Differentielle Reproduktion aus der Sicht der biographischen Theorie der Fertilität
(in: Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel, Hrsg.: Eckart Voland; 1992)
**
Der
Begriff »differentielle Reproduktion« läßt sich auf der
Grundlage der drei Elemente (1) abhängige Variable, (2) unabhängige
Variable sowie (3) Zusammenhang zwischen beiden auf dreierlei Art definieren.
... Die dritte Definition, die hier verwendet wird, stützt sich auf
die Art des Zusammenhangs zwischen abhängigen und unabhängigen
Variablen. Auf der Grundlage dieser Definition sprechen wir von »differentieller
Reproduktion«, wenn sich das Bündel der Einflußfaktoren auf das
generative Verhalten eines Individuums A aus anderen Gründen zusammensetzt
als bei Individuum B - oder, eine Variante davon, wenn sich die beiden Bündel
zwar aus den gleichen Faktoren zusammensetzen, aber die einzelnen Faktoren in
bezug auf die Richtung oder Intensität ihrer Wirkung verschieden sind.Wir
nehmen im folgenden an, daß nicht nur die biologische, sondern auch die
kulturelle Evolution Variabilität voraussetzt und hervorbringt. Das Argument,
daß es gerade auf kulturellem Gebiet häufig zur Ausbildung von Individualität
und zu großer Uniformität kommt, beispielsweise bei politischen oder
religiösen Massenphänomenen, ist kein Gegenargument, sondern stützt
die These fortschreitender Variabilität in der Kulturentwicklung, denn man
kann - wie schon gsagt - eine Weltanschauung oder einen Glauben nur übernehmen.
indem man ihm den Sinn gibt, den er hat: ein Vorgang, der einen individuellen
Akt voraussetzt, auch wenn das Ergebnis des Aktes nicht zu weniger, sondern zu
mehr Uniformität führt.Generatives Verhalten ist also als ein
spezifisch menschliches Verhalten ein Individualitätsverhalten, dessen theoretische
Erklärung auf der Ebene des Individuums, auf der sogenannten Mikroebene,
ansetzen muß (wir nehmen das mal so hin und merken
an, daß auch diese individuellen Entscheidungen immer schon von anderen
- zumeist ebenfalls nicht individuell getroffenen - Entscheidungen vorentschieden
sind, also gar nicht individuell sind und deswegen auch das generative Verhalten
als ein spezifisch menschliches Verhalten kein Individualitätsverhalten
sein kann! Anm. HB*).Wir
leben in einer Epoche, in der die persönlichkeitsorientierten Werte über
die gruppenorientierten dominieren (dito! Auch wenn man
es sich noch so einbildet, ist dieses Verhalten noch kein individuelles
Verhalten! Anm. HB*).
Dieser Umstand ... macht es unabdingbar, bei der Diskussion von Problemen der
differentiellen Reproduktion von der oben dargestellten dritten
Definition des Begriffs »Unterschied« auszugehen, also anzunehmen,
daß es Unterschiede bezüglich der Art und Weise gibt, in der die unabhängigen
Variablen auf die abhängigen einwirken. Ökonomische Variablen wie das
Individualeinkommen einer Frau bzw. das gemeinsam erwirtschaftete Haushaltseinkommen
eines Paares haben ebenso wie andere Verhaltensbedingungen, zum Beispiel die Verfügbarkeit
von Kindergartenplätzen, tendenziell die gleiche Einflußrichtung
auf die Wahrscheinlichkeit von Kindergeburten, aber die Intensität der Wirkung
dieser Variablen wird ebenso wie die Intensität der Wirkung von »Werten«
bei verschiedenen Menschen unterschiedlich sein. (Unterschied
ist - noch - nicht Individualität! Ähnlich ist
es übrigens auch in der Werbung: Einfluß mit gleicher Richtung,
aber unterschiedlicher Intensität, und der Kunde glaubt [glaubt
!], individuell entschieden zu haben, dabei ist längst für
ihn entschieden worden, denn entscheidend ist, daß
er sich wie ein Gruppenmitglied verhält und ansonsten als außen
vor, als unangepaßt, als Aussteiger, als nicht zur
Gruppe gehörig gilt - und übrigens nur dann anerkannt wird, wenn
es ihm gelingt, selbst einen Trend zu setzen [mit anderen Worten: wir sind viel
angepaßter als wir zugeben wollen, besonders seit wir in einer scheinbar
persönlichkeitsorientierten Epoche leben], denn es gilt, den
Schein zu bewa(h)ren, und so ist auch der scheinbar Unangepaßte nicht der
Individualist, für den er ja nur gehalten werden soll, sondern
doch wieder nur der Angepaßte! Anm. HB*).In
Übereinstimmung mit der mikroökonomischen Theorie geht die biographische
Theorie von der Sichtweise aus, daß der Mensch unaufhörlich zwischen
Alternativen wählt, aber im Unterschied zur mikroökonomischen Theorie
wird in der biographischen Theorie das Faktum in die Betrachtung einbezogen, daß
der Mensch im allgemeinen die Alternativen nicht wählt, zwischen denen
er eine Auswahl trifft. Die biographische Theorie betrachtet die Alternativen
als das Ergebnis kumulativer biographieinterner Verdichtungen von Handlungen und
Ereignisse sowie das Ergebnis von biographieexternen Vorgaben, die in jedem Lebenslauf
eine Rolle spielen. .... Eine generatie Entscheidung ist nicht nur eine Entscheidung
für bzw. gegen ein Kind, sondern für bzw. gegen einen bestimmten Lebenslauf
als Ganzes. Sie ist eine langfristige Festlegung mit irreversiblen Folgen
für den ganzen Lebenslauf: In entwickelten Ländern trifft jede Frau
(die aber in Wirklichkeit nicht allein, nicht selbst, nicht
einzeln, nicht individuell entscheidet; Anm. HB*)
mit der Entscheidung (die eben andere Menschen beeinflussen,
also vor- bzw. mit-entscheiden; Anm. HB*)
für ein Kind gleichzeitig eine Vorenstscheidung über die Art und Menge
der Entscheidungsalternativen im beruflichen Bereich, und umgekehrt bestimmt das
Ergebnis einer beruflichen Entscheidung, welche Alternativen bei familialen bzw.
generativen Entscheidungen in den Wahlmengen künftiger Entscheidungssituationen
vorkommen können und welche nicht.Die These lautet: Der Industrialisierung-
und Modernisierungsprozeß hat zu einer explosionsartigen Erweiterung des
biographischen Entwicklungsspielraums ... geführt.Urbanisierung
einerseits und Realeinkommenssteigerungen andererseits führten zu einem Wandel
der Verbrauchs- und Produktionsstrukturen in Richtung einer Zunahme des tertiären
Sektors (Handel, Verkehr, Dienstleistungen; Anm. HB*).
In den Dienstleistungssektoren wurden neue Arbeitsplätze geschaffen, vor
allem in den Städten, die zunehmend von Frauen besetzt werden.Biologie
und Bevölkerungstheorie waren in ihrer geschichtlichen Entwicklung aufs engste
miteinander verknüpft. Charles Darwin stütze sich beispielsweise auf
das »Bevölkerungsgesetz« von Thomas R. Malthus. Die Zusammenarbeit
zwischen Demographie und Biologie könnte sich auch heute als fruchtbar erweisen
(aber bloß nicht in malthusianistisch-darwinistischer
Form! Anm. HB*).
.... Die Expansion des biographischen Universums im historischen Prozeß
der Industrialisierung und Modernisierung erhöhte sich in den Wirtschaftsgesellschaften,
in denen das ... Verhalten auf dem Konkurrenzprinzip beruht, das Risiko irreversibler
biographischer Festlegungen und führte auf dem Weg der Risikovermeidung zu
einer Selbstbeschränkung bei Reproduktionsentscheidungen. Die reproduktive
Selbstbeschränkung ist bei Frauen mit hohem Ausbildungsabschluß (und/oder
im städtischen Raum; Anm. HB*)
... größer als bei Frauen mit niedrigem Ausbildungsgrad (und/oder
im ländlichen Raum; Anm. HB*)
.... Das Ergebnis reproduktiver Selbstbeschränkung ist die kohorten-, regions-
und lebenslaufspezifische differentielle Reproduktion, die in den hochentwickelten
Konkurrenzwirtschaften zu einem Rückgang des allgemeinen Fertilitätsniveaus
bis zur Unterschreitung des Bestandserhaltungsniveaus geführt hat.
(Zitat-Ende).
Die Weltbevölkerung (1996; Auflage 2004)
ä
1. Einführung (S. 6-11):Im Jahre 1950 lebten auf der Erde
2,5 Mrd. Menschen, gegenwärtig (2004) sind es 6,4 Mrd., und diese Zahl wird
sich aus Gründen, deren Darstellung den Hauptgegenstand dieses Buches bildet,
im Verlauf des 21. Jahrhunderts, also zu Lebzeiten der heutigen Kindergeneration,
kontinuierlich auf 8 bis 10 Mrd. erhöhen. (Zitat-Ende).

ä
2. Menschliche Fortpflanzung und Bevölkerungswachstum in populationsbiologischer
Perspektive (S. 12-20):Aus
evolutionsbiologischer Sicht ist das Weltbevölkerungswachstum ein normaler,
keineswegs überraschender oder unerklärlicher Vorgang. Indem die biologische
Evolution die Individuen einer Population nach ihrer Lebenstüchtigkeit selektiert,
begünstigt sie gleichzeitig auch ihre Fortpflanzungschancen und Fortpflanzungsfähigkeiten
- ihre sogenannte Darwin-fitness. Deshalb wächst im Verlauf des Evolutionsprozesses
mit der Erhöhung der Lebens- und Überlebenstüchtigkeit der Individuen
auch die zahlenmäßige Größe einer Population so lange, bis
das Wachstum durch äußere Faktoren wie die Erhöhung der Mortalität
auf Grund von Nahrungsmangel oder durch eine Verminderung der Fertilität,
gemessen durch die Zahl der Nachkommen pro Individuum, oder durch beide Faktoren
zum Stillstand kommt. Die biologische Zeugungskraft der Lebewesen - die
Zahl der biologisch-physiologisch maximal möglichen Nachkommen pro Individuum
(= Fekundität) - ist meist wesentlich größer als die Zahl
der tatsächlichen Nachkommen pro Individuum (= Fertilität). Käme
die Fekundität einer Pflanzen- oder Tierart voll zum Zuge, so würden
ihre Nachkommen in kurzer Zeit die gesamte Oberfläche des Planeten bedecken.
Dies gilt auch für den Menschen. Hätten z.B. die heute lebenden rd.
6 Mrd. Erdenbewohner auf Dauer pro Frau im Durchschnitt drei Kinder, die sich
selbst fortpflanzen, so ergäbe sich schon nach 20 Generationen eine Bevölkerungszahl
von 19286 Mrd.. Pro Frau entfallen heute im Durchschnitt der Erdbevölkerung
tatsächlich rd. drei Kinder (im Zeitraum 2000-05 sind es 2,69). Daraus ergibt
sich sofort, daß die Kinderzahl pro Frau in Zukunft rasch fallen muß,
weil sonst die gesamte Oberfläche des Planeten schon nach wenigen Generationen
nicht genug Platz für alle hätte.Bis vor etwa drei Millionen
Jahren entwickelten sich die tierischen und die Vorläufer der menschlichen
Populationen in einem gemeinsamen Evolutionsprozeß. Nach Erkenntnissen der
modernen Anthropologie war die biologische Entwicklung des Menschen vor etwa 100000
Jahren abgeschlossen. Die Zahl der Hominiden in der Steinzeit vor 40000 Jahren
wird von einigen Autoren auf wenige Hunderttausend geschätzt (Bourgeois-Pichat,
1980). Das demographische Standardwerk der Vereinten Nationen nennt Zahlen von
5 bis 10 Millionen (UN, 1973). Die Gesamtzahl der Menschen, die jemals gelebt
haben, wird auf etwa 80 Mrd. geschätzt (eigene Schätzung auf der Basis
von Fucks, 1950). Gehen wir von dem biblischen Sinnbild aus, daß die Menschheit
am Anfang aus zwei Individuen bestand, so ergibt sich bei drei Nachkommen pro
Frau im Verlauf von beispielsweise 100 000 Jahren - das sind etwa 4000 Generationen
- eine Bevölkerungszahl, die die heutige Zahl von 6,4 Mrd. und sogar die
im obigen Rechenbeispiel ermittelte 14stellige Zahl noch um astronomische Größenordnungen
übertrifft. Es müssen also sehr starke, das Populationswachstum begrenzende
Faktoren wirksam gewesen sein, sonst hätte die Menschheit längst den
auf dem Planeten vorhandenen Lebensraum ausgeschöpft. In der Populationsbiologie
werden drei wachstumsbegrenzende Faktoren unterschieden, die Begrenzung durch
natürliche Umweltbedingungen wie Nahrungsvorkommen, die Begrenzung durch
Konkurrenz zwischen Arten und die Begrenzung durch Konkurrenz zwischen den Individuen
der gleichen Art. Von diesen drei Faktoren gilt seit der Begründung der modernen
Evolutionstheorie durch Charles Darwin die Begrenzung zwischen den Individuen
der gleichen Art als der für die menschliche Höherentwicklung weitaus
wichtigste Regelmechanismus. Bei menschlichen Populationen greifen die drei Regelmechanismen
auf kompliziertere Weise ineinander als bei Pflanzen und Tieren, weil der Mensch
in den Wachstumsprozeß steuernd eingreifen kann. Der Nahrungsmittelspielraum
stellt z.B. keine feste Wachstumsgrenze dar, die Grenze wurde und wird ständig
hinausgeschoben, indem Anbauflächen vergrößert, Anbaumethoden
verbessert und Pflanzen und Tiere durch Züchtung bzw. neuerdings durch die
Gentechnik verändert werden. Was die wachstumsbegrenzenden Umweltbedingungen
wie die Nahrungsschranke betrifft, ist der Unterschied zu tierischen Populationen
evident und in der Wissenschaft unstrittig. Aber beim wachstumsverstärkenden
Faktor Fertilität scheiden sich die Geister. In der Biologie und in der biologischen
Anthropologie wird die These vertreten, daß der naturhafte Fortpflanzungstrieb
- der sogenannte »biologische Imperativ generativer Fitneßmaximierung«
(Hubert Markl) - auch das Fortpflanzungsverhalten des Menschen bestimmt, und zwar
(nach Ansicht einiger biologischer Anthropologen) auf eine so subtile und unentrinnbare
Weise, daß wir uns nur einbilden, unser generatives Verhalten sei stark
an kulturellen Werten orientiert, denn aus dieser Sicht sind auch die kulturellen
Werte selbst letztlich ein Ergebnis des Evolutionsgeschehens, bei dessen Erklärung
die biologische Anthropologie mit ausschließlich biologischen Kategorien
zurechtzukommen glaubt. Die kulturell und religiös geprägten Formen
des menschlichen Zusammenlebens, z.B. die rechtlich geregelte, institutionalisierte
Form der Ehe, sind aus dieser Sicht ein Ergebnis des »biogenetischen Imperativs«,
dem der Mensch in seiner Fortpflanzung folgt, indem er (unbewußt) danach
strebt, die Chancen für die Weitergabe seiner Gene zu maximieren.
Die unbestreitbare Tatsache, daß viele Tierarten die Zahl ihrer Nachkommen
an die Tragfähigkeit ihres Habitats anpassen, also ihre Fertilität begrenzen,
wenn z.B. die Nahrungsquellen nicht ausreichen, ist aus dieser Sicht kein Widerspruch
zum Prinzip der Maximierung des Fortpflanzungserfolgs. Diese »reproduktive
Selbstbeschränkung« (Eckart Voland, 1992) wird in das Erklärungsschema
integriert, indem beim Fortpflanzungserfolg zwischen einer quantitativen Komponente
(Zahl der Nachkommen pro Individuum) und einer qualitativen Komponente (Qualität
und Intensität bei der Fürsorge, Aufzucht und Ausbildung des Nachwuchses)
unterschieden wird. Die reproduktive Selbstbeschränkung wird in dieser Interpretation
von Tieren (und Menschen) immer dann praktiziert, wenn es für die Weitergabe
der Gene günstiger ist, eine kleine, aber dafür im »Kampf ums
Dasein« besser gerüstete Zahl von Nachkommen großzuziehen als
eine große, von denen die meisten wegen ihrer geringeren Lebenstüchtigkeit
nicht bis zum Erreichen der eigenen Fortpflanzungsfähigkeit überleben
würden. In diesem Erklärungsschema ergibt sich dann auch aus der Tötung
von Geborenen als Mittel zur Anpassung an die Lebensbedingungen des Habitats kein
Widerspruch. Die Soziobiologie, die die Kosten-Nutzen-Bilanz der verschiedenen
quantitativen und qualitativen Fortpflanzungsstrategien empirisch untersucht,
hat zahlreiche Beispiele für die reproduktive Selbstbeschränkung im
Dienste der Maximierung des Fortpflanzungserfolgs zusammengetragen. Sie interpretiert
auch die reproduktive Selbstbeschränkung des Menschen mittels Geburtenkontrolle,
durch Heiratsregeln und zahlreiche kulturelle Normen und Werte, einschließlich
gesellschaftlicher Institutionen, aus diesem Blickwinkel. Ist es möglich,
sich irgendeine empirische Entdeckung, irgendeine Tatsache vorzustellen, die die
These, daß auch das generative Verhalten des Menschen diesem biologischen
Erklärungsschema entspricht, widerlegen könnte? Mir scheint, daß
diese für die Interpretation der Wachstumsursachen menschlicher Populationen
wichtige Frage mit Nein beantwortet werden muß. Aber nicht, weil es solche
Tatsachen nicht gäbe, sondern weil dieser biologische Ansatz darauf angelegt
ist, jede vorstellbare Tatsache auf biologische Weise zu interpretieren, so daß
Thesen dieser Art gar nicht widerlegt werden können, selbst wenn sie falsch
sind. Mit dieser Bemerkung sollen empirische Untersuchungen, die mit dem Ziel
durchgeführt werden, qualitative kulturelle Phänomene mit einfachen
quantitativen Analyseverfahren zu erklären, nicht kritisiert oder abgewertet
werden. Ihre Fruchtbarkeit wurde oft unter Beweis gestellt, und wenn es mit diesen
oft sehr einfachen Ansätzen gelingt, Irrtümer auszuräumen und vage
theoretische Konstruktionen zu widerlegen, dann ist dies als ein beträchtlicher
wissenschaftlicher Fortschritt anzusehen. Kritik ist jedoch angebracht, wenn empirisch-quantitative
Ansätze zu weit über die Reichweite ihrer Erklärungen hinauszielen.
Wenn im folgenden der Versuch gemacht wird, die Entstehung der menschlichen Kultur
in der Evolutionsgeschichte des Menschen mit dem empirischen, in der Demographie
verwendeten Grundbegriff der Lebenserwartung und ihrer Erhöhung im Zusammenhang
zu betrachten (nicht auf ihn »zurückzuführen«), dann könnte
dies vielleicht als ein solcher, die Reichweite empirischer Erklärungsansätze
überschreitender Versuch aufgefaßt werden. Daß ein solcher Erklärungsversuch
hier nicht angestrebt wird, dürfte sich aber wohl auf Grund der obigen Relativierungen
von selbst verstehen.Die durchschnittliche Lebenserwartung
des Menschen in der evolutionsgeschichtlich späten, aber im Hinblick auf
die frühen menschlichen Populationen wichtigen Periode der Steinzeit wird
auf der Basis archäologischer Funde, insbesondere auf Grund der Untersuchungen
der Reste menschlicher Skelette, auf etwa 20 Jahre geschätzt (UN [Hrsg.]:
The Determinants and Consequences of Population Trends, 1973). Dabei ist
unter Lebenserwartung die mittlere Lebenserwartung zu verstehen, der Durchschnitt
aus der Lebenserwartung der schon im Säuglings- und Kindesalter Gestorbenen
und der der Erwachsenen, von denen ein mehr oder weniger großer Teil wahrscheinlich
wesentlich älter als 20 Jahre wurde. Wie wir aus relativ zuverlässigen
Daten wissen, blieb die Lebenserwartung in Europa bis zum 18. Jahrhundert niedrig,
sie betrug im Mittel etwa 35 Jahre. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war sie
in Europa auf etwa 40 Jahre gestiegen. Erst seit dem Übergang zum 20. Jahrhundert
nahm sie rasch zu, sie erreicht heute in den Industrieländern 74 Jahre bei
Männern bzw. 81 Jahre bei Frauen, in den Entwicklungsländern 61 (Männer)
bzw. 64 Jahre (Frauen). Der geschlechtsspezifische Unterschied beträgt bei
der hohen Lebenserwartung heute fünf bis sechs Jahre; er ist in erster Linie
genetisch bedingt. Die Körperzellen des weiblichen Organismus haben beim
Menschen ebenso wie bei den meisten Tierarten eine größere Erneuerungsfähigkeit,
gemessen an der durchschnittlichen Zahl der Zellteilungen bis zum Absterben der
Zellen (Hayflick 1980).Ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung der
Lebenserwartung und der Entwicklung der menschlichen Kulturfähigkeit ist
aus folgenden Gründen wahrscheinlich. In der Anthropologie wird unter dem
Begriff Kulturfähigkeit die Fähigkeit des Menschen zur nichtgenetischen,
intergenerativen Weitergabe von Informationen verstanden. Die Summe aller Inhalte
wird als »Kultur« bezeichnet. Indem eine steigende Lebenserwartung
die von der Eltern- und Kindergeneration gemeinsam durchlebte Zeit vergrößert,
begünstigt sie die intergenerationalen Vorgänge der Tradierung, deren
wesentlichste Voraussetzung sie ist. Der Philosoph David Hume, gleichzeitig einer
der wichtigsten Bevölkerungshistoriker des 18. Jahrhunderts, verwendete in
diesem Zusammenhang das Beispiel der Generationenfolge bei Schmetterlingen. Hier
ist die Überlappung der Lebenszeiten zwischen den Generationen gleich Null,
denn zwischen zwei Generationen sind die Stadien der Raupe und der Puppe dazwischengeschaltet.
In diesem Beispiel wäre eine intergenerationale Informationsweitergabe nur
möglich zwischen einer Elterngeneration und den Nachkommen anderer Eltern.
Übertragen auf menschliche Populationen bedeutet dies, daß das Zusammenleben
in Verbänden, die aus mehreren Familien bestanden, die Informationsübertragung
begünstigte, so daß von einer steigenden Lebenserwartung nicht nur
die Tradierung von Informationen, sondern auch die Sozialisation der Individuen
und damit die Bildung von sozialen Verbänden und Gesellschaften begünstigt
wurde. Auf Grund dieser Überlegungen läßt sich an Hand des Merkmals
Lebenserwartung folgendes Drei-Phasen-Modell bilden.I. Vorgeschichtliche
Phase (Steinzeit). Die Lebenserwartung ist mit etwa 20 Jahren außerordentlich
niedrig. Entsprechend kurz ist die den Frauen zur Reproduktion verbleibende Lebenszeit,
sie beträgt rd. 5 bis 8 Jahre. In dieser Zeitspanne werden pro Frau etwa
4 Kinder geboren. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit ist extrem hoch,
im Durchschnitt überleben kaum mehr als zwei Kinder pro Frau bis zum Alter
der eigenen Fortpflanzung. Die Bevölkerungszahl ist fast konstant oder wächst
nur geringfügig. Sie nahm in Tausenden von Jahren so langsam zu, daß
um Christi Geburt erst eine Zahl zwischen 200 und 400 Mio. erreicht wurde. Wegen
des Faktors Mortalität bzw. Lebenserwartung sind die demographischen Bedingungen
zur intergenerationalen Tradierung geistiger Entdeckungen ungünstig, die
Kulturfähigkeit entwickelt sich in dieser Phase entsprechend langsam. Der
wichtigste begrenzende Faktor des Bevölkerungswachstums ist in dieser Phase
die hohe Mortalität.II. Frühgeschichte und geschichtliche
Phase bis zum Beginn der Neuzeit. In dieser Phase erhöht sich die Lebenswartung
von 20 auf 30 bis 35 Jahre. Die für die intergenerationale Tradierung von
Kulturleistungen und Informationen verfügbare gemeinsame Lebenszeit der Eltern-
und Kindergeneration erhöht sich von 5 auf 15 Jahre. Im Vergleich zu den
Lebensbedingungen in der ersten Phase bedeutet dies eine Verdreifachung bis Vervierfachung.
Die Kulturentwicklung beschleunigt sich. Entscheidende Entwicklungssprünge
wurden durch die Metallbearbeitung, die Erfindung der Schrift, die Entwicklung
des Handwerks, des Handels und der Arbeitsteilung möglich. Heute gelten als
wichtigste Perioden der frühgeschichtlichen Kulturentwicklung die »Agrarische
Revolution« (vor etwa 10000 Jahren in Südwestasien) und die Stadtentwicklung
in der »Urbanen Revolution« (ab 4000 v. Chr. in Mesopotamien, in Theben,
im Hindus-Tal und am Gelben Fluß in China, oder noch früher in Catal
Hüyük in der Türkei um 6500 v. Chr.). Mit diesen kulturellen Entwicklungssprüngen
war ein starker Anstieg der Wachstumsrate der Bevölkerung verbunden. Die
prozentuale jährliche Wachstumsrate stieg von extrem niedrigen Werten um
0,01% pro Jahr auf Werte um 0,09%, d.h. um das rund Zehnfache (R. Freeman u. B.
Berelson 1974). Trotz der Zunahme der Wachstumsraten ist es eine poetische Übertreibung,
wenn von der »ersten Bevölkerungsexplosion« in der Geschichte
gesprochen wird, denn eine Bevölkerung, die mit 0,09% pro Jahr wächst,
braucht zur Verdopplung 800 Jahre! Die Wachstumsrate von 0,09% ist allerdings
nur der Durchschnitt für einen jahrhundertelangen Zeitraum, in dem sich Abschnitte
rascheren Wachstums mit Stagnations- und Bevölkerungsschrumpfungsphasen abwechselten.
Im ersten Jahrtausend nach Christi war die Bevölkerungszahl mit 200-400 Mio.
praktisch konstant. Im Mittelalter führten die Pest und andere Seuchen in
vielen Landstrichen Europas zu Bevölkerungsrückgängen von 30-60%.
Heute wird die Weltbevölkerungszahl für das Jahr 1650 auf etwa 470-545
Mio. geschätzt. Diese Zahl ist zwar nicht hoch, aber im Vergleich zur steinzeitlichen
Periode bedeutet sie einen Anstieg um den Faktor 20 bis 100. Das Wachstum war
verbunden mit einer räumlichen Konzentration auf Siedlungen. Daraus ergaben
sich - neben dem Faktor Mortalität - zusätzliche Wachstumsbarrieren
auf Grund von knapp werdenden Subsistenzmitteln in der Nähe der Siedlungen.III.
Phase der Kulturentwicklung in der der Moderne. Im Vergleich zu den ersten
beiden Phasen umfaßt diese Phase einen extrem kurzen Zeitraum. Allerdings
läßt sich auch schon das vor uns liegende 21. Jahrhundert gedanklich
dieser Phase zuordnen, weil die weitere Entwicklung der Lebenserwartung, die dieser
Phaseneinteilung zugrunde liegt, bereits absehbar ist. Bei der heutigen Lebenserwartung
von 75 Jahren und mehr in den Industrieländern werden die meisten Menschen
nicht nur Eltern, sondern auch Großeltern, in zunehmendem Maße auch
Urgroßeltern. Die von den verschiedenen Generationen gemeinsam durchlebbare
Zeit hat sich dadurch im Übergang von der zweiten zur dritten Phase nochmals
stark erhöht, und weitere Erhöhungen sind möglich, ja wahrscheinlich.
Die von Demographen, Gerontologen und Gesundheitswissenschaftlern diskutierten
Szenarien mit einer Lebenserwartung von über 84 Jahren (Männer) bzw.
90 Jahren (Frauen) sind keine Spekulationen, sie beruhen auf relativ moderaten
Annahmen über die auch künftig zu erwartenden Fortschritte der Medizin
und der allgemeinen Lebensbedingungen. Allerdings kann man heute nicht mehr sagen,
daß die weitere Entwicklung der menschlichen Kultur von der durch die steigende
Lebenserwartung begünstigten intergenerationalen Tradierung von Informationen
ebenso stark gefördert wird wie in den ersten beiden Phasen. Die entscheidende
Rolle haben heute die elektronischen Kommunikationstechniken übernommen.
Deren weitere Entwicklung wird die menschliche Kultur wahrscheinlich stärker
revolutionieren als irgendeine der Neuerungen in der gesamten Menschheitsgeschichte.
(Zitat-Ende).ä
3. Elemente der klassischen Bevölkerungstheorie und die Bürde des Malthusianismus
(S. 21-36):Um bei der Diskussion des Themas Weltbevölkerung
auf der Höhe unserer Zeit zu sein, führt kein Weg daran vorbei, von
den Photographien der Erde, die Astronauten aus dem Weltraum aufgenommen haben,
eine Brücke zu schlagen zu den alten Vorstellungen, die sich die Gelehrten
des 18. Jahrhunderts über unsere »Erd- und Wasserkugel« bildeten.
Denn die Fragen nach der Tragfähigkeit der Erde bzw. nach den Formen eines
»nachhaltigen Wachstums«, die uns heute bewegen, standen schon am
Beginn der Bevölkerungswissenschaft im Zentrum des Interesses, und wir knüpfen
heute nach einer etwa 200jährigen Unterbrechung sozusagen nur wieder an der
Stelle an, an der die Klassiker der Bevölkerungswissenschaft, vor allem der
Preuße J. P. Süßmilch und der Engländer Th. R. Malthus,
mit ihren Überlegungen angelangt waren. Der Begriff »Tragfähigkeit«
ist eines der zentralen Themen in Süßmilchs Hauptwerk aus dem Jahr
1741, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen
Geschlechts, aus der Geburt, Tod und Fortpflanzung desselben erwiesen. Auch
in Malthus Bevölkerungsgesetz (The Principle of Population),
das 1798 erschien, geht es um die Frage, wieviel Menschen die Erde tragen kann.
Erst seit den 70er Jahren unseres Jahrhunderts rückten diese Fragen im Zusammenhang
mit den Befürchtungen über eine Erschöpfung der Rohstoffe oder
der Nahrungsquellen wieder in das allgemeine Bewußtsein, wobei die Ressourcenfrage
seit den 80er Jahren mehr und mehr durch die Umweltprobleme - die Gefahr einer
irreversiblen Schädigung der natürlichen Ökosysteme - verdrängt
wird. Dabei ist den meisten Umwelt- und Bevölkerungsprozessen gemeinsam,
daß sie graduelle Veränderungen bewirken, die wegen ihrer Langsamkeit
die Wahrnehmungsschwellen des Problembewußtseins unterlaufen und zur Gewöhnung
an Zustände führen, die sonst kaum toleriert würden. Ein Beispiel
sind die Lebensbedingungen im heutigen Rußland. Die Lebenserwartung sank
dort seit den 1960er Jahren kontinuierlich, ohne daß dies besonders registriert
wurde. Die Verschlechterung hat ein solches Ausmaß erreicht, daß die
Lebenserwartung der Männer inzwischen um sechs Jahre niedriger ist als beispielsweise
in dem Entwicklungsland Mexiko (61 bzw. 70 Jahre). Hinzu kommt, daß sich
die Schädigungen nicht immer dort auswirken, wo sie entstehen. So bildet
sich z.B. in Deutschland (ähnlich wie in anderen Industrieländern) durch
die Verbrennung fossiler Energieträger eine so große Menge an Kohlendioxid,
daß dieses Treibhausgas jedes Jahr auf der gesamten Fläche des Landes
eine zwei Meter dicke Schicht bilden und darunter alles Leben ersticken würde,
wenn es sich nicht durch Wind und Wetter in der Atmosphäre verteilte. Da
es auf Grund des graduellen Charakters dieser Schädigungen unmöglich
ist, eine objektive Grenze zwischen umweltneutralen oder gerade noch tolerierbaren
und nicht mehr hinnehmbaren Schädigungen festzulegen, wird die Suche nach
einer allgemein verbindlichen Definition des heute vieldiskutierten Begriffs der
»nachhaltigen », d.h. Ökonomie und Ökologie versöhnenden
Entwicklung vergeblich bleiben. Das gleiche gilt für den Begriff der Tragfähigkeit.
Trotzdem überrascht es, wie stark sich die Aussagen der beiden Klassiker
über die maximale demographische Tragfähigkeit der Erde unterscheiden.
Das Ergebnis der Süßmilchschen Berechnungen stimmt mit den Bevölkerungsprojektionen
unserer Zeit überein: Im Verlauf des nächsten und übernächsten
Jahrhunderts kann bzw. wird die Weltbevölkerung auf mindestens 8 Milliarden
wachsen, wobei die Obergrenze weit weniger sicher angegeben werden kann, aber
auch hier stimmt die Süßmilchsche Schätzung mit den modernen Berechnungen
erstaunlich gut überein: Sie könnte bei etwa 13 Milliarden liegen. Als
Süßmilch diese Zahlen veröffentlichte, lebten auf der Erde erst
etwa 800 Millionen Menschen, er schätzte also das Wachstumspotential auf
das Zehn- bis Sechzehnfache - eine für die damalige Zeit ungeheuerliche Aussage,
die auf viel Widerspruch stieß. Malthus kam zu einem völlig anderen
Resultat. Für ihn war die Erde mit etwa einer Milliarde Menschen, die zum
Zeitpunkt der Veröffentlichung des »Bevölkerungsgesetzes«
lebten, bereits übervölkert. Die Kernthese seiner Bevölkerungstheorie
war, daß gesellschaftlicher Fortschritt, wie er in der französischen
Revolution propagiert wurde, aus demographischen Gründen unmöglich
sei. Das Bevölkerungswachstum, das als Folge solcher gesellschaftlicher Veränderungen
zu erwarten war, müsse auf Grund der »naturgesetzlichen« Mechanismen
des »Bevölkerungsgesetzes« zwangsläufig zum Zusammenbruch
des Staates und zum moralischen Ruin der Gesellschaft führen. Wenn
wir unterstellen, daß es grundsätzlich möglich sein könnte,
daß eine Bevölkerungstheorie entwickelt wird, die die Wirklichkeit
zutreffend beschreibt und das Beschriebene richtig erklärt, dann ist eine
solche Theorie - ob von ihrem Urheber beabsichtigt oder nicht - stets viel mehr
als eine demographische Theorie i.e.S.. Sie bietet dann nicht nur Aussagen über
die Entwicklung der Geborenen und der Gestorbenen und über das Wachstum der
Bevölkerung, sondern antwortet direkt oder indirekt auf viel wesentlichere
Fragen, die jenseits der Demographie liegen, und zwar unabhängig davon, ob
diese Fragen den demographischen Berechnungen zugrunde lagen. Man könnte
dies den Bedeutungsüberschuß der Demographie nennen. Der Bedeutungsüberschuß
demographischer Berechnungsergebnisse ist etwas Unvermeidliches, er beruht auf
der außerordentlichen Tragweite, die selbst die einfachsten Aussagen über
demographische Fakten haben. Wer z.B. feststellt, daß in einem bestimmten
Land zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Zahl von Menschen geboren wurde oder
starb, legt mit dieser Tatsachenfeststellung den Grund für die Frage, warum
es gerade so viele waren und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, bis hin
zur Frage nach der Beeinflußbarkeit und Gestaltbarkeit der Bevölkerungsvorgänge
durch Politik. Der Bedeutungsüberschuß demographischer Fakten
wurde von den Klassikern der Demographie nicht nur als etwas Unvermeidliches hingenommen,
sondern als Chance für den Entwurf von Theorien von einer außerordentlichen
Tragweite genutzt. Die Größe dieser Theorien liegt darin, daß
es bei ihnen eine vollkommene Entsprechung zwischen der Tragweite ihrer demographischen
Aussagen und der Reichweite ihrer theoretischen Reflexionen und Interpretationen
gibt. Eine der Grundthesen Simons (vgl. Julian
Simon, The Ultimate Resource, 1981) ist, daß die Wahrscheinlichkeit
innovativer Lösungen der bevölkerungsbedingten Probleme in dem Maße
zunimmt, wie der demographische Problemdruck zunimmt. Meine Kritik an dieser Theorie
möchte ich in vier Punkten zusammenfassen: (1)
Aus der Grundaussage, derzufolge die Fortschritte der Menschheit immer im Kampf
gegen Probleme errungen wurden, kann nicht gefolgert werden, daß
aus allen Problemen immer Fortschritte resultieren. Gerade die bevölkerungsbedingten
Probleme widerlegen eine solche Schlußfolgerung. Die Tragfähigkeit
der Erde ist begrenzt wie die einer Brücke; wenn eine Brücke lange getragen
hat, beweist das nicht, daß sie allen Lasten gewachsen ist. (2)
Die Epoche, für die Simons Theorie am ehesten zutraf, ist Vergangenheit.
Die Theorie paßt allenfalls auf jene Epoche der Menschheitsgeschichte, in
der die unbesiedelten Flächen und die Ressourcen unerschöpflich schienen,
also für jene Zeit, in der die Welt entdeckt und besiedelt wurde, insbesondere
für die Neuzeit und die Epoche des Merkantilismus. (3)
Die Theorie schweigt über die Kosten des Fortschritts. Es werden nur die
positiven Wirkungen des Bevölkerungswachstums aufgeführt. Nötig
wäre eine Bilanz, also eine Gegenüberstellung von Nutzen und Kosten.
