Bis
in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts galt es als sicher, daß die
Menschen immer intelligenter werden. Doch Ende der 1990er Jahre kündigen
erste Vorboten eine Veränderung an: In mehreren Staaten der westlichen Welt
werden die Bürger wieder dümmer, berichten verschiedene Studien. Auch
Deutschland ist von der Talfahrt des IQ betroffen.»Das Niveau der
Studenten nimmt von Jahr zu Jahr ab«, klagt so mancher Universitätsprofessor.
Auch andere Lehrbeauftragte können ein Lied von der »dümmer werdenden
Jugend« singen. Doch diese Einschätzung ist mehr als das allzu menschliche,
pessimistische Gejammer: Seit einigen Jahren sinkt in den westlichen Industrienationen
der IQ, bestätigen Wissenschaftler, die sich mit der Veränderung des
Intelligenzquotienten befassen.»Es ist hauptsächlich die fluide
Intelligenz, die abnimmt. Das ist die Fähigkeit, neue Probleme ohne Rückgriff
auf Erfahrungen zu lösen. Dies wird in der Schule kaum vermittelt«,
urteilt Siegfried Lehrl, Präsident der Gesellschaft für Gehirntraining
und Wissenschaftler an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
der Universität Erlangen. Die fluide Intelligenz bestimmt, wie schnell Informationen
verarbeitet und wie präzise und gut sie gespeichert werden können.Dagegen
habe sich in der so genannten kristallisierten Intelligenz in den vergangenen
Jahrzehnten nur sehr wenig geändert. Sie umfaßt die ausgewertete Erfahrung,
das Wissen sowie den Wortschatz, also Inhalte, die vor allem in der Schule beigebracht
werden. »Immerhin halten die Schulen hierin in etwa ihren alten Stand«,
meint Lehrl.Der Rückgang der fluiden Intelligenz
in den hochentwickelten Ländern ist für die Intelligenzforscher insofern
erstaunlich, als daß die Intelligenz zuvor jahrzehntelang immer weiter zugenommen
hatte. Diesen stetigen IQ-Anstieg entdeckte der neuseeländische Politikwissenschaftler
James Flynn, nachdem er die Daten von vierzehn Industrienationen ausgewertet hatte.
Die Deutschen verbesserten sich beispielsweise von 1954 bis 1981 um 17 IQ-Punkte.
Das Schlauerwerden der Bevölkerung ging als »Flynn-Effekt« in
die Lehre ein.Doch 1999 schien die Gesetzmäßigkeit erstmals
über den Haufen geworfen zu werden. Aus Dänemark kamen die ersten schlechten
Nachrichten: »Mit Beginn der 1990er Jahre hörte die Steigerung der
IQ-Werte auf. Seit 1999 beobachten wir einen Rückgang«, schreibt Thomas
Teasdale von der Universität Kopenhagen.Die Ergebnisse der Dänen
sind kein Ausreißer. Eine Vergleichsstudie an deutschen, österreichischen
und schweizerischen Kindern deckte für alle drei Nationen geringere Leistungen
im Vergleich zu früheren Untersuchungen auf.Auch die PISA-Tests
von 2003 und 2000 lassen sich in Intelligenz-Quotienten umrechnen, wie die Zeitschrift
»geistig fit« berichtet. Mathematik- und Lesekompetenz sowie die naturwissenschaftlichen
Fähigkeiten würden so eng mit dem allgemeinen IQ zusammenhängen,
daß jeder dieser drei Werte als Maß für allgemeine Intelligenz
herangezogen werden kann. Der Vergleich der Resultate der beiden PISA-Studien
ergibt, daß der IQ der jungen Deutschen in den drei Jahren um zwei Punkte
abgerutscht ist. »Das bestätigt den Trend, wenn man bedenkt, daß
bei den PISA-Studien 250000 Tests gemacht wurden und man sich bei der Auswahl
der 15-Jährigen um Repräsentativität bemühte«, argumentiert
Lehrl.Die schwindende Intelligenz in den Industrienationen hat wohl mehrere
Ursachen. »Viele Anforderungen laufen auf einem zu hohen Niveau ab: zu schnell,
zu anstrengend, zu abstrakt, unverständlich und undurchschaubar. Überforderte
Menschen flüchten sich in weniger anspruchsvolle Alternativangebote wie zum
Beispiel Sportsendungen oder reine Unterhaltungssendungen. Dadurch wird das Gehirn
weniger gefördert«, erklärt Lehrl. Außerdem seien viele
Menschen heute passiver als früher und überdenken Informationen nicht
aktiv, sondern lassen sich berieseln.Zu wenig Bewegung und falsche Ernährung
setzen nicht nur der körperlichen, sondern auch der geistigen Fitneß
zu. Daß diese Lebensfaktoren sich gerade in den industrialisierten Ländern
immer weiter verbreiten, zeigt die wachsende Zahl der Übergewichtigen.
(Susanne Donner, in: Bild
der Wissenschaft, 16.05.2005). |