie Sie sie darstellen. Warum höre ich dann in der deutschen Politik, wenn
nicht ein Verlorener dem „Sozialen“ seine Stimme leiht, nur noch die Marktideologie?Die
Politik tut sich schwer gegen globale Zwänge. Sie ist hilflos. Wer gibt schon
gerne zu, daß er Dinge geschehen lassen muß, die er eigentlich ablehnt.
Vor allem, wo der Marktfundamentalismus bis vor kurzem die Deutungshoheit über
die Verhältnisse innehatte. Aber nun tut sich endlich etwas. Dinge haben
sich verändert. Wir stehen vor einer Renaissance der sozialen Marktwirtschaft:
Es haben mittlerweile so viele Menschen begriffen, wie der freie Markt auf diesem
Globus die Dinge in eine falsche Richtung bewegt, daß es jetzt Gegenstimmen
gegen die Ideologie des Freien Marktes gibt.Ist das mehr als eine
formulierte Hoffnung? Können Sie hier Namen nennen?Das ist zunächst
einmal ganz wesentlich die Position der neuen Bundesregierung, die sich als große
Koalition im Regierungsprogramm sehr klar für die Stärkung der Sozialen
Marktwirtschaft ausgesprochen hat. Sie hat sich außerdem vehement gegen
die Zumutungen der deutschen Industrie gestellt und etwa dem BDI gesagt, er soll
sich mäßigen. So etwas kann nur eine große Koalition tun. Sie
hat der Politik ein Stück Handlungsfreiheit zurückgegeben. Im Wahlergebnis
kam ja auch klar zum Ausdruck, daß die Bevölkerung die soziale Komponente
der Sozialen Marktwirtschaft will. Was aber noch wichtiger ist: Frau Merkel
hat daraus den richtigen Schluß gezogen, daß die Ausweitung dieser
Überlegung auf die globale Ökonomie in Form einer weltweiten Marktwirtschaft
unvermeidbar ist, wenn wir eine vernünftige Zukunft wollen. Das waren
Kernaussagen ihrer Rede zur Eröffnung des Weltwirtschaftgipfels in Davos
Anfang 2006. So etwas hatte man in Davos noch nie zuvor gehört, das war eine
Sensation. Sie sagte: Wir müssen jetzt die Eckpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft
auf den Globus hin extendieren, das ist eine Schicksalsfrage für die Zukunft
der Menschheit. Vor kurzem ging sie noch darüber hinaus und forderte Regelungen
im Bereich der Weltfinanzsysteme.Ist das mehr als ein Lippenbekenntnis?
daß die Globalisierung „gestaltet“ werden sollte, habe ich schon öfter
gehört. Aber noch niemand hat sich auf etwas wie eine Tobin-Steuer festgelegt,
also die Besteuerung der internationalen Finanzströme.Die Forderung
Frau Merkels war immerhin das erste Beispiel einer Forderung an die Regimeseite,
damit meine ich die Forderung, die WTO-Regelwerke mit denen der ILO (der Internationalen
Arbeitsorganisation) und anderer Organisationen der UN zu koppeln. Sie hat zudem
gesagt, daß diese Gestaltung der globalen Ordnungsregime zum zentralen Thema
des G7-Gipfels nächstes Jahr in Deutschland wird. Das ist genau der richtige
Ansatz. Außerdem haben inzwischen drei österreichische Bundesländer
politische Beschlüsse zum Global Marshall Plan, der ja massive Veränderungen
in die richtige Richtung fordert, gefaßt, und zwei weitere Bundesländer
kommen demnächst hinzu. Voriges Jahr in Davos haben 25 Führer von Weltunternehmen
zusammen mit Tony Blair ein Langfristprogramm „Kyoto plus“ zur Klima-Gerechtigkeit
gefordert. Wir vom Bundesverband für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft
arbeiten im Augenblick in Kooperation mit dem Weltwirtschaftsforum an einer ähnlichen
Unternehmer-Erklärung. Es gibt hier also eine interessante Bewegung,
konzentriert auf die Regime-Frage, da man nicht mehr einfach die Behauptung akzeptiert,
der Freihandel produziere die besten Ergebnisse für alle. Weil man sieht,