Es trifft zu, daß viele mit dem Bevölkerungswachstum zusammenhängende
Größen einen ständigen Fortschritt anzeigen. Aber es ist ebenso
nicht zu bestreiten, daß sich andere Indikatoren verschlechtern, z.B. die
Umweltindikatoren »Ausdünnung der schützenden Ozonschicht«,
»Zunahme der Treibhausgase«, »Zahl der ausgestorbenen Arten«,
»Verlust an Ackerboden«, »Vernichtung der Tropenwälder«
etc.. (4) Wenn Ressourcen knapper werden - daß
sie knapper werden, bestreitet auch Simon nicht -, steigen ihre Preise, was ebenfalls
zugegeben wird. Bevor aber die knapper gewordenen Ressourcen durch Ersatzstoffe
ersetzt werden können, haben die Preise eine Höhe erreicht, daß
sie für die armen Länder unerschwinglich werden. Die Ressourcenfrage
ist somit mit der Verteilungs- bzw. Gerechtigkeitsfrage untrennbar verbunden.
Das Weltbevölkerungswachstum führt tendenziell zu größerer
Knappheit und damit zu weniger Gerechtigkeit. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit
von Unfrieden und Konflikten. Darüber schweigt die Theorie. Simon
begründet seine Theorie mit dem metaphysisch-utilitaristischen Grundsatz,
daß menschliches Leben ein hoher Wert an sich ist, so daß folglich
viele menschliche Leben mehr Wert sein müssen als wenige. Die Kehrseite dieses
erhabenen metaphysischen Arguments ist die triviale Banalität der aus ihm
abgeleiteten konkreten Aussagen, die den Charakter des Vorwissenschaftlichen haben.
Trotzdem: Die Theorie hat meine Sympathie - Wissenschaft hin, Wissenschaft her.
Aber was nützt die Sympathie zu einer metaphysischen Theorie? Die mangelnde
»Nützlichkeit« der Metaphysik müßte für den Utilitaristen
Simon eigentlich ein großes Problem sein, denn »die metaphysische
Erfahrung entbehrt jeder Nachprüfbarkeit, die sie zu einer gültigen
für jedermann machen könnte« (Karl Jaspers); dieser zahlreiche
»Jedermann« ist aber gerade der eigentliche Adressat des Utilitarismus.
Ich habe Simons Buch in den Kontext der klassischen Bevölkerungstheorie
eingeordnet und nicht in das Kapitel über die moderne Demographie, weil es
einen wissenschaftsgeschichtlichen Anachronismus darstellt und einen Schritt zurück
hinter die merkantilistischen Ansätze der Bevölkerungswissenschaft bedeutet,
bei denen es ebenfalls darum ging, die Bevölkerungszahl zu maximieren. Andererseits
hat dieses Buch den modernen Beiträgen zum Thema Weltbevölkerungswachstum
etwas voraus, gerade weil es den metaphysischen Aspekt des Themas nicht aus den
Augen verloren hat. Man könnte vielleicht sagen, daß die klassische
Theodizee-Frage in Simons Bevölkerungstheorie in eine weltliche, für
das heutige Leben relevante Form umgesetzt ist und auf eine Weise beantwortet
wird, mit der viele Menschen etwas anfangen können: Die Botschaft seines
Buches ist, den Glauben daran zu erhalten, daß schon dafür gesorgt
ist, daß es mit dem Ganzen dieser Welt gut gehen wird, wenn nur jeder einzelne
sein Handeln in seinem persönlichen Nahbereich an den Prinzipien der Humanität
und der Vernunft ausrichtet.Aber ist auf diese Botschaft wirklich Verlaß
? Süßmilch, der im Hauptberuf Probst der brandenburgisch-lutherischen
Kirche in Berlin war, wird als ein frommer »gottestrunkener Mann«
geschildert, aber obwohl seine Frömmigkeit der von Julian Simon gewiß
nicht nachstand, war für ihn die Frage von größter Bedeutung,
ob es Mechanismen oder Gesetzmäßigkeiten gibt, die verhindern, daß
der Wachstumsprozeß der Bevölkerung die Tragfähigkeitsgrenzen
der Erde sprengt, und die garantieren, daß das Wachstum auf irgendeine Weise
vor Erreichen dieses Punktes zum Stillstand kommt. Süßmilch war sich
der Dringlichkeit dieser Frage gerade als Theologe bewußt. Denn nicht nur
die christliche Religion, sondern auch alle anderen Weltreligionen bergen in ihren
Ge- und Verboten Handlungsanweisungen, die pronatalistische Wirkungen haben und
die - wenn sie von den Gläubigen befolgt würden - eine Geburtenrate
zur Folge hätten, die mit großer Wahrscheinlichkeit über zwei
Kindern pro Frau läge.Ein halbes Jahrhundert später erschien
das »Bevölkerungsgesetz« von Malthus. .... Malthus' »Bevölkerungsgesetz
erfüllt keine der Voraussetzungen, die jede Theorie erfüllen sollte,
um in der Wissenschaft ernstgenommen zu werden. Es ist sogar zu befürchten,
daß der Malthusianismus nach seinem gegenwärtigen Wandel zum ökologischen
Malthusianismus im 21. Jahrhundert noch verheerendere Auswirkungen haben wird
als in den beiden vergangenen Jahrhunderten. Süßmilch hatte
durch empirische Tragfähikeitsanalysen begründet, daß die Erde
mehr als das Zehnfache der Menschenzahl ernähren könne, als zu seiner
Zeit lebten. Malthus' Kernthese war, daß die Erde bereits mit der damaligen
(um 1800; Anm. HB*)
Bevölkerungszahl von rd. einer Milliarde übervölkert sei und daß
ein weitere Zuwachs die Gesellschaft in den politischen, ökonomischen und
moralischen Ruin führen müsse. Heute (1996; Anm.
HB*)
lebt die sechsfache Zahl der Menschen als zu Malthus' Zeit, wobei ein großer
Teil von ihnen - mehr als die gesamte damalige Menschheit - einen unvergleichlich
höheren Lebensstandard hat als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte,
und dies bei mehr als der doppelten Lebenserwartung. Süßmilchs Ideen
haben sich bestätigt, nicht die von Mathus, warum ist dann aber Süßmilch
nahezu vergessen und nicht Malthus? Wahrscheinlich kann diese Frage in hundert
Jahren genauso gestellt werden wie heute. Die Antwort darauf hat viel mit dem
Problem zu tun, warum Menschen Hungers sterben müssen, obwohl das Ernährungspotential
der Erde groß genug ist, um eine weitaus größere als die heute
lebende Menschenzahl zu ernähren.In seiner Beweisführung führt
Malthus ein Zahlenbeispiel an, das die entscheidende Vorausetzung seiner Theorie
verdeutlichen soll, daß sich nämlich die Bevölkerung in der Form
einer geometrischen Reihe vermehrt (entsprechend der Zinseszinsformel), während
die Nahrungsmittelmenge nur in linearer Form wächst (wie eine Gerade). Bei
einer geometrischen Reihe ist der Zuwachs von Periode zu Periode prozentual gleich
und deshalb absolut steigend. Bei einer linearen Reihe ist der Zuwachs absolut
gleich und deshalb prozentual fallend. Daher muß jede geometrisch
wachsende Reihe jede linear wachsende ab einem bestimmten Punkt übersteigen.
Das Zahlenbeispiel von Malthus ist: »Nehmen wir für die Bevölkerung
der Welt eine bestimmte Zahl an, zum Beispiel 1000 Millionen, so würde die
Vermehrung der Menschheit in der Reihe 1, 2, 3, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512
etc. vor sich gehen, die der Unterhaltsmittel in der Reihe 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7,
8, 9, 10 etc.. Nach 225 Jahren würde die Bevölkerung zu den Nahrungsmitteln
in einem Verhältnis von 512 zu 10 stehen, nach 300 Jahren 4096 zu 13, nach
2000 Jahren wäre es beinahe unmöglich, den Unterschied zu berechnen,
obwohl der Ernteertrag zu jenem Zeitpunkt zu einer ungeheuren Größe
herangewachsen wäre.« Die in diesem Beispiel zugrunde gelegte
Voraussetzung, daß die Nahrungsmittelmenge nur linear wächst, erwies
sich in den meisten Ländern und im Weltmaßstab als falsch. Die empirisch
gewonnenen Ergebnisse von Süßmilch bestätigten sich dagegen. Durch
die Verbesserung der Anbaumethoden, durch Erfolge bei der Pflanzen- und Tierzüchtung
und später durch den Einsatz des Mineraldüngers, der von Justus von
Liebig 1840 entdeckt wurde, wuchsen die landwirtschaftlichen Erträge nicht
linear, sondern geometrisch. Die jährliche Wachstumsrate der Nahrungsmittelmenge
überstieg sogar die Wachstumsrate der Bevölkerung, so daß die
Pro-Kopf-Nahrungsmittelmenge zunahm, statt wie in dem Zahlenbeispiel abzunehmen.
Das Malthusianische »Bevölkerungsgesetz« war durch die Arbeiten
Süßmilchs bereits zu dem Zeitpunkt seiner Veröffentlichung widerlegt.
(Zitat-Ende).ä
4. Politische und wissenschaftsgeschichtliche Langzeitwirkungen des Malthusianischen
»Bevölkerungsgesetzes« (S. 37-48):Zu Süßmilchs
Zeit hatte noch die Sorge vor einer Untervölkerung und einem zu geringen
Bevölkerungswachstum dominiert. Es war die Epoche der Populationisten, aus
deren Sicht ein Land gar nicht genug Einwohner haben konnte. Dieser Bevölkerungsoptimismus
schlug gegen Ende des 18. Jahrhunderts in einen tiefen Pessimismus um, die Sorge
vor einer Untervölkerung wich der Angst vor einer Übervölkerung.Wie
es dazu kam, soll am Beispiel Englands illustriert werden. Das Beispiel ist für
das Verständnis der Lehrmeinungen wichtig, die sich in der Auseinandersetzung
mit dem realen Geschehen der Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung bildeten
und als klassische Theorien auch heute noch bestimmte Sichtweisen in der Nationalökonomie
und der Sozialwissenschaft prägen. Der Industriellen Revolution war
in England eine Rationalisierung in der Landwirtschaft vorausgegangen, die zu
schweren sozialen Erschütterungen führte. Kleinhäusler und Kleinbauern
verloren durch Einfriedungen des Gemeindelandes und durch die Zusammenfassung
zu Großgrundbesitz ihre Gärten und Grundstücke - die Basis für
ihre Existenzgrundlage, die in einer Mischung aus kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft
und Heimarbeit bestand. Zwar wuchs im Zuge der Industrialisierung das allgemeine
Beschäftigungsniveau, aber die Zahl der Unterbeschäftigten und Arbeitslosen
übertraf das Wachstum der Beschäftigung und der Industriearbeiterschaft.
Es bildete sich die von Friedrich Engels mit dem Begriff der »industriellen
Reservearmee« bezeichnete neue Schicht der Armen, der »Pauper«.
Parallel zur Industrialisierung verlief eine Form der Urbanisierung, bei der eine
Gemeinde nicht selten von einer einzigen Fabrik dominiert wurde, so daß
sich eine konjunkturelle Absatzkrise für die Arbeiter schnell zu einer existenzbedrohenden
Gefahr auswuchs. Die von Adam Smith in seinem bahnbrechenden Werk Wealth of
Nations propagierte Arbeitsteilung sollte in der Industrie zu einer wachsenden
Produktivität und in der Volkswirtschaft als Ganzes zu mehr Wohlstand führen.
Dies geschah auch, aber gleichzeitig nahmen Arbeitslosigkeit und Pauperismus zu.
Dies war kein Widerspruch, denn es gab keinen Arbeitsmarkt, der das wachsende
Arbeitsangebot und die Nachfrage nach Arbeit hätte in Übereinstimmung
bringen können. Daß sich ein Arbeitsmarkt nicht entwickeln konnte,
war tragischerweise auf das gut gemeinte, aber fatal wirkende System der Armenunterstützung
(»Speenhamland-System«) zurückzuführen, das 1795 eingeführt
und 1834 wieder abgeschafft wurde.In Speenhamland (Grafschaft Newbury)
hatten die Friedensrichter 1795 in einer Zeit großer Not beschlossen, daß
zusätzlich zu den Löhnen Lohnzuschüsse gezahlt werden sollten.
Den Armen sollte unabhängig von ihren Einkünften ein Minimaleinkommen
garantiert werden. Die detaillierten Regelungen wurden bald in anderen ländlichen
Gebieten übernommen. »Unter elisabethanischen Gesetzen waren die Armen
gezwungen, für jeden Lohn, den man ihnen anbot, zu arbeiten, und nur jene,
die keine Arbeit bekommen konnten, hatten ein Recht auf Unterstützung; Hilfe
in Form eines Zuschusses zum Lohn war nicht beabsichtigt und wurde nicht gegeben.
Im Rahmen des Speenhamland-Gesetzes bekam ein Mann den Zuschuß, auch wenn
er Beschäftigung hatte, falls seine Entlohnung geringer war als das ihm nach
dem Tarif zustehende Familieneinkommen. Daher hatte kein Arbeiter irgendein materielles
Interesse daran, seinen Arbeitgeber zufriedenzustellen, da sein Einkommen gleich
blieb, unabhängig vom erhaltenen Lohn .... Keine Maßnahme hatte sich
jemals größerer allgemeiner Beliebtheit erfreut. Eltern waren der Sorge
um ihre Kinder enthoben, und Kinder waren nicht mehr von Eltern abhängig;
Arbeitgeber konnten die Löhne nach Gutdünken herabdrücken, und
die Arbeiter, ob fleißig oder faul, waren vor Hunger gesichert .... Auf
lange Sicht war das Resultat furchtbar. Obwohl es einige Zeit dauerte, bis die
Selbstachtung des einfachen Mannes so weit sank, daß er lieber die Armenhilfe
als einen Arbeitslohn entgegennahm, so mußte sein aus öffentlichen
Mitteln subventionierter Lohn schließlich ins Uferlose absinken und ihn
völlig von der Unterstützung abhängig machen. Langsam wurden die
Menschen auf dem Land immer mehr pauperisiert ...« K. Polanyi, von dem diese
Beschreibung stammt, faßt sein Urteil so zusammen: »Ohne die langfristigen
Auswirkungen des Zuschußsystems wären die menschlichen und sozialen
Erniedrigungen des Frühkapitalismus kaum zu erklären .... Das Speenhamland-System
war ein unfehlbares Instrument zur Dernoralisierung der Bevölkerung. Wenn
eine menschliche Gesellschaft eine selbsttätige Maschine zur Aufrechterhaltung
jener Normen ist, auf der sie beruht, dann war das Speenhamland-System ein Automat
zur Zerstörung von Normen jeglicher Art von Gesellschaft.«Die
Debatten über die negativen Wirkungen des im Speenharnland-Systems garantierten
Rechts auf Lebensunterhalt mündeten in eine Kontroverse über das Für
und Wider der Armengesetzgebung überhaupt. Es war die Zeit, in der das »Bevölkerungsgesetz«
von Malthus großen Widerhall fand. Malthus hatte in seinem »Bevölkerungsgesetz«
gefordert, nicht nur das staatliche Unterstützungssystem für die Armen
abzuschaffen, sondern auch jede Form privater Mildtätigkeit einzustellen,
denn die Armenunterstützung erhöhte aufgrund des »Bevölkerungsgesetzes«
nur die Vermehrungsrate der Armen und vergrößerte so das Übel
noch, das sie beseitigen sollte. Auch nach der Abschaffung der Armengesetze
wuchs die Bevölkerung Englands weiter. Der Erklärungsmechanismus des
»Bevölkerungsgesetzes« war offensichtlich kein geeignetes Instrument,
um die vielfältigen Ursachen des Wachstums zu entschlüsseln. Denn die
Nahrungsmittel- oder Subsistenzmittelschranke wirkte sich nicht direkt auf die
Bevölkerungszahl aus, sondern indirekt über ein differenziertes Geflecht
kultureller und politisch-gesellschaftlicher Faktoren. Dabei kam den Beschränkungen
der Eheschließungen eine besondere Bedeutung zu. Ziel der Ehekontrollsysteme
war es, das Wachstum der Zahl der Mittellosen zu begrenzen. Bevölkerungstheoretisch
gesehen ging es darum, die Zahl der Menschen der Zahl der Existenzmöglichkeiten
- den »Stellen« - anzupassen. Der Begriff »Stellen« zur
Bezeichnung der Existenzmöglichkeiten ist im Vergleich zur »Nahrungsschranke«
der modernere, allgemeinere Begriff. Die Zahl der »Stellen« im Handwerk,
in der Industrie und im Heimgewerbe war nicht starr an die Zahl der Stellen in
der Landwirtschaft gekoppelt, sondern ließ unabhängig von der landwirtschaftlichen
Fläche eine Vermehrung oder eine Verminderung zu. Die Bevölkerungszahl
wurde mit dem Instrument der Ehekontrolle nicht an eine unveränderbare »Nahrungsschranke«
angepaßt, sondern an eine durchaus variable Stellenzahl, die den berufsständischen,
kommunalen, kirchlichen und staatlichen Zielen und Interessen entsprach.
Weil außerehelicher Sexualverkehr in der Regel geächtet war und in
verschiedenen Ländern sogar unter Strafe stand, erklären die Unterschiede
zwischen den Ländern bezüglich der Maßnahmen bei der Ehekontrolle
einen Großteil der Unterschiede der Geburtenrate und der Wachstumsrate der
Bevölkerung.Auf Grund der großen Bedeutung der sozialhistorischen
Faktoren für die Bevölkerungsentwicklung stellt sich die grundsätzliche
Frage, welche Leitwissenschaft und welche Leitgedanken - die Biologie oder die
Kultur- und Sozialwissenschaften - die Grundlage für die theoretische Erklärung
der Bevölkerungsentwicklung bilden sollen? Der Mensch ist ein Natur-
und ein Kulturwesen zugleich, und deshalb ist dieses Entweder-Oder zwischen Natur-
und Kulturwissenschaft eigentlich unsinnig, es müßte sich immer um
ein Sowohl-Als-Auch handeln. Aber die Wissenschaft macht sich bei der Produktion
des Wissens ebenso wie die Wirtschaft bei der Produktion von Gütern die Vorteile
der Arbeitsteilung zunutze, um effektiv zu sein. Ob gewollt oder nicht, führt
dies dann in der Praxis dazu, daß eine bestimmte Wissenschaft bei der Erklärung
eines Phänomens dominiert, auch ohne förmlich zur Leitwissenschaft erklärt
worden zu sein.Die Kultur im allgemeinen Sinne des Wortes ist es letztlich,
die das generative Verhalten des Menschen und damit die Bevölkerungsentwicklung
in entscheidender Weise bestimmt, aber die von ihr direkt bewirkten Veränderungen
der Bevölkerungszahl und -struktur wirken auf indirekte Weise auf die Entwicklung
wesentlicher Inhalte der Kultur zurück, insbesondere auf die Ethik der Beziehungen
zwischen den Generationen - die Grundlage sowohl der zwischenmenschlichen Beziehungen
als auch der intergenerationalen ökonomischen Leistungstransfers in Form
von Unterstüzungszahlungen der mittleren Generation für die ökonomisch
noch nicht selbständige junge Generation und die nicht mehr erwerbstätige
ältere -, so daß zwischen der Kultur- und Bevölkerungsentwicklung
stets eine Wechselbeziehung besteht. Dies bedeutet, daß das Verständnis
der Kulturentwicklung das Verstehen der demographischen Entwicklung voraussetzt
und umgekehrt.Umso wichtiger ist es, sich zu vergegenwärtigen, daß
schon seit den Anfängen der klassischen Bevölkerungstheorie ein Antagonismus
zwischen der kulturtheoretischen und der biologischen Fundierung der Bevölkerungswissenschaft
besteht. Anders als bei Süßmilch bilden bei Malthus biologische Reflexionen
und nicht kultur- und sozialwissenschaftliche Grundtatsachen den Ausgangspunkt
bei der Theorienbildung. Dabei überwiegt die biologische Sichtweise so stark,
daß Charles Darwin in seinen biographischen Notizen bekannte, daß
er die Idee für eine Theorie der Evolution der Lektüre von Malthus'
»Bevölkerungsgesetz« verdanke.In Darwins Autobiographie
ist ... zu lesen: »fünfzehn Monate, nachdem ich meine Untersuchungen
systematisch angefangen hatte, las ich zufällig und zur Unterhaltung Malthus'
Über die Bevölkerung, und da ich hinreichend darauf vorbereitet
war, den überall stattfindenden Kampf um die Existenz zu würdigen, namentlich
durch lange fortgesetzte Beobachtungen über die Lebensweise von Tieren und
Pflanzen, kam mir sofort der Gedanke, daß unter solchen Umständen günstige
Abänderungen dazu neigen, erhalten zu werden, und ungünstige, zerstört
zu werden. Das Resultat hiervon würde die Bildung neuer Arten sein. Hier
hatte ich nun endlich eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte.«Malthus'
biologische Argumentationsweise ...: »Im Tier- und Pflanzenreich hat die
Natur den Lebenssamen mit der verschwenderischsten und freigiebigsten Hand weit
umhergestreut. Dafür hat sie an Lebensraum und an Unterhaltsmitteln, die
zur Ernährung nötig sind, gespart. Die Lebenskeime auf unserem Fleckchen
Erde würden, falls sie ausreichend Nahrung und Platz zur Ausbreitung hätten,
im Laufe einiger Jahrtausende Milionen von Welten anfüllen. Die Not als das
übermächtige, alles durchdringende Naturgesetz hält sie aber innerhalb
der vorgegebenen Schranken zurück. Die Pflanzen- und Tierarten schrumpfen
unter diesem großen, einschränkenden Gesetz zusammen. Auch das Menschengeschlecht
vermag ihm durch keinerlei Bestrebungen der Vernunft zu entkommen.«Wenn
die Zahl der Nachkommen bei menschlichen Populationen ebenso wie bei Pflanzen
und Tieren größer ist als die Zahl der Existenzmöglichkeiten,
wie werden dann an Hand welcher Kriterien aus der Menge der Lebenden die zum Überleben
bestimmten Individuen selektiert? Die in dieser Frage angesprochene Analogie
zwischen dem Selektionsmechanismus der »checks« aufgrund des »Bevölkerungsgesetzes«
und den Selektionsmechanismen in der Evolutionsbiologie bestand auch auf einem
anderen wichtigen Gebiet: Alles Wirtschaften steht unter dem »kalten Stern
der Knappheit«, und auch hier gab es einen Selektionsmechanismus, der die
überschüssigen Marktteilnehmer zum Ausscheiden aus dem Markt zwingt,
und zwar durch die Mechanismen der Konkurrenz und des Wettbewerbs auf den Güter-
und Arbeitsmärkten. Aus der Sicht der Theoretiker des Wirtschaftsliberalismus
mußte sich der Selektionsmechanismus der ökonomischen Konkurrenz und
des Wettbewerbs auf den Wohlstand eines Gemeinwesens positiv auswirken, weil er
die weniger Tüchtigen zurückdrängt und die Tüchtigen zum Zuge
kommen läßt. Die Selektionstheorie hatte offensichtlich eine außerordentlich
hohe Erklärungskraft: Im Falle der Biologie erklärte sie die Tendenz
der Organismen zur Höherentwicklung im Verlauf der Evolution, wie Darwin
auf Malthus gestützt erkannte, und im Falle der Wirtschaft die Tendenz zu
wachsendem Wohlstand bei den Nationen, derern Wirtschaft sich an den Prinzipien
des Marktes, der ökonomischen Konkurrenz und des Wettbewerbs orientierten.
Karl Marx und Friedrich Engels waren sich der bitteren Konsequenzen aus der Analogie
zwischen dem Selektionsmechanismus des »Bevölkerungsgesetzes«
und dem des Marktes und der ökonomischen Konkurrenz deutlich bewußt.
Die geistige Nähe und die strukturelle Ähnlichkeit der Argumentation,
die zwischen dem ökonomischen Liberalismus englischer Prägung und der
malthusianischen Bevölkerungstheorie bestand, zwangen Marx und Engels nicht
nur zur bisher schärfsten Ablehnung der malthusianischen Bevölkerungstheorie,
sondern auch zum Gegenentwurf einer Sozialutopie, deren Gegensatz zur liberalistischen
Position ins Extreme gesteigert ist. Man darf aber nicht verkennen, daß
Malthus' moralphilosophisch begründete Klassentheorie die marxistisch-leninistische
Klassentheorie in ihrer theoretischen Radikalität und rabiaten Unversöhnlichkeit
übertrifft. Noch dramatischere Auswirkungen als auf dem Gebiet der
Nationalökonomie und der politischen Theorie hatte das »Bevölkerungsgesetz«
im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts in der Anthropologie und in den Wissenschaften,
die die geistigen Grundlagen für die Selbstinterpretation des Menschen entwickeln
und das Bild prägen, das sich der Mensch von sich selbst macht. Zunächst
verstrichen aber von der Entdeckung der Evolutionstheorie im Jahr 1838 bis zur
Veröffentlichung der Entstehung der Arten (On the Origin of species)
im Jahr 1859 zwanzig Jahre. Darwin war sich der Brisanz seiner Entdeckung, daß
der Mensch und die höheren und niederen Tiere und Pflanzen gemeinsame Vorfahren
haben, bewußt. Deshalb zögerte er zwei Jahrzehnte lang mit der Veröffentlichung
seiner Ideen, bis er sich dazu gezwungen sah, weil ihm sonst der Naturforscher
Alfred Russel Wallace zuvorgekommen wäre, der unabhängig von ihm die
gleichen Ideen entwickelt und 1858 in einem zur Veröffentlichung bestimmten
Manuskript niedergeschrieben hatte. Diese Ideen lagen um die Mitte des 19. Jahrhunderts
in der Luft, sie reiften in vielen Köpfen gleichzeitig heran. Der Reifungsprozeß
brauchte Zeit; am Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn war Darwin ebenso
wie Malthus und wie die meisten seiner naturwissenschaftlichen Lehrer ein ordinierter
Theologe, der noch an die christliche Schöpfungsgeschichte glaubte.
(Zitat-Ende).ä
5. Der erste und der zweite demographische Übergang und die biographische
Theorie der demographischen Reproduktion (S. 49-67):Erste These: Die Industrieländer vollzogen
im Verlauf ihrer sozio-ökonomischen Entwicklung einen Übergang von einer
»vorindustriellen Bevölkerungsweise« ... zu einer »industriellen
Bevölkerungsweise« .... Die Differenz zwischen Geburten- und Sterberate
- die Wachstunmsrate der Bevölkerung - war sowohl in der vorindustriellen
als auch in der industriellen Stufe nach Vollzug des Übergangs relativ niedrig,
aber in der Zwischenzeit des Übergangs ... vergrößerte sich die
Wachstumsrate, weil der Rückgang der Sterberate schon begann, während
die Geburtenrate noch unverändert hoch blieb (bzw.
sogar noch stieg; Anm. HB*),
bis auch sie dem Rückgang der Sterberate mit zeitlicher Verzögerung
nachfolgte, do daß sich die Schere zwischen beiden wieder schloß und
die Wachstumsrate wieder auf ein niedriges Niveau fiel.Zweite These:
Auch nach Abschluß des demographischen Übergangs bleibt die Differenz
zwischen Geburtenrate und Sterberate größer als Null (mittlerweile
ist das erwiesenerweise falsch! Anm. HB*),
d.h. die natürliche Wachstumsrate ist immer noch positiv, wenn auch
nicht sehr hoch, weil die Geburtenrate allenfalls vorübergehend unter das
für die langfristige Bestandserhaltung der Bevölkerung erforderliche
Mindestniveau (= »Ersatzniveau« der Fertilität) sinken kann,
aber auf Dauer doch ausreicht, um zumindest die Bestandserhaltung der Bevölkerung
auch ohne permanente Einwanderungsüberschüsse zu garantieren.Die
erste Theorie der Transformationstheorie wurde durch historisch-demographische
Untersuchungen für ... eine Vielzahl europäischer Länder und regionen
bestätigt. Die zweite These erwies sich dagegen später für nahezu
alle Industrieländer als falsch.In meiner Biographischen Theorie
der Fertilität (vgl. Herwig Birg, 1991 und 1992) sind ökonomische,
soziologische und entwicklungspsychologische Erklärungsansätze des generativen
Verhaltens zu einer Theorie vereinigt. Abgesehen von ihrer Zielsetzung im Rahmen
der wissenschaftlichen Grundlagenforschung hat sich die Theorie als ein brauchbares
Instrument für die Erarbeitung realistischer Weltbevölkerungsprojektionen
erwiesen, denn sie erklärt nicht nur die Entwicklung hin zu einem extrem
niedrigen Fertilitätsniveau in den westlichen Industrieländern, sondern
auch das erstaunlich niedrige und weiter abnehmende Fertilitätsniveau in
bestimmten Ländern Lateinamerikas und Asiens, vor allem in Japan, Hong Kong,
Südkorea, Singapur, Thailand und teilweise auch schon Indonesien - Gebiete,
deren wirtschaftliche Dynamik zu ähnlichen biographischen Entwicklungsbedingungen
geführt hat wie in den westlichen Industrieländern. Trotz starker Unterschiede
hinsichtlich ihrer Geschichte, Religion und Kultur ist diesen dynamischen Wirtschaftsregionen
ein schon mit europäischen Verhältnissen vergleichbares niedriges Fertilitätsniveau
gemeinsam, so daß Demographen von einer »Revolution des generativen
Verhaltens« in Asien sprechen (R. Leete und I. Alam, 1993). |
Die Kernthese
der biographischen Fertilitätstheorie ist, daß das Risiko irreversibler
langfristiger Festlegungen im Lebenslauf unter den Bedingungen eines permanenten
Wandels der ökonomischen, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebensbedingungen
zugenommen hat und weiter zunehmen muß. In einer instabilen, von einer permanenten
Veränderungsdynamik geprägten Welt ist es rational, irreversible langfristige
Festlegungen im Lebenslauf zu vermeiden, um die biographische Entscheidungsfreiheit
nicht zu verlieren. Deshalb wurden und werden die familialen langfristigen Festlegungen
im Lebenslauf wie die Bindung an einen Partner und die Geburt eines Kindes in
eine spätere Lebenslaufphase aufgeschoben oder ganz vermieden. Die Vermeidung
langfristiger Festlegungen im Lebenslauf dient insbesondere dazu, berufliche Optionen
offen zu halten und die Anpassungsfähigkeit an die Anforderungen der Arbeitsmärkte
funktionsfähig zu halten, die Arbeitslosigkeit zu minimieren und die für
ein möglichst hohes Pro-Kopf-Einkommen notwendige Produktivität zu maximieren.
(**).
Die ungewollte demographische Konsequenz dieser Entwicklungstrends ist
die permanente Zunahme des Anteils der Frauen an einem Jahrgang, der zeitlebens
kinderlos bleibt. Die niedrige Geburtenrate ist ... in erster Linie eine Folge
des Anstiegs des Anteils der lebenslang kinderlosen Frauen, nicht etwa, wie fälschlicherweise
immer wieder behauptet wird, ein Anstieg der Häufigkeit der Ein-Kind-Familie.
Wenn Menschen trotz der damit verbundenen biographischen Festlegungsrisiken die
Entscheidung für die Gründung einer Familie treffen, dann haben sie
wesentlich häufiger zwei Kinder als eins. Die Zwei-Kinder-Familie und nicht
die Ein-Kind-Familie ist die typische und häufigste Familienform.Das
in solchen demographischen Kennziffern zum Ausdruck kommende generative Verhalten
erscheint im Hinblick auf die biographische Entscheidungslogik durchaus als rational:
Die biographische Entscheidungsfreiheit wird durch das erste Kind so gravierend
eingeschränkt, daß man sagen könnte, daß die Eltern fortan
in einer naderen Welt leben. Diese Welt ändert sich durch ein zusätzliches
zweites Kind bei weitem nicht so dramatisch wie dies beim Übergang von einem
Leben ohne Kinder zum Leben in Elternschaft geschieht. Ein-Kind-Familien sind
im Vergleich zu einem Leben ohne Kinder eine grundsätzliche, lebenslaufbestimmende
Alternative, während sie im Vergleich zur Familie mit zwei Kindern eher als
eine Vorstufe anzusehen sind, die durch das zweite Kind mehr vollendet als ein
weiteres Mal entscheidend verändert wird. (Zitat-Ende).ä
6. Die Bevölkerungsentwicklung im System sozio-ökonomischer und demo-ökonomischer
Wechselwirkungen (S. 68-80):Je höher das Pro-Kopf-Einkommen
in einem Land ist, desto größer ist unter sonst gleichen Umständen
- diese Bedingung gilt unausgesprochen immer - das entgangene Lebenseinkommen,
wenn eine Frau auf ein eigenen Einkommen durch Erwerbsarbeit verzichtet, um Kinder
großzuziehen. Wir bezeichnen diese nur in der Vorstellung existierende entgangene
Einkommen als ökonomische Opportunitätskosten, wobei der Begriff
»Kosten« im Sinne von »unter anderen Bedingungen möglich
erscheinendes Einkommen« verwendet wird, also nicht i.S. von realen Ausgaben
verstanden werden darf. An diesem Punkt beziehen wir die neuere Entwicklung
der bevölkerungswissenschaftlichen Theorie mit ein, die den bisher ausschließlich
im ökonomischen Sinn gebrauchten Begriff der Opportunitätskosten durch
die biographischen Opportunitätskosten erweitert: Darunter sind die
nur in der Vorstellung der Individuen existierenden, theoretisch möglichen
Lebenswege und Lebensinhalte zu verstehen, die im Spektrum der biographischen
Möglichkeiten nicht mehr enthalten sind, wenn bestimmte Lebenslaufalternativen
durch langfristige Festlegungen in Form von Partnerbindungen oder Kindern aus
dem biographischen Universum des einzelnen ausscheiden. Die ausgeschiedenen Alternativen
bilden die biographischen Opportunitätskosten.Die
biographische Fertilitätstheorie besagt, daß die Vielheit biographischer
Entwicklungsmöglichkeiten im langfristigen Trend zunimmt und damit die biographischen
Opportunitätskosten und Festlegungsrisiken steigen. Das hat zur Folge, daß
langfristige Festlegungen aufgeschoben oder ganz vermieden werden. Die durchschnittliche
Geburtenzahl pro Frau sinkt, weil der Anteil lebenslang kinderlos Frauen zunimmt
und die Häufigkeit der Familien mit drei oder mehr Kindern abnimmt. Dabei
ist wichtig, daß die biographischen Opportunitätskosten gerade in der
Anfangsphase der beruflichen Entwicklung, also in dem für die Familiengründung
wichtigen Altersbereich von 20 bis 30 Jahren, größer sind als in höherem
Alter und von Jahrgang zu Jahrgang weiter zunehmen, so daß sich der Konflikt
zwischen der beruflichen und der familialen Entwicklung der Frauen von Jahrgang
zu Jahrgang verschärft. (**).Der
Wandel des generativen Verhaltens ist das ungeplante, ungewollte und unvermeidliche
Ergebnis des sozio-ökonomischen Entwicklungsprozesses. Je weiter ein Land
in seiner Entwicklung fortgeschritten ist, desto stärker wirken sich die
... kollektiv finanzierten wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen wie die Alters-
und Krankenversicherung und die Arbeitslosenversicherung (neuerdings auch die
Pflegeversicherung) als zusätzlicher Faktor zu den biographisch-inndividuellen
Faktoren aus. Im Ergebnis weicht dann die Geburtenrate um so mehr von dem für
die Bestandserhaltung der Bevölkerung erforderlichen Niveau ab, je größer
der individuelle Wohlstand und die kollektive Wohlfahrt sind.In den Industrieländern,
auf die es demographisch gesehen in Zukunft immer weniger ankommt, ist eine demographische
Stabilitätspolitik noch nicht einmal in Ansätzen erkennbar. Die Förderung
der Familienbildung mit fiskalischen und anderen staatlichen Instrumenten müßte
entscheidend verbessert werden, aber Erfahrungen ... zeigen, daß die Wirksamkeit
der Instrumente der Familienpolitik allein nicht ausreicht, um die Geburtenrate
auf rd. 2 Kinder je Frau zu erhöhen. Was nötig wäre, ist ein vollständiger
Umbau der gesammten Gesellschaft. Wie aber soll diese gigantische Aufgabe je durchgeführt
werden, so lange es üblich ist, Geburtendefizite einfach durch Wanderungen
zu kompensieren oder sogar überzukompensieren?Was aber die in ihrer
Entwicklung fortgeschrittensten Länder wie Deutschland und die anderen westeuropäischen
Länder betrifft, läßt sich wohl schon sagen, daß sich die
demographischen Voraussetzungen ökonomischer Erfolge nicht von selbst erfüllen,
wie bisher immer stillschweigend vorausgesetzt wurde. (Zitat-Ende).ä
7. Entwicklungstrends von Fertitiliät und Mortalität und die Dynamik
des Weltbevölkerungswachstums im 21. Jahrhundert (S. 81-106):Das
20. Jahrhundert ist aus demographischer Sicht einzigartig, es wird als das Jahrhundert
mit der größten Bevölkerungszunahme eingehen. Auch das 21. Jahrhundert
weist eine Besonderheit auf: In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts wird
das jahrhundertelange Weltbevölkerungswachstum zum Stillstand kommen und
in die neue Phase der Weltbevölkerungsstagnation oder -schrumpfung übergehen.
Bevölkerungsvorausberechnungen sind wesentlich zuverlässiger als Wirtschaftsprognosen.
Sie sind keine Prophezeiungen, sondern »Wenn-Dann-Aussagen«
über die künftige Entwicklung, und da die Annahmen über das generative
Verhalten der Menschen in der Zukunft sowie die Annahmen über die erwartete
Zunahme der Lebenserwartung - das sind die »Wenn-Voraussetzungen«
der Projektionsrechnungen - relativ realistisch getroffen werden können,
sind die daraus abgeleiteten »Dann-Schlußfolgerungen« bezüglich
der künftigen Bevölkerungsentwiscklung ebenso realistisch wie diese
Annahmen, denn reine Rechenfehler beim Ableiten der Ergebnisse aus den Annahmen
lassen sich trotz des immensen Umfangs der (heute von Computern erledigten) Berechnungen
praktisch ausschließen.Der entscheidende Punkt ist, daß die
Zuverlässigkeit einer Projektionsrechnung nicht nur und nicht einmal in erster
Linie vom exakten Eintreffen der Annanhmen über das Verhalten der
Bevölkerung (Fertilität und Mortalität) abhängt, sondern vor
allem von der Altersstruktur, die relativ sicher vorausberechnet werden
kann, weil ein Großteil der Bevölkerung, die beispielsweise in fünfzig
Jahren lebt, schon geboren ist.Je mehr Kinder sich die Menschen aus ökonomischer
Sicht leisten könnten, desto weniger haben sie. (Zitat-Ende).ä
8. Geographische Verteilung, Urbanisierung und das Wachstum der Megastädte
(S. 107-111):Zwei Trends von großer Tragweite prägen
die internationale Bevölkerungsentwicklung im 20. und 21. Jahrhundert: das
zunehmende demographische Gewicht der Entwicklungsländer und der weltweite
Prozeß der Verstädterung. Bis 2020 wächst die Weltbevölkerung
noch jährlich um 70-80 Mio., bis zur Jahrhundertmitte nimmt der jährliche
Zuwachs allmählich auf rund 30 Mio. ab, um gegen Ende des 21. Jahrhunderts
abzuflachen und auf Null zu sinken. Da fast der ganze Zuwachs auf die Entwicklungsländer
entfällt, erhöht sich ihr demographisches Gewicht beträchtlich
- ein Prozeß, der schon seit Anfang des 20. Jahrhaunderts im Gange ist.
Dadurch erhöht sich der Anteil der Entwicklungsländer an der Weltbevölkerung
von 68% (1950) über 80% (2000) auf 86% (2050) [Quelle:
UNO]: | Bevölkerung
(in Mrd.) | | 1950 | 2000 | 2050 |
Industrieländer | 0,813 | 1,194 | 1,220 |
Entwicklungsländer | 1,706 | 4,877 | 7,699 |
Welt | 2,519 | 6,071 | 8,919 |
Innerhalb
der Gruppe der Entwicklungsländer erhöht sich der Anteil Asiens und
Afrikas. In Asien werden am Ende des 21. Jahrhunderts 5 Mrd. Menschen leben, mehr
als 1986 in der Welt insgesamt (1987 erreichte die Weltbevölkerung
die Zahl 5 Mrd.; Anm. HB*).
Besonders hervorzuheben ist, daß nicht mehr China mit seinen 1,2, Mrd. Menschen
das bevölkerungsreichste Land sein wird, sondern Indien, dessen Bevölkerung
von 2000 bis 2050 von 1,017 Mrd. auf 1,531 Mrd. zunehmen wird. Weitere gravierende
Änderungen sind das Vorrücken von Äthiopien von Platz 18 der bevölkerungsreichsten
Länder (Stand 2000) auf Platz 9, von Pakistan von Platz 7 auf Platz 4 und
von Nigeria von Platz 10 auf Platz 6 (Quelle: UNO):Bevölkerung
der (12) 10 größten Länder 2000 und 2050 (in Millionen) |
Rang | Land | 2000 | Land | 2050 |
1 | China | 1275 | Indien | 1531 |
2 | Indien | 1017 | China | 1395 |
3 | USA |
285 | USA | 409 |
4 | Indonesien |
212 | Pakistan |
349 | 5 | Brasilien |
172 | Indonesien |
294 | 6 | GUS |
146 | Nigeria |
258 | 7 | Pakistan |
143 | Bangladesch |
255 | 8 | Bangladesch |
138 | Brasilien |
233 | 9 | Japan |
127 | Äthiopien |
171 | 10 | Nigeria |
115 | Dem. Rep. Kongo |
152 | 11 | Mexiko |
98 | | | 12 | Deutschland |
83 | | |
Wie
die absolute Bevölkerungszahl, so wird sich auch die Dichte der Bevölkerung
(Einwohner pro km²) in den Entwicklungsländern und im Weltdurchschnitt
mehr als verdoppeln. Die Erhöhung der Bevölkerungsdichte stellt für
sich allein genommen in der Regel noch kein Problem dar, zumal viele Entwicklungsländer
noch immer dünner besiedelt sind als die Industrieländer. Im Durchschnitt
aller Entwicklungsländer betrug die Bevölkerungsdichte im Jahr 2000
59 Einwohner pro km², in Westeuropa ist sie etwa dreimal so hoch (116), und
in Afrika beträgt sie nur ein Sechstel des westeuropäischen Niveaus.
Die Dichte ist jedoch als Durchschnittsziffer wenig aussagekräftig. Hinter
ihr verbirgt sich eine gewaltige regionale Umschichtung der Bevölkerung durch
Binnenwanderung von den ländlichen Siedlungen in die Städte und die
urbanen Agglomerationsräume. Die Existenz großer Städte beruhte
bisher in den Industrieländern auf den Zuwanderungen aus den ländlichen
Gebieten mit Geburtenüberschüssen, denn die Geburtenrate der Stadtbevölkerung
unterschreitet das für die Bestandserhaltung der Bevölkerung erforderliche
Niveau bei weitem. Im Unterschied dazu wachsen die Städte in den Entwicklungsländern
nicht nur durch starke Zuwanderungen aus ländlichen Gebieten, sondern auch
durch starke Geburtenüberschüsse ihrer Stadtbevölkerungen.In
den Industrieländern ist der Prozeß der Urbanisierung weitgehend zum
Stillstand gekommen. Hier ging die Urbanisierung seit den 1970er Jahren in den
Prozeß der Suburbaniserung über, ein Begriff, mit dem das Wachstum
der Peripherien der urbanen Agglomerationsräume bei gleichzeitiger Stagnation
oder Schrumpfung ihrer Kernstädte bezeichnet wird. In den Entwicklungsländern
wachsen meist nicht nur die Peripherien der urbanen Agglomerationsräume,
sondern auch deren Zentren.Im Jahr 1950 gab es in der Welt nur eine einzige
Stadt mit mehr als 10 Mio. Einwohnern - New York. In ihr lebten 1,7% der Städtebewohner
der Welt. 1990 waren es 12 Städte (mit 7,1% der Stadtbevölkerung der
Welt), und bis zum Jahr 2015 wird es 27 solcher Megastädte (mit 10,9% der
Stadtbewohner) geben, davon 23 in den Entwicklungsländern. In den 27 Megastädten
werden im Jahr 2015 450 Mio. Menschen leben. Davon entfallen 71 Mio. auf die Industrieländer
und 378 Mio. auf die Entwicklungsländer.Tokio hat den ersten Platz
seit 1970 inne und wird ihn nach den Projektionsrechnungen der UN (1994) bis 2015
behalten. New York fiel von 1960 bis 1970 vom ersten auf den zweiten Platz, und
es wird bis 2000 weiter auf den fünften und bis 2015 auf den elften Platz
zurückfallen. Die Liste der größten 15 urbanen Agglomerationsräume
ändert sich vor allem durch das Wachstum der Megastädte in den Entwicklungsländern.
Bis zum Jahr 2000 werden Lagos (Nigeria), Karachi (Pakistan) und Neu-Delhi (Indien)
zu den größten 15 gehören; dagegen werden Rio de Janiero, Osaka
und Buenos Aires aus dieser Gruppe ausscheiden. Dhakka (Bangladesch) wird bis
2010 Seoul ersetzen. Lagos wird nach Tokio und Bombay der drittgrößte
Agglomerationsraum der Welt sein, vorausgesetzt, daß sich das Wachstum unter
Status-quo-Bedingungen fortsetzt und die Entwicklung nicht, wie in Ruanda, in
Bürgerkrieg und Chaos endet.Die
15 größten urbanen Agglomerationsräume der Welt |
Rang | 1994 | Mio. | 2015 | Mio. |
1 | Tokio | 26,5 | Tokio | 27,9 |
2 | New York | 16,3 | Bombay | 18,1 |
3 | Sao Paulo | 16,1 | Sao
Paulo | 17,8 | 4 | Mexiko
Stadt | 15,5 | Schanghai | 17,2 |
5 | Schanghai | 14,7 | New
York | 16,6 | 6 | Bombay | 14,5 | Mexiko
Stadt | 16,4 | 7 | Los
Angeles | 12,2 | Peking | 14,2 |
8 | Peking | 12,0 | Djakarta | 14,1 |
9 | Kalkutta | 11,5 | Lagos | 13,5 |
10 | Seoul | 11,5 | Los
Angeles | 13,1 | 11 | Djakarta | 11,0 | Kalkutta | 12,7 |
12 | Buenos Aires | 10,9 | Tianjin | 12,4 |
13 | Osaka | 10,6 | Seoul | 12,3 |
14 | Tianjin | 10,4 | Karachi | 12,1 |
15 | Rio de Janeiro |
9,8 | Delhi | 11,7 |
| Zum
Vergleich : Rhein-Ruhr | 13,0 | |
Wie
in Kapitel 6 erläutert, steht vor allem die Fertitlität in Wechselwirkung
mit ökonomischen und sozialen Prozessen. Dabei wurde durch zahlreiche Untersuchungen
empirisch belegt, daß die Fertilität einer Region bzw. eines urbanen
Agglomerationsraumes umso niedriger ist bzw. umso rascher abnimmt, je höher
das Pro-Kopf-Einkommen ist und je schneller es wächst (= demographisch-ökonomisches
Paradoxon).In den ökonomisch am stärksten expandierenden Agglomerationsräumen
Asiens ist die Fertilität bereits unter das Ersatzniveau gesunken; sie nähert
sich dem westeuropäischen Niveau. In diesen Ländern ist die Dynamik
der ökonomischen Entwicklung die entscheidende Bestimmungsgröße
sowohl für das Bevölkerungswachstum als auch für die regionale
Verteilung der Bevölkerung. Daß der Anteil der Weltbevölkerung,
die in den Städten lebt, von 1950 bis 1995 von 29,3 auf 45,2% zunahm (bald
wird er die 50%-Marke überschreiten; Anm. HB*),
ist unter den vielen Größen, die die weltweite Abnahme der Geburtenrate
verursacht haben, der wichtigste statistische Einzelindikator. Er ist ein komplexes
Maß, in dem sich Größen wie Alphabetisierung der Bevölkerung,
die Stellung der Frau, das Pro-Kopf-Einkommen, die Säuglings- und Kindersterblichkeit
und das Niveau der Lebensbedingungen widerspiegeln. Bis zum Jahr 2025 wird von
der UN ein weiterer Anstieg des Anteils der Stadtbevölkerung auf 61% vorausberechnet
- ein Trend, der mit dem erhofften bzw. erwarteten Rückgang der Geburtenrate
in der Zukunft in enger Beziehung steht. Die Urbanisierung ist eine Bedingung
des Fertilitätsrückgangs, und der Fertilitätsrückgang führt
zu regionalen Ungleichgewichten der Geburtenbilanz, die Wanderungsströme
auslösen und dadurch den Prozeß der Urbanisierung intensivieren.
(Zitat-Ende).ä
9. Demographisch verursachte Problemketten und Dilemmata zwischen Bevölkerungs-,
Entwicklungs- und Umweltpolitik (S. 112-125):Alle drei Hauptprozesse
der demographischen Entwicklung - die Fertilität, die Mortalität und
die Migration - sind erfahrungsgemäß außerordentlich schwer politisch
zu steuern oder auch zu kontrollieren. Man tutu deshalb gut daran, das prognostische
Potential demographischer Projektions- und Simulationsmodelle zu nutzen, um sich
so ein realistisches Bild von der durch die Altersstruktur und durch die Verhaltenstrends
(generatives Verhalten, Lebenserwartung, Wanderungsverhalten) weitgehend vorprogrammierten
Entwicklung zu bilden. Für jedes der über 200 Länder der Welt werden
von der Bevölkerungsabteilung der UN je drei Projektionsrechnungen durchgeführt
(untere, mittlere, obere Variante). Hinzu kommt eine Simulationsrechnung, die
auf der (bewußt fiktiven) Annahme beruht, daß die Fertilität
bis zum Jahre 2050 unverändert bleibt (UN, 2004). Der Sinn dieses »constant
fertility scenarios« ist, zu zeigen, daß etwas geschehen muß,
damit die errechneten Szenarios nicht eintreten.Das »constant
fertility scenario« ergibt für Westeuropa von 2000 bis 2050 eine
Bevölkerungsschrumpfung von 184 auf 173 Mio. und für die Entwicklungsländer
einen Bevölkerungszuwachs von 4,9 Mrd. auf 11,6 Mrd.. In Deutschland ...
schrumpft die Bevölkerung seit 1972, was nur deshalb nicht auffällt,
weil das Geburtendefizit bisher durch Einwanderungen mehr als ausgeglichen wurde.
Deutschland hat ein Mehrfaches an Einwanderungen als die klassischen Einwanderungsländer
USA, Kanada und Australien. Die jährliche Zahl der Einwanderungen pro 100
000 Einwohner betrug z.B. in den 80er Jahren (also bereits vor dem Zusammenbruch
des Ostblocks) in die USA 245, nach Kanada 479 und nach Australien 694; nach Deutschland
kamen 1022 auf 100 000 Einwohner. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks stieg die
Zahl der Zuwanderer nach Deutschland sogar auf 1566 pro 100 000 Einwohner.So
erstaunlich diese (in der Fachwelt wenig umstrittene) Entwicklung ist - mindestens
ebenso viel Erstaunen erregt die Art, wie die politische Öffentlichkeit mit
diesen Informationen umgeht. Am 15.01.1996 wurden die demographischen Fakten und
Prognosen anläßlich einer Anhörung des Deutschen Bundestages vor
der Enquete-Kommission »Demographischer Wandel« durch Experten
vorgetragen und erläutert. Zwei Tage später fand eine andere Sitzung
aus Anlaß der Telefongebührenänderung statt. Über die zweite
Sitzung wurde in den Medien berichtet. Über die verschiedenen Sitzungen der
Enquete-Kommission »Demographischer Wandel«, die schon seit Dezember
1992 tätig ist und deren Arbeit auf Beschluß des Bundestages seit 01.06.1995
fortgesetzt wird, erfuhr die Öffentlichkeit sehr wenig. Das Friedenskomitee
2000 stellte darin fest: »Es gibt Dinge, die sind so unvorstellbar, daß
man sie am liebsten verdrängt. Dazu gehört die Prognose, daß in
einigen Jahrzehnten die Deutschen in Deutschland eine Minderheit sein werden.
Das Deutsche Volk des Grundgesetzes als Träger der Staatsgewalt wird es dann
nicht mehr geben« (Argumentationspapier des Friedenskomitees 2000, 4/1995).
Es fällt in der Tat sehr schwer, sich diesen Problemen zu stellen. Tut man
es, kommt einem unwillkürlich folgender Vergleich in den Sinn: Durch das
Treibenlassen seiner demographischen Probleme gefährdet sich Deutschland
im 21. Jahrhundert auf eine ähnlich existenzbedrohende Weise wie durch die
beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert. (Zitat-Ende).ä
10. Bevölkerungsentwicklung, Ethik und Politik (S. 126-137):Das
vorherrschende Charakteristikum der Evolution ist aus rein biologischer Sicht
nicht das Gleichgewicht und die Harmonie, sondern die schöpferische Zerstörung.
Im Verlauf der natürlichen Evolution sind viele Arten ausgestorben, sogar
mehr als heute existieren, und zwar ohne Zutun des Menschen bzw. lange bevor sich
die menschliche Spezies entwickelte.Die Existenz der menschlichen Kultur
mag überwiegend oder ausschließlich evolutionsbiologische Ursachen
haben, aber ob dies die Menschen zu einem den Bedingungen der »Nachhaltigkeit«
entsprechenden Verhalten gegenüber den natürlichen Lebensbedingungen
veranlaßt, hängt nicht von irgendwelchen vielleicht in der Natur verborgenen
Selbstregulierungskräften ab, sondern ganz allein davon, was die Menschen
wollen. Ob ihr Wille frei genug ist, das Vernünftige zu wollen und das Selbstzerstörerische
zu vermeiden, ist nicht eine Frage der Natur, sondern der Kultur.Die
größte Gefahr für die Umwelt und die Natur ist nicht ihre rationale,
ökonomische Nutzung, sondern ihre Romantisierung und die gutgemeinte, aber
sinnlose Naturtümelei. Um dies zu erkennen, muß man sich bewußt
machen, daß der Begriff der Natur nicht etwas ist, was einfach aus der Natur
übernommen werden kann, sondern durch einen Akt der Kultur geschaffen
wedren muß:Die Weltgemeinschaft hätte - vorasugesetzt, es
gäbe sie - die Macht, die wissenschaftlich-technischen Fähigkeiten und
das ökonomische Potential, um die Erde unter größtmöglichstem
Schutz der Natur in ein Paradies zu verwandeln. Daß dies nicht geschieht,
liegt daran, daß es eine Weltgemeinschaft oder die Menschheit als Handlungssubjekt
nicht gibt. Die zentralen menschlichen Handlungsakteure sind das Individuum, die
Familie, die soziale Gruppe, der Stamm und allenfalls die Nation. Machtvolle supra-
bzw. internationale handlungssubjekte, die die Menschheit zur Lösung ihrer
globalen Probleme benötigen würde, gilt es erst noch zu entwickeln.Unser
Wissen, daß sich diese die künftigen Generationen belastenden Probleme
im Prinzip vermeiden oder technisch lösen ließen, läßt uns
bewußt werden, daß unser Versagen kulturell bedingt ist. Es
ist leichter, ganze Volkswirtschaften ökonomisch und technisch auf umweltfreundliche
Kreislaufwirtschaften umzustellen, als eine kulturelle Veränderung zu bewirken,
die den dafür nötigen Willen schafft. Die zu lösende Aufgabe besteht
also primär darin, zunächst kulturell bedingte problemlösungsfähigkeit
zu gewinnen, damit die Probleme real gelöst werden können. Wenn
man sich auf den Standpunkt stellt, daß alle Bevölkerungsprobleme letztlich
politische Probleme sind, dann sind sie eben dadurch in erster Linie kulturelle
Probleme. Das wichigste Bevölkerungsproblem entstünde dann nicht aus
der realen Bevölkerungsentwicklung durch Wachstum oder Schrumpfung, sondern
es bestünde in der Art des kulturellen, intellektuellen Umgangs mit den durch
die Bevölkerungsentwicklung aufgeworfenen Fragen, von denen die politischen
Antworten erst provoziert werden, nicht umgekehrt. (Zitat-Ende).
Die demographische Zeitenwende (2001)
ä
1. Einführung (S. 9-20):Für das Nichts-Tun und das Nicht-Wissen-Wollen
gibt es viele Gründe, so daß ich als Autor eine Beweislast spüre,
darlegen zu müssen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Der wichtigste
Beweggrund ist die Aussicht, daß der demographische Niedergang Deutschlans
und Europas rückblickend einmal als ein Vorzeichen für den Abschied
unseres Landes aus seiner zweitausendjährigen Geschichte gedeutet werden
könnte, ohne daß diese Gefahr den heutigen Zeitgenossen bewußt
war.Von der Gruppe der führenden Industrieländer wurde die
»Global Ageing Initiative« ins Leben gerufen, um Politik und Öffentlichkeit
wach zu rütteln. Unter Anwesenheit mehrerer Minister und früherer Kanzler,
Ministerpräsidenten und Notenbankgouverneure fand im Januar 2001 unter Federführung
des Washingtoner »Center for Strategic and International Studies«
in Zürich eine internationale Konferenz statt, auf der die negativen Auswirkungen
der demographischen Entwicklung auf die Volkswirtschaften der sieben bedeutendsten
Industrieländer (in dieser Reihenfolge: USA, Deutschland, Japan, Großbritannien,
Frankreich, Kanada, Italien) im Zentrum der Debatte standen. Die Gruppe der sogenannten
G7-Länder (in dieser Reihenfolge: USA, Deutschland, Japan, Großbritannien,
Frankreich, Kanada, Italien) hat einen Anteil von rund 40% am Sozialprodukt der
Welt, und es wird befürchtet, daß sich ihr Gewicht in Zukunft aus demographischen
Gründen verringern wird. (Die internationale Konferenz »A Policy Summit
of the Global Ageing Initiative«, die im Januar 2001 in Zürich stattfand,
wurde im August 2001 in Tokio fortgesetzt). Diese Furcht besteht zu Recht.(1)
Die Kluft zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit hat sich seit
den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts beständig erweitert, weil das Ziel
des sozialen Rechtsstaates mit den veränderten demographischen Strukturen
immer weniger vereinbar ist. Heute bleibt bereits ein Drittel der jüngeren
Frauenjahrgänge zeitlebens kinderlos, bei den zwei Dritteln mit Kindern hat
die Geburtenrate jedoch den idealen Wert von rd. zwei Kindern pro Frau. Eine noch
schärfere, gefahrenträchtigere Spaltung der Gesellschaft ist kaum vorstellbar.
Das Drittel der Frauen und Männer ohne Kinder erfüllt nur einen Teil
des Generationenvertrages als Kern des allgemeinen Gesellschaftsvertrages. Diese
Menschen zahlen zwar wie alle anderen Beiträge in die sozialen Sicherungssysteme
ein, aber die Erziehung künftiger Beitragszahler ist die weitaus wichtigste
Verpflichtung aus dem Gesellschafts- und Generationenvertrag, und dieser Vertragsbestandteil
wird immer weniger erfüllt. Der Tatbestand selbst ist unbestritten; er läßt
sich auf folgenden Nenner bringen: »An Kindern profitiert, wer keine hat
!« Hierzu führte Paul Kirchhof, ein früherer Verfassungsrichter,
aus: »Den Generationenvertrag des Sozialstaats halten nur die Eltern ein.
Daß gerade sie an diesem Vertrag kaum beteiligt werden, ist ein rechtsstaatlicher
Skandal.« (Paul Kirchhof, Wer Kinder hat, ist angeschmiert, in: Die
Zeit, 11.01.2001, S. 9). Die demographische Spaltung der Gesellschaft gefährdet
nicht nur die Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme, sondern
das Gerechtigkeitszielals Fundament unserer Verfassung. (2) Die Einwanderung
aus dem Ausland verläuft in Deutschland seit Jahrzehnten ungesteuert. Das
Migrations- und Integrationsproblem hat in der Lebenswirklichkeit vieler großer
Städte ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen. Die Schrumpfung der
einheimischen Bevölkerung durch den Sterbeüberschuß -bei gleichzeitigem
starkem Wachstum der zugewanderten Populationen durch Geburtenüberschüsse
und fortwährende Einwanderungen -hat nicht zur multikulturellen Gesellschaft
geführt, sondern zu einem Gesellschaftstyp, den ich als »Multiminoritätengesellschaft«
bezeichne, weil die bisherige »Mehrheitsgesellschaft« ihre absolute
Mehrheit bei der für die Zukunft wichtigen Altersgruppe der unter 40 jährigen
vielerorts schon in ein bis zwei Jahrzehnten verlieren wird. Dabei ist die ungesteuerte
Einwanderung junger Menschen aus Entwicklungsländern nicht geeignet, um die
Altersstruktur der Bevölkerung nachhaltig zu verjüngen. Sie ist auch
kein Instrument, um den Bedarf der Wirtschaft an qualifizierten Arbeitskräften
zu decken, weil die Bildungsabschlüsse der zugewanderten Bevölkerung
und ihrer hier geborenen Nachkommen in den allermeisten Fällen bei weitem
nicht dem Qualifikationsniveau der deutschen Bevölkerung entsprechen. Es
gibt zwar auch kleine Einwanderergruppen, insbesondere aus Asien, deren Bildungsverhalten
zu ähnlichen oder sogar noch höheren Bildungsabschlüssen wie bei
der deutschen Bevölkerung führt, aber in Deutschland fallen diese extrem
seltenen Ausnahmen quantitativ nicht ins Gewicht. (Zitat-Ende).ä
2. Transformiert die ökonomische Globalisierung die Weltbevölkerung
in eine Weltgesellschaft? (S. 21-41): |  | Diese
Abbildung stammt nicht von Herwig Birg, sondern von mir; HB. |  | Diese
Abbildung stammt nicht von Herwig Birg, sondern von mir; HB. |  | Diese
Abbildung stammt nicht von Herwig Birg, sondern von mir; HB. |  | Diese
Abbildung stammt nicht von Herwig Birg, sondern von mir; HB. |
Vergleicht
man die Entwicklung der 30 größten Länder mit dem Ziel, Zusammenhänge
zwischen den ökonomischen und den demographischen Veränderungen zu erkennen,
so stößt man auf einen grundlegenden Tatbestand, den ich als das »demo-ökonomisches
Paradoxon« bezeichnet habe: Es scheint auf den ersten Blick paradox,
daß die Pro-Kopf-Geburtenzahl in jenen Ländern besonders niedrig ist,
in denen das Pro-Kopf-Einkommen ein überdurchschnittlich hohes Niveau erreicht
hat. Dabei fungiert das Pro-Kopf-Einkommen als Maßstab für den Entwicklungsstand
eines Landes. Ein anderer Maßstab ist die Lebenserwartung. Bei Verwendung
der Lebenserwartung ergibt sich der gleiche gegenläufige Zusammenhang: Je
höher die Lebenserwartung war bzw. je stärker sie zunahm, desto niedriger
war bzw. ist die Kinderzahl pro Frau. Einem Zuwachs der Lebenserwartung z.B. in
Asien und Lateinamerika in den letzten drei Jahrzehnten um rd. 10 Jahre entsprach
im Mittel eine Abnahme um rd. 2,5 Geburten je Frau. Mißt man den Entwicklungsstand
eines Landes nicht nur an der Lebenswerwartung und am Pro-Kopf-Einkommen, sondern
auch am Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung, indem man die drei Größen
zu einem Index zusammenfaßt (= Human Development Index [HDI]), bestätigt
sich der Grundzusammenhang: Jedes Land hat auf der Skala des Human Development
Index einen Wert zwischen 0 und 1; je höher diese Meßzahl ist,
desto niedriger ist tendenziell die Zahl der Lebendgeborenen pro Frau.In
Europa beträgt die Geburtenzahl pro Frau 1,41, sie liegt um ein Drittel unter
dem Niveau, das für die langfristige Konstanz der Bevölkerung ohne Wanderungen
erforderlich wäre (= 2,1 Lebendgeborene je Frau = »Bestandserhaltungsniveau«).Von
der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen wird erwartet,
daß die Geburtenzahl pro Frau, die im Zeitraum 1995-2000 im Weltsurchschnitt
noch 2,82 betrug, noch vor der Jahrhundertmitte die langfristig bestandserhaltende
Zahl von 2,13 unterschreiten wird, so daß die Weltbevölkerung nach
Ausklingen des von der jungen Altersstruktur getragenen »Schwungs«
des Bevölkerungswachstums am Ende des Jahrhunderts ihr Maximum erreicht und
danach abzunehmen beginnt.Eine Gesellschaft ist nicht wie eine Population
eine bloß additiv zusammengesetzte oder faktisch voneinander abhängige
Menge von Individuen, sondern eine geschichtlich gewachsene Gesamtheit von Menschen
(Menschengruppen/-gemeinschaften, Kulturen, Völker,
Nationen u.s.w.; Anm. HB*),
die zur Erreichung ihrer gemeinsamen Ziele und zur Abwehr von Gefahren in gegenseitiger
Solidarität miteinander verbunden sind.Die ökonomische Globalisierung
nivelliert zwar sowohl die kulturellen Unterschiede und Standards als auch die
internationalen Unterschiede des Fortpflanzungsverhaltens. Dadurch könnte
das Niveau der Geburtenrate im Weltdurchschnitt vielleicht schon in zwei bis drei
Jahrtzehnten bis unter das Bestandserhaltungsniveau abnehmen. Aber der Abbau der
Unterschiede ist nicht das Ergebnis eines entsprechenden Willens zur Erreichung
gemeinsamer, die Nationen und Länder übergreifender gesellschaftlicher
Ziele, der in der internationalen Konvergenz der Geburtenraten in Erscheinung
tritt, sondern die unbeabsichtigte Nebenwirkung der globalen ökonomischen
Veränderungen. Sie zeigt sich in dem paradox erscheinen Sachverhalt, daß
die Menschen ihre Kinderzahl mit dem steigenden Realeinkommen verringert statt
erhöht haben.In den Entwicklungsländern ist die Geburtenzahl
pro Frau in den vergangenen drei Jahrzehnten durch den ökonomischen und gesellschaftlichen
Entwicklungsprozeß noch schneller zurückgegangen als in den Industrieländern,
ohne das dies Ergebnis einer entsprechenden gesellschaftlichen Willensbildung
oder eines planvollen politischen Handelns interpretiert werden kann.Eine
in ihren demographischen Verhaltensweisen gleichartiger werdende Weltbevölkerung
ist jedoch weder eine notwendige, noch eine hinreichende Bedingung für das
Entstehen einer Weltgesellschaft. Und selbst wenn es sich tatsächlich um
eine notwendige Bedingung handelte, wäre ihre Erfüllung für die
tatsächliche Herausbildung einer Weltgesellschaft nicht ausreichend, falls
die Mitglieder dieser Gesellschaft nicht auch den Willen hätten, eine Weltgesellschaft
zu konstituieren. (Und das wollen sie nicht! Und wahrscheinlich
werden sie das auch zukünftig nicht wollen! Anm. HB*).
Denn eine Gesellschaft kann dann und nur dann als eine Weltgesellschaft bezeichnet
werden, wenn die Menschen sich als Mitglieder einer Weltgesellschaft betrachten
statt lediglich durch wirtschaftliche, politische und informationelle Gelegenheiten
de facto immer stärker voneinander abzuhängen.Die Wahrscheinlichkeit,
daß ein solcher Wille zu einer gemeinsamen Gesellschaft in Zukunft entsteht,
ist aus mehreren gründen gering. Aus psychologscher Sicht ist die Entstehung
eines Wilens zur Weltgesellschaft unwahrscheinlich, denn dafür ist eine innere
Beziehung der Menschen erforderlich. .... Aus politischer Sicht wäre die
Preisgabe der nationalen Identität zugunsten der bloßen Hoffnung auf
die Entstehung einer Weltgesellschaft eine Leichtfertigkeit (ein
Masochismus bis hin zum Selbstmord! Anm. HB*),
jedenfalls in Ländern wie Deutschland, in denen die Menschenrechte durch
die Verfassung garantiert und in der Praxis realisiert sind. Hierzu führte
ein früherer Richter am Bundesverffasungsgericht aus: »Nur die Existenz
verschiedener Staaten sichert dem Menschen auch das elementarste seiner Rechte,
auszuwandern, Zuflucht zu suchen, Asyl zu beantragen. Die Weltaufgaben fordern
nicht den Weltstaat, sondern weltoffene Staaten und Staatenverbände.«
(Paul Kirchhof, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.1999, S. 8).Ob
ein Zustand ohne ökonomische Knappheit tatsächlich einmal verwirklicht
wird, hängt aus heutiger Sicht nicht primär von der Ökonomie, sondern
in erster Linie von der Politik ab, denn die Möglichkeiten für die Realisierung
dieses Zustandes in einer nicht allzu fernen Zukunft sind angesichts der technischen
Möglichkeiten und ökonomischen Potentiale keineswegs utopisch. Selbst
bei einem nur mäßigen Wachstum der Wirtschaftsleistung pro Kopf um
1,5 bis 2 % pro Jahr ließe sich das Niveau des Lebensstandards z.B. in 250
Jahren um den Faktor 41 bis 141 erhöhen. Durch die Fähigkeiten des schöpferischen
menschlichen Geistes könnte der Lebensstandard so beträchtlich steigen,
daß sich die ökonomischen Probleme des 21. Jahrhunderts - das noch
vom »kalten Stern der Knappheit« regiert werden wird, wie es in den
Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre aus dem vorigen Jahrhundert heißt
- dann überwinden ließen. Die Gesellschaft als Mittel zum Zweck der
gegenseitigen Hilfe in Not und als Mittel zur Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt
würde dann nicht mehr gebraucht. Aber das würde wahrscheinlich nicht
das Ende allen gesellschaftlichen Zusammenlebens bedeuten, die Gesellschaft als
Mittel zum Zweck würde nur von einer anderen Art von Gesellschaft abgelöst.
Denn die Menschen würden einander immer noch brauchen, weil der einzelne
immer nur durch den anderen zu sich selbst kommen kann.Was nützt
es also, sich die Welt als ein einzige gesellschaftliche Einheit vorzustellen,
in der Populationen und Nationen, Kulturen und regionale Lebensstrukturen in einem
großen Ganzen augehen, so daß viele der jetzt noch wichtig erscheinenden
Fragen ihre Bedeutung verlieren .... Die Verwirklichung dieser Vorstellung würde
nichts daran ändern, daß sich die Teile dieser Weltgesellschaft nach
ihrer Geschichte, nach ihrer räumlichen Nähe und kulturellen Distanz
voneinander unterscheiden, wie sie es immer getan haben.Man sollte die
Beharrungstendenzen dieser Unterschiede nicht bedauern. Denn wenn der Trend zur
Universalisierung und Internationalisierung tatsächlich bedeutet, daß
sich die nationalen Strukturen und Kulturen auflösen, dann läßt
sich dieser Auflösungsprozeß nicht auf die abstrakte Ebene des Nationalen
beschränken. Die Auflösung der Strukturen ist dann ein durchgängiger,
auf allen Ebenen parallel ablaufender Prozeß, der auch auf der untersten
Ebene der Gesellschaft, in der Familie und in den Beziehungen zwischen den Menschen
(deren kleinste Einheit ist das Paar; Anm. HB*),
seine Spuren hinterläßt. Eine solche Weltgesellschaft, die sich nicht
auf Nationen gründet, wäre eine ebenso abschreckende Vorstellung wie
eine Nation, bei der es keine Familien mehr gibt und beid er die Fortpflanzung
durch den Staat organisiert oder durch den Markt reguliert wird. (Zitat-Ende).ä
3. Das demographisch-ökonomische Paradoxon und der langfristige Rückgang
der Geburtenrate in Deutschland und Europa (S. 42-52):Wenn die
Anwendung einer gut bestätigten Regel zum Gegenteil des erwarteten Resultats
führt und wenn es sich bei dem betreffenden Fall nicht um eine zufällige
Ausnahme handelt, sondern um eine durch Logik und Folgerichtigkeit geprägte
Erscheinung, kann man von einem Paradoxon sprechen. Als demographisch-ökonomisches
Paradoxon bezeichne ich den Sachverhalt, daß sich die Menschen in den entwickelten
Ländern, aber auch die wachsende Population des Mittelstands in den Entwicklungs-
und Schwellenländern, um so weniger Kinder leisten, je mehr sie sich auf
Grund des seit Jahrzehnten steigenden Realeinkommens eigentlich leisten könnten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg - im sogenannten Nachkriegs-Babyboom - hatten die Menschen
in Deutschland z. B. im Durchschnitt 2,4 Kinder je Frau - doppelt so viele wie
heute, obwohl das Realeinkommen weniger als die Hälfte des heutigen erreichte.
Diese Entwicklung ist allgemein bekannt. Aber was steckt dahinter, wie läßt
sich dieser Sachverhalt verstehen und erklären? Ein Deutungsversuch
aus einem speziellen Forschungsgebiet der Wirtschaftswissenschaften, das als Bevölkerungsökonomie
bezeichnet wird, argumentiert folgendermaßen: Die Preise und Kosten der
für die Erziehung von Kindern benötigten Dienstleistungen, insbesondere
für die Betreuung und Aufsicht durch Dienstpersonal, sind stärker gestiegen
als die Preise der industriell erzeugbaren materiellen Konsumgüter, so daß
heute mit einem gegebenen Einkommen ein höheres Maß an Nutzen erzielt
werden kann, wenn der für den Erwerb von industriell erzeugbaren Gütern
verwendete Anteil am verfügbaren Einkommen ausgeweitet und der für Kinder
aufgewendete entsprechend reduziert wird. Diese Erklärung ist schlüssig,
aber ihre Gültigkeit hängt davon ab, ob die dabei unterstellte Regel
immer anwendbar ist, daß bei einem gegebenen Einkommen von jedem Konsumgut
eine um so größere Menge nachgefragt wird, je niedriger sein Preis
ist. Wer diese Nachfrageregel auf den vorliegenden Fall anwendet, stellt
eine Analogie zwischen Kindern und ökonomischen Konsumgütern her. In
der Bevölkerungsökonomie ist dies üblich. Man spricht dort ausdrücklich
und ungeniert von Kindern als »Konsumgütern« und vom »Konsumnutzen
des Kindes« für die Eltern, der sich z. B. aus der emotionalen Befriedigung
ergibt, die die Eltern durch ihre Kinder gewinnen, während der »Versorge-
oder Investitionsnutzen des Kindes« aus den längerfristigen Vorteilen
erwächst, insbesondere aus der Sicherheit, die die Eltern in Notfällen
durch die Hilfe ihrer Kinder erwarten. Doch wer die Gleichsetzung von Kindern
mit Konsumgütern wie Perserteppichen und Staubsaugern oder mit Investitionsgütern
wie Immobilien und Aktien unpassend findet und als zu weit gehend ablehnt, dem
fehlt das gedankliche Hilfsmittel, mit dem sich aus der Sicht der Bevölkerungsökonomie
das demo-ökonomische Paradoxon auflösen läßt. Selbst
wenn man statt der Gleichheit nur eine Ähnlichkeit zwischen Kindern und ökonomischen
Gütern annimmt, muß zur Aufrechterhaltung der ökonomischen Sichtweise
doch eine Übereinstimmung in wesentlichen Merkmalen unterstellt werden. Aber
auch die Annahme einer weniger strengen Entsprechung wirft mehr Fragen auf als
sie beantwortet. Denn eines der entscheidenden Merkmale des ökonomischen
Begriffs des Konsumguts ist, daß das Gut vom Konsumenten »genutzt«
bzw. »verbraucht« wird, und daß der Konsument in beliebiger
Weise über das Gut verfügen kann, indem er es beispielsweise durch ein
anderes ersetzt, verkauft oder auf Grund seiner »Konsumentensouveränität«
einfach wegwirft. In unserer Kultur lassen sich Kinder jedoch nicht wie beliebige
Gebrauchsgüter wieder loswerden, wenn die Eltern nicht mehr mit ihnen zufrieden
sind. Ein Kind ist kein Bild, das sich einfach von der Wand nehmen läßt,
wenn es nicht mehr gefällt. Ein anderer Begriff aus der Bevölkerungsökonomie
stellt nicht auf die manifesten Kosten von Kindern im Sinne von tatsächlich
entstandenen Ausgaben ab, sondern auf die meist nur vorgestellten, entgangenen
Einkommen, mit denen zu rechnen wäre, wenn eine Frau, statt durch Erwerbsarbeit
Einkommen zu erzielen, unbezahlte Familienarbeit leisten und Kinder großziehen
würde. Diese als »Opportunitätskosten von Kindern« bezeichneten
entgangenen Einkommen, die nur in der Vorstellung existieren und deshalb eigentlich
nur dann als entgangen zu betrachten sind, wenn sie eine sichere Option gewesen
wären, wachsen seit Jahrzehnten im gleichen Maße wie die Realeinkommen
und der allgemeine Wohlstand. Die Folge ist, daß Kinder gemessen an den
Opportunitätskosten immer unerschwinglicher werden, so daß die Geburtenrate
seit Jahrzehnten abnimmt. Das demo-ökonomische Paradoxon läßt
sich anscheinend mit dem Begriff der Opportunitätskosten recht gut verstehen,
aber auch hier muß dann eine zusätzliche Regel herangezogen werden,
die ein mindestens ebenso unerklärliches Paradoxon in sich birgt wie mit
ihr beseitigt werden soll. Bei genauerer Betrachtung bietet der Begriff der Opportunitätskosten
nur eine Scheinlösung, denn wenn sich die Menschen tatsächlich nach
dem Opportunitätskostenprinzip verhielten, indem sie auf Kinder um so eher
verzichteten, je höher das ohne Kinder erzielbare Einkommen ist, dann hieße
dies, daß ein höheres Einkommen um seiner selbst willen angestrebt
würde und nicht z.B. wegen des Nutzens, den die mit ihm erreichbaren Güter
stiften. Wenn dies zuträfe, dann müßte erklärt werden, warum
Menschen ihr Einkommen überhaupt zum Erwerb von Gütern ausgeben, anstatt
so viel wie möglich davon zu sparen und einkommensteigernd anzulegen. Auch
wenn viele Menschen nichts anderes im Sinn zu haben scheinen, als dem Geld nachzujagen
und sich tatsächlich so verhalten, als ob »entgangener Gewinn schon
Verlust« sei (Robert Spaemann), bleibt für die meisten das Einkommen
doch in erster Linie ein Mittel zum Zweck des Gütererwerbs und ist nicht
Selbstzweck. Aber auch bei jenen Menschen, für die die Gewinnmaximierung
tatsächlich ein Selbstzweck ist - vorausgesetzt, daß es solche Menschen
überhaupt gibt - ließe sich das demo-ökonomische Paradoxon mit
dem Begriff der Opportunitätskosten nicht einfach auflösen, weil mit
diesem Ansatz das Paradoxon nur durch ein noch absurderes Prinzip - nämlich
die Gewinnerzielung um ihrer selbst willen - ersetzt würde. Zu welchen
Hilfskonstruktionen man auch greift - ein Rest von Paradoxie bleibt übrig,
wenn man rational zu erklären versucht, warum sich Menschen um so weniger
Kinder leisten, je mehr sie sich aus rein ökonomischer Sicht auf Grund des
steigenden Realeinkommens eigentlich leisten könnten. Bei diesem Sachverhalt
handelt es sich um einen Aspekt der geschichtlichen Realität, der sich gegen
die üblichen theoretischen Erklärungsversuche der Sozialwissenschaften
sperrt, und der auch von der Geschichtswissenschaft noch wenig verstanden wird.
Dabei war die Wirtschaftsgeschichte als Teil des Zivilisationsprozesses im 20.
Jahrhundert in der Regel so paradox mit der Bevölkerungsgeschichte verbunden,
daß ökonomische Prosperität mit einer Abnahme und nicht mit einer
Zunahme der Geburtenrate einherging. Es ist nachweisbar, daß ähnliche
Zusammenhänge auch in früheren abendländischen Kulturen wirksam
gewesen sein müssen, insbesondere in der griechischen und römischen
Antike, wie dies durch literarische Zeugnisse aus dieser Zeit belegt wird, so
daß wir es hier vielleicht mit einem allgemeinen Charakteristikum geschichtlicher
Entwicklungsverläufe zu tun haben. (Eine frühe Schilderung des Geburtenrückgangs
in Griechenland stammt von einem griechischen Historiker aus dem 2. Jahrhundert
v. Chr.: Polybios,
Historien, um 150 v. Chr.).In der jüngsten Geschichte, insbesondere
seit dem Zusammenbruch des Ostblocks, hat der westliche Zivilisationstyp mit seiner
erfolgreichen Verbindung von Demokratie und wirtschaftlichem Liberalismus über
die westlichen Industrieländer hinaus so stark an Überzeugungskraft
gewonnen, daß der demographische Preis der ökonomischen Prosperität,
der in den westlichen Industrieländern seit Jahrzehnten bezahlt wird - das
sind neben der Schrumpfung der Bevölkerung vor allem die demographische Alterung
der Gesellschaft und die hohen Einwanderungen mit ihren Integrationsproblemen
-, allmählich aus dem Blick geriet, als ob es sich dabei um einen selbstverständlichen
Vorgang handelte, der bei den Zeitzeugen auf Grund seiner Plausibilität gar
nicht das Bedürfnis erweckte, verstanden und erklärt zu werden. In dem
Maße, wie dieser Entwicklungstyp durch die ökonomische Globalisierung
eine weltweite Verbreitung findet, wird das demo-ökonomische Paradoxon zu
einer allgemeinen Begleiterscheinung auch der internationalen Bevölkerungsentwicklung,
und zwar auch in den Schwellenländern und sogar in den armen Ländern
der Dritten Welt. Der im vorangegangenen Kapitel dargestellte intensive Rückgang
der Geburtenrate in den Entwicklungsländern ist dafür ein deutliches
Indiz. Das Wechselspiel der demographisch-ökonomischen Entwicklung
wirkt sich allerdings in jedem Land auf Grund seiner besonderen, geschichtlichen
Bedingungen in verschiedener Weise aus. In Deutschland spielte dabei die Einführung
der modernen Sozialversicherung in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts eine entscheidende
Rolle. Die Geburtenrate begann seit jener Epoche abzunehmen, in der durch die
Bismarckschen Sozialreformen die Krankenversicherung der Arbeiter (1883), die
Unfallversicherung (1884) und die Invaliditäts- und Altersversicherung (1889)
als eine öffentlich-rechtlich organisierte Vorsorge auf genossenschaftlicher
Grundlage eingeführt wurde. In den folgenden Jahrzehnten wurde das kollektive
Sozialversicherungssystem ausgebaut und auf Angestellte, Handwerker und Landwirte
ausgedehnt. Auch die versicherten Risiken wurden schrittweise erweitert, z. B.
durch Einführung der Hinterbliebenenrenten (1911), durch die Erweiterung
des Unfallschutzes und durch die Arbeitslosenversicherung (1927). Ein weiterer
wichtiger Schritt war die sogenannte Dynamisierung der Renten durch ihre Kopplung
an die wachsenden Einkommen nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit Einführung
der modernen Sozialversicherung ging die Geburtenrate in Deutschland in dem Maße
zurück, in dem persönliche Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall oder
Tod des Ehepartners, die vor Einführung der Sozialversicherung durch die
Familie aufgefangen werden mußten, von der Gesellschaft der Versicherten
getragen wurden. Das bedeutet natürlich nicht, daß die Einführung
der kollektiven Sozialversicherung der einzige Grund für den Rückgang
der Geburtenrate in Deutschland und in anderen Ländern Europas war, aber
es ist ein wichtiges Element in einem Bündel von Ursachen. Diese
Interpretation läßt sich durch internationale Vergleiche stützen.
In den Entwicklungsländern, in denen die Geburtenrate besonders hoch ist,
gibt es keine Sozialversicherungssysteme, die denen in den Industrieländern
auch nur entfernt vergleichbar wären. Dort müssen die existentiellen
Lebensrisiken auch heute noch großenteils durch die Mitglieder der eigenen
Familie aufgefangen werden. So lange eigene Kinder in den meist kleinbäuerlichen
Familienbetrieben als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft unentbehrlich bleiben,
wird das internationale Gefälle der Geburtenraten den internationalen Versorgungsunterschieden
zwischen den familienbasierten und den kollektivorganisierten sozialen Versorgungssystemen
ähneln. Abweichungen von dem nun schon seit mehr als hundert Jahren
andauernden stetigen Abnahmetrend der Geburtenrate in Deutschland gab es in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur durch drei historische Einschnitte:
durch die Geburtenausfälle im Ersten Weltkrieg, in der Weltwirtschaftskrise
von 1932 und im Zweiten Weltkrieg. Auch nach der Wiedervereinigung gingen die
Geburtenrate und die Geburtenzahl in den neuen Bundesländern ähnlich
drastisch zurück wie bei diesen drei Ereignissen. Aber während die Rückgänge
durch die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise jeweils schon nach fünf
Jahren wieder durch einen raschen Anstieg auf das vorige Niveau des langfristigen
Trends der Geburtenrate ausgeglichen wurden, lag die Geburtenrate in den neuen
Bundesländern fast ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung noch immer um
23% unter dem ohnehin niedrigen Niveau in den alten: Die Zahl der Lebendgeborenen
pro Frau betrug 1998 in den neuen Bundesländern 1,09, in den alten 1,41 und
in Deutschland insgesamt 1,36. Der Grund für den im Vergleich zu
den früheren historischen Einschnitten wesentlich langsameren Wiederanstieg
der Geburtenrate in den neuen Bundesländern nach 1990 liegt nicht in der
längeren Dauer der verursachenden Krise. Diese Erklärung trifft nicht
den entscheidenden Punkt, zumal der gesellschaftliche und wirtschaftliche Systemwechsel
in den neuen Bundesländern für die große Mehrheit der Bevölkerung
im Gegensatz zu den beiden Weltkriegen und zur Weltwirtschaftskrise keine Verschlechterung,
sondern eine wesentliche Verbesserung der Lebensbedingungen bedeutete. Ein wichtiger
Faktor für die nur langsame Angleichung der Geburtenrate an das Niveau in
den alten Bundesländern sind nicht die Kostensteigerungen für Kinder
im Sinne von Ausgaben, sondern der Anstieg der ökonomischen Opportunitätskosten
der Kinder, die von einem parallelen Anstieg der biographischen Opportunitätskosten
und Festlegungsrisiken begleitet wurden. Dabei ist der Begriff der biographischen
Opportunitätskosten eine Verallgemeinerung des ökonomischen Ansatzes:
Während es in der früheren DDR nicht viele Möglichkeiten gab, sein
Leben außerhalb der durch die staatlichen Vorgaben gesetzten biographischen
Ablaufschemata zu gestalten, hatten nach dem Fall der Mauer viele Frauen und Männer
erstmals in ihrem Leben die Möglichkeit, zwischen neuen biographischen Alternativen
zu wählen. Um sich insbesondere die beruflichen Optionen offen zu halten
- was nur möglich ist, wenn die Menschen regional und sozial mobil bleiben
-, wurden biographische Festlegungen durch Eheschließungen und Kindgeburten
von vielen Menschen aufgeschoben oder ganz vermieden. Die Eheschließungsrate
nahm daher in den neuen Bundesländern nach 1989 ähnlich stark ab wie
die Geburtenrate. Daß die Geburten- und Eheschließungsrate
nach der Wiedervereinigung abnahm anstatt anzusteigen, darf also nicht einfach
als Ausdruck von Zukunftsangst, Unsicherheit und negativen Zukunftserwartungen
interpretiert werden, meist trifft sogar das Gegenteil zu: Um die neue Freiheit
und die mit ihr verfbundenen Optionen nicht wieder zu verlieren, wurden langfristige
biographische Festlegungen durch Kinder aufgeschoben oder vermieden. Frauen, die
einen Arbeitsplatz hatten, stellten Kinderwünsche zurück, um den Arbeitsplatz
zu behalten, während Frauen ohne Arbeit auf Kinder verzichteten, um ihre
Chancen für eine Erwerbstätigkeit zu erhöhen. Da aber auch nach
dem drastischen Rückgang der Geburtenrate in der früheren DDR von 1,52
(1990) auf 1,09 (1998) die weitaus meisten Frauen - nämlich über zwei
Drittel - erwerbstätig und nur weniger als ein Drittel arbeitslos waren,
kann schon deshalb die Arbeitslosigkeit bei der großen Mehrheit der Bevölkerung
nicht der Grund für den drastischen Rückgang der Geburtenrate gewesen
sein, wie das oft behauptet wurde. Die umgekehrte Interpretation ist mindestens
genauso plausibel: Gerade weil es bei den meisten Frauen und Männern durch
die Wiedervereinigung wirtschaftlich deutlich nach oben ging, war es mit der Geburtenrate
umgekehrt. Betrugen die ökonomischen Opportunitätskosten von Kindern
in der früheren DDR pro Monat z.B. 800 Ost-Mark (= durchschnittliches Einkommen
der Frauen), so stiegen sie nach der Wiedervereinigung auf 2000,- oder 3000,-
DM. Selbst bei einem Umtauschkurs von 1: 1 bedeutet das eine Erhöhung der
ökonomischen Opportunitätskosten von Kindern um das Doppelte und mehr.
Es ist einfacher, bestimmte vorübergehende Abweichungen der Geburtenrate
vom langfristigen Trend nach unten zu interpretieren als die wenigen Abweichungen
vom Trend nach oben zu erklären. Einen deutlichen Sprung nach oben gab es
in der früheren Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg nur einmal: Die
Geburtenrate stieg im sogenannten Nachkriegs-Babyboom von 1955 bis 1964 von 2,1
auf 2,5 Lebendgeborene pro Frau - aus heutiger Sicht ein ziemlich hoher Wert.
In der früheren DDR vetlief die Entwicklung ähnlich. In Deutschland
hatte die Geburtenrate schon zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg meist
unter 2 Kindern pro Frau gelegen, in der alten Bundesrepublik hatte sie sich nach
1975 auf dem Niveau von 1,3 bis 1,4 eingependelt. Was ist der Grund für die
einmalige Abweichung nach oben in der Zeit des Nachkriegs- Babybooms von 1955
bis 1964? In der Literatur wird diese Sonderbewegung mit der wirtschaftlichen
Erholung in der Zeit des »Wirtschaftswunders« in Verbindung gebracht.
Eine zur Konsumwelle parallele Geburtenwelle, in der die im Krieg aufgeschobenen
Geburten ebenso wie der lange entbehrte Konsum nachgeholt wurden, ist eine so
einleuchtende Erklärung, daß sich weitere Fragen zu erübrigen
scheinen. Die Dinge sind jedoch komplizierter und interessanter. |
Fragt
man nach Gründen für die Änderungen des Fortpflanzungsverhaltens,
so liegt es nahe, nicht nur die Besonderheiten der Periode zu betrachten, in der
die Geburtenrate nach oben schnellte, sondern auch die vorausgegangene Epoche
in die Betrachtung mit einzubeziehen, in der das generative Verhalten der betreffenden
Frauenjahrgänge innerhalb ihres Erziehungs- und Entwicklungsprozesses geprägt
wurde. Die Unterscheidung von Frauenjahrgängen nach ihren jeweiligen Sozialisationsperioden
erfordert allerdings eine Berechnung der Geburtenzahl pro Frau getrennt nach einzelnen
Frauenjahrgängen statt nur getrennt nach Kalenderjahren. Im Schaubild
sind die Ergebnisse der beiden Berechnungsarten in Form von zwei Kurven dargestellt.
Die eine Kurve ordnet die Kinderzahl pro Frau dem Kalenderjahr zu, in dem die
Kinder zur Welt kamen. Dieses Verfahren wird als Perioden- oder als Querschnittsanalyse
bezeichnet (= periodenbezogene Geburtenrate, im Englischen »Total Fertility
Rate«, TFR). Die andere Kurve ordnet die Kinderzahl pro Frau dem Jahrgang
der Mutter zu, deren Geburtsjahr auf der oberen waagerechten Achse ablesbar ist.
Dieses Verfahren wird als Kohorten- oder Längsschnittsanalyse bezeichnet
( = jahrgangsbezogene Geburtenrate, im Englischen »Cohort Fertility Rate«,
CFR). Die Markierungen der oberen Achse sind um das mittlere Gebäralter (heute
rd. 30 Jahre) nach links verschoben, so daß das Geburtsjahr der Frauen (ungefähr)
vertikal über dem Kalenderjahr liegt, in dem der betreffende Jahrgang die
Kinder im Mittel zur Welt brachte. (Bei der Perioden- oder Querschnittsanalyse
wird die Kinderzahl pro Frau als Querschnitt für die in einem Kalenderjahr
gleichzeitig lebenden Frauenjahrgänge im Alter von 15 bis 45 [= gebärfähiges
Alter] gebildet. indem die Geburtenzahlen auf jeweils 1000 Frauen im Alter 15,
16, ..., 45 berechnet und anschließend addiert werden. Die Summe ergibt
die Geburtenzahl pro 1000 Frauen bzw, pro Frau für einen fiktiven Durchschnittsjahrgang,
der die 31 gleichzeitig lebenden Jahrgänge repräsentiert. Im Unterschied
dazu werden die Geburtenzahlen auf 1000 Frauen im Alter 15, 16, ..., 45 bei den
Längsschnitt- oder Kohortenannalyse für einen bestimmten Jahrgang im
Zeitverlauf addiert). Das mittlere Gebäralter differiert allerdings bei den
einzelnen Jahrgängen, bei den meisten liegt es im Intervall von 25-30. Deshalb
läßt sich der Sachverhalt mit einer einheitlichen Verschiebung um 30
Jahre nicht genau wiedergeben. Eine exaktere Darstellung ist möglich, wenn
die obere Achse im Schaubild nicht wie hier linear, sondern nicht linear
unterteilt wird, was jedoch andere darstellerische Nachteile zur Folge hätte.
Schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Geburtenrate der verschiedenen
Frauenjahrgänge ständig abgenommen:Generation | 1860 | 5,0
Kinder pro Frau | |
Generation | 1874 | 4,0
Kinder pro Frau | | Generation | 1881 | 3,0
Kinder pro Frau | | Generation | 1904 | 2,0
Kinder pro Frau | | Generation | 1920 | 1,9
Kinder pro Frau | (Zwischenminmum) | Generation | 1932 | 2,2
Kinder pro Frau | (Maximum im 20.
Jh.) **
| Generation | 1965 | 1,5
Kinder pro Frau | |
Die Aufstellung
zeigt den langfristigen Abnahmetrend der Geburtenhäufigkeit im 19. und 20.
Jahrhundert: In Deutschland hatte seit dem Jahrgang von 1856 (5,2 Kinder) jeder
Frauenjahrgang weniger Kinder als der jeweils vorangegangene. Beim Jahrgang 1904
wurde zum ersten Mal die Zahl von zwei Lebendgeborenen pro Frau erreicht und dann
unterschritten, sie sank bis zum Jahrgang 1920 auf ein Zwischenminimum (1,9 Kinder).
Darauf folgte der im 20. Jahrhundert einmalige, vorübergehende Anstieg, der
mit den Jahrgängen 1926-'28 (1,9-2,1 Kinder) begann und bis zum Jahrgang
von 1932 (2,2 Kinder) anhielt. Danach setzte sich der trendmäßige Rückgang
fort. Bis zum Jahrgang von 1941 (1,9 Kinder) lag die generationenbezogene Geburtenrate
noch über den niedrigen Trendwerten der zwanzig Jahre früher geborenen
Frauen der Jahrgänge 1920-25, erst bei den nach 1941 Geborenen arunter. Die
Analyse zeigt, daß der Anstieg der absoluten Geburtenzahlen nach dem Zweiten
Weltkrieg in der Periode des Wirtschaftswunders - der sogenannte »Nachkriegs-Babyboom«
-von jenen Geburtsjahrgängen getragen wurde, bei denen die Zahl der Lebendgeborenen
pro Frau vom langfristigen Abnahmetrend nach oben abwich (Jahrgänge 1926
bis 1941). Addiert man zum Geburtsjahr der Frauengeneration 1926 das mittlere
Gebäralter dieses Jahrgangs (= 29 Jahre) und zum Geburtsjahr der Generation
1941 das (niedrigere) mittlere Gebäralter dieses Jahrgangs (= 25 Jahre),
so erhält man 1955 und 1966 als Anfangs- und Endpunkte für die Hauptphase
des sogenannten »Nachkriegs-Babybooms«. In dieser Periode nahm die
absolute Geburtenzahl in der früheren Bundesrepublik von 820 Tsd. (1955)
auf 1050 Tsd. (1966) zu. Die Generationen, die in der Zeit des »Wirtschaftswunders«
mit ihrem generativen Verhalten die Geburtenwelle hervorbrachten, wurden also
schon in der Vorkriegszeit sozialisiert. Ihr Verhalten wurde nicht in der Zeit
des »Wirtschaftswunders«, sondern durch die Erziehungsideale der Vorkriegszeit
und die Wertvorstellungen ihrer Vorbilder und Eltern geprägt, die zum größten
Teil schon vor dem Ersten Weltkrieg geboren wurden. Der sogenannte Nachkriegs-Babyboom
beruht somit auf einem Typ des generativen Verhaltens, dessen Prägung vor
dem Zweiten Weltkrieg lag. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser Verhaltenstyp
von Menschen beeinflußt, deren Persönlichkeitsentwicklung schon vor
dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen war. Es ist daher problematisch, wenn der
sogenannte »Nachkriegs-Babyboom« ursächlich in erster Linie mit
den typischen Erscheinungsformen der Wirtschaftswunderzeit, insbesondere mit der
sogenannten Konsumwelle, in Verbindung gebracht wird. (Zitat-Ende). *
Berechnet man die Geburtenzahl pro Frau für die Kalenderjahre statt für
die Frauengeneration, dann beträgt das Maximu 2,5 statt 2,2. Die Differenz
beruht auf auf den methodischen Unterschieden zwischen der generationenbezogenen
Analyse (= Längsschnittanalyse) und der kalenderbezogenen Analyse (= Querschnittanalyse).
ä
4. Wirtschaftliche Prosperität und demographischer Niedergang (S. 53-63):Die
Prägekraft der Leitbilder der Persönlichkeitentwicklung, die aus der
Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammten, war nur von kurzer Dauer, wie der lediglich
vorübergehende Anstieg der Geburtenrate der 1960er Jahre zeigte. Auch die
politische Bewegung der 1968er-Generation wirkte sich weniger stark auf das generative
Verhalten aus, als es auf den ersten Blick scheint. Man würde die Ideen zur
Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Einzelnen, die Ziele der Emanzipation,
insbesondere der Frauen, und die sogenannte antiautoritäre Grundhaltung in
ihrem Einfluß auf die Prozesse der Familienbildung überschätzen,
wenn man als Maß für die Wirkung dieser Ideologien den Rückgang
der Geburtenrate heranzöge.Bei einer geanueren Analyse des Geburtenrückgangs
muß die Geburtenrate nach Ersten Kinder, Zweiten Kindern, Dritten Kindern
und Vierten und weiteren Kindern aufgegliedert werden. Dann zeigt sich, daß
der Wandel des generativen Verhaltens bei den Vierten Kindern (und den Kindern
mit noch höherer sogenannter »Ordnungsnummer der Geburt«) begann
und sich anschließend stufenweise auf die Häufigkeit der Dritten, der
Zweiten und zuletzt der Ersten Kinder ausbreitete. .... Die Mitglieder der etwa
fünf Geburtsjahrgänge innerhalb der 1968er-Generation standen zur Mitte
dieser hauptwirkungsperiode, nämlich im Jahr 1968, zwar in dem für die
Höhe der Geburtenzahl wichtigen Alter von 25 bis 30, aber da die Abnahme
der Geburtenzahl in dieser Periode vor allem auf dem Wegfall der Vierten und Dritten
Kinder beruhte, deren prozentualer Rückgang von einer Generation zur nächsten
fünf bis zehn mal so groß war wie der der prozentuale Rückgang
der Zweiten und Ersten Kinder, hätten die Ideen der 1968er-Generation - wenn
sie wirklich die Ursache des Verhaltenswamdels gewesen wären - vor allem
bei jenen Bevölkerungsgruppen auf Zustimmung stoßen und dadurch das
generative Verhalten ursächlich verändern müssen, die bereits Familien
mit überdurchschnittlich vielen Kindern, nämlich mit drei oder mehr,
gegründet hatten - eine wenig wahrscheinliche Schlußfolgerung. Denn
dies würde bedeuten, daß sich ausgerechnet die kinderreichen Eltern
an den Studenten der 1968er-Generation orientiert hätten, die ja ihrerseits
nicht bereits zwei oder drei Kinder hatten, was die Voraussetzung dafür gewesen
wäre, daß bei ihnen der Wegfall der Dritten und Vierten Kinder als
Vorbild für die anderen hätte dienen können. Im übrigen war
das zahlenmäßige Gewicht der 1968er-Generation ohnehin bei weitem zu
gering, um den Rückgang der Geburtenzahl an der Größenordnung
von über Hunderttausend selbst bewirkt haben zu können.Die
Frage besteht also darin, warum bestimmte Werte in bestimmten Zeiten zur Geltung
kommen und in anderen nicht. Unter welchen Lebensbedingungen die Menschen sich
zu Persönlichkeiten entwickeln, die frei genug sind, den von ihnen anerkannten
Werten durch ihr selbstbestimmtes Handeln zum Durchbruch zu verhelfen, ist eine
ebenso politisch-praktische wie philosophische Frage. Versucht man sie von der
praktischen Seite aus zu beantworten, indem man die Forschungsergebnisse international
vergleichender Studien über den Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen
und der demographischen Entwicklung eines Landes heranzieht, dann rückt der
paradoxe, gegenläufige Zusammenhang zwischen der Höhe des Pro-Kopf-Einkommens
bzw. des allgemeinen Entwicklungsstandes eines Landes und der Geburtenrate erneut
ins Blickfeld. Was sind die tieferen Ursachen dieser Paradoxie?Für
alle entwickelten Gesellschaften ist kennzeichnend, daß sich - unabhängig
von ihrer politischen Verfassung, ihrer wirtschaftlichen Organisation und ihrer
kulturellen und geschichtlichen Tradition - die gesellschaftlichen Beziehungen
zwischen den Menschen an einem bestimmten, durchgreifend wirksamen Handlungsprinzip
ausrichten, das man als konkurrenzorientiertes Handlungsprinzip bezeichnen kann,
und das nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in den meisten anderen Lebensbereichen
die Orientierungen der Menschen entscheidend bestimmt. Es ist jenes Prinzip, das
seit dem 19. Jahrhundert durch die gewaltigen Erfolge der biologischen Evolutionstheorie
Darwins etwas vorschnell und überstürzt auch als Regulativ für
die Entwicklung der gesellschaftliche Lebensbedingungen anerkannt wurde. Das Prinzip
des »survival of the fittest« wurde seitdem so stark verinnerlicht,
daß es als handlungsleitende Idee für die Praxis menschlichen Verhaltens
kaum noch in Frage gestellt wird. Es bestehen zwar immer noch konkurrenzfreie
Handlungsräume, beispielsweise unter den Mitgliedern kirchlicher und gemeinnütziger
Gemeinschaften, aber diese Beispiele sind ebenso wie die persönlichen Beziehungen
zwischen den Mitgliedern intakter Familien und zwischen Freunden eher als Ausnahmen
von der allgemeinen Regel anzusehen. Gesellschaften, in denen das konkurrenzorientierte
Handlungsprinzip alle anderen Prinzipien in den Hintergrund drängt, indem
die positive Seite des Konkurrenzprinzips - nämlich das Konkurrieren im Wettbewerb
um eine optimale Kooperation bei der Verwirklichung gemeinsamer Ziele - nicht
mehr als wesentlich betrachtet wird, nehmen es nicht nur hin, sondern sie fördern
es, daß die Gesetze der Arbeitswelt die übrigen Lebensbereiche dominieren.
Die Überordnung des Ziels der Maximierung des Wohlstands über alle anderen
Zwecke, dem sich in unserer Demokratie alle politischen Parteien verpflichtet
haben, bedeutet, daß das Ziel der maximalen Produktivitätssteigerung
mit dem Mittel der permanenten Umstrukturierung der Volkswirtschaft innerhalb
des marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmens Vorrang hat, wobei die sich daraus ergebenden
Folgen für die Entwicklung der Familien in Kauf genommen werden. Die sich
aus der fortwährenden Umstrukturierung ergebende Dynamik wirkt sich auf den
Arbeitsmärkten in ständigen Arbeitsplatzumbesetzungen aus. So wird z.B.
in Deutschland pro Jahr jeder vierte Arbeitsplatz durch zwischenbetriebliche Arbeitsplatzwechsel
neu besetzt. Bei der millionenfachen neuen Zuordnung von Arbeitskräften zu
Arbeitsplätzen, die in der Hochkonjunktur stets besonders intensiv ist, verlangt
das konkurrenzorientierte Handlungsprinzip, das auch mit dem rhetorisch angenehmeren
Begriff als »Wettbewerbsprinzip« bezeichnet wird, von den Arbeitskräften
biographische Anpassungsleistungen in Form von Tätigkeitswechseln, Ortswechseln
und Berufswechseln, die oft nur erbracht werden können, wenn geplante Partnerbindungen,
Eheschließungen und Kindgeburten aufgeschoben oder die entsprechenden Lebensziele
gar nicht erst angestrebt werden. Die wirtschaftlichen Tugenden der Anpassungsfähigkeit,
Flexibilität und Mobilität, auf denen unser wirtschaftlicher Wohlstand
beruht, stehen den für die Gründung von Familien wichtigen Tugenden
und den Zielen der biographischen Planungssicherheit und Voraussicht diametral
entgegen, weil sie langfristige Bindung an Menschen erschweren und die Übernahme
einer meist lebenslangen Verantwortung für den Lebenspartner und für
Kinder oftganz ausschließen. Zur Sicherung des für die volkswirtschaftliche
Produktivitätssteigerung unabdingbaren, permanenten Strukturwandels haben
sich die Bundesrepublik Deutschland und nach ihrem Vorbild auch die übrigen
Staaten der Europäischen Union eine Art zweite Verfassung gegeben - das Gesetz
gegen Wettbewerbsbeschränkungen -, das die eigentliche Magna Charta der modernen
Wirtschaftsgesellschaft bildet. Das Gesetz ist seiner Zielsetzung nach primär
gegen Wettbewerbsbeschränkungen gerichtet und hat eine segensreiche Wirkung,
aber wegen seiner Nebenwirkungen, könnte es auch als eine Art Anti-Familiengesetz
bezeichnet werden, gegen dessen destruktive Auswirkungen mit den gesetzgeberischen
Maßnahmen der Familienpolitik nicht viel auszurichten ist: Mit dem Gesetz
gegen Wettbewerbsbeschränkungen soll die Dynamik des wirtschaftlichen Strukturwandels
gesichert werden, wobei die Menschen als Produktionsfaktoren fungieren, die flexibel
auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes reagieren und bei regionalen oder branchenmäßigen
Arbeitsmarktungleichgewichten durch ihre berufliche und räumliche Mobilität
den Ausgleich des Angebots und der Nachfrage nach Arbeitskräften sicherstellen
sollen. In ihrem Streben nach hoher Produktivität sind die Menschen
an ihren Arbeitsplätzen als »Humankapital« der Konkurrenz mit
ihren eigenen Schöpfungen, den Maschinen ausgesetzt, deren Produktivität
sie mit ihrer Kreativität beständig steigern. Auf diese Weise steht
der Mensch in einer Art Wettbewerb mit seinen ureigensten Fähigkeiten und
gerät in einen Widerspruch zu sich selbst. Man kann den Typ unserer modernen
Wirtschaftsgesellschaft nicht treffender charakterisieren als mit den Worten des
früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt, der sich einmal in aller Offenheit
als »Aufsichtsratsvorsitzender der Aktiengesellschaft Bundesrepublik Deutschland«
bezeichnete - ohne dabei über die tiefe Wahrheit seiner Worte zu erschrecken.
Die Geburtenrate hat in der früheren Bundesrepublik seit Anfang der 70er
Jahre des vorigen Jahrhunderts das für die Bestandserhaltung (ohne Einwanderungen)
erforderliche Niveau von 2,1 Lebendgeborenen pro Frau permanent unterschritten.
In den meisten anderen westlichen Industrieländern verlief die Entwicklung,
zeitversetzt, ähnlich. Trotzdem zeigte sich bisher noch kein politisch wirksames
Bedürfnis, den wohlstandsverbürgenden Mechanismus der Konkurrenzgesellschaften
in Frage zu stellen. Die alten, liberalen Vorstellungen über die Voraussetzungen
der ökonomischen Prosperität haben sich bisher nicht gewandelt, ganz
im Gegenteil: Das Konkurrenz- und Wettbewerbsprinzip stieg im Zuge der Globalisierung
der Wirtschaft in allen Gesellschaftssystemen zu einer weltweit anerkannten Leitidee
auf. Dabei hat sich inzwischen ein radikaler Wandel der bisherigen Entwicklungsverläufe
vollzogen: Die Voraussetzung aller Entwicklungen - nämlich die kulturelle
Basis der Gesellschaften, auf der sich die ökonomischen und gesellschaftlichen
Veränderungen vollziehen - ist selbst starken Veränderungen unterworfen
und zum Gegenstand von Entwicklung bzw. zum Objekt des Geschehens geworden. Was
noch in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts als Gipfel modernster
wirtschaftspolitischer Errungenschaften galt - in der Bundesrepublik Deutschland
gehörte dazu in erster Linie das »Wachstums- und Stabilitätsgesetz«
-, scheint aus heutiger Sicht von einem naiv anmutenden, geradezu obsoleten Reformoptimismus
geprägt. Mit dem Wachstums- und Stabilitätsgesetz sollte die Stabilität
der ökonomischen Entwicklung gegen Konjunktur- und Wachstumskrisen gesichert
und ein dauerhaftes, sogenanntes gleichgewichtiges Wirtschaftswachstum erreicht
werden. Daß aber die demographischen Stabilitätsbedingungen der wirtschaftlichen
Entwicklung einmal zu einem gravierenden Problem werden könnten, war damals
offensichtlich noch unvorstellbar. Mit dem (immer noch gültigen) Wachstums-
und Stabilitätsgesetz sollen alle wichtigen volkswirtschaftlichen Zielgrößen
wie Vollbeschäftigung, Preisstabilität und außenwirtschaftliches
Gleichgewicht in Einklang gebracht werden, aber die diesen Zielen vorgelagerte
Voraussetzung einer nachhaltigen Bevölkerungsentwicklung wird in diesem Gesetz
nicht einmal erwähnt. Beruhte dies auf Naivität oder auf politischer
Kurzsichtigkeit? Man nahm wahrscheinlich an, daß sich die demographischen
Stabilitätsbedingungen des wirtschaftlichen Erfolgs von selbst erfüllen.Aus
heutiger Sicht müßte das sogenannte »magische« Zieldreieck,
bestehend aus Vollbeschäftigung, Preisstabilität und außenwirtschaftlichem
Gleichgewicht, durch das Ziel der demographischen Nachhaltigkeit erweitert werden.
Eine Diskussion über eine solche Erweiterung auf breitem politischem Fundament
gibt es jedoch noch nicht einmal in Ansätzen. Die wirtschafts- und sozialpolitischen
Debatten (Renten- und Gesundheitsreform) und die demographischen Reformdiskussionen
(Familienpolitik, Staatsbürgerschaftsrecht, Einwanderungs- und Integrationspolitik)
werden in der Regel in getrennt voneinander arbeitenden Sachverständigengremien
und Kommissionen diskutiert, so als ob sich auch die wirtschaftliche und soziale
Wirklichkeit in verschiedene ressortspezifische Welten aufteilen ließe.
Im Hinblick auf den realen Problemdruck ist die ressortspezifische Zerstückelung
des Denkens, Planens und Handelns ein Anachronismus, dem etwas Vormodernes anhaftet.
Die diesbezügliche Rückständigkeit birgt große Gefahren,
denn die spezifischen Probleme der Industrieländer sind im Zuge der ökonomischen
Globalisierung zu allgemeinen Entwicklungsproblemen der Welt geworden, die in
allen Kontinenten und Kulturen auftreten. Wie in Kapitel 2 gezeigt, vollzieht
sich parallel zur Globalisierung der volkwirtschaftlichen Standort- und der betriebswirtschaftlichen
Produktionsbedingungen eine Globalisierung der demographischen Reproduktionsbedingungen
in nahezu allen Populationen der Welt.Versucht man, die Bevölkerungsentwicklung
der Industrieländer und das demographisch-ökonomische Paradoxon zu erklären,
so greifen die entsprechenden soziologischen, ökonomischen oder biologischen
Ansätze zu kurz. Sie können zwar wichtige Einzelaspekte der demographischen
Phänomene erfassen, aber eine bloße Addition der einzelnen Erklärungsbeiträge
ergibt naturgemäß keine schlüssige Theorie.Die klassische
Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie des 18. Jahrhunderts hat z.B. ihre übergreifenden
Ziele stets betont und auch ihre bevölkerungstheoretischen Ansätze noch
im Rahmen übergeordneter Sichtweisen entwickelt. Dies gilt vor allem für
die englische Nationalökonomie bzw. für die »politische Ökonomie«.
Ihre Grundüberzeugungen wurden in einprägsamen Metaphern veranschaulicht,
z.B. in der »Bienenfabel« Mandevilles und in der Metapher der »unsichtbaren
Hand« bei Adam Smith. Beide vermitteln die gleiche Botschaft: Wirtschaftlicher
Eigennutz ist gemeinwohlfördernd.Ob diese Botschaft immer noch trägt,
gerät immer mehr in Zweifel, weil die demographische Basis der ökonomisch
prosperierenden Länder durch ihre niedrige Geburtenrate schwindet, und zwar
als Folge von Prosperität, die sich eben dadurch selbst in Frage stellt.Die
Voraussetzung der Bienenfabel Mandevilles ist die Existenz von Bienen und von
Blumen und Blüten als deren Lebensgrundlage. In die gesellschaftliche Realität
übersetzt heißt das: Die Existenz von Familien muß vorausgesetzt
werden, damit das wirtschaftliche und soziale Leben überhaupt stattfinden
und prosperieren kann. Wenn aber ökonomischer Wohlstand seine eigene Voraussetzung
schwächt, ist weder die Metapher der Bienenfabel noch die Botschaft von Adam
Smith bezüglich einer durch die »unsichtbare Hand« prästabilisierten
Harmonie in der Konkurrenz egoistischer Interessen realistisch. Der Egoismus hat
zwar, wie Adam Smith zu Recht betont, zweifellos zahlreiche unintendierte gemeinwohlfördernde
Nebenwirkungen, doch wird heute übersehen, daß seine Hauptwirkung gemeinwohlzerstörend
ist.Friedrich List hat den Antagonismus von Demographie und Ökonomie
herausgearbeitet, indem er auf die Tatsache abstellte, daß die Aufzucht
von Menschen im Gegensatz zu der von Nutznießern nicht in die Berechnung
der von einer Volkswirtsxchaft erzeugten Güter und Dienstleistungen eingeht
und bis heute in der Volkseinkommensberechnung unberücksichtigt bleibt: »wer
Schweine erzieht, ist ... ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives
Mitglied der Gesellschaft ..., ein Newton, ein Watt, ein Kepler sind nicht so
produktiv als ein Esel, ein Pferd oder ein Pflugtier ....« (Friedrich List,
Das nationale System der politischen Ökonomie, 1841, S. 231).Die
ökonomische Aufwertung und die realistische Bewertung der Leistungen der
Familien sind zwar eine notwendige Voraussetzung für die Lösung der
demographisch bedingten gesellschaftlichen Probleme, aber ihre Erfüllung
durch gerechtere familienpolitische Leistungen ist nicht hinreichend für
die Lösung, weil die Menschen nicht nur aus ökonomischen, sondern zunehmend
aus anderen Gründen wenig Kinder haben und zu einem immer größeren
Prozentsatz lebenslang kinderlos bleiben. (Zitat-Ende).ä
5. Grenzen der Familienpolitik im Hinblick auf die Logik biographischer Entscheidungen
(S. 64-82):Faßt man die Befunde zusammen, so ergibt sich
folgendes Fazit: Der Hauptgrund für die niedrige Geburtenzahl pro Frau ist
der hohe Anteil von rd. einem Drittel zeitlebens kinderlos bleibender Frauen bei
den jüngeren Jahrgängen ab 1965. Innerhalb der Gruppe der Frauen mit
Kindern hat die Geburtenrate jedoch den idealen Wert von rd. 2 Kindern pro Frau.
Die Polarisierung der Bevölkerung nach den beiden Gruppen mit und ohne Kinder
ist in Deutschland besonders hoch. .... Der Trend zur lebenslangen Kinderlosigkeit
wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit fortsetzen. Der Anteil der Frauen
an einem Jahrgang, die zeitlebens ein Kind haben, wird weiter abnehmen, der Anteil
der Frauen mit zwei Kindern relativ stabil bleiben und der Anteil der Frauen mit
drei Kindern wird stagnieren. Dagegen wird sich der Anteil der Frauen mit vier
und mehr Kindern - bedingt durch die große Zahl von Zugewanderten mit höherer
Geburtenrate - leicht erhöhen.Durch die Dynamik ihrer Volkswirtschaften
haben die westlichen Industrieländer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
eine beispiellose Steigerung des Wohlstands erfahren. Parallel dazu hat sich das
biographische Universum der Individuen als Sinnbild für die Größe
der biographischen Entscheidungsfreiheit stark erweitert. Die Expansion des biographischen
Entscheidungsraums beruhte sowohl auf der Zunahme der Entscheidungsfreiheit durch
das Auftreten neuer biographischer Alternativen und Optionen als auch auf dem
Wegfall von handlungsbegrenzenden Normen und Tabus. An die Stelle der kulturellen
und sozialen Überbestimmtheit der Biographien früherer Zeiten trat die
Unterbestimmtheit moderner Lebensläufe. Der biographische Freiheitszuwachs
bedeutete zugleich eine starke Erhöhung des Risikos langfristiger biographischer
Festlegungen. Ob und gegebenenfalls wie viele Kinder jemand hat, bestimmt sich
in modernen Gesellschaften nicht aus biologischen Kausalitäten und ebenso
wenig durch verbindliche gesellschaftliche Verhaltensmuster, sondern durch die
Rationalität und Logik biographischer Entwicklungsverläufe und deren
Festlegungsrisiken im Hinblick auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes. Der
Lebenslauf ist in der modernen Gesellschaft zum Projekt des Einzelnen geworden,
dessen Erfolg und Mißerfolg dem Individuum und nicht der Gesellschaft oder
der Herkunftsfamilie zugerechnet wird. Die hohen Anforderungen an die Flexibilität
und Mobilität der Individuen in modernen Wirtschaftsgesellschaften stehen
der Übernahme einer langfristigen Verantwortung für den Lebenspartner
und für Kinder diametral entgegen. Der wirtschaftliche Erfolg unserer Gesellschaft
wird in zunehmendem Maß durch die Instabilität der Familien, den Rückgang
der Geburtenrate und die damit verbundene demographische Alterung der Gesellschaft
erkauft. Die Alterung hat so gravierende Rückwirkungen auf die Funktionsfähigkeit
der sozialen Sicherungssysteme und die von ihr abhängige internationale Wettbewerbsfähigkeit
der Wirtschaft, daß die bisher gewohnte ökonomische Prosperität
durch die demographische Entwicklung langfristig gefährdet erscheint.
(Zitat-Ende).ä
6. Zweck, Verfahren und Genauigkeit demographischer Vorausberechnungen (S. 83-96):Um
eine hohe Treffsicherheit zu erreichen, muß bei der Festlegung der Annahmen
über die Verhaltensweisen der Menschen in der Zukunft, z.B. über das
Fortpflanzungsverhalten, immer die Entwicklung in der Vergangenheit berücksichtigt
werden. Insofern entsteht der substantielle Gehalt jeder Prognose stets aus einer
Analyse der tatsächlichen Entwicklung in der Vergangenheit. Die Prognoseaussagen
beschreiben zwar etwas prinzipiell Unbekanntes in der Zukunft und scheinen sich
daher von den Aussagen über die Vergangenheit grundlegend zu unterscheiden,
aber dieser Unterschied ist weniger gravierend, als es den Anschein hat, weil
die Prognoseaussagen, soweit sie inhaltlich bedeutsam sind, zur Gänze aus
den substantiellen Prämissen abgeleitet werden, die ihrerseits stets auf
Erkenntnissen über die faktische Entwicklung in der Vergangenheit beruhen.
Wenn die zugrunde gelegten Annahmen zutreffen oder nahe an der Realität liegen,
treffen auch die Prognosen exakt oder mit großer Genauigkeit ein. Die Qualität
einer Prognose ist daher stets identisch mit der Qualität ihrer Annahmen.Ein
Urteil über die künftige demographische Entwicklung sollte deshalb ein
Urteil über die Annahmen einschließen, auf denen die Prognose beruht.
Das Urteil über die Annahmen kann positiv sein, wenn man die Wahrscheinlichkeit,
mit der sie zutreffen, als hoch einschätzt, und gleichzeitig kann die Bewertung
der prognostizierten demographischen Entwicklung selbst, die sich aus den Annahmen
ergibt, wegen ihrer Folgen für die Wirtschaft und Gesellschaft negativ ausfallen.
Die Größe der Differenz zwischen den beiden Bewertungen zeigt an, wie
umfangreich das Aufgabenspektrum der Politik ist, wenn die vorausberechnete, negativ
beurteilte Entwicklung vermieden werden soll. Dabei müssen die Folgen der
demographischen Entwicklung nach verschiedenen Auswirkungsbereichen differenziert
werden, denn mit jeder Entwicklung sind in der Regel sowohl positive als auch
negative Erscheinungen verbunden. Beschränkt man sich auf die schon heute
offen zutage liegenden, rein quantitativen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft,
so sind folgende Konsequenzen nicht mehr zu übersehen:- Die
Bevölkerungsschrumpfung und Alterung der einheimischen Bevölkerung
ist in Deutschland seit Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts im Gange.
Sie beschleunigt sich durch das wachsende Geburtendefizit und läßt
sich auch bei optimistischen Annahmen über einen möglichen Wiederanstieg
der Geburtenrate auf Jahrzehnte nicht mehr stoppen, wobei der Rückgang in
den neuen Bundesländern besonders gravierend ist.
- Auf dem Arbeitsmarkt
geht die Zahl der jüngeren Arbeitskräfte stark zurück. Z. Zt. nimmt
die Zahl der 20-bis40jährigen um 500 Tsd. pro Jahr ab, während die Zahl
der 40-bis-unter60jährigen zunächst noch bis 2010 wächst, bevor
dann auch sie kontinuierlich schrumpft. Die Abnahme der Erwerbspersonenzahl kann
nur noch für wenige Jahre mit einem Abbau der Arbeitslosigkeit oder mit einer
Annäherung der Frauenerwerbsquote an das Niveau der Männer aufgefangen
werden. Ab 2010 sind auch diese noch theoretisch vorhandenen Reserven erschöpft.
Danach wäre der Rückgang nur noch durch exorbitant hohe Einwanderungen
zu stoppen, die jedoch mehr Probleme mit sich bringen als lösen würden.
- Auf
dem Gütermarkt ergibt sich aus der demographischen Alterung und aus
der abnehmenden Zahl der Konsumenten eine starke Veränderung der Nachfragestruktur
und eine Reduzierung des Wachstums der Gesamtnachfrage, durch die das Wirtschaftswachstum
gedämpft wird.
- Das System der sozialen Sicherung (Renten-,
gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung) wurde ursprünglich für
eine junge Bevölkerung konzipiert. Das gesamte System muß reformiert
und an die auf dem Kopf stehende Alterspyramide angepaßt werden.
- Das
Gesellschaftssystem polarisiert sich zunehmend in eine nicht zugewanderte,
deutsche Population und in eine Population mit Migrationshintergrund. Die nicht
zugewanderte deutsche Mehrheitsgesellschaft verliert in den großen Städten
bei den Jüngeren ihre absolute Mehrheit und wird zu einer Minderheit unter
anderen Minoritäten. Deutschland entwickelt sich dadurch zu einer Multiminoritätengesellschaft,
statt eine multikulturelle Gesellschaft hervorzubringen, bei der das Minoritätenproblem
eine andere Bedeutung hätte.
Die Bevölkerungsschrumpfung
ist in Deutschland und Europa untrennbar mit einer demographischen Alterung gekoppelt.
Deshalb ist es nicht möglich, die entlastenden Wirkungen der Bevölkerungsschrumpfung,
die sich beispielsweise auf dem Gebiet des Verkehrs und in einigen Teilbereichen
der Umwelt zeigen, zu begrüßen, ohne auch die negativen Auswirkungen
der demographischen Alterung zu akzeptieren. Auf dem Arbeitsmarkt hat die demographische
Schrumpfung z.B. eine entlastende Wirkung bei der Arbeitslosenquote, aber dieser
positive Effekt muß mit einer Schwächung des Wirtschaftswachstums bezahlt
werden, die die Gesellschaft teuer zustehen kommt, und die darüber hinaus
indirekt auch die Arbeitsmarktbilanz beeinträchtigt, weil ein schwächeres
Wachstum das Angebot an Arbeitsplätzen verringert. Ein weiteres
Beispiel für gegenläufige Auswirkungen ist der Wohnungsmarkt. Hier hat
die demographische Entwicklung eine dreifache Wirkung. Erstens schwächt sich
die Nachfrage nach Wohnraum wegen der Dämpfung des Wirtschaftswachstums und
der Kaufkraft ab. Zweitens geht langfristig mit der schrumpfenden Bevölkerung
die für die Nachfrage nach Wohnraum wichtige Zahl der Mehrpersonenhaushalte
zurück. In Deutschland wird zwar vor allem die Zahl der Einpersonenhaushalte
wegen der schon seit Jahrzehnten im Gange befindlichen Verkleinerung der durchschnittlichen
Haushaltsgröße noch vorübergehend wachsen. Der Prozeß der
Bevölkerungsschrumpfung intensiviert sich jedoch immer stärker, so daß
nach 2020 schließlich die Gesamtzahl der Haushalte permanent abnimmt. In
den neuen Bundesländern setzt der Rückgang wegen der dort schon seit
1989 stark schrumpfenden Bevölkerung wesentlich früher ein, wahrscheinlich
schon zwischen 2005 und 2010. Drittens ändert sich demographisch bedingt
das Konsumverhalten, das Sparverhalten und das Anspruchsniveau in bezug auf die
qualitative und quantitative Versorgung mit Wohnraum. Für die Berechnung
der Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwiklung, den Arbeits- und Wohnungsmarkt,
die Umwelt und andere Bereiche sind demographische Vorausberechnungen unerläßlich.
Diese Berechnungen sind die Grundlage für wissenschaftliche Prognosen, die
stets die Form von Wenn-Dann-Sätzen haben. Sie unterscheiden sich von den
als Vorhersagen und Prophetien bezeichneten nichtwissenschaftlichen Aussagen über
die Zukunft dadurch, daß die Bedingungen und Annahmen explizit angegeben
werden, von denen ihr Eintreffen abhängt. Eine nichtwissenschaftliche Aussage
über die Zukunft stellt lediglich fest, was der Fall sein wird, ohne daß
es möglich ist, zu beurteilen, auf Grund welcher Annahmen die Aussage zustande
kam und wie verläßlich sie ist. Alle Bevölkerungsvorausberechnungen
enthalten Annahmen über die künftige Entwicklung der Geburtenrate (gemessen
an der Zahl der Lebendgeborenen pro Frau), der Sterberate (abgestimmt mit den
Annahmen über die Entwicklung der Lebenserwartung) und der Migrationsrate
(Ein- und Auswanderungen bzw. Wanderungssaldo als Differenz zwischen beiden).
Werden mehrere unterschiedliche Annahmen formuliert, um das Intervall der künftigen
Entwicklung abzustecken, indem z.B. alternativ eine hohe, eine mittlere und eine
niedrige Geburtenrate zugrunde gelegt wird, spricht man von »Bevölkerungsprojektionen«.
Als »Bevölkerungsprognose« wird eine Vorausberechnung bezeichnet,
bei der aus der Vielzahl möglicher Annahmen diejenige ausgewählt wird,
der man den höchsten Grad an Wahrscheinlichkeit beimißt. Von einer
bloßen »Modellrechnung« spricht man, wenn die Annahmen beliebig
gesetzt werden, ohne sie nach ihrer Wahrscheinlichkeit zu bewerten. Ein Beispiel
solcher Modellrechnungen sind die sogenannten »probabilistischen Bevölkerungsvorausberechnungen«,
bei denen die Auswahl der Annahmen für die Geburten-, Sterbe- und Migrationsrate
gleichsam blind vorgenommen wird, indem mittels des Computers eine Zufallsstichprobe
aus einem vorgegebenen Intervall für die Geburtenrate, die Sterberate und
die Migrationsrate gezogen wird. Aus Tausenden solcher mit Zufallsstichproben
gezogener Annahmen und den daraus abgeleiteten Bevölkerungsvorausberechnungen
läßt sich das Gesamtergebnis anschließend z.B. als Durchschnitt
ermitteln. Die entsprechenden Ergebnisse sind jedoch für die Politik weniger
relevant und dienen meist nur analytischen Zwecken.Bevölkerungsprognosen
und -projektionen haben sich in den letzten Jahrzehnten als erstaunlich genau
erwiesen. Im Jahr 1958 veröffentlichte z.B. die Bevölkerungsabteilung
der Vereinten Nationen eine Bevölkerungsprojektion für die Weltbevölkerung
bis zum Jahr 2000. Das Ergebnis war 6267 Mio. Zum Vergleich: Im Jahr 1950 betrug
die Weltbevölkerung 2521 Mio.. Die Differenz zwischen der vor mehr als vier
Jahrzehnten vorausberechneten und der tatsächlichen Zahl für 2000 (6,1
Mrd.) beträgt 3,5%. Der eigentliche Prognosefehler ist aber noch niedriger,
denn in den 80er und 90er Jahren hat die Bevölkerungsabteilung der UN die
Bevölkerungszahlen für die Entwicklungsländer ohne zuverlässige
demographische Statistiken für die Vergangenheit zurück bis 1950 mehrmals
revidiert. Dabei wurden die Geburtenraten in vielen Entwicklungsländern nach
unten gesetzt. Wäre die 1958 veröffentlichte UN-Projektion schon auf
der Grundlage der später nach unten revidierten Datenbasis erarbeitet worden,
läge die Prognose noch näher an der tatsächlichen Zahl, die Differenz
dürfte dann 2% oder weniger betragen. Auch für einzelne Länder
erwiesen sich die demographischen Vorausberechnungen als relativ zuverlässig.
Für die frühere Bundesrepublik beträgt z.B. die Differenz zwischen
dem auf der Basis der Volkszählung von 1970 für das Jahr 1985 vorausberechneten
Ergebnis und der tatsächlichen Zahl 1,2%. Dabei ist zu beachten, daß
die Berechnungen für einzelne Länder wie Deutschland wegen der hohen
Migrationsströme größeren Fehlerrisiken unterliegen als eine Weltbevölkerungsprognose,
bei der sich die Fehler bei den Migrationsprognosen für die einzelnen Länder
kompensieren. Die im Vergleich zu Wirtschaftsprognosen hohe Treffsicherheit
demographischer Vorausberechnungen beruht nicht auf irgendwelchen besonderen Fähigkeiten
der Demographen, mit denen sie sich z.B. von Wirtschaftswissenschaftlern unterscheiden,
zumal die meisten Demographen ohnehin spezialisierte Wirtschaftswissenschaftler
sind, sondern auf der hohen Trägheit der Bevölkerungsentwicklung, die
wiederum dadurch zu erklären ist, daß die beiden wichtigsten demographischen
Prozesse - der die Geburtenzahl bestimmende Fortpflanzungsprozeß und der
die Zahl der Sterbefälle bestimmende Mortalitätsprozeß - in entscheidender
Weise von der gut vorausberechenbaren Altersstruktur abhängen. (Zitat-Ende).ä
7. Bevölkerungsvorausberechnungen für Deutschland im 21. Jahrhundert
(S. 97-118):

-
Deutschland - |
Die hohe Genauigkeit der
... UN-Weltbevölkerungsprojektionen aus den 1950er Jahren für das Jahr
2000 zeigt, daß auch bei langfristigen Vorausberechnungen relativ zuverlässige
Ergebnisse möglich sind.Die Zahl der Geburten und Sterbefälle
sowie die Differenz - der Geburtenüberschuß bzw. das Geburtendefizit
...Systemtische
Übersicht über die 36 Varianten der Vorausberechnungen und deren Annahmen |
Wanderungssaldo | Lebenserwartung
(M/W ) | Geburtenrate: 1,4 | Geburtenrate:
1,6 | Geburtenrate: 2,1 | Null
(0) | Niedrig (81/87) Mittel (84/90) Hoch (87/93) | 1 2 3 | 13 14 15 | 25 26 27 |
Niedrig (150000) | Niedrig
(81/87) Mittel (84/90) Hoch (87/93) | 4 5 6 | 16 17 18 | 28 29 30 |
Mittel (225000) | Niedrig
(81/87) Mittel (84/90) Hoch (87/93) | 7 8 9 | 19 20 21 | 31 32 33 |
Hoch (300000) | Niedrig
(81/87) Mittel (84/90) Hoch (87/93) | 10 11 12 | 22 23 24 | 34 35 36 |
Das
markanteste Ergebnis der demographischen Vorausberechnung ist die folgende gegenläufige
Entwicklung: Die Zahl der Sterbefälle nimmt zu, die Zahl der Geburten ab.
Dadurch erhöht sich das Geburtendefizit.Die demographische Alterung
läuft ab wie ein Uhrwerk, ihre zentralen Konsequenzen sind die Bevölkerungsschrumpfung
und die Internationalisierung der Bevölkerungsentwicklung ... durch Einwanderungen
sowie die daraus folgenden Integrationsproblme. Die demographische Alterung kann
durch politische Maßnahmen nicht mehr abgewendet werden.Aus den
Berechnungen ergibt sich folgende Erkenntnis: Mit Einwanderungen in einer für
die Gesellschaft akzeptablen, integrierbaren Größenordnung läßt
sich weder die demographische Alterung noch die Bevölkerungsschrumpfung verhindern.
Wenn man z.B. den Anstieg des Altenquotienten durch die Einwanderung Jüngerer
ganz verhindern wollte, müßte Deutschland bis 2050 netto 188 Mio. Einwanderer
aufnehmen. Die Zahl ist deshalb so groß, weil jüngere Einwanderer den
Altenquotienten nur kurzfristig verringern, aber langfristig erhöhen, wenn
sie selbst zur Gruppe der 60jährigen und Älteren gehören. (Vgl.
UN (Hrsg.], Replacement Migration, 2000, Tabelle IV.7, S. 25; vgl. meinen
Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12.04.2000).Fazit:
Die einzige, allerdings nur langfristig erfolgsversprechende Weg zurück zu
einer weniger gravierenden Alterung ist eine Zunahme der Geburtenrate auf rd.
2,1 Lebendgeborene pro Frau. (Und das heißt: Deutsche
Frau! Anm. HB*).
Die zusätzlich geborenen Kinder müßten jedoch erst ihrerseits
mehr Kinder zur Welt bringen, damit sich die Altersstruktur allmählich ändert,
so daß es bis zum Jahr 2080 dauern würde, bis das Geburtendefizit wieder
verschwände (ohne Wanderungen). Bis dahin würde sich die Bevölkerungsschrumpfung
jedoch auch bei einem z.B. bis 2025 erreichten Anstieg der Geburtenrate auf 2,1
Geburten pro Frau fortsetzen, und die Bevölkerungszahl würde z.B. auf
66,5 Mio. im Jahr 2080 abnehmen. Auch die demographische Alterung würde sich
noch intensivieren. Der Altenquotient betrüge dann z.B. im Jahr 2080 63,0
(zu den Annahmen dieser Variante siehe
Tabelle: Variante 25). (Zitat-Ende).ä
8. Bevölkerungsvorausberechnungen für Europa und die südlichen
Anrainerstaaten des Mittelmeers (S. 119-136):Ausgangspunkt der
folgenden betrachtung ist der Tatbestand der weltweiten Abnahme der Geburtenrate
in den Industrie- und Enwtwicklungsländern in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts. Die Zahl der Lebendgeborenen pro Frau nahm im Weltdurchschnitt
von 1950-55 bis 1995-2000 von 5,0 auf 2,8 ab. In den Entwicklungsländern
war der Rückgang prozentual etwa ebenso stark (genau
gesagt: etwas stärker! Anm. HB*)
wie in den Industrieländern: Abnahme von 6,2 auf 3,1 (Entwicklungsländer
[Rückgang: 50%; Anm. HB*])
bzw. von 2,8 auf 1,6 (Industrieländer [Rückgang:
42,86%; Anm. HB*]).
In Westeuropa sank die Geburtenzahl pro Frau von 2,4 auf 1,5 (Rückgang:
37,5%; Anm. HB*).In
Deutschland (alte und neue Bundesländer) erhöhte sich die Zahl der Lebendgeborenen
pro Frau im sogenannten »Nachkriegs-Babyboom« zunächst von 1950-55
bis 1960-65 von 2,16 auf 2,49, anschleißend ging sie bis 1995-2000 auf 1,30
zurück. Für Europa (inklusive Rußland; Anm.
HB*)
insgesamt mit seinen 728 Mio. Einwohnern im Jahr 2000 lauten die Zahlen 2,57 (1950-55),
2,56 (1960-65) und 1,42 (1995-2000). (Vgl. UN [Hrsg.], World
Population Prospect - The 2000 Revision, 2001).Durch das starke
Bevölkerungswachstum in den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers
steigt der Einwanderungsdruck in die Länder der EU allein schon demographisch
bedingt an. Hinzu kommt die magnetische Anziehungskraft des hohen Lebensstandards
in Europa, der in Verbindung mit Rechtssicherheit, geordneten Lebensbedingungen,
vergleichsweise geringer Kriminalität und einer das Existenzminimum garantierenden
staatlichen Sozialhilfe eine um so größere Wirkung entfaltet, je perspektivloser
die Entwicklung in den Herkunftsländern der potentiellen Einwanderer ist.In
Europa folgte auf den generellen Abnahmetrend der Geburtenzahl pro Frau eine Schrumpfung
der absoluten Geburtenzahlen. Die Schrumpfung beruhte vor allem auf einem Wandel
des Fortpflanzungsverhaltens, nicht auf einer Änderung der für die absolute
Geburtenzahl ebenfalls wichtigen Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter.
Die Gründe des Verhaltenswandels sind vielfältig, sie umfassen ein breites
Spektrum von Faktoren, darunter der sogenannte Wertewandel und die »sexuelle
Befreiung«, die Emanzipation der Frau und die mit dem schon erläuterten
»demo-ökonomischen Paradoxon« (Kapitel
3) zusammenhängenden okonomischen Faktoren (»Opportunitätskosten
von Kindern«), wobei die im 20. Jahrhundert immer stärker perfektionierte
Absicherung gegen die elementaren Lebensrisiken durch die moderne Sozialversicherung,
die schließlich eigene Kinder als eine Art familienbegründete Sozialversicherung
entbehrlich macht, eine entscheidende Rolle spielte.Diese Faktoren bieten
zwar streng genommen nur eine Beschreibung und noch keine Erklärung für
die Änderung des Fortpflanzungsverhaltens, weil sie voneinander abhängen
und ihrerseits erklärungsbedürftig sind.Durch das starke Bevölkerungswachstum
in den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers steigt der Einwanderungsdruck
in die Länder der EU allein schon demographisch bedingt stark an. Hinzu kommt
die magnetische Anziehungskraft des hohen Lebensstandards in Europa, der in Verbindung
mit Rechtssicherheit, geordneten Lebensbedingungen, vergleichsweise geringer Kriminalität
und einer das Existenzminimum garantierenden staatlichen Sozialhilfe eine um so
größere Wirkung entfaltet, je perspektiloser die Entwicklung in den
Herkunftsländern der potentiellen Einwanderer ist. (Zitat-Ende).Wanderungen
zwischen Deutschland sowie anderen europäischen und außereuropäischen
Ländern | | Zuzüge
(in 1000) | Fortzüge (in 1000) | Saldo
(in 1000) | | 1994 | 1997 | 1994 | 1997 | 1994 | 1997 |
Europäisches Ausland EU-Staaten (15 Staaten) Ehemaliges
Jugoslawien Polen Übriges Europa
|
756 185 155 88 263 |
554 180 54 86 177 |
553 171 116 70 148 |
569 198 153 79 91 |
203 14 39 18
115 | 15 18 100
7 86 | Außereuropäisches
Ausland Türkei Afrika Amerika Asien (einschließlich
ehemalige UdSSR) Australien und Ozeanien |
309 65 38 44
224 3
| 270
57 37 47 183
3 | 153 47
38 47 64 4 |
158 47 27 53
73 4 | 155
18 0 3 160
1 | 112
10 10 6 110
1 | Unbekanntes Ausland |
5 | 7 |
35 | 15 |
29 | 8 | Insgesamt | 1083 |
841 | 768 |
747 | 315 |
94 |
ä
9. Veränderungen der Zahl und Größe der privaten Haushalte und
des Bedarfs an Wohnraum - regionale und sozialräumliche Aspekte (S. 137-159):Eine
der sichtbarsten Auswirkungen des demographischen wandels ist die Veränderung
der Zahl und Größe der privaten Haushalte und des Wohnungsbedarfs.
Die Vorboten dieser Entwicklung sind bereits an den zunehmenden Wohnungsleerständen
und den vielerorts sinkenden Immobilienpreisen erkennbar. Im folgenden werden
die Zahl und Größenstruktur der privaten Haushalte aus den Ergebnissen
der Bevölkerungsvorausberechnungen abgeleitet und die sich daraus ergebenden
Schlußfolgerungen für die Entwicklung des Wohnungsbedarfs in Deutschland
dargestellt. Dabei erweist sich die oft vernachlässigte regionale und die
sozialräumliche Dimension der demographischen Entwicklung als ein besonders
wichtiges Problem.Der Bedarf an Wohnraum ändert sich im Lebensverlauf
in Abhängigkeit vom Alter und von der jeweiligen Phase im Familienbildungsprozeß,
wobei insbesondere der Familienstand (ledig, verheiratet, verwitwet, geschieden)
mit dem betreffenden Haushaltstyp (Ein- oder Mehrpersonenhaushalt) und dem sich
daraus ergebenden Bedarf an Wohnraum zusammenhängt. Umgekehrt werden jedoch
das Eheschließungsverhalten und die Geburtenrate zum Teil auch von der Verfügbarkeit
an geeignetem Wohnraum beeinflußt. Ein Prognosemodell für die Vorausschätzung
des Wohnungsbedarfs müßte daher idealerweise aus mehreren miteinander
gekoppelten Teilmodellen bestehen, vor allem aus einem Bevölkerungs-, einem
Familien- und einem Haushaltsmodell. Mit einem solchen Idealmodell müßten
alle wesentlichen Beziehungen zwischen den zentralen Größen quantitativ
beschrieben und prognostiziert werden. Die verschiedenen Teilmodelle müßten
außerdem mit einem Wirtschaftsmodell gekoppelt werden, das die Einkommensentwicklung
abbildet, um daraus auch die kaufkräftige Nachfrage nach Wohnraum zu bestimmen.
Ein derartiges Gesamtmodell läßt sich zwar in der Form eines Systems
aus Gleichungen entwerfen, mit denen die Beziehungen zwischen den interessierenden
Größen beschrieben werden, denn das dafür erforderliche theoretische
Wissen ist größtenteils verfügbar, aber das genügt nicht.
Die Anwendung eines solchen Modells scheiterte in der Praxis bisher nicht nur
daran, daß die empirischen Daten für die Füllung des Gleichungssystems
fehlen, sondern die Art des Gleichungssystems selbst änderte sich in den
vergangenen Jahrzehnten auf Grund des Wandels der demographischen, sozialen und
ökonomischen Verhaltensweisen so rasch, daß die Datenerhebung und Modellbildung
stets um einige Jahre hinter der tatsächlichen Entwicklung zurückblieb,
wobei sich der Abstand zwischen Modell und Realität tendenziell vergrößerte.
So krankt z.B. das z.Zt. anspruchsvollste Modell zur Bevölkerungs- und Haushaltsprognose,
das vom Rostocker Max-Planck-Institut für demografische Forschung entworfen
wurde, und das vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung mit Daten
gefüllt werden soll, u.a. daran, daß das Bevölkerungsmodell keine
Ein- und Auswanderungen enthält und daß die Unterschiede zwischen den
Deutschen und den Zugewanderten in bezug auf die Geburtenrate, das Eheschließungsverhalten,
die Haushaltsgröße und sämtliche anderen relevanten Verhaltensweisen
nicht berücksichtigt werden. Es läßt sich z. Zt. noch nicht absehen,
ob und gegebenenfalls wann das Modell in der Zukunft einmal in einer anwendungsreifen
Form vorliegen wird. Bis dahin werden Haushaltsprognosen wie bisher mit Methoden
durchgeführt, die zwar weniger differenziert sind, aber für die Praxis
dennoch brauchbare Ergebnisse liefern.Die privaten Haushalte und der
Wohnungsbedarf werden stark von der Bevölkerungszahl und der Altersstruktur
beeinflußt. Der Einfluß der Altersstruktur beruht auf den mit dem
Alter stark variierenden Lebensformen im Lebenszyklus. In der Altersgruppe unter
20 leben z.B. mehr als zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen im Haushalt ihrer
Eltern. Ein Rückgang der Geburtenzahl bewirkt daher unmittelbar einen Rückgang
des Anteils der Haushalte mit drei und mehr Personen. In der Altersgruppe 20 bis
30 sinkt der Anteil der unverheiratet bei ihren Eltern lebenden Kinder durch den
Auszug aus dem Elternhaus auf ein Viertel, im höheren Alter auf ein Zehntel.
Die Größe der Altersgruppe 20 bis 40 ist entscheidend für die
Zahl der verheiratet zusammenlebenden Menschen. Die Besetzungsstärke hängt
von der Geburtenrate in der vorangegangenen Generation ab, außerdem von
der Eheschließungs- und Scheidungsrate. Die Geburten-, Eheschließungs-
und Scheidungsraten beeinflussen wiederum gemeinsam die Zahl der Allienlebenden.
Die entsprechenden Zusammenhänge sind bei Männern und Frauen unterschiedlich,
so steigt z.B. der Anteil der Alleinlebenden mit dem Alter bei den Frauen wesentlich
stärker an als bei den Männern, wobei die bei den Frauen um rd. 6 Jahre
höhere Lebenserwartung eine bedeutsame Rolle spielt.Das Haushaltsbildungs-
und -auflsöungsverhalten ist ein komplexes Phänomen, bei dem sozialdemographische
und ökonomische Verhaltensweise eng zusammenwirken. Die wichtigsten demographischen
faktoren sind: (1) die Höhe der Geburtenraten für Erste, Zweite, Dritte
und weitere Kinder, (2) das Lösungsverhalten der Kinder von den Eltern und
die Gründung eines eigenen Haushalts, (3) die Entwicklung des Heirats- und
Scheidungsverhaltens und des Wiederverheiratungsverhaltens, (4) die Häufigkeit
von nicht ehelichen Lebensgemeinschaften, (5) die vom Alter, Geschlecht und Geburtsjahrgang
abhängige Mobilität, (6) die nach Alter, Geschlecht und Geburtsjahrgang
differierende Sterblichkeit und Lebenserwartung sowie (7) die Häufigkeit
von Lebensformen mit mehreren Wohnunngen.Die aufgeführten Verhaltensweisen
differeieren zusätzlich nach der Staatsangehörigkeit (genauer
gesagt: Kulturzugehörigkeit! Anm. HB*)
und dem regionalen Lebensraum. Wegen der höheren Geburtenrate der Ausländer
(nur bestimmter Ausländer! Anm. HB*)
und der jüngeren Alterststruktur (nein: nur bei bestimmten
Ausländern! Anm. HB*)
ist z.B. der Anteil der Personen, dein größeren Haushalten leben, mehr
als doppelt so hoch wie bei den Deutschen (vgl. Tabelle).
Dieses und die folgenden Analyseergebnisse beruhen auf der Mikrozensus-Erhebung
des Statistischen Bundesamtes von 1998.Bevölkerung
in Privathaushalten mit 1, 2, 3, 4, 5, 6 und mehr Personen (1998) in % |
| 1 | 2 | 3 | 4 | 5
und mehr | Deutsche | 16,8% | 31,5% | 20,7% | 21,5% |
9.6% | Ausländer | 10,0% | 16,6% | 20,1% | 27,5% | 25,7% |
Nicht
nur die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen, sondern auch die regionalen
Unterschiede der sozialdemographischen Verhaltensweisen sind beträchtlich.
Wie bereits erläutert, unterscheidet sich die Geburtenzahl pro Frau für
die gleiche Generation bei einem Vergleich zwischen den verschiedenen Regionen
stärker als für die gleiche Region bei einem Vergleich der verschiedenen
Generationen. Der Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Haushalten ist insbesondere
wegen der niedrigeren Geburtenrate in Städten mit 500000 u.m. Einwohnern
wesentlich größer (47,9%) als in den kleinen Siedlungen (36,2%). (Vgl.
Tabelle).
Im Umland von Berlin (Brandenburg) betrug er z.B. 1994 27,7%, in Berlin-West 49,6%
und in Berlin-Ost 41,2%.Anteil
der Einpersonenhaushalte an allen Haushalten (1998) in % | | Im
Landesgebiet | In Städten
mit 500000 u.m. Einwohnern | 1970 | 25,5% | 27,0% |
1980 | 30,2% | 42,2% |
1990 | 35,0% | 46,5% | 1998 | 36,2% | 47,9% |
Für
die Ableitung der Haushalte aus den Bevölkerungsvorausschätzungen ist
wichtig, daß die Häufigkeit der Eheschließungen ebenso wie die
Geburtenrate seit Anfang der 1970er Jahre stark abgenommen hat. Die Heiratsneigung
läßt sich quantitativ messen, und zwar durch die nach einzelnen Altersjahren
untergliederten Zahlen der Erstheiraten auf 1000 Einwohner. Gleichzeitig mit der
abnehmenden Heiratsneigung hat sich die Zahl der gerichtlichen Ehelösungen
permanent erhöht. Der Saldo aus der Zahl der Eheschließungen und der
Summe aller gerichtlichen und sonstigen Ehelösungen war in der früheren
Bundesrepublik seit 1975, in der früheren DDR schon seit 1965, negativ .
(Vgl. J. Dorbritz und K. Gärtner, Bericht über
die demographische Lage in Deutschland, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft,
4, 1998. S. 377f.). Diese Trends wirken sich in einer Abnahme der Zahl
der Mehrpersonenhaushalte aus. (Zitat-Ende).
Zum
Beispiel 1994: Berlin-West: 49,6% Berlin-Ost: 41,2% Brandenburg::
27,4% 
-
Deutschland - |
Entwicklung
der Ein- und Mehrfamilienhaushalte von 1950 bis 1998 mit Vorausberechnungen bis
2050 | | Personen
je Haushalt | Anteil
der 1-Personen-Haushalte in % | 1950 | Einpersonenhaushalte Mehrpersonenhaushalte Summe | 1,00 3,47 2,99 | 19,4% |
1978 | Einpersonenhaushalte Mehrpersonenhaushalte Summe | 1,00 3,15 2,52 | 29,3% |
1988 | Einpersonenhaushalte Mehrpersonenhaushalte Summe | 1,00 2,94 2,26 | 34,9% |
1998 | Einpersonenhaushalte Mehrpersonenhaushalte Summe | 1,00 2,84 2,19 | 35,4% | 2015 | Einpersonenhaushalte Mehrpersonenhaushalte Summe | 1,00 2,70 2,08 | 36,7% | 2030 | Einpersonenhaushalte Mehrpersonenhaushalte Summe | 1,00 2,65 2,00 | 39,2% | 2050 | Einpersonenhaushalte Mehrpersonenhaushalte Summe | 1,00 2,60 1,96 | 39,8% |
Vorausberechnungen
der Bevölkerung nach Altersgruppen in Einpersonenhaushalten von 1998 bis
2050 | | | 0-20
Jahre | 20-40 Jahre | 40-60 Jahre | 60
u.m. Jahre | | Insgesamt | 1998 | Einpersonenhaushalte Mehrpersonenhaushalte SUMME |
112 000 17 336 000 17 448 000 |
4 395 000 19 144 000 23 539 000 | 1 881
000 19 730 000 21 611 000 | 5 908 000 12
612 000 18 520 000 | | 13 297
000 68 822 000 82 119 000 | 2015 | Einpersonenhaushalte Mehrpersonenhaushalte SUMME |
99 000 13 992 000 14 091 000 |
3 748 000 14 994 000 18 742 000 | 3 531
000 21 693 000 25 224 000 | 6 991 000 16
312 000 23 303 000 | | 14 369
000 66 991 000 81 360 000 | 2030 | Einpersonenhaushalte Mehrpersonenhaushalte SUMME |
84 000 11 877 000 11 961 000 |
3 582 000 12 700 000 16 282 000 | 2 978
000 16 876 000 19 854 000 | 8 519 000 20
858 000 29 377 000 | | 15 163
000 62 311 000 77 474 000 | 2050 | Einpersonenhaushalte Mehrpersonenhaushalte SUMME |
68 000 9 653 000 9 721 000 |
3 071 000 10 281 000 13 352 000 | 2 563
000 14 751 000 17 314 000 | 8 068 000 19
751 000 27 819 000 | | 13 770
000 54 206 000 67 976 000 |
ä
10. Notwendige Vorüberlegungen zur Erforschung der wirtschaftlichen Auswirkungen
(S. 160-169):Die demographische Entwicklung hat für die Wirtschaft,
die Gesellschaft, die Politik und Kultur so hohe Bedeutung, daß für
die Darstellung der entsprechenden Auswirkungen ein ganzes Buch erforderlich wäre.
Der Umfang des folgenden Kapitels würde nicht einmal ausreichen, um die vielfältigen
Aspekte dieses Themas auch nur einigermaßen vollständig aufzulisten.
Etwas Derartiges wird hier auch gar nicht versucht. Die folgenden Überlegungen
sind vielmehr prinzipieller Art: Es wird gefragt, welche Vergleiche bei der ökonomischen
Auswirkungsforschung angestellt werden sollten, welche Maßstäbe für
eine Messung der demographischen Auswirkungen geeignet und wie die Ergebnisse
der vergleichenden Messungen aus wirtschaftspolitischer Sicht zu bewerten sind.
Da auch diese Fragen zu umfangreich sind, um in diesem Kapitel erschöpfend
behandelt zu werden, soll die Betrachtung auf jene prinzipiellen Probleme konzentriert
werden, denen auch in umfangreichen Büchern oft zu wenig Platz eingeräumt
wird. Was ist das wichtigste prinzipielle Problem? Auf diese Frage
läßt sich eine klare Antwort geben. Um sie zu begründen, muß
auf ein Ergebnis der theoretischen Demographie eingegangen werden, das sich mit
den Mitteln der Schulmathematik ableiten läßt. Es läßt sich
mathematisch beweisen, daß unter den unzähligen denkbaren demographischen
Entwicklungsverläufen eine Variante mit besonderen Eigenschaften existiert,
die für eine Beurteilung der Auswirkungen aus ökonomischer Sicht besonders
wichtig ist. Bei dieser Variante ist die Summe aus den ökonomischen Belastungen
der mittleren Generation durch die Unterstützung der noch nicht erwerbstätigen
Kindergeneration und durch die Leistungen für die nicht mehr erwerbstätige,
ältere Generation am geringsten. Der mathematische Beweis stützt
sich auf ein Drei-Generationen-Modell, das für alle Gesellschaften relevant
ist, unabhängig davon, wie sie politisch und rechtlich verfaßt sind.
Die Voraussetzungen des Modells sind einfach: Die mittlere Generation leistet
Unterstützungszahlungen an die Generation ihrer Kinder in Höhe von a
Geldeinheiten pro Kopf der Kindergeneration sowie Unterstützungszahlungen
in Höhe von b pro Kopf ihrer Elterngeneration.
Umgekehrt empfängt die Generation während ihrer Jugendphase Unterstützungszahlungen
von ihrer Elterngeneration und während ihrer Altersphase von ihrer Kindergeneration.
Diese Drei-Generationen-Verflechtung, die sich als Drei-Generationen-Vertrag interpretieren
läßt, soll für jede Generation gelten. Dann läßt sich
folgendes Ergebnis ableiten: Der Quotient aus den von einer Generation geleisteten
zu den von ihr empfangenen Unterstützungszahlungen, für den ich den
Begriff »intergenerationaler Transferquotient« vorgeschlagen habe,
ist dann am geringsten, wenn so viele Kinder geboren werden, daß die sogenannte
Nettoreproduktionsrate gleich der Wurzel des Quotienten aus b
und a ist. Dabei läßt sich der Begriff
der Nettoreproduktionsrate in Gesellschaften mit niedriger Sterblichkeit, insbesondere
in Deutschland, auf einfache Weise aus der Geburtenzahl pro Frau herleiten, er
ist als Zahl der weiblichen Nachkommen pro Frau definiert, entspricht also etwa
der Hälfte der der Geburtenzahl pro Frau: | | b
= Eltern(generation)-Unterstützung (in Geldeinheiten pro Kopf) a
= Kinder(generation)-Unterstützung (in Geldeinheiten pro Kopf) |
Für
den Sonderfall, daß die Unterstützungszahlen pro Kopf der älteren
und der jüngeren Generation gleich sind, hat die Nettoreproduktionsrate,
die den Transferquotienten minimiert, den Wert 1, d. h. die demographischen Belastungen
sind in diesem Fall genau dann minimal, wenn pro Frau zwei Kinder geboren werden.
Da sich auch aus Befragungen immer wieder ergibt, daß in der Bevölkerung
zwei Kinder als ideal gelten, stimmt das Ergebnis der mathematischen Analyse mit
den subjektiven Vorstellungen über die ideale Kinderzahl überein. Diese
Übereinstimmung hat eine große politische Bedeutung, denn sie führt
zu der Frage, warum der demographische Zustand der modernen Wirtschaftsdemokratien
so stark vom mathematischen Optimum und von den Idealvorstellungen der Gesellschaftsmitglieder
abweicht, deren große Mehrheit eine Kinderzahl von zwei für ideal hält
? Man sollte also erwarten, daß wirtschafts- und gesellschaftswissenschaftliche
Analysen über die Auswirkungen der demographischen Entwicklung nicht nur
die faktische demographische Veränderung in der Vergangenheit bzw. die prognostizierte,
wahrscheinliche Entwicklung in der Zukunft zum Gegenstand haben, sondern auch
die Frage einbeziehen, wie weit und warum die faktische bzw. die prognostizierte
Entwicklung und die oben definierte »optimale« Entwicklung voneinander
abweichen, um über Maßnahmen nachzusinnen, mit denen sich die absehbare
Entwicklung so weit wie möglich an die optimale annähern läßt.
Daß diese Frage bisher fast vollständig aus den Auswirkungsanalysen
ausgeklammert wurde, liegt an der verständlichen Scheu vor ihren weitreichenden
politischen Folgen. Eine Bevölkerungspolitik, die eine Nettoreproduktionsrate
von 1,0 anstrebt, wird von keiner im Deutschen Bundestag vertretenen Partei vorgeschlagen.
Dies liegt zum großen Teil an der Belastung des Begriffs »Bevölkerungspolitik«
durch frühere Inhalte aus der Zeit des Nationalsozialismus. Daß der
Begriff »Bevölkerungspolitik« in unserer Gesellschaft statt mit
rassistischen und totalitären Bedeutungen auch mit einem an demokratischen
Zielen orientierten Inhalt gefüllt werden könnte, dessen Basis die Anerkennung
einer gesellschaftlichen und politischen Verantwortung für die nachwachsenden
Generationen sein müßte, ist noch nicht in das öffentliche Bewußtsein
gedrungen. Es ist jedoch hohe Zeit, daß die allgemein begrüßten
familienpolitischen Wirkungen unserer Sozialpolitik auf die Geburtenzahl ebenso
wie die demographischen Wirkungen , der bisher ungesteuerten Einwanderungen in
eine »bevölkerungspolititische«, »demographiepolitische«
oder wie auch immer bezeichnete gesellschaftspolitische Rahmenkonzeption integriert
werden. Die Wortwahl auf diesem sensibelsten aller politischen Gebiete ist von
größter Bedeutung. Aber für das semantische Problem ließen
sich sicherlich Lösungen finden, wenn danach gesucht würde.
Die Scheu vor dieser Thematik ist nicht nur in der Politik, sondern auch in der
Wissenschaft verbreitet. Aber wenn die Frage nach der optimalen Entwicklung mit
mehr oder weniger guten oder auch fragwürdigen Gründen aus der politischen
Diskussion ausgeklammert wird, rechtfertigt das nicht, sie auch in den wissenschaftlichen
Analysen zu vernachläsigen. Trotzdem wird gerade in der Wissenschaft der
wachstumsdämpfende Effekt einer niedrigen Geburtenrate häufig mit dem
Hinweis darauf verharmlost, daß schon eine jähriche Wachstumsrate des
realen Bruttoinlandsprodukts von z.B. 1,7% ausreichen würde, um das heutige
Volkseinkommen bis zum Jahr 2040 real - also nach Abzug von Preissteigerungen
- zu verdoppeln. Damit soll ausgedrückt werden, daß die Leistungsfähigkeit
moderner Volkswirtschaften so groß ist, daß die demographisch bedingten
Wachstumseinbußen nicht ins Gewicht fallen. Die Aussage, daß sich
das Volkseinkommen schon bei einer mäßigen Wachstumsrate von 1,7% pro
jahr bis 2040 verdoppelt, ist zwar mathematisch richtig, aber sie bleibt unvollständig,
wenn nicht mit betrachtet wird, welches Wachstum mit einer höheren Geburtenrate
verbunden wäre. Hält man bei einer demographischen Entwicklung
mit höherer Geburtenrate, wie sie z. B. in den USA mit rd. zwei Kindern pro
Frau vorliegt, eine Wachstumsrate des Volkseinkommens von z.B. 2,5% für möglich
und bei niedrigerer Geburtenrate nur eine mäßigere von z.B. 1,7%, so
stehen die Niveaus der beiden Volkseinkommen nach 40 Jahren, also z.B. vom Jahr
2000 aus betrachtet im Jahr 2040, zueinander im Verhältnis von 270 zu 200,
wobei das anfängliche Volkseinkommen gleich 100 gesetzt ist. Es ergibt sich
also ein beträchtlicher Unterschied, der klar für eine positive demographische
Entwicklung als Faktor des Wirtschaftswachstums spricht oder - vorsichtiger formuliert
- zu sprechen scheint, denn die Rechnung läßt sich auch anders aufmachen
und führt dann zu einem gänzlich anderen Resultat, was sich an Hand
des gleichen Beispiels zeigen läßt. Das eindeutig scheinende
Ergebnis des Sozialproduktvergleichs erweist sich als zweifelhaft, wenn man als
Vergleichsmaßstab das Pro-Kopf-Einkommen statt des Volkseinkommens wählt.
Die Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens läßt sich mathematisch als
Differenz aus den Wachstumsraten des Volkseinkommens und der Bevölkerungszahl
berechnen. Wendet man diese Erkenntnis an, indem man in dem obigen Beispiel unterstellt,
daß die Bevölkerung bei hoher Geburtenrate z.B. um 0,7% p.a. wächst
und bei niedriger um 0,7% p.a. schrumpft, kehrt sich das Ergebnis um: Das Pro-Kopf-Einkommen
nimmt dann im Fall der ungünstigen demographischen Entwicklung mit einer
jährlichen Wachstumsrate von 2,4% zu (= 1,7 -(-0,7)) und im Fall der günstigen
demographischen Entwicklung nur mit 1,8% (= 2,5-0,7). Die Bevölkerungsschrumpfung
ist also für das Pro-Kopf-Einkommen günstiger als das Bevölkerungswachstum,
d.h. das Ergebnis der vorstehenden Betrachtung verkehrt sich ins Gegenteil.Die
beiden Beispiele zeigen, wie wichtig es für die Auswirkungsforschung ist,
die prinzipielle Frage nach dem geeigneten Vergleichsmaßstab zu klären,
bevor Empfehlungen für die Politik abgegeben werden. Diese naheliegende Einsicht
wird jedoch allzu oft vernachlässigt. Dabei ist die Maximierung des Pro-Kopf-Einkommens
nur aus kurzfristiger Sicht ein so plausibles Ziel, um über andere Ziele
nicht weiter nachzudenken. Denn langfristig hat die Geburtenrate stets gegenläufig
auf eine Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens reagiert: Wie in Kapitel
3 dargestellt, ist dieses demo-ökonomische Paradoxon sowohl in den Industrie-
als auch in den Entwicklungsländern zu beobachten, und es wird in der Zukunft
ebenso wie in der Vergangenheit wirksam bleiben, weil die kausalen Ursachen des
generativen Verhaltens weiterwirken, so daß mit permanenten Bevölkerungsschrumpfung
zu rechnen ist, wenn man die Maximierung des Pro-Kopf-Einkommens als langfristiges
Ziel verfolgt - eine in sich widersprüchliche Strategie, weil ein hohes Pro-Kopf-Einkommen
ohne Köpfe sinnlos wäre. Die große praktische Bedeutung
der prinzipiellen Fragen soll abschließend noch aus einem anderen Blickwinkel
dargestellt werden, indem die Erkenntnisse der modernen ökonomischen Wachstumstheorie
berücksichtigt werden. In den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts
stellten die Wirtschaftswissenschaftler fest, daß nur etwa die Hälfte
des jährlichen prozentualen Zuwachses des Volkseinkommens in den Industrieländern
auf dem mengenmäßigen Zuwachs der Arbeitskräftezahl und des physischen
Kapitals in Form von maschinellen Produktionsanlagen beruht. Die andere Hälfte
der Wachstumsrate des Volkseinkommens ließ sich nicht auf den vermehrten
Einsatz der Faktoren Arbeit und Kapital zurückführen, sondern schien
wie das biblische »Manna« gleichsam vom Himmel zu fallen. Diese neben
den Faktoren Arbeit und Kapital wichtige dritte Quelle der Wirtschaftsleistung
wurde dem technischen Fortschritt zugeschrieben. Die damals entwickelte, noch
wenig differenzierte Theorie des technischen Fortschritts wurde auch als »Manna-Theorie«
bezeichnet, obwohl man natürlich immer wußte, daß der technische
Fortschritt nicht durch ein Wunder auf die Volkswirtschaft herabregnet, sondern
reale Ursachen hat. In den später entwickelten Theorien wurde der technische
Fortschritt vor allem mit dem durch Wissenschaft, Forschung und Ausbildung erzeugten,
ständig steigenden Wissenskapital erklärt. Das in die Köpfe der
Arbeitskräfte investierte Human- bzw. Wissenskapital und die von diesen Köpfen
konstruierten, immer leistungsfähigeren physischen Produktionsanlagen und
betrieblichen Organisationsstrukturen gelten seitdem als eine entscheidende, unerschöpfliche
Quelle der wirtschaftlichen Leistungskraft einer Volkswirtschaft. Wie
stark wird der technische Fortschritt und die Wachstumsrate der deutschen Volkswirtschaft
in den nächsten Jahrzehnten durch die demographische Entwicklung gedämpft
? Schon in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts erschienen Bücher
mit Titeln wie »Wirtschaftliche Entwicklung bei schrumpfender Bevölkerung«
(B. Felderer, 1983). Viele Autoren wollten die Öffentlichkeit mit ihren Beiträgen
beruhigen. Die demographische Entwicklung habe zwar einen dämpfenden, aber
nicht allzu großen Effekt auf das Wirtschaftswachstum, so daß es überflüssig
sei, sich um die Wachstumsaussichten Sorgen zu machen. Trägt diese Botschaft
noch? Der Ton der wirtschaftswissenschaftlichen Veröffentlichungen
ist inzwischen skeptischer geworden, denn die demographische Schrumpfung führt
trotz der Massenarbeitslosigkeit bereits heute zu Knappheitserscheinungen auf
dem Arbeitsmarkt. In Deutschland betrug die Zahl der Personen in der für
das Erwerbspersonenpotential und für das Volkseinkommen entscheidenden Altersgruppe
von 20 bis 60 im Jahr 2000 rd. 45,5 Mio., sie nimmt - bei einem jährlichen
Einwanderungsüberschuß von 170 Tsd. - zunächst bis 2010 nur mäßig
auf 45,2 Mio. ab, doch danach beschleunigt sich die Schrumpfung infolge des Geburtenrückgangs
der 1970er Jahre, und zwar auf 36,2 Mio. im Jahr 2030 bzw. auf 30,4 Mio. im Jahr
2050 (Tabelle 22). Die darüber hinaus angegebenen Zahlen bis 2100
sind nicht als Prognosen zu verstehen, sondern als Informationen über die
Konsequenzen einer annähernd konstanten Geburtenrate bei einem jährlichen
Einwanderungsüberschuß von 170 Tsd. Personen (zu den Einzelheiten siehe
Kapitel
7).Vorausberechnungen
der Bevölkerung in den für die Erwerbspersonenzahl wichtigen Altersgruppen
von 20-40 J. bzw. 20-60 J. - in Mio. | Altersgruppe | 2000 | 2010 | 2020 | 2030 | 2040 | 2050 | 2060 | 2070 | 2080 | 2090 | 2100 |
20-bis-40-Jährige | 23,5 | 19,3 | 18,4 | 16,3 | 14,5 | 13,4 | 12,2 | 11,1 | 10,4 |
9,8 | 9,2 |
40-bis-60-Jährige | 20,0 | 25,9 | 23,6 | 19,9 | 19,2 | 17,0 | 15,4 | 14,3 | 13,2 | 12,1 | 11,4 | | Summe
(20-bis-60-Jährige) | 45,5 | 45,2 | 42,0 | 36,2 | 33,7 | 30,4 | 27,6 | 25,4 | 23,6 | 21,9 | 20,6 |
Selbst
wenn man annimmt, daß die Frauen künftig zum gleichen Prozentsatz wie
die Männer auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind, indem sich die niedrigere
Frauenerwerbsquote bis 2010 weitgehend an die höhere Erwerbsquote der Männer
angleicht (heute zählen von den Männern rd. 60%, von den Frauen rd.
43% zu den Erwerbspersonen), ließe sich der Rückgang der Erwerbspersonenzahl
bei den Männern nur bis 2010 durch einen Anstieg bei den Frauen kompensieren.
Auf dieser wenig wahrscheinlichen Annahme beruht die Rentenreform der Regierung
Schröder, wobei die Folgen eines so drastischen Anstiegs der Frauenerwerbstätigkeit
für die Geburtenrate bzw. die Konsequenzen der dadurch intensivierten Alterung
für spätere Rentenreformen von der Regierung bisher nicht einmal am
Rande zur Sprache gebracht werden. Es ist möglich, daß der
positive Bestandteil der Wachstumsrate, der aus dem technischen Fortschritt und
aus dem vermehrten Einsatz von leistungsfähigeren physischen Produktionsanlagen
entsteht, künftig durch den negativen Bestandteil infolge der schrumpfenden
Erwerbspersonenzahl zum großen Teil kompensiert wird, so daß das Wachstum
in eine Stagnation oder im Extremfall sogar in die Schrumpfung übergeht.
Diese negative Entwicklung ist insbesondere dann zu erwarten, wenn der technische
Fortschritt als Motor des Wirtschaftswachstums durch die demographische Entwicklung
beeinträchtigt wird. Das für diesen Fortschritt entscheidende durchschnittliche
Qualifikationsniveau des Arbeitskräftebestandes wird durch zwei Faktoren
verringert. Zum einen schrumpft die Zahl der jüngeren Erwerbspersonen von
20-40 als Teilgruppe der 20- bis 60jährigen zwischen 1998 und 2050 besonders
stark, nämlich von 24,5 Mio. auf 13,4 Mio., während die Gruppe der 40-bis60jährigen
noch bis 2015 von 21,9 Mio. auf 25,2 Mio. wächst, ehe auch sie bis 2050 auf
17,1 Mio. abnimmt - eine für den technischen Fortschritt nachteilige Entwicklung,
weil das durch Ausbildung geschaffene neue Wissen vor allem in den Köpfen
der jüngeren, nicht der älteren, gebildet wird. Zum anderen wird das
Wissenskapital auch verringert, weil sich der Anteil der Zugewanderten und ihrer
Nachkommen mit weit unterdurchschqittlichen Ausbildungsstandards an den 20-bis40jährigen
besonders stark erhöht. Wie schon ausgeführt, beträgt bei der deutschen
Bevölkerung der Anteil der Personen, die eine Hochschule besuchen, in der
Altersgruppe 20-25 17%, bei der zugewanderten Bevölkerung und ihren in Deutschland
geborenen Nachkommen ist dieser Prozentsatz mit 3 bis 4% wesentlich niedriger,
und es ist keine Tendenz zu einer merklichen Verringerung des Unterschieds feststellbar.
Die Zahlen 17% bzw. 3% sind unabhängig von den am 1.1.2000 in Kraft getretenen
Änderungen des Staatsangehörigkeitsrechts, sie geben den Durchschnitt
der miteinander verglichenen Bevölkerungsgruppen wieder, deren Verhalten
sich nicht schon dadurch ändert, daß viele einen deutschen Paß
haben werden. Bei bestimmten Einwanderungsgruppen, vor allem aus Asien, ist der
Prozentsatz der gut Ausgebildeten zwar höher als bei den Deutschen, aber
in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle ergibt sich ein starkes
Gefälle in umgekehrter Richtung. Gegen diese Überlegungen wird häufig
das Argument vorgebracht, daß sich die Menge wissenschaftlicher Kenntnisse
in der Informationsgesellschaft etwa alle 4 bis 5 Jahre verdoppelt, also bei Fortsetzung
der heutigen Wachstumsraten der Wissenszunahme bis zum Jahr 2040 um den Faktor
256 (!) zunimmt, so daß es auf die Zahl der Arbeitskräfte kaum noch
ankommt. Was nützt aber das Wissen, wenn es nicht in die Köpfe der Arbeitskräfte
gelangt? In Deutschland verläßt ein Fünftel bis ein Viertel
der Zugewanderten und ihrer Nachkommen das Ausbildungssystem ohne jeden Abschluß
! (Und dies betrifft auch nur diejenigen Ausländer,
die eine Ausbildung machen, denn die weitaus meisten Ausländer beginnen ja
noch nicht einmal mit einer Ausbildung! Anm. HB*).
Wie sind die zur Kompensation der schrumpfenden Erwerbspersonenzahl vorgeschlagenen
Maßnahmen des lebenslangen Lernens und der schrittweisen Erhöhung des
Ruhestandsalters zu beurteilen? Bestimmte Berufe und Tätigkeiten wie
die des Pfarrers, des Philosophen und des Dirigenten eines Symphonieorchesters
werden häufig bis ins hohe Alter ausgeübt. Was den klassischen Typ des
Philosophen betrifft, läßt sich sagen, daß die Leistungsfähigkeit
bei dieser Art von geistiger Tätigkeit mit dem Alter oft zunimmt anstatt
abzunehmen. Umgekehrt ist es bei Mathematikern, von denen es heißt, daß
ihre spezifische Kreativität, die zur Entdeckung neuer bahnbrechender Einsichten
erforderlich ist, schon vor dem dreißigsten Lebensjahr überschritten
wird. Ähnliche Aussagen gibt es über Informatiker und andere Berufe,
die eine maximale geistige Konzentration in bestimmten, von außen vorgegebenen
Situationen verlangen. Die vom Lebensalter abhängigen Gehirnfunktionen lassen
sich nicht nach den Erfordernissen z.B. des Arbeitsmarktes manipulieren. Es ist
deshalb nur begrenzt möglich, die im Alter abnehmende geistige Beweglichkeit
und Spontaneität durch lebenslanges Lernen auszugleichen. Dies wäre
die Voraussetzung dafür, daß 70jährige Deutsche mit 30jährigen
z.B. in Indien auf dem internationalen Arbeitsmarkt für Spitzenkräfte
der Informationstechnologie konkurrieren können. Die Einsicht in diese Unmöglichkeit
hat zur Green-Card-Debatte geführt, mit der diese Spezialisten z.B. aus Indien
oder Osteuropa als Einwanderer gewonnen werden sollen. Aber der Weltmarkt für
gut ausgebildete, junge Spezialisten ist eng, und die USA und andere Industrieländer
konkurrieren mit Deutschland um die begehrten Arbeitskräfte. Es
ist realitätsfremd, wenn vorgerechnet wird, daß sich das Arbeitskräftepotential
durch eine schrittweise Erhöhung des Ruhestandsalters bis zum Jahr 2030 konstant
halten läßt. Der Konkurrenzmechanismus des Arbeitsmarktes bewertet
die älteren Menschen nun einmal nach eigenen Kriterien, und wenn man dies
ändern wollte, müßte man unser gesamtes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem
durch eine andere Gesellschaftsordnung ersetzen, wobei der Rest der Welt genauso
umgestaltet werden müßte, weil die ökonomische Globalisierung
nationale Alleingänge nicht zuläßt. Heute wird den mit den Prinzipien
des konkurrenzorientierten Verhaltens erreichbaren ökonomischen Zielen weltweit
eine hohe Priorität eingeräumt. Die modernen Gesellschaften, vor allem
Deutschland, haben sogar das Verschwinden der Famili in Kauf genommen, um die
ökonomische Effektivität des Wettbewerbs zu maximieren - ist es da zu
erwarten, daß sich diese Gesellschaften ausgerechnet bei der Behandlung
der älteren Menschen in Zukunft an anderen Maßstäben orientieren
werden? Der abrupte Sinneswandel der Regierung Schröder vom Februar/März
2001, statt die Frühverrentung zu fördern, nun die Aktivierung arbeitsloser
50jähriger zu propagieren, ist von der zunehmenden Arbeitskräfteknappheit
diktiert. Die Maßnahmen könnten schon bald auf die 55- und 60jährigen
ausgedehnt werden, ohne daß dies eine Änderung der Einstellung gegenüber
älteren Menschen bedeuten muß. (Zitat-Ende).ä
11. Konsequenzen für das soziale Sicherungssystem in Deutschland (S. 170-193):Dieses
Kapitel beruht auf meinem Gutachten vom 04.07.2000 für das Bundesverfassungsgericht.
Darauf stützte das Gericht sein Urteil vom 03.04.2001, in dem die Pflegeversicherung
wegen des »systemspezifischen Vorteils« der Kinderlosigkeit in Teilen
als verfassungswidrig erklärt und eine Überprüfung auch der Rentenversicherung
auf Verfassungsmäßigkeit verfügt wurde. Rentenversicherung
In Deutschland beruht die gesetzliche Rentenversicherung zum weitaus überwiegenden
Teil auf dem sogenannten Umlageverfahren: Die heutigen Beitragszahler bekommen
ihre Rentenbeiträge nicht im Ruhestand als Rente wieder, sondern ihre Beitragszahlungen
werden ohne zeitlichen Umweg sofort an die heutigen Rentner ausbezahlt. Wenn die
heutigen Beitragszahler selbst das Rentenalter erreicht haben, sind ihre früheren
Einzahlungen schon lange ausgegeben, ihre Renten müssen aus den Beitragseinnahmen
der dann im Erwerbsleben stehenden Bevölkerung finanziert werden. Eine Erhöhung
des Verhältnisses der Zahl der zu versorgenden älteren Menschen zur
Zahl der die Versorgungsleistungen erbringenden im mittleren Alter (= Altenquotient)
um einen Faktor von z.B. 2,4 bedeutet, daß die Beitragssätze zur gesetzlichen
Rentenversicherung um den gleichen Faktor angehoben - oder daß das Rentenniveau
(= Verhältnis der Durchschnittsrente zum Durchschnittseinkommen) um den Faktor
1/2,4 verringert werden müßte. Für den heutigen Beitragssatz von
rd. 20% liefe das auf eine Erhöhung auf mehr als das Doppelte hinaus; alternativ
könnte das Rentenniveau von z. Zt. 70% auf weniger als die Hälfte gesenkt
werden. Würde man die Einnahmen der Rentenversicherung zu einem immer höheren
Anteil aus Steuern finanzieren, wie das heute bereits zu einem Drittel z. B. durch
die Ökosteuer geschieht, ließe sich der Anstieg des Beitragssatzes
begrenzen, aber nicht der Anstieg der realen Belastungen, denn es ist im Prinzip
gleichgültig, ob die Abzüge von den Einkommen in Form von Beiträgen
oder als Steuern einbehalten werden.
Die
Formel besagt: Für jedes gegebene Rentenniveau (Rn)
ist der Beitragssatz (Rb) um so größer,
je höher der Altenquotient (Aq) ist. Da sich
der Altenquotient wegen der steigenden Zahl der über 60jährigen (AR
= Altersgruppe Rentner) und der abnehmenden Zahl der 20-60jährigen
(AB = Altersgruppe Beitragszahler) um
den Faktor 2,4 erhöht, müßte der Beitragssatz von z.Zt. rd 20%
bei unverändertem Renteniveau von z. Zt. rd 70% um den Faktor 2,4 auf 48%
angehoben werden. Wollte man umgekehrt den Beitragssatz konstant halten, müßte
das Rentenniveau statt dessen um den Faktor 1/2,4, d.h. auf 29% gesenkt werden.
... Schließlich ließe sich theoretisch der aus Steuern (S
= Steuern) finanzierte Anteil an den Einnahmen der Rentenversicherung um
den Faktor 2,4 erhöhen ....Obwohl die Ledigen und die Ehepaare
ohne Kinder über ein Vielfaches an Einkommen gegenüber den Familien
mit Kindern verfügen (vgl. Tabelle),
hat der zunehmende Anteil der Kinderlosen zu einer Verringerung statt zu einer
Erhöhung der volkswirtschaftlichen Sparquote geführt. (Extreme
Kinderfeindlichkeit! Anm. HB*).
Die durch den Geburtenrückgang verringeren Ausgaben für Kinder wurden
nicht für Ersparnisse, sondern für den Konsum verwendet. (Das
auch noch! HB*).
Das Deutsche Institut für Altersvorsorge hat diesen Effekt bei der Berechnung
der gesamtwirtschaftlichen Sparquote berücksichtigt und festgestellt, daß
die Sparquote seit Beginn der 1970er Jahre parallel zum Geburtenrückgang
stark abnahm. »Nach Abzug (der für Kinder eingesparten
Kosten; Einschub: Herwig Birg) ergibt sich für das Jahr 1998 eine
... Gesamtsparquote von nur noch 6%, während die reine Finanzsparquote einen
Wert von 10% angibt .... Dieser Rückgang der gesamten Sparquote blieb über
... 30 Jahre hinweg ohne Konsequenzen, weil die positiven Rahmenbedingungen der
Umlagerente den direkten Zusammenhang zwischen Kindern und individueller Altersvorsorge
vernebelten und eine ständige Verscheibung der intergenerationalen Lastenverteilung
erlaubten. Dies wird für eine breite Öffentlichkeit erst jetzt mit einer
erheblichen zeitlichen Verzögerung spürbar.« (Deutsches
Institut für Altersvorsorge [Hrsg.], Vermögensbildung unter neuen
Rahmenbedingungen, 2000, S. 27). - Dem ist nichts hinzuzufügen.
Man darf gespannt sein, wie lange es noch dauert, bis die Politik eingesteht,
daß die von ihr genährten Illusionen haltlos sind und zugibt, daß
sie der Bevölkerung etwas vorgemacht hat .... Für Menschen gibt es ...
keinen Ersatz.Vorausberechnung
des Jugend- und Altenquotienten von 1998 bis 2100 | | Jugendquotient (Unter-20-Jährige
auf 100 20-bis-60-Jährige) | Altenquotient (Über-60-Jährige
auf 100 20-bis-60-Jährige) | Gesamtquotient* (Unterstützungsquotient) | 1998 | 0,380
<=> 38,0% | 0,386 <=> 38,6% | 0,766
<=> 76,6% | 2000 | 0,381
<=> 38,1% | 0,428 <=> 42,8% | 0,809
<=> 80,9% | 2010 | 0,332
<=> 33,2% | 0,483 <=> 48,3% | 0,815
<=> 81,5% | 2020 | 0,313
<=> 31,3% | 0,599 <=> 59,9% | 0,912
<=> 91,2% | 2030 | 0,331
<=> 33,1% | 0,813 <=> 81,3% | 1,114
<=> 114,4% | 2040 | 0,321
<=> 32,1% | 0,859 <=> 85,9% | 1,180
<=> 118,0% | 2050 | 0,319
<=> 31,9% | 0,914 <=> 91,4% | 1,233
<=> 123,3% | 2060 | 0,327
<=> 32,7% | 0,926 <=> 92,6% | 1,253
<=> 125,3% | 2070 | 0,331
<=> 33,1% | 0,930 <=> 93,0% | 1,261
<=> 126,1% | 2080 | 0,332
<=> 33,2% | 0,922 <=> 92,2% | 1,254
<=> 125,4% | 2090 | 0,340
<=> 34,0% | 0,909 <=> 90,9% | 1,249
<=> 124,9% | 2100 | 0,345
<=> 34,5% | 0,887 <=> 88,7% | 1,232
<=> 123,2% |
*
Unterstützungsquotient = Summe aus Jugendquotient und Altenquotient = Die-unter-20-und-über-60-Jährigen
auf 100 20-bis-60-Jährige. Auch die Einwanderung Jüngerer in
einer integrierbaren Größenordnung reicht als Ersatzmaßname nicht
aus, zumal die Eingewanderten meist keine ausreichenden Schulabschlüsse haben
und häufig erwerbslos sind.Die Konsequenz ist, daß die auf
dem Umlageverfahren beruhende gesetzliche Rentenversicherung reformiert werden
muß. Um sowohl eine übermäßige Erhöhung des Beitragsatzes
als auch eine untragbare Verringerung des Rentenniveaus zu vermeiden, sollte eine
zusätzliche, auf Eigenvorsorge durch private Ersparnis beruhende Altersvorsorge
eingeführt werden, die von der demographischen Alterung wesentlich unabhängier
ist als das Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung.Die notwendigen
Reformen können nicht verhindern, daß sich die soziale Ungleichheit
zwischen den Geenerationen, zwischen den Familien mit Kindern und den Kinderlosen
sowie zwischen gut ausgebildeten deutschen und der zugewanderten Bevölkerung
und ihren Nachkommen, deren schulische und berufliche Qualifikation wesentlich
geringer ist (meistens sogar gar nicht vorhanden ist; Anm.
HB*),
stark erhöht. Das Verteilungsproblem wird zur entscheidenden politischen
Herasuforderung im 21. Jahrhundert.Der soziale Rechtsstaat wird in
Zukunft durch eine zunehmende Kluft zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit
geprägt sein. Seit Jahrzehnten wird der Generationenvertrag nur durch die
Eltern eingehalten. Dieser Tatbestand wird von Verfassungsrichtern als ein »rechtsstaatlicher
Skandal« bezeichnet (Paul Kirchhof). Von den Propagandisten des »Verfassungspatriotismus«
wurde er bisher mit Schweigen quittiert.Frei
verfügbares Einkommen von Haushalten mit und ohne Kinder | Einkommen
/ Abzüge | Ledig ohne Kinder | Ehepaar
ohne Kinder | Ehepaar mit 1 Kind | Ehepar
mit 2 Kindern | Ehepaar mit 3 Kindern | Brutto | 60000 | 60000 | 60000 | 60000 | 60000 | Lohnsteuer | 12255 |
5840 | 5840 |
5840 | 5840 | Solidaritätszuschlag* |
674 | 321 |
49 |
0 | 0 | Kirchensteuer |
1103 | 525 |
352 | 184 |
25 | Sozialversicherung AN* | 12580 | 12580 | 12580 | 12580 | 12580 | Kindergeld |
0 |
0 | 3000 |
6000 | 9600 | Netto | 33388 | 40734 | 44179 | 47396 | 51155 | | Offizielles
Existenzminimum* für
Erwachsene (je 13067 DM) | 13067 | 26135 | 26135 | 26135 | 26135 | Offizielles
Existenzminimum* für
Kinder (je 6912 DM) |
0 | 0 |
6912 | 13824 | 20736 | Gesamt | 13067 | 26135 | 26135 | 26135 | 26135 | Frei
verfügbares Einkommen | 20321 für 1 Person
! | 14599 für 2 Personen! | 11132 für
3 Personen! | 7437 für 4 Personen ! |
4284 für 5 Personen! |
Quelle:
Jürgen Borchert, Arme Kinderreiche - Nur eine Reform des Steuer- und Beitragssystems
kann die Familienarmut beseitigen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
Nr. 243, 19. Oktober 1999, S. 9. Das Verfassungsgericht hat in seinem
Urteil vom 03.04.2001 festgestellt, daß die Pflegeversicherung (und darüber
hinaus auch die umlagefinanzierte Rentenversicherung) voraussetzt, daß erstens
Beiträge eingezahlt und zweitens künftige Beitragszahler betreut und
erzogen werden (= »generativer Beitrag«). Kinderlose leisten nur den
finanzielle Beitrag, nicht den generativen, kommen aber in den Genuß der
vollen Leistungen. Darin sieht das Gericht einen »systemspezifischen Vorteil«
der Kinderlosen. Es hat dabei nicht von der Erziehung eigener, d. h. leiblicher
Kinder, gesprochen. Die Kritik, daß es Menschen gibt, die aus gesundheitlichen
Gründen keine Kinder haben, trifft nicht zu, weil es auf die Betreuungs-
und Erziehungsleistung ankommt, die auch nicht leiblichen Kindern zuteil werden
kann, z. B. auf dem Wege der Adoption. SchlußbetrachtungDie
nach 1960 geborenen Frauenjahrgänge in Deutschland bleiben zu einem Drittel
zeitlebens kinderlos, bei ihren Eltern lag dieser Anteil erst bei rd. 10 Prozent.
Der hohe und weiter wachsende Anteil der Kinderlosigkeit ist der entscheidende
Grund für den niedrigen, langjährigen Durchschnitt von 1,2 bis 1,4 Lebendgeborenen
je Frau im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts. Bei den zwei Dritteln der
Frauen unter den jüngeren Jahrgängen, die nicht kinderlos bleiben, entfallen
im Durchschnitt 2,1 Kinder auf jede Frau - eine unter mehreren Gesichtspunkten
ideale Zahl. In entwickelten Gesellschaften mit niedriger Sterblichkeit
wird das für die Finanzierung des sozialen Sicherungssystems günstigste
Verhältnis der Zahl der Über-60-Jährigen zur Zahl der 20-bis-unter-60-Jährigen
genau dann erreicht, wenn die Geburtenrate im Durchschnitt, d. h. unter Einschluß
auch der kinderlos bleibenden Frauen, rd. 2,1 Lebendgeborene pro Frau beträgt.
Dieses stringent beweisbare, ermutigende Ergebnis der Bevölkerungsmathematik
bedeutet, daß das entscheidende Ziel einer an demographischen Strukturen
orientierten Politik darin bestehen sollte, die lebenslange Kinderlosigkeit zu
verringern. Wenn das Drittel der kinderlosen Frauen pro Kopf im Durchschnitt ebenso
viele Kinder hätte wie die zwei Drittel mit Kindern, wäre die Altersstruktur
langfristig optimal, die demographisch bedingten Belastungen für die sozialen
Sicherungssysteme würden ein Minimum erreichen, und permanente Einwanderungen
wären nicht erforderlich.Es genügt allerdings nicht, daß
wieder ein größerer Anteil der Menschen Kinder hat und erzieht, sondern
diese Erziehung muß eine demographisch nachhaltige Wirkung haben, so daß
die Kinder ihrerseits Kinder zur Welt bringen usf.. Das war in der übertausendjährigen
Geschichte Deutschlands und Europas eine Selbstverständlichkeit, warum sonst
hätten z. B. die Menschen im Jahr 1245 mit dem Bau des Kölner Doms beginnen
sollen, der erst im 19. Jahrhundert vollendet wurde, wenn sie nicht über
ihre eigene Generation hinaus gedacht und gehandelt hätten? Es gibt
einen Punkt, an dem alle Kulturen der Welt trotz der Relativität aller Werte
miteinander verglichen werden können, das ist die Fähigkeit, über
das eigene Leben hinaus zu denken, zu planen und entsprechende Entscheidungen
zu treffen. Die Menschen in Deutschland und Europa haben diese Aufgabe schon seit
Jahrzehnten nicht mehr zufriedenstellend erfüllt. Als Konsequenz wird das
demographische Defizit im 21. Jahrhundert unaufhaltsam zunehmen. Alles
scheint von der Kultur abzuhängen, aber mit der Kultur hat es eine eigene
Bewandtnis. Wenn einer Kultur die Fähigkeit fehlt, in ihren Kindern weiterzuleben,
woraus sollen dann die Mahnungen und Appelle für eine Änderung der kulturellen
Werte ihre Kraft schöpfen? Bloße Appelle können nicht aus
der Sackgasse der demographischen Schrumpfung und Alterung herausführen.
Eine Änderung der Wertebasis zu fordern, scheint deshalb einen Widerspruch
zu bergen. Aber es kann keine andere Quelle geben, aus der sich eine Kultur erneuert,
als die Kraft dieser Kultur selbst. (Zitat-Ende).ä
12. Demographie und Politik (S. 194-206):Die Gefährlichkeit
dieser Form menschlicher Verwahrlosung liegt darin, daß es neben dem Rassismus
als Theorie und als politische Ideologie noch eine andere Art von tiefer liegendem,
zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften praktiziertem Rassismus gibt, den
man mit einem Begriff aus der kriegswissenschaft als strategischen Rassismus bezeichnen
könnte, wobei die Betonung auf dem Begriff Strategie und nicht auf dem der
Rasse liegt. Diese Form kommt in vielen Spielarten vor, auch bei Menschen, die
den üblichen Rassismus am schärfsten verurteilen. Der strategische Rassismus
hat im Gegensatz zum bekannten, offenen nichts mit höher- oder minderwertigen
Eigenschaften bestimmter Menschengruppen zu tun, es geht dabei überhaupt
nicht um irgendwelche tatsächlichen oder vermeintlichen Unterschiede zwischen
Menschen, vielmehr besteht das strategische Ziel darin, ein absolut sicheres Mittel
zur Herrschaft über andere zu erlangen. Als ein solches Mittel eignet sich
aus der Sicht der strategischen Rassisten die Zurückführung eines Menschen
auf seine Herkunft - sei es seine biologische Abstammung oder seinen kulturellen
Ursprung. Einen Menschen wegen seiner Herkunft zu kritisieren, ihn abzulehnen
und zu verurteilen, bedeutet, ihn absolut wehrlos und vollkommen verletzlich und
beherrschbar zu machen, denn im Hinblick auf seine Herkunft ist jeder Mensch hilflos,
weil niemand seinen Ursprung wählen kann. Für den strategischen Rassismus
ist die Kategorie der Abstammung als solche gar nicht von Interesse. Sie dient
ihm als Instrument, um den anderen durch die Zuschreibung von nicht änderbaren
Eigenschaften in die Situation einer vollkommenen Ausweglosigkeit und Wehrlosigkeit
zu bringen, die eine sichere Überlegenheit und Herrschaft garantiert. Wenn
die Suche nach dem Ursprung, der Herkunft, der Entstehung - sei es einer Sache,
eines Gedankens oder einer Person - mit einer alles andere verdrängenden
Besessenheit betrieben wird, sollte man immer wachsam sein: Dann ist Ungerechtigkeit
eine beinahe unvermeidliche Folge. Eines der Beispiele hierfür ist der Umgang
mit den Verbrechen der Nazi-Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Verbrechen der
Nationalsozialisten, deren Ursachen und Folgen man nicht gründlich genug
nachgehen kann, sind etwas Ungeheuerliches. Es geht jedoch nicht an, daß
das Andenken der Opfer gemindert wird, indem die an diesen Verbrechen unbeteiligten
Menschen, die zur Tatzeit im Kindesalter oder noch nicht geboren waren - das sind
vier Fünftel der heute in Deutschland lebenden Menschen -, durch die strategisch
eingesetzte Kategorie ihrer Abstammung und ihrer kulturellen Herkunft in eine
Position absoluter Wehrlosigkeit gebracht werden, die bei den Betroffenen das
Gefühl eines unverschuldeten, unerträglichen Ausgeliefertseins heraufbeschwören
muß. Dieses Gefühl macht unfrei und schwächt den Impuls für
die Übernahme von Verantwortung für das Gewesene, dabei wäre es
gerade im Hinblick auf die Verbrechen der Nazizeit so wichtig, daß sich
das Gefühl, Verantwortung übernehmen zu müssen, spontan und in
Freiheit bildet.Bei der politischen Selbsterziehung einer Bevölkerung
zu einer gesitteten, gesellschaftsfähigen Gemeinschaft führt jedoch
nur ein Weg zum Ziel. Es ist der gleiche Weg, der auch im Kleinen, bei der gegenseitigen
Erziehung der Menschen, z.B. in der Familie, Erfolg hat: Offenheit und und Ehrlichkeit
verbunden mit Liebe und vorbildlichem eigenem Verhalten. Kein Land, das diese
Erfahrung mißachtet, wird dies ungestraft tun, Haß und Gewalt werden
die Folge sein, ohne daß staatliche Gewalt als Gegenmittel gegen Verbrechen
dauerhaft etwas ausrichten kann. Wenn die Fehlentwicklung lange genug währt,
wird es schwer, zum Weg der Liebe und des Vorbildes zurückzufinden, bis schließlich
in Vergessenheit gerät, daß es diesen Weg überhaupt gibt. Dann
bestimmen andere Gesetze das Geschehen, der Staat antwortet auf die Gewalt der
durch Uninformiertheit infantilen, unmündig gebliebenen Gesellschaft schließlich
nur noch mit Gegengewalt.Die Infantilisierung ist weit fortgeschritten,
heute muß niemand mehr lernen, erwachsen zu werden, jeder kann z.B. seine
eigene Ausbildung und Erziehung ernst nehmen oder sie als eine überflüssige
Last abschütteln, jeder kann heiraten, Kinder haben und sich wieder scheiden
lassen, ohne für die Folgen seines Verhaltens wirklich selbst einstehen zu
müssen, denn die Gesellschaft übernimmt lebenslang eine schützende
Vaterrolle, auch wenn die eigenen Eltern nicht mehr leben und es ihren Schutz
nicht mehr gibt. Wird die Ehe geschieden, kümmern sich Gerichte und öffentliche
Einrichtungen um die Existenz der Kinder, und die Ehegatten werden, wenn sie es
wünschen, vor und nach der Scheidung von professionellen Helfern betreut.
Es ist fast schon für alle Eventualitäten vorgesorgt, warum sollte also
ausgerechnet die demographische Entwicklung ernsthafte Sorgen bereiten?In
einer Demokratie wie der unseren sind die sozialpolitischen Vorsorgemaßnahmen
das Ergebnis des ständigen Bemühens der Parteien um die Stimmen der
Wähler, nicht unbedingt um ihre echte Gunst, und dieser Unterschied hat Folgen.
Um die Macht zu erlangen und zu behalten, glauben die Parteien, es den Wählern
durch soziale Wohltaten sogar ersparen zu müssen, die Mühen des Erwachsenwerdens
auf sich zu nehmen. Die Wirkung der Wahlgeschenke ist progressiv - die Wohlfahrt
nimmt zu - und sie ist regressiv zugleich, denn die Umworbenen werden dazu verführt,
nicht mehr selbst für sich zu sorgen, bis sie es schließlich nicht
mehr können und »infantil« werden - ein Ausdruck, der immer häufiger
zur Charakterisierung unserer Gesellschaft gebraucht wird und sich z.B. auch in
der von Niklas Luhmann formulierten Logik des Wohlfahrtsstaates findet. (Vgl.
Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 1998, S. 427). Wenn die Sozialpolitik
schließlich nur noch als Instrument der Parteien im Konkurrenzkampf um politische
Macht fungiert, wird ein kritischer Punkt erreicht. Die Gesellschaft hilft jedem,
aber niemand fühlt sich mehr verpflichtet, ihr zu helfen, weil das bei erwachsenen
Menschen selbstverständliche Wissen verlorengegangen ist, daß eine
Leistung in der Regel eine Gegenleistung voraussetzt.Die Entwicklung
hat etwas Zwanghaftes, sie scheint sich wie von selbst aus der Art unserer Demokratie
zu ergeben, die entgegen der Theorie und im Gegensatz zu den offiziellen Äußerungen
vieler Politiker und Staatsrechtler Gewaltenteilung kennt, weil die Regierung
durch die im Parlament vertretene Regierungspartei, die die Mehrheit und damit
die Macht hat, eben nicht »kontrolliert«, sondern unterstützt
wird. Darüber macht sich die Politik selbst noch am wenigsten Illusionen,
wie das folgende Zitat aus der von der Bundeszentrale für politische Bildung
herausgegebenen Zeitschrift »Das Parlament« illustriert: »In
Bezug auf die Gewaltenteilung zwischen Bundestag und Bundesregierung gibt es einen
merkwürdigen Widerspruch. In Schul- und Lehrbüchern ... wird immer noch
das - wie es in der Literatur überwiegend genannt wird - klassische Gewaltenteilungskonzept
als selbstverständlich vorausgesetzt .... Von Anfang an - schon in der ersten
Wahlperiode des Bundestages - hat die Praxis nicht der Gewaltenteilungsnorm entsprochen.
Wenn das Fernsehen Plenardebatten aus dem Bundestag überträgt, dann
stehen sich nicht .... Bundestag und Bundesregierung als Legislative und Exekutive
gegenüber, sondern konkurrierende Fraktionen bzw. Parteien«. (E. Schütt,
Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive? In: Aus Politik
und Zeitgeschichte - Beilage zur Wochenzeitung «Das Parlament»,
07.07.2000, S. 5).Die im Parlament vertretene, jeweilige Oppositionspartei
allein kann die mit dem Prinzip der Gewaltenteilung angestrebte Kontrollfunktion
nicht ausüben, dafür hat sie keine ausreichende Mehrheit, und wenn sie
sie erreichte, verhielte sie sich als Regierungspartei wahrscheinlich auf die
gleiche Weise. Deshalb ist nicht die Oppositionspartei der eigentliche Opponent
der Regierungsmacht, sondern in Umkehrung des Urgedankens der Demokratie - das
Volk bzw. das Wahlvolk. Die eigentliche Gefahr, die Macht zu verlieren, droht
vom Volk bzw. vom Wähler. Der Wähler verleiht oder entzieht die Macht,
nicht das Parlament und nicht die Opposition. Für eine machtbesessene Partei
kann es deshalb verführerisch sein, die Macht so zu verwenden, daß
die Gefahr, sie wieder zu verlieren, an der Wurzel - also beim Volk - bekämpft
wird. Ein wirksames Mittel hierzu ist die Schwächung der Urteilsfähigkeit
der potentiellen Wähler durch das Zurückhalten von Informationen und
durch unterlassene Aufklärung. Leider hat keine der im Parlament
vertretenen Parteien der Versuchung widerstanden, dieses Mittel einzusetzen. Die
Macht könnte zwar im Idealfall theoretisch vielleicht in Zukunft einmal durch
die Teilung der Gewalten eingedämmt werden, aber berechenbar und wirklich
kontrollierbar wäre sie dann trotzdem nicht. Schiere Macht kann nur von den
Mächtigen durch Selbstdisziplin kontrolliert werden - eine Aufgabe, die auch
von einer ideal funktionierenden Gewaltenteilung nicht erfüllt werden kann.
Die Selbstdisziplin wird nicht wie die Macht vom Wähler verliehen, sie muß
von den Mächtigen selbst erworben werden. Das dafür nötige Verantwortungsbewußtsein
äußert sich in freiwillig übernommenen Verpflichtungen gegenüber
Menschen, denen gegenüber es keinerlei einklagbare Verpflichtungen gibt.
Hierzu gehört besonders die Verantwortung gegenüber den nicht mehr lebenden
und den noch nicht lebenden Generationen, die keinerlei Möglichkeit haben,
von uns irgend etwas einzufordern. ä
13. Ethische Aspekte der menschlichen Fortpflanzung - die Verantwortungsethik
von Hans Jonas (S. 207-218):Es ist bezeichnend, daß alle
Kulturen, in denen es überhaupt eine Reflexion über Ethik gibt, das
Postulat der Universalität allen anderen Prinzipien überordnen. Immanuel
Kant hat dies in der bekannten Sentenz ausgedrückt: »Handle so, als
ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz
werden sollte.«Geburtenrate von rd. zwei Kindern pro Frau ....
Eine solche Geburtenrate hat über den hier hervorgehobenen Aspekt der Universalität
ethischer Normen hinaus den praktischen Vorteil, daß die denographisch bedingten
Belastungen der mittleren Generation durch Unterstützungszahlungen an die
ältere und an die nachwachsende so gering wie überhaupt möglich
wären. Für die in Kapitel
2 diskutierte Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß
in Zukunft vielleicht eine Weltgesellschaft entstehen könnte, sind die Überlegungen
über die universelle Gültigkeit ethischer Prinzipien vor allem wegen
der inhaltlichen Konsequenzen der scheinbar nur formal relevanten Maxime von Bedeutung.
Denn die Maxime Kants, die ebenso wie das christliche Gebot der Nächstenliebe
radikalere Veränderungen der Welt zur Folge hätte als alle Revolutionen
zusammengenommen, wenn sie befolgt würde -, läßt sich nicht als
ein formales Prinzip abtun; sie ist in Wahrheit die praktisch bedeutsamste ethische
Verhaltensregel, die sich denken läßt. Daß die Universalität
der wichtigste Prüfstein für die inhaltliche Qualität jeder ethischen
Norm ist, soll noch am folgenden Beispiel demonstriert werden. Würde man
eine universelle Geltung der deutschen Abtreibungsnormen voraussetzen, so wie
heute für die Menschenrechte eine weltweite Geltung anerkannt bzw. gefordert
wird, dann hätte das zur Folge, daß über 90% der jährlich
117 Mio. Geburten in den Entwicklungsländern bzw. über 80% der 130 Mio.
Geburten in der Welt insgesamt infolge der nach unseren Maßstäben extremen
Armut in diesen Ländern unter die Bestimmungen der sozialen Indikation fielen.
Würden diese Abtreibungen durchgeführt, gäbe es in der Welt ein
Geburtendefizit von 27 Mio. pro Jahr statt eines Geburtenüberschusses von
77 Mio., und die Weltbevölkerung würde schon heute permanent schrumpfen
statt zu wachsen.Wenn sich alle Menschen entsprechend der Kantischen
Maxime der Universalisierbarkeit ihrer Handlungsprinzipien verhielten, wäre
die ethische Qualität des Endergebnisses ihrer Handlungen keineswegs unkalkulierbar,
obwohl die Konsequenzen der Handlungen auch dann unvorhersehbar blieben, sondern
ein solches Verhalten würde zu einem ethischen Prinzipien genügenden
Gesamtergebnis führen, das keineswegs utopisch, sondern real wäre.
Es läßt sich jedoch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es eine Garantie
dafür gibt, daß die millionenfachen, individuellen Handlungen, insbesondere
die Fortpflanzungsentscheidungen, auch wenn jede einzelne von ihnen ethisch vorbildlich
wäre, in ihrer Summe eine Geburtenrate zur Folge hätten, die weder zu
dauernder Bevölkerungsschrumpfung noch zu einem dauernden Wachstum führt.
Für Hans Jonas, der sich als einer der wenigen Philosophen in seiner Verantwortungsethik
mit den Folgen der Bevölkerungsentwicklung in den Industrie- und Entwicklungsländern
auseinandergesetzt hat, ist das Erreichen bevölkerungspolitischer Ziele für
das Überleben der Menschheit von einer so ausschlaggebenden Bedeutung, daß
er eine Ethik entwarf, bei deren Befolgung es eine Garantie dafür geben soll,
daß insbesondere die dauernde Bevölkerungsschrumpfung in den Industrieländern
auf Grund einer zu niedrigen Geburtenrate verhindert wird. Dafür
beruft sich Jonas ausdrücklich auf die Ethik Kants und auf dessen Kategorischen
Imperativ. Aus der Unbedingtheit der Forderung nach einem Überleben der Menschheit
leitet er eine unbedingte, »kategorische Pflicht zur Fortpflanzung«
ab: »... der kategorische (Imperativ) gebietet einfach, daß es Menschen
gebe .... Für mich, ich gestehe es, ist dieser Imperativ der einzige, auf
den die Kantische Bestimmung des Kategorischen, das heißt Unbedingten, wirklich
zutrifft. Da sein Prinzip nun aber nicht wie beim Kantischen die Selbsteinstimmigkeit
der sich Gesetze des HandeIns gebenden Vernunft ist, das ist, eine Idee des Tuns.
.., sondern die auf der Existenz ihres Inhaltes bestehende Idee von möglichen
Tätern überhaupt, die insofern eine ontologische ist, das ist, eine
Idee des Seins - so ergibt sich, daß das erste Prinzip einer Zukünftigkeitsethik
nicht selber in der Ethik liegt als einer Lehre vom Tun ..., sondern in
der Metaphysik als einer Lehre vom Sein, wovon die Idee des Menschen ein Teil
ist.« (Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979, S. 91f.).
Hans Jonas überscheibt in seiner »Ethik für die technologische
Zivilisation« - so lautet der Untertitel seines Buches »Das Prinzip
Verantwortung« - ein Kapitel mit der Überschrift »Von der
Pflicht zum Dasein und Sosein einer Nachkommenschaft überhaupt«.
Er spricht dort von einer »Pflicht zur Fortpflanzung«. Friedrich
W. Burgdörfer, ein einflußreicher Bevölkerungswissenschaftler
zur Zeit des Nationalsozialismus, postulierte ebenfalls eine »Fortpflanzungspflicht«
für alle gesunden Mitglieder des »Volkskörpers«. Steht Hans
Jonas' demographischer Imperativ in der Nähe des Nationalsozialismus? Diese
Frage ist natürlich rhetorisch .... (Zitat-Ende).
Strategische Optionen der Familien- und Migrationspolitik in Deutschland und Europa
(2003; Auflage 2005)
Zu- und Abwanderungen haben besonders starke
demographische Auswirkungen auf die Zahl und Struktur der Bevölkerung, und
zwar auch dann, wenn man sie nicht zur Kenntnis nimmt. Die demographischen Wirkungen
politischen Handelns (und Unterlassens) können auch in einer Demokratie nicht
vermieden werden, sondern nur anders benannt werden. Aber warum sollte man die
bevölkerungspolitischen Auswirkungen der Politik nicht bevölkerungspolitische
Auswirkungen nennen? .... Dieses Land muß die Souveränität
über seine Sprache wieder gewinnen, ohne die es keine geistige und auf Dauer
auch keine politische Souveränität geben kann. Die Demokraten in Deutschland
haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, den Begriff Bevölkerungspolitik
neu zu definieren und mit einem an demokratischen Zielen orientierten Inhalt zu
füllen. (Ebd., S. 28).Der Rückgang
der Geburtenrate in den letzten Jahrzehnten in Deutschland beruht nach den Äußerungen
der Befragten aus zahllosen Umfragen nicht auf einer Abschwächung oder gar
auf einem Wegfall des Wunsches nach einem Kind, sondern auf wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Faktoren, die der Realisierung von Kinderwünschen entgegenstehen.
dabei fällt es schwer, zu klären, was unter dem Wunsch nache einem Kind
genau zu verstehen ist, denn die Befragten machen ihre Wünsche von bestimmten
Voraussetzungen abhängig, z.B. vom Angebot von Einrichtungen zur Kinderbetreuung,
von ausreichenden staatlichen Unterstützungszahlungen, vom vorherigen Erreichen
bestimmter Ziele der Berufsausbildung und der Erwerbskarierre u.s.w.. Ob die Intensität
der Kinderwünsche geringer oder die Hürden zu ihrer Verwirklichung höher
geworden sind und welchen Anteil die beiden Faktoren am Rückgang der Geburtenrate
haben, ist trotz jahrzehntelanger Forschung nicht leicht zu beantworten. ....
Faßt man die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung über die Gründe
des Rückgangs der Geburtenrate zusammen, so lassen sich je drei Faktoren
auf der Ebene des »Individuums« und auf der Ebene der der Gesellschaft
feststellen, aus deren Kombination sich neun Fallgruppen von Ursache-Konstellationen
ergeben. (Vgl. Tabelle).
(Ebd., S. 29).Intervenierende
Einflußgrößen auf das demographisch-ökonomische Paradoxon | | Gesellschaftliche
und staatliche Einflußgrößen auf das biographische Universum |
| Soziales
Sicherungssystem | Vereinbarkeit
von Familien- und Erwerbsarbeit | Werte
und Normen* bzw. Prioritäten für
Familien und Kinder | »Individuelle« Einflußgrößen
auf das biographische Universum |
Erziehung
/ Ausbildung | Beruf
/ Erwerbsarbeit | Regionale
Lebenswelt |
| Demographisch-ökonomisches
Paradoxon: Je höher das pro-Kopf-Einkommen (der Frauen)*, desto
höher die ökonomischen und biographischen Opportunitätskosten
von Kindern und (folglich*) desto niedriger die Zahl der Geburten pro
Frau. | | Zusätzliche
Einflußgrößen auf die Geburtenrate: Ausmaß
der Einwanderung Herkunft der Einwanderer* Ethnische
Zusammensetzung der Bevölkerung Siedlungsstruktur und Grad der
Urbanisierung Anteil der kinderlosen (Männer und)* Frauen
Timing-Effekte (Alter der Frau bei der Geburt des 1. Kindes,
der 2. und der weiteren Kinder) |
| | Ebd.,
S. 30 (* Zusatz von mir [HB]) |
Von der Größe
und Art des biographischen Universums werden die biographischen Handlungsalternativen
und -optionen des »Individuums« entscheidend beeinflußt. Dabei
hat die empirische Lebenslaufforschung gezeigt, daß die Wahrscheinlichkeit
einer langfristigen Festlegung im Lebenslauf durch eine Kindergeburt um so geringer
ist, je größer die Zahl der Lebenslaufoptionen ist, die aufgrund dieser
Festlegung aus dem biographischen Universum ausscheiden würden. Die ausgeschiedenen
Lebenslaufoptionen werden als biographische Opportunitätskosten von Kindern
bezeichnet. Die ökonomischen Opportunitätskosten bilden einen Teil der
biographischen Opportunitätskosten. Sie lassen sich messen durch die Summe
der entgangenen Einkommen, auf die eine Frau (oder ein Mann;
Anm. HB) verzichten müßte, wenn sie (oder
er; Anm. HB) durch die gesellschaftlichen Lebensbedingungen aufgrund einer
mangelnden Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit nicht erwerbstätig
wäre. Mit der biographischen Theorie der Fertilität läßt
sich das als »demographisch-ökonomische Paradoxon« bezeichnete
Phänomen erklären, daß die Zahl der Kinder pro Frau um so mehr
zurückging, je stärker das Pro-Kopf-Einkommen zunahm. (Ebd., S.
30).In modernen Gesellschaften sind die folgenreichsten langfristigen
Festlegungen in der Biographie die Festlegungen für einen bestimmten Ausbildungsweg
und die anschließende Berufswahl. Diese Entscheidungen stehen am Anfang
einer Biographie und fallen oft zeitlich zusammen mit der Entscheidung über
die Bindung an einen Partner. Durch diese Festlegungen polarisieren sich die Biographien
relativ früh in zwei Gruppen mit und ohne Kinder. Innerhalb der Gruppe mit
Kindern ist der Übergang von der Phase ohne Kinder zur Elternschaft mit wesentlich
höheren biographischen Opportunitätskosten verbunden als der Übergang
vom ersten zum zweiten und vom zweiten zum dritten Kind. (Ebd., S. 31).Entscheidend
für die endgültige Zahl der Lebendgeborenen pro Frau ist bei jedem Jahrgang
der Anteil der Frauen, die zeitlebens kinderlos bleiben. Der Anteil der Kinderlosen
nahm z.B. vom Jahrgang 1940 bis zum Jahrgang 1965 von 10,6% auf 32,1% zu. Bei
der größeren, zwei Drittel und mehr umfassenden Teilgruppe von Frauen,
die Kinder hatten, blieb jedoch die Kinderzahl pro Frau mit rd. zwei Kindern von
Jahrgang zu Jahrgang relativ konstant. Der Rückgang der Geburtenrate der
Jahrgänge ab 1940 beruht also in erster Linie darauf, daß die lebenslange
Kinderlosigkeit von Jahrgang zu Jahrgang stieg. (Ebd., S. 28).Nach
diesen Ergebnissen der demographischen Forschung bieten sich der Familienpolitik
zwei Optionen zur Erhöhung der Geburtenrate. Die erste Option hat als Zielgruppe
das Drittel der Frauen, die kinderlos bleiben würden. Bei dieser entscheidenden
Zielgruppe müßte die lebenslange Kinderlosigkeit gesenkt werden. Die
Zielgruppe für die zweite familienpolitische Option sind die zwei Drittel
der Frauen, die Kinder haben. Bei dieser Zielgruppe müßte die durchschnittliche
Kinderzahl von rd. zwei Kindern auf mehr als zwei erhöht werden. (Ebd.,
S. 31).Die erste Strategie der Verringerung der Kinderlosigkeit
hätte - wenn sie erfolgreich wäre - die größte Wirkung auf
die Geburtenrate, aber sie bedarf eines familienpolitischen Instrumentariums,
das auf diese Zielgruppe zugeschnitten ist. Das entscheidende Element eines solchen
familienpolitischen Instrumentariums müßte eine Wertepolitik sein,
die die müßte eine Wertepolitik sein, die die Sinnhaftigkeit eines
Lebens mit Kindern als gesellschaftliches Leitbild in der Öffentlichkeit
vertritt. (Ebd., S. 31).Wollte man die demographische Alterung,
die in erster Linie auf der niedrigen Geburtenrate und erst in zweiter Linie auf
der zunehmenden Lebenserwartung beruht, durch die Einwanderungen jüngerer
Menschen verhindern, wären dafür so hohe Einwanderungszahlen erforderlich,
daß dadurch mehr Probleme geschaffen als gelöst würden.
(Ebd., S. 36-37).Die demographische Alterung ist eine automatische
Folge der Bevölkerungsschrumpfung. (Ebd., S. 38).Die
international vergelichende Analyse für die 15 Länder der EU ergibt
einen gegenläufigen Zusammenhang zwischen der Höhe der Geburtenrate
und der Intensität der demographischen Alterung: Je höher die Zahl der
Lebendgeborenen pro Frau, desto niedriger ist der Altenwuotient in der Zukunft.
Die niedrigste Geburtenrate bzw. den höchsten Altenquotienten in der Zukunft
haben Spanien, Italien und Griechenland. Die höchste Geburtenrate bzw. den
niedrigsten Altenquotienten in der Zukunft haben Irland, Dänemark und Finnland.
(Ebd., S. 39).Die Einwanderung jüngerer Menschen würde
den Anstieg des Altenquotienten in der EU nur geringfügig mildern. (Dazu
kommt noch, daß ja in Wirklichkeit kaum jüngere, sondern eher Menschen
mittleren Alters einwandern, die ihrerseits bald Rentner sind und dann den Altenquotienten
sogar noch erhöhen! Anm. HB). Auch in den USA hat die Einwanderung
junger Menschen nur einen relativ geringen Einfluß auf den Anstieg des Altenquotienten.
(Ebd., S. 39).Aus den Daten und Analysen ergibt sich, daß
ein Anstieg der Geburtenrate das wirksamste Mittel (und
realistisch gesehen: das einzige Mittel! Anm. HB) ist, um die Bevölkerungsschrumpfung
langfristig zu stoppen und der demographischen Alterung entgegen zu wirken. Wollte
man die demographische Alterung in der EU durch die Einwanderung jüngerer
Menschen verhindern, müßten bis 2050 700,5 Mio. Menschen mehr ein-
als auswandern (das ist unmöglich und auch unrealistisch,
weil in einem solchen Fall die EU durch Abwanderung ihrr Einheimischen ihre Attraktivität
schon lange vor 2050 verloren haben würde! Anm. HB), so daß
die Bevölkerungszahl der EU von 1998 bis 2050 von 375 Mio. auf 1,2 Mrd. wachsen
würde. Diese Forschungsergebnisse zeigen, daß es absurd wäre,
wenn eine demographisch orientierte Politik - statt eine Erhöhung des Geburtenrate
anzustreben - auf Dauer auf eine zumindest teilweise Kompensation des Geburtendefizits
durch Einwanderungen setzen würde, wie dies in Deutschland durch das Zuwanderungsgesetz
(und das heißt: Bevölkerungspolitik [also doch
!], wenn auch nur eine extrem negative und dumme! Anm. HB) geplant wird.
(Ebd., S. 47).Erfolge in der Familienpolitik durch eine Erhöhung
der Geburtenrate schlagen nach 20 Jahren als Erfolge auf dem Arbeitsmarkt zu Buche.
(Ebd., S. 51).Kosten der
Integration .... Wie die vom Ifo-Institut und vom Max-Plack-Institut für
ausländisches und internationales Sozialrecht im Auftrag des Bundesarbeitsministers
durchgeführten Forschungsarbeiten zeigen, übersteigen die vom Staat
für die Zugewanderten erbrachten fiskalischen Leistungen im Rahmen der Sozialversicherung
(Gesetzliche Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung) sowie die steuerfinanzierten
Transfers und die Zahlungen der Gebietskörperschaften für die Bereitstellung
der öffentlichen Güter (Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser,
Verkehrsinfrastruktur, Verwaltung etc.), die vom Staat von den Zugewanderten empfangenen
Leistungen pro Kopf und Jahr um mehrere Tausend DM. (Vgl. Tabelle).
Dieser Befund widerspricht den landläufigen Vorstellungen (also:
der Propaganda und ihrer Wirkung; Anm. HB), daß Deutschland fiskalisch
von der Zuwanderung profitiere. Nach dieser Untersuchung (und
mit Sicherheit nicht nur nach ihr; Anm. HB) war und ist die Zuwanderung
nach Deutschland seit langem eine »Zuwanderung in die Sozialsysteme«,
die eine »Umverteilung von den Deutschen zu den Zugewanderten« bewirkt,
wie es in dem Forschungsbericht heißt.  |
Bilanz pro Zuwanderer (1997) | Direkte
fiskalische Auswirkungen der Zuwanderung pro Zuwanderer | Einnahmen | | Ausgaben |
GKV | 1817,-
DM | | GKV | 2970,-
DM | GRV | 4053,-
DM | | GRV | 1362,-
DM | SPV | 252,-
DM | | SPV | 67,-
DM | Arbeitslosenversicherung | 701,-
DM | | Arbeitslosenversicherung | 452,-
DM | Steuern | 6044,-
DM | | Steuerfinanzierte
Transfers und Leistungen | 12646,-
DM | Einnahmen
insgesamt | 12867,- DM | | Ausgaben
insgesamt | 17498,- DM |
| Gesamtbilanz
pro Zuwanderer (1997) | | | | Ausgaben
| 4631,- DM |
Quelle:
SOEP; Ifo-Institut; Hans-Werner Sinn, EU-Erweiterung und Arbeitskräftemigration,
2001. |
Die Qualifikationsdefizite sind der
entscheidende Grund dafür, daß die Arbeitslosenquote und die Quote
der Sozilhilfeempfänger bei den Zugewanderten aus Nicht-EU-Ländern um
den Faktor 5 und mehr höher sind als bei den Einheimischen, und zwar nicht
nur in Deutschland, sondern in nahezu allen (= 15)
Ländern der EU. Die Qualifikationsdefizite sind dabei um so größer,
je höher der Anteil der Zugewanderten an der Bevölkerung ist. Aufgrund
dieser Fakten ist auch in Zukunft nicht damit zu rechnen, daß die Qualifikationsunterschiede
im erhofften Umfang abgebaut werden können. Durch die Strategie einer kompensatorischen
Zuwanderungspolitik würde das für die Produktivität und das Pro-Kopf-Einkommen
wichtige, im Humankapital der jüngeren Erwerbspersonen enthaltene Bildungs-
und Ausbildungskapital beeinträchtigt ....Wachstumsrate
des Bruttosozialprodukts | | Wachstumsrate
der Bevölkerung | = | Wachstumsrate
des Pro-Kopf-Einkommens | 2,5 % | | 0,7
%
| = | 1,8 % | 1,7
% | | 0,7
% | = | 2,4 % |
In
der öffentlichen Debatte ... wird stets ... die Höhe des Bruttoszialprodukts
herausgestellt. Aber es kommt auf die Höhe des Pro-Kopf-Bruttossozialprodukts
an. Die Schweiz (bzw. Deutschland; Anm. HB) übt
nicht deshalb eine magnetische Anziehungskraft auf die Zuwanderer z.B. Indiens
aus, weil das Bruttoszozialprodkt der Schweiz größer wäre als
das Bruttossozialprodukt Indiens (das BSP Indiens [rd. 600
Mrd. $] ist ja sogar viel höher als das der Schweiz [rd. 320 Mrd. $]! Anm.
HB), sondern weil das Pro-Kopf-Bruttossozialprodukt und der mit ihm korrelierende
Lebensstandard in der Schweiz wesentlich höher ist. (Dem
rd. 564 $ Pro-Kopf-BSP in Indien stehen rd. 43553 $ Pro-Kopf-BSP in der Schweiz
gegenüber - das heißt: das Pro-Kopf-BSP in der Schweiz ist um den Faktor
77,22 größer als das in Indien; Anm. HB).Resümee:
In den letzten 50 Jahren gingen die Geburtenraten in den Indiustrieländern
um etwa die Hälfte zurück. In Deutschland beruhte der Rückgang
vor allem auf dem Anstieg des Anteils der Frauen an einem Jahrgang mit lebenslanger
Kinderlosigkeit auf rd. ein Drittel, während sich bei den Frauen mit Kindern
nach wie vor eine im langfristigen Vergleich konstante Zahl von rd. zwei Kindern
ergibt. Bei den EU-Ländern, bei denen der Anteil kinderloser Frauen niedrig
ist (z.B. Frankreich), liegt die Geburtenrate über dem Durchschnitt der EU,
bei Ländern mit hoher Kinderlosigkeit unter dem Durchschnitt (z.B. Deutschland).
Durch die in Deutschland besonders hohe Kinderlosigkeit (rd.
33%; Anm. HB) spaltet sich die Gesellschaft in einen Familiensektor (2/3-Mehrheit;
Anm. HB) und in einen Sektor ohne eigene Nachkommen (1/3-Minderheit;
Anm. HB). Daraus ergeben sich gravierende Konsequenzen für das in
der Verfassung verankerte Prinzip der »sozialen Gerechtigkeit«, durch
dessen Verletzung auch die sozialen Sicherungssysteme ihre Funktion nicht mehr
erfüllen können.Bei ... Zuwanderungen verringert sich das Qualifikationsniveau
der Bevölkerung, und es kommt zu Einbußen beim Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens,
während gleichzeitig die Integrationskosten steigen. Die Strategie der Zuwanderungen
ist auch aus internationaler Sicht problematisch. .... Es wäre eine moralisch
durch nichts zu rechtfertigende Strategie, wenn die reichen Länder auf Dauer
ihre demographischen Defizite auf Kosten der armen ausgleichen und mit den Mitteln
der Migrationspolitik eine Art demographischen Kolonialismus etablieren würden.
(Zitat-Ende).
Die ausgefallene Generation (2005)
ä
Vorwort (S. 7-8):Demographie ist in aller Munde, aber was ist das
eigentlich für ein Fach, das ständig mit Demoskopie verwechselt wird
? Zu den in der Schule vermittelten Grundkenntnissen gehört Geographie,
aber über Demographie erfährt man in der Regel nichts.Die
demographische Entwicklung betrifft uns alle. Ihre Auswirkungen sind so weitreichend,
daß es schwerfällt, den Überblick zu behalten. Wer weiß
beispielsweise, daß die Übernahmeschlachten ausländischer Fondsgesellschaften
um deutsche Unternehmen etwas mit Demographie zu tun haben? Wegen des umlagefinanzierten
deutschen Sozialversicherungssystems verfügt Deutschland im Gegensatz zu
Ländern mit kapitalstockfinanzierter Alterssicherung wie die USA oder Großbritannien
über keine international bedeutenden Kapitalgesellschaften und Banken; es
hat trotz seines großen wirtschaftlichen Potentials keine international
konkurrenzfähige Finanzmacht. Deswegen fließen die Dividenden der von
ausländischen Fonds übernommenen Unternehmen ebenso wie die Zinsen der
Staatsanleihen, die von den nachrückenden Generationen verdient werden müssen,
den Pensionären in Kalifornien, Philadelphia oder Cornwall zu. Die Staatsanleihen
selbst hingegen sind von den schrumpfenden Generationen unserer Kinder und Enkel
zurückzuzahlen. Der internationale demographische Konflikt ist nur eines
der aktuellen Beispiele für die fachübergreifende Bedeutung der Demographie.In das vorliegende Buch werden
... die aktuellen Ergebnisse der Weltbevölkerungsprognosen der Vereinten
Nationen sowie die Bevölkerungsvorausberechnungen für Deutschland und
Europa aufgenommen. (Zitat-Ende).ä
Klassische Bevölkerungstheorie und Moderne (S. 9-12):Das »Bevölkerungsgesetz«
von Malthus hat sich schon zu dessen Lebzeiten als ebenso falsch erwiesen wie
die ihr vorangegangene Bevölkerungslehre von Süßmilch als richtig.Das
Potential zur Veränderung der realen Verhältnisse und nicht die Träume
über eine Verbesserung der Welt und der Menschen bildet den Kern der klassischen,
in ihren wichtigsten Kenntnissen heute noch gültigen Bevölkerungstheorie
aus der Epoche vor Malthus, an die es anzuknüpfen gilt.Die malthusianische
Bevölkerungstheorie wurde zwar längst durch die reale Bevölkerungsgeschichte
widerlegt, während sich die von Süßmilch als richtig erwies, aber
trotzdem ist Süßmilch heute außerhalb der Fachdemographie bzw.
in der ausufernden Literatur der Gelegenheitsdemographie unbekannt, während
Grundkenntnisse über Malthus weltweit zur Allgemeinbildung gehören.
Wie ist es zu erklären, daß die Gedankenwelt von Malthus immer noch
die Vorstellungen der Menschen über die demographische Entwicklung beherrscht
? Warum stehen seine längst widerlegten Thesen immer noch im Zentrum
vieler Bestseller, die sich mit der Bevöllkerungsentwicklung befassen?
(Zitat-Ende).ä
200 Jahre »Bevölkerungsgesetz« (S. 13-17):»Das
unerschütterlichste und wichtigste Naturgesetz der ganzen bisherigen Nationalökonomie«
- so urteilte der Gelehrte Gustav Cohn 1882 über das von Malthus anonym publizierte
»Bevölkerungsgesetz«. »Das dümmste Buch der Weltliteratur«
- so lautete hingegen das Urteil von Werner Sombart in seiner »Geisteswissenschaftlichen
Anthropolgie« von 1938.Malthus entstammte einem ... Elternhaus
des englischen Landadels. .... Das »Bevölkerungsgesetz« ... wurde
zur Bekämpfung der revolutionären politischen Utopien geschaffen, die
sich nach der französischen Revolution auch in England ausbreiteten.Schon
die 1. Prämisse (von Malthus) trifft im allgemeinen nicht zu: Die Nahrungsmittelproduktion
folgt nicht der einer linearen, sondern meistens ebenso wie die Bevölkerung
einer geometrischen Reihe. Überdies ist die Wachstumsrate der Nahrungsmittelmenge
in der Mehrzahl der Industrie- und Entwicklungsländer bzw. im Weltdurchschnitt
sogar größer als die der Bevölkerung, so daß die pro Kopf
produzierte Menge ständig wächst, statt abzunehmen. Ende des 19. Jahrhunderts
stellte Franz Oppenheimer das »Bevölkerungsgesetz« folgerichtig
auf den Kopf: «Die Bevölkerung hat nicht die Tendenz, über die
Unterhaltsmittel hinauszuwachsen, vielmehr haben die Unterhaltsmittel die Tendenz,
über die Bevölkerung hinauszuwachsen». Weil dies nicht erst Ende
des 19. Jahrhunderts, sondern schon zu Lebzeiten von Malthus so war (was er wußte
oder aus Süßmilchs Bevölkerungslehre hätte wissen können),
wuchs die Weltbevölkerung zum Zeitpunkt des Erscheinens des »Bevölkerungsgesetzes«
bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts von einer Milliarde auf 6,5 Milliarden und
sie wird sich im 21. Jahrhundert weiter in Richtung auf 9 bis 10 Milliarden bewegen
, weil sich die Nahrungsschranke laufend verschiebt. Die Zahl der Hungernden nimmt
nach Feststellung der Vereinten Nationen trotz steigender Weltbevölkerung
nicht zu, sondern leicht ab. Leider ist der Nachrichtenwert guter Botschaften
geringeer als der von schlechten, so daß dieses Faktum weitgehend unbekannt
blieb. Auch die 2. und 3. Prämisse (von Malthus) sind falsch. Mit
steigendem Wohlstand nahm die Kinderzahl pro Frau nicht zu, sondern ab. Auch dies
hätte Malthus wissen können, denn in dem Buch von Süßmilch,
seinem deutschen Vorgänger, wird dieser Sachverhalt breit erörtert,
und zwar mit Schlußfolgerungen, die denen von Malthus diametral entgegengesetzt
sind. Wie Süßmilch richtig sah, gehen die Geburtenzahl pro Frau und
die Wachstumsrate der Bevölkerung mit dem steigenden Entwicklungsstand, mit
der Industrialisierung und Verstädterung, tendenziell zurück. In ...
Industrieländern ... wurde die Wachstumsrate in der 2. Hälfte des 20.
Jahrhunderts schließlich sogar negativ, die Bevölkerung schrumpft.
Viele Tierarten passen ihr Fortpflanzungsverhalten den Nahrungsquellen ihres Habitats
durch eine Begrenzung der Zahl ihrer Nachkommen an. Sie investieren dann mehr
in die Brutpflege und die Überlebensfähigkeit als in die Aufzucht einer
maximalen Zahl von Nachkommen. Das war natürlich schon zu Malthus' Zeiten
so. Warum sollte der Mensch, das am höchsten entwickelte Wesen, nicht wie
die Tiere dazu in der Lage sein, seine Fortpflanzung zu regulieren? Warum
fand das »Bevölkerungsgesetz« trotz dieser wirklichkeitsfremden
Prämisse so viel Zuspruch? Es gibt Theorien, die eine Art ewiges Leben
haben, obwohl ihre Falschheit offen zutage liegt.Als
sich schließlich erwies, daß auch die Prophezeiungen der Gelegenheitsdemographen
des Club of Rome über eine Erschöpfung wichtiger natürlicher
Ressourcen wie fossile Brennstoffe falsch waren - die Menge der bekannten Erdölreserven
nimmt trotz steigenden Verbrauchs immer noch zu, statt ab, und die bekannten Kohlenvorräte
der Erde reichen noch für Jahrhunderte -, wurde schließlich die Ressourcenschranke
durch die Umweltschranke ersetzt. Der Malthusianismus der Nahrungsschranke verwandelte
sich in einen ökologischen Malthusianismus. (Zitat-Ende).ä
Ursprünge der klassischen Demographie in Deutschland (S. 18-23):Es
ist nicht möglich, auf die Geschichte der Bevölkerungswissenschaft einzugehen,
ohne die Fehlentwicklung dieser Disziplin in der Zeit des Nationalsozialismus
in die Betrachtung einzubeziehen. Die Rassen- und Bevölkerungstheorie der
Nazis, mit denen die staatlich organisierte Tötung von angeblich minderwertigen
Menschen gerechtfertigt wurde, gilt heute vielen als Beweis, daß die Kultur
Deutschlands in ihrem Kern die Tendenz zu einer zutiefst inhumanen, verhängnisvollen
Entwicklung enthielt, die mit der Folgerichtigkeit einer Geschoßbahn in
der Katastrophe des 20. Jahrhunderts endete. Wer das so sieht, wird jedoch gerade
durch die Geschichte der Bevölkerungswissenschaft eines besseren belehrt.
Die wichtigsten Erkenntnisse dieser Wissenschaft gehen auf das ein halbes Jahrhundert
vor Malthus' »Bevölkerungsgesetz« erschienene Werk Johann Peter
Süßmilchs zurück (»Die göttliche
Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt-
Tod und Fortpflanzung desselben erwiesen«, 1741). Die in diesem Buch
erstmals dargestellten Erkenntnisse sind heute ebenso gültig wie zur Zeit
ihrer Entdeckung und ebenso aktuell wie die Ideen Immanuel Kants über die
Möglichkeit und Notwendigkeit eines »Ewigen Friedens« unter den
Völkern der Welt. Es gibt keinerlei geistige Verbindung und nicht
die Spur einer Kontinuität zwischen der klassischen Bevölkerungswissenschaft
deutschen Ursprungs und der rassistischen Bevölkerungslehre des 19. und 20.
Jahrhunderts. Die in Deutschland entstandene Bevölkerungslehre ist von universalistischen,
zutiefst humanen und christlichen Prinzipien geprägt. Der Rassismus in der
Bevölkerungswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts beruht auf einem Bruch
mit der klassischen deutschen Tradition, nicht auf ihrer Fortsetzung.
Wer nach den bevölkerungswissenschaftlichen Ursprüngen der rassistischen
Bevölkerungslehre sucht, findet ihre geistigen Wurzeln in der malthusianischen
Bevölkerungsdoktrin, nicht in der Bevölkerunglehre Süßmilchs.
Es war ein simples Prinzip - die gnadenlos strenge Auslese der Individuen einer
Population nach ihrer Überlebenstüchtigkeit -, das nach der Bevölkerungstheorie
von Malthus - und der Evolutionstheorie von Charles Darwin, der sich ausdrücklich
auf Malthus' Bevölkerungslehre berief - die biologische Evolution antrieb
und über Jahrmillionen zur Entstehung der höheren Arten und schließlich
des Menschen führte. Das gleiche Prinzip sollte nach Malthus und der von
ihm begründeten Schule der politischen Ökonomie und des ökonomischen
Liberalismus auch die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen regeln.
Indem es die untüchtigen, weniger konkurrenzfähigen Marktteilnehmer
an den Rand des wirtschaftlichen Geschehens drängte oder ganz aus den Märkten
ausschloß, sorgte das Selektionsprinzip aus der Sicht der liberalen Wirtschaftstheoretiker
für den Ansporn zu einem ökonomischen Umgang mit den knappen Wirtschaftsgütern,
für ihre effizienteste Verteilung und Verwendung und für eine dauernde
Tendenz zur Steigerung der Produktivität und des Lebensstandards. Malthus'
politische Ökonomie stand zu seiner Bevölkerungslehre in krassem Widerspruch,
denn eine wachsende Produktivität war mit einer wachsenden Bevölkerung
durchaus vereinbar. Die »Nahrungsschranke« ließ sich permanent
hinausschieben, so daß es keineswegs zur Vernichtung der »Überschußbevölkerung«
durch einen Anstieg der Mortalität kommen mußte. Vielmehr war nach
dieser ökonomischen Theorie ein paralleles Wachstum der Bevölkerung
und der Wirtschaft möglich. Von der späteren neoklassischen Wirtschaftstheorie
wurde es als ein »Wachstum im Gleichgewicht« bezeichnet, so wie es
dann die reale Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte der folgenden Jahrhunderte
auch zeigte. Malthus hat wahrscheinlich den Widerspruch zwischen seiner
Bevölkerungs- und Wirtschaftstheorie gesehen und ihn mit einer seltsamen
Konstruktion - einer Art moralphilosophischer Klassentheorie - verdeckt. Die Ursache
für das Trennende und den Gegensatz zwischen den Klassen lag nach Malthus
nicht in erster Linie - wie später bei Karl Marx - in den Unterschieden des
Besitzes an ökonomischen Gütern, sondern in der Verschiedenheit der
Menschen im Hinblick auf ihre moralischen Eigenschaften und Fähigkeiten.
Nach der moralischen Klassentheorie war die Bevölkerung der »lower
classes« wegen ihrer minderen moralischen Qualität, also nicht in erster
Linie wegen ihrer Armut, unfähig, die Zahl ihrer Nachkommen durch die Zügelung
ihres Geschlechtstriebes den Unterhaltsmitteln anzupassen. Die Unterschicht reagiert
deshalb nach Malthus' Bevölkerungsgesetz auf eine Verbesserung ihrer ökonomischen
Lage stets mit einer Erhöhung ihrer Geburtenrate, nicht mit einer Verringerung.
Durch diesen gleichsinnigen Zusammenhang zwischen der Geburtenrate und der Höhe
des Lebensstandards ist die Unterschicht in einem »Zirkel der Armut«
gefangen: Sozialpolitische Reformen zur Linderung der Armut oder eine Anhebung
der Löhne über das Existenzminimum hinaus müssen nach Malthus zwangsläufig
an der von ihnen bewirkten Zunahme der Unterschichtbevölkerung scheitern.
Nach Süßmilchs Theorie besteht kein gleichsinniger Zusammenhang zwischen
der Geburtenrate und dem Lebensstandard der Bevölkerung, sondern ein gegenläufiger.
Dieser Unterschied zu Malthus ist von größter Tragweite. Wie Süßmilchs
Analyse der Geburtenrate in den Gemeinden Preußens ergab, variierte die
Kinderzahl stark nach der Siedlungsgröße, mit der Folge, daß
die Wachstumsrate der Bevölkerung mit zunehmender Verstädterung zurückging.
Der Unterschied zu Malthus' Lehre ist keineswegs nur von akademischem Interesse,
er ist für die Politik und das von ihr abhängige Überleben der
Menschen entscheidend. Im Gegensatz zu Malthus trat Süßmilch für
sozialpolitische Reformen zum Wohl der armen Bevölkerungsschichten ein. Er
gründete Hebammenschulen und bemühte sich um die Schaffung von Gesundheitseinrichtungen,
um die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit zu senken. Sein Ziel war es,
Leben zu retten, und nicht durch die Bevölkerungstheorie zu begründen,
warum eine Begrenzung des Bevölkerungszuwachses und eine Auslese »naturgesetzlich
notwendig« waren. Für jede Bevölkerungstheorie gilt:
Unterbleibt die strenge, an wissenschaftlichen Kriterien orientierte Prüfung
der Theorie durch die Fakten, kann das für die Betroffenen lebensgefährlich
sein. Malthus war von seiner Lehre so überzeugt, daß er auf diese Prüfung
in der ersten Ausgabe seines Werkes von 1798 ganz verzichtete. Auch in der wesentlich
erweiterten zweiten Ausgabe von 1803 blieb er den Beweis schuldig. Das ist schlimm
genug, aber ebenso zu kritisieren ist, daß er die in Süßmilchs
Werk enthaltenen Daten, Ergebnisse und Folgerungen, die seiner Theorie widersprachen,
ignorierte. Wie die Menschen sind, wie viele es sind und wie viele auf
der Erde leben können - diese Themen hängen miteinander zusammen, sie
bilden den Kern von Süßmilchs Frage nach der »Tragfähigkeit
der Erde«: »... im folgenden wird die Frage erörtert, ob Krieg
und Pest notwendig zum öfteren vorkommen müssen, welches ich verneine.
Weil aber der Beweis hiervon nicht hat können gegeben werden, ohne eine Kenntnis
von dem Zustande und der Anzahl der Menschen auf der Erde zu haben: so bin ich
daher genötigt worden zu untersuchen, wie viel Menschen zu gleicher Zeit
auf dem Erdboden leben können und wie viele gegenwärtig wirklich leben
mögen, um aus der Vergleichung der möglichen und wirklichen Anzahl zu
urteilen, ob die Vermehrung notwendig müsse gehemmet werden oder nicht«.
Das Ergebnis der Berechnungen lautet: » ...es ist bewiesen, daß 4000
Millionen zugleich leben können, und daß gegenwärtig höchstens
nur tausend Millionen wirklich zugleich leben«. Die Analysen wurden in der
unruhigen Zeit nach der Thronbesteigung Friedrich II. unmittelbar vor dem Beginn
des ersten Schlesischen Krieges in großer Eile zu Ende gebracht. An diesem
Krieg hatte Süßmilch als Feldprediger teilgenommen, später hatte
er neben seiner Tätigkeit als Gelehrter das Amt eines Propstes der brandenburgisch-lutherischen
Kirche inne. In dieser Eigenschaft hatte er Zugang zu den Kirchenbüchern
der preußischen Gemeinden, deren Eintragungen er für seine bevölkerungsstatistischen
Analysen auswertete. Auf dieser Grundlage revidierte er in der zweiten, wesentlich
erweiterten Ausgabe von 1762 seine Berechnungen und bezifferte die »Tragfähigkeit
der Erde« nicht wie in der ersten Ausgabe auf vier, sondern auf vierzehn
Milliarden Menschen. Die Reaktion der Gelehrten Europas war außerordentlich
positiv. Über die Grenzen der Nationen und der wissenschaftlichen Disziplinen
hinaus entwickelte sich ein enges Netz an fruchtbaren Kooperationen, das der Internationalität
der heutigen Forschung in nichts nachstand. Diese positive Entwicklung endete
mit dem Erscheinen des »Bevölkerungsgesetzes« von Malthus. Nach
dessen Lehre war die Erde der Grenze ihrer Tragfähigkeit bereits gefährlich
nahe, jeder weitere Bevölkerungszuwachs mußte verhindert werden. Die
Abschaffung der Armenhilfe in England diente diesem Ziel. Der krasse
Widerspruch zu Süßmilch blieb in der Ära des Malthusianismus unbeachtet.
Der Siegeszug der Evolutionstheorie Darwins, der sich bei der Begründung
seiner Evolutionstheorie auf Malthus berief, schien das »Bevölkerungsgesetz«
und dessen Grundprinzip - die Selektion der Überlebenstüchtigen - unwiderruflich
zu bestätigen. Das erste, grundlegende Kapitel des »Bevölkerungsgesetzes«
sowie das besonders wichtige 18. Kapitel enthalten Aussagen, die sich wie eine
Vorwegnahme der Evolutionstheorie lesen. In seinen Tagebüchern hat Darwin
festgehalten, daß ihn bei der Lektüre des »Bevölkerungsgesetzes«
eine Art Erleuchtung überkam, durch die er die Eingebung für seine Evolutionstheorie
empfing. Die beiden Theorien schienen einander zu stützen und zu bestätigen,
die Evolutionstheorie übertrug ihre Faszinationskraft auf die Bevölkerungstheorie.
Eine Relativierung der Bevölkerungstheorie hätte zwar der Evolutionstheorie
nicht den geringsten Abbruch getan, aber die geistige Verwandtschaft zwischen
beiden Theorien - die Schlüsselrolle des ihnen gemeinsamen Grundprinzips
der biologischen bzw. sozialen Auslese - ließ für den Gedanken einer
Revision der einen unter Beibehaltung der anderen keinen Raum. Im geistigen
Klima des Malthusianismus und Darwinismus entwickelte Francis Galton in den 60er
Jahren des 19. Jahrhunderts in England die Eugenik - eine Lehre von den erbbedingten
Eigenschaften der Menschen und ihrer gezielten Beeinflussung mit Maßnahmen
zur Förderung der Fortpflanzung von Menschen mit erwünschten Eigenschaften
(»positive Eugenik«) bzw. zur Verhinderung der Fortpflanzung von Menschen
mit unerwünschten Eigenschaften (»negative Eugenik«). In Frankreich
entstand in dieser Zeit die von Arthur Graf von Gobineau 1853 veröffentlichte
Theorie über die »Ungleichheit der Menschenrassen« bzw. über
die »Überlegenheit der arischen Rasse«. In Deutschland
verbreiteten sich die Ideen der Eugenik Jahrzehnte später als in England,
aber lange vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, und zwar nicht nur
in der biologischen Anthropologie, wie viele glauben, sondern ebenso ungehemmt
auch in den Sozialwissenschaften. Als Parallelprogramm zur biologischen Eugenik
entstanden in der Soziologie die sogenannte »Eubiotik«, die »Sozialbiologie«
und die »Gesellschaftshygiene«, die unter diesen Stichworten bereits
1924 im Handwörterbuch der Staatswissenschaften in ausführlichen Artikeln
dargestellt sind - unter Einschließung von Vorschlägen zu ihrer Anwendung
durch rassenpolitische Gesetze und Maßnahmen des Staa tes. Als die Nationalsozialisten
die millionenfache Tötung von Menschen mit der Rassentheorie begründeten,
hatte die Wissenschaft diesem Weg ins Verhängnis längst durch zahlreiche
soziologische Veröffentlichungen biologisch-rassistischer Prägung den
Boden bereitet. Für die Nationalsozialisten war das »Bevölkerungsgesetz«
von Malthus eine Lehre, in der sie etwas »entscheidend Richtiges«
erkannten. Die beiden Klassiker der Demographie, Süßmilch
und Malthus, waren weit mehr als Demographen im heutigen Sinn des Begriffs; sie
erfanden die Demographie als eine Hilfswissenschaft und als ein Beweismittel,
das einem höheren Zweck dienen sollte. Bei Malthus war es das Ziel, mit dem
»Bevölkerungsgesetz« einen unwiderlegbaren Beweis für die
Unmöglichkeit jeden gesellschaftlichen Fortschritts zu erbringen und für
die Vergeblichkeit aller politischen Bestrebungen, die Lebensbedingungen der Unterschichten
über das bloße Existenzminimum anzuheben. Süßmilch verfolgte
ein entgegengesetztes Ziel; er wollte nicht nur die Möglichkeit, sondern
auch die Notwendigkeit für Sozialreformen unter Beweis stellen, geleitet
von dem Bestreben, mit den Daten der Demographie einen empirischen Beweis für
die Existenz Gottes zu finden. Um die Ursprünge der Demographie
in Deutschland wieder zu entdecken, ist es wichtig, sich die Aktualität der
Süßmilchschen Ideen bewußt zu machen. Zu Süßmilchs
Zeit lebte in der damaligen und heutigen Hauptstadt unseres Landes ein größerer
Anteil von »Ausländern« als heute, darunter Hugenotten aus Frankreich,
Protestanten aus Salzburg, Juden, Muslime und andere, die alle »nach ihrer
Façon selig« werden sollten (Friedrich II. [der
Große]). Bei der Herausbildung einer bürgerlichen Oberschicht
spielten sie eine herausragende Rolle. Anders als im heutigen Einwanderungsland
Deutschland, dessen Migrationsbevölkerung überwiegend von einer »Einwanderung
in die Sozialsysteme« aus der Dritten Welt geprägt wird, war die Hauptstadt
Preußens das Ziel von Gebildeten, von fähigen Handwerkern und integrationswilligen
Neubürgern. In Berlin und Potsdam versammelte sich die Geisteselite Europas
- Voltaire, führende französische Enzyklopädisten, Gelehrte vom
Rang Leonhard Eulers. Die Fähigsten unter ihnen waren Mitglieder der Preußischen
Akademie der Wissenschaften, darunter auch Johann Peter Süßmilch. Seine
Ausführungen zur Migrationspolitik sind so modern wie unsere heutigen Überlegungen,
nur gründlicher und geprägt von einem heute seltenen, generationsübergreifenden
Weitblick. (Zitat-Ende).ä
Das Ende des Weltbevölkerungswachstums (S. 24-33):Seit Jahrhunderten
wird das Thema »Weltbevölkerung« unter dem Schlagwort der Wachstumsbeschleunigung
diskutiert, aber noch im 21.Jahrhundert, wahrscheinlich um das Jahr 2070, wird
das Wachstum enden und in die neue Phase der Weltbevölkerungsschrumpfung
übergehen. Ausgehend von einem kleinen Bestand, der in der Anthropologie
auf wenige Hunderttausend Individuen geschätzt wird, hat sich die menschliche
Population in vor- und frühgeschichtlicher Zeit zunächst extrem langsam
vermehrt, die Geburten- und Sterberaten waren nahezu gleich, die Differenz zwischen
ihnen, die Wachstumsrate, fast Null. Die Bevölkerungszahl der Erde zur Zeit
um Christi Geburt wird heute auf 200 bis 400 Mio. geschätzt. Auch in den
folgenden anderthalb Jahrtausenden blieb die Waage zwischen der Zahl der Geburten
und der Sterbefälle nahezu ausgeglichen, die prozentuale jährliche Wachstumsrate
lag fast immer bei Null. Noch um die Zeit des Dreißigjährigen Krieges
lebten nur rund eine halbe Milliarde Menschen auf der Erde - etwa die Hälfte
der heutigen Einwohnerzahl Indiens. Die erste Milliarde wurde erst um 1805 (1804;
Anm. HB*)
erreicht. Dann beschleunigte sich das Wachstum rasant. Für die zweite Milliarde
waren nur rund 121 Jahre nötig, für ihr Erreichen wird das Jahr 1926/'27
angenommen, für die dritte genügten 34 Jahre (1960). Die Abstände
wurden immer kürzer, für die vierte, fünfte und sechste Milliarde
stehen die Jahre 1974, 1987 und 1999.Die Wachstumsbeschleunigung hat
in der Neuzeit begonnen, sie dauerte in Europa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.
Diese Phase prägt die Vorstellungen über die Natur des Bevölkerungsprozesses
bis heute. Für die meisten Menschen verläuft das Bevölkerungswachstum
analog zur Vermehrung eines Geldbetrages bei festem Zinssatz, also nach der Zinseszinsformel
bzw. in Form einer geometrisch wachsenden Reihe. Die für die Verdopplung
des Kontostandes benötigte Zeit beträgt bei einem festen Zinssatz von
beispielsweise 1% 70 Jahre, aber nur 35 Jahre bei 2%, 23 Jahre bei 3% und 18 Jahre
bei 4%.Als die jährliche Wachstumsrate der Weltbevölkerung
um 1970 mit rund 2% ihren Höhepunkt erreichte, lebten 3,7 Mrd. Menschen auf
der Erde. Die folgende Zahlenreihe erklärt, warum in den 1970er Jahren Bücher
Massenauflagen erreichten, in deren Titel der Begriff »Bevölkerungsexplosion«
oder »Bevölkerungsbombe« auftauchte. Bei einer Wachstumsrate
von 2% verdoppelt sich die Bevölkerungszahl jeweils in 35 Jahren, ausgehend
von 3,7 Mrd. im Jahr 1970 ergibt dies (mit den dazugehörigen Jahresangaben
in Klammern): 7,4 Mrd. (2005),:14,8 Mrd. (2040), 29,6 Mrd. (2075), 59,2 Mrd. (2110)
u.s.w.. So dramatisch diese Zunahme erscheint, sie verliefe noch viel
schneller, wenn die Wachstumsrate nicht konstant bliebe, sondern ihrerseits zunähme,
wie dies in den vorangegangenen drei Jahrhunderten bis etwa 1970 der Fall war.
Seit 1970 nimmt die Wachstumsrate jedoch ständig ab, sie ist bis 2005 auf
rund 1,2% gefallen. Wäre sie auf dem Niveau von 1970 konstant geblieben,
lebten im Jahr 2005 nicht 6,5 Mrd. Menschen, sondern eine Milliarde mehr.
Die Beschleunigung des Wachstums beruht auf dem Wachstum der Wachstumsrate - eine
Form des Wachstumsprozesses, die als hypergeometrisches Wachstum bezeichnet wird.
Der hypergeometrische Typ trat zuerst in Europa auf, wo sich die Wachstumsrate
zwischen 1750 und 1900 parallel zur Industrialisierung nahezu verdoppelte. Zeitversetzt
um ein bis zwei Jahrhunderte erreichten auch die anderen Kontinente die Phase
des hypergeometrischen Wachstums. Je später der Beschleunigungsprozeß
einsetzte, desto höher war die Wachstumsrate auf dem Gipfel des Prozesses.
So betrug die maximale Wachstumsrate in Europa um 1950 1%, in Nordamerika 1,8%
(1955-60), in Asien 2,4% (1965-70), in Lateinamerika 2,8% (1960-65) und in Afrika
- trotz der Aids-Pandemie - 2,9% (1980-85). Die Bevölkerungsveränderung
entsteht aus den zwei bevölkerungsvermehrenden Komponenten, den Geburten
und Zuwanderungen, vermindert um die zwei bevölkerungsverringernden Komponenten,
die Todesfälle und die Abwanderungen. Je kleiner das betrachtete Gebiet ist,
desto größer ist das Übergewicht der Zu- und Abwanderungen gegenüber
den Geburten und Sterbefällen. Heute entfallen beispielsweise in Deutschland
auf der untersten Ebene der Verwaltungsgliederung, in den Gemeinden, auf jede
Geburt rund fünf bis zehn Zuwanderungen aus anderen Gemeinden oder aus dem
Ausland. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen den Todesfällen und
den Abwanderungen. Auch auf nationaler Ebene ist die Zahl der jährlichen
Zuwanderungen aus dem Ausland größer als die der jährlichen Geburten
im Inland. Auf der höheren Ebene der Kontinente ist das Gewicht
der Wanderungen vergleichsweise gering, und auf globaler Ebene spielen Wanderungen
für die Bevölkerungszahl der Erde theoretisch gar keine Rolle. Da aber
die Kinderzahl der Menschen auch davon abhängt, in welchem Land sie leben,
wirkt sich die internationale Migration aus der Dritten Welt in die Erste tendenziell
vermindernd auf die Geburtenrate der Weltbevölkerung aus. Dieser Effekt ist
jedoch quantitativ so unbedeutend, daß er innerhalb der Grenzen der statistischen
Genauigkeit kaum beziffert werden kann. In den anderthalb Jahrtausenden
nach Christi Geburt war die hohe Sterblichkeit der wesentliche Grund für
das geringe Bevölkerungswachstum, vor allem die extreme Säuglings- und
Kindersterblichkeit, die mehr als 50% erreichen konnte. Die Wachstumsbeschleunigung
kam erst in Gang, als sich die Sterblichkeit bei zunächst noch gleichbleibender
Geburtenrate verringerte, bis schließlich auch die Geburtenrate sank, wobei
sich der Abstand zwischen beiden - die Wachstumsrate - bis zu den 70er Jahren
des 20.Jahrhunderts vergrößerte. Seit Anfang der 70er Jahre sinkt die
Geburtenrate stärker als die Sterberate, so daß die Wachstumsrate seitdem
ständig kleiner wird. Dieser als »demographischer Übergang«
bezeichnete Befund gilt nicht nur für die Weltbevölkerung als Ganzes,
er läßt sich - von Ausnahmen abgesehen - auch für die meisten
Länder bestätigen. Fazit: Die Geburtenrate hat sich im Durchschnitt
der Weltbevölkerung seit Jahrzehnten dramatisch verringert. Sie fiel im Weltdurchschnitt
von 5 Geburten je Frau im Zeitraum 1950-55 auf 3,4 zwischen 1985-90 bzw. auf 2,7
in den Jahren 2000-05, darunter 2,9 in den Entwicklungsländern und 1,6 in
den Industrieländern.Die bestandserhaltende Geburtenrate, bei der
die Bevölkerungszahl weder wächst noch schrumpft, liegt um so mehr über
2 Geburten pro Frau, je höher die Sterblichkeit des betrachteten Landes ist.
Für diese Abweichung über 2 Geburten hinaus ist nicht nur das Niveau
der Sterblichkeit wichtig, sondern auch die Sexualproportion der Geborenen (das
Verhältnis aus der Zahl der Jungen und zur Zahl der Mädchen). Die natürliche
Sexualproportion beträgt 106 Jungen zu 100 Mädchen. In bestimmten Ländern,
vor allem in Asien, ist das Verhältnis durch die gezielte Abtreibung von
Mädchen infolge der kulturell bedingten Sohnespräferenz wesentlich höher,
in China beträgt es beispielsweise bei der Geburt des ersten Kindes 107,
bei der des zweiten erreicht sie 162, was auf der verstärkten Abtreibung
weiblicher Föten beruht, wenn das erste Kind ein Mädchen war. Die bestandserhaltende
Geburtenrate beträgt auch deshalb mehr als 2 Kinder je Frau, weil die Reproduktion
der Bevölkerung entscheidend von der Zahl der nachwachsenden Mädchen
abhängt, nicht von der Geburtenzahl insgesamt. (Zitat-Ende).ä
Deutschlands demographische Weltrekorde (S. 33-44):Je höher
das Niveau und das Tempo der sozioökonomischen Entwicklung ..., desto niedriger
die Geburtenrate.Ist es wahrscheinlich, daß die Abwärtsbewegung
der Geburtenrate bald zum Sillstand kommt - denn sie muß irgendwo oberhalb
einer Geburtenrate von Null enden? Wird es dann wieder eine Bewegung zurück
zu höheren Geburtenraten geben?Um auf derartige Fragen Antworten
zu finden, die wissenschaftlichen Kriterien genügen, müssen die Veränderungen
anhand genauerer Begriffe der Geburtenrate und der Sterberate beschrieben und
analysiert werden. Denn die Frage, ob sich das Firtpflanzungsverhalten einer Bevölkerung
- die unter dem Begriff »Fertilität« zusammengefaßte Gesamtheit
der Bedingungen und Motive des sogenannten generativen Verhaltens - geändert
hat, kann ja nicht einfach durch die Betrachtung des Auf und Ab der absoluten
Geburtenzahl entschieden werden.Der Einfluß der simplen Bevölkerungszahl
auf die Geburtenzahl läßt sich zwar künstlich ausschalten, indem
man die Geburtenzahl einfach durch die Bevölkerungszahl dividiert