daß er sie eben nicht produziert. Darüber hinaus gibt es in den
großen EU-Staaten (übrigens in Zusammenarbeit mit den USA, die daßelbe
Problem haben) das Bemühen, die Steuersysteme so zu verändern, daß
die großen Unternehmen sich nicht mehr unter Ausnutzung der internationalen
Möglichkeiten praktisch der Besteuerung entziehen können.Aber
bitte noch einmal: Was macht Sie hier aber so optimistisch, daß Sie von
einer Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft sprechen können? Es gibt zwar
attac und das Weltsozialforum, aber sie erreichen nicht das Zentrum der Macht.Weil
sich im Zentrum der Macht Dinge verändern. Das sind die Regierungen der großen
Staaten in der OECD, der G7, der EU. Bisher haben Bewegungen der von Ihnen genannten
Art diese Politikebene nicht erreicht. Aber allmählich wird es weltweit so
kritisch, daß sich Dinge verändern. Zum Beispiel haben voriges Jahr
sowohl der französische Präsident Jacques Chirac als auch der britische
Premier Tony Blair, als auch der deutsche Kanzler Gerhard Schröder zum ersten
Mal in Davos die Tobin-Steuer gefordert. Es gibt mittlerweile die Lula-Gruppe,
die ebenfalls die Tobin-Steuer fordert. Es gibt einen EU-Prüfungsauftrag
zur Flugticket-Abgabe. Belgien hat ein Gesetz zur Tobin-Steuer verabschiedet unter
der Voraussetzung, daß alle anderen EU-Staaten der Steuer ebenfalls zustimmen.
Im Moment arbeiten wir im Ökosozialen Forum Europa daran, das öffentliche
Klima so zu beeinflussen, daß Österreich hoffentlich ein ähnliches
Gesetz erläßt; danach werden wir in Deutschland dafür werben. Jetzt
sprechen Sie demnach nicht nur von Alternativszenen, sondern von Machtzentren
und Entscheidungsträgern. Ja. Mittlerweile wird das Problem vielen bewußt.
Die Globalisierung unterminiert massiv die Steuerbasis der reichen Länder.
Die USA stehen vor riesigen Finanzproblemen. Wir sehen allmählich, daß
das Unterlaufen der sozial-ökologischen Standards den Globus in ernste Bedrängnis
bringt, wir kommen bei Kyoto nicht richtig vorwärts, werden unter Umständen
ein gigantisches Klimaproblem bekommen und ein Ressourcenproblem sowieso. Die
Energieunternehmen stehen vor der Notwendigkeit, in den nächsten Jahren für
unglaubliche Summen neue Energiekraftwerke zu bauen: Diese Unternehmen, deren
Investitionsrechnungen über 50 Jahre und mehr laufen, brauchen Planungssicherheit.
Was hier auf der Klimaseite an Kosten entstehen wird, ist völlig unklar.
Aus so simplen ökonomischen Zwängen entsteht der Druck, über den
wir gerade gesprochen haben.Sie sind einer der Initiatoren des Global
Marshall Plan. Welche Rolle kann diese Initiative dabei spielen?Ich
glaube, daß wir hier einen wichtigen intellektuellen Beitrag in die Debatte
gebracht haben. Aus spieltheoretischen Patt-Situationen kommt man oft nur heraus,
wenn man die Dimension des Spiels erweitert. Die Situation ist diese: Der Norden
sagt dem Süden, wir brauchen die Standards, zum Beispiel den Klimaschutz
oder das Verbot der Kinderarbeit; und der Süden sagt dann, ihr habt eigentlich
Recht, aber wie die Dinge auf der Welt heute liegen, bleiben wir arm, wenn wir
zustimmen. Die Lösung ist dann, daß die reiche Seite sagt, wir wollen
die Standards, ihr müßt zustimmen, aber wir zahlen auch dafür,
damit ihr aufholen könnt, obwohl ihr zustimmt. Wir zahlen, damit die Kinder
zu essen haben und in die Schule können. So wird ein Deal daraus, die so
genannte Ko-Finanzierung vernünftiger Ordnungsbedingungen.Warum
ist das nicht schon längst geschehen?Weil es unter den reichen
Ländern oft einige gibt, die die Verhältnisse so wollen, wie sie sind.
Die wollen Kinderarbeit, weil sie so an billige Produkte kommen oder möglicherweise
auch an billige Objekte für bestimmte andere Vergnügen. Natürlich
sagen sie nie offen, was sie eigentlich wollen. Aber sie freuen sich über
die bestehenden Bedingungen, unter denen sie zu dem kommen, was sie wollen. Wenn
man diese Bedingungen erhalten will, dabei aber unter Beobachtung steht und politisch
korrekt handeln muß, dann wird man immer die Einhaltung der Standards fordern.
Man weiß bereits im vorhinein, daß die andern nein sagen werden. Man
hat also einen Schuldigen und kann auf den bösen Potentaten in der Dritten
Welt verweisen. Was man unter allen Umständen verhindern muß, ist,
daß jemals die Ko-Finanzierung ins Gespräch kommt. Falls das nicht
gelingt, erklärt man, das Geld lande ja doch nur bei den korrupten Potentaten.
Das sind genau die Potentaten, die man als Partner braucht, weil man mit ihnen
Geschäfte machen kann. Damit diese Potentaten bleiben, muß man dafür
sorgen, daß die Bevölkerung nichts bekommt, damit sie nicht ausgebildet
wird und sich nicht wehren kann. Weil das alles so ist, muß es eine
öffentliche Diskussion geben über den Vertragsvorschlag „Standards gegen
Ko-Finanzierung“. Unser Beitrag im Global Marshall Plan ist, dies als zentrale
Frage herauszuarbeiten. Wir wissen, daß die andere Seite alles tun wird,
um die Diskussion über diese Frage zu vermeiden. Was macht eine
so einsichtige Sachlage so kompliziert?Es geht im letzten um die
Ausbalancierung des demokratischen und des ökonomischen Prinzips. Sie können
das Ökonomische nicht der Demokratie unterwerfen, außer in einer Bevölkerung,
der es auf allen Ebenen einigermaßen gut geht und die ausgeglichen organisiert
ist, die deshalb nicht an Umverteilung denken muß und so ausgebildet ist,
daß sie versteht, daß eine gewisse soziale Differenzierung und eine
komplexe Eigentumsstruktur allen helfen. Wenn sie aber in einer Welt extremer
Ungleichheit die Ökonomie dem Gleichheitsprinzip unterwerfen würden,
dann würde sofort so brutal umverteilt, daß die Ökonomie kollabiert,
wovon keiner einen Vorteil hätte. Das ist der tiefere Grund, warum Prozesse
wie die Revolution in Südafrika schwierig sind und warum sie in der ersten
Phase nicht-demokratische Elemente enthalten müssen, zum Beispiel besondere
Eigentumsgarantien für Weiße. Auf dem Globus sieht derselbe Sachverhalt
so aus: Wir haben in der UNO das Gleichheitsprinzip (ein Land – eine Stimme) und,
wenn es ernst wird, den Sicherheitsrat. Alles, was mit Geld und Handel und Kredit
zu tun hat, liegt außerhalb der UNO bei der WTO, dem IWF und der Weltbank.
Was jetzt zu leisten wäre, ist ein Vertrag, der die Machtelemente Vollversammlung
und Sicherheitsrat in Verbindung bringt mit den ökonomischen Elementen der
Finanz- und Handelssphäre. Die beiden voneinander unabhängigen Seiten
müßten also einen Vertrag miteinander aushandeln gemäß der
Logik „Standards gegen Ko-Finanzierung“. Das ist das Erfolgsrezept der Erweiterungsprozesse
der EU. So ist jeder vernünftige Staat organisiert. Wir propagieren das als
Ökosoziale Marktwirtschaft für den Globus. Der erste Schritt ist ein
Global Marshall Plan. Dagegen hält eine andere Seite. Ihr ideologisches
Instrument ist der Marktfundamentalismus. Diese Seite verfügt über sehr
viel Macht. Die Zukunft ist daher offen – schwierige Zeiten.Die Fragen
stellte Fritz R. Glunk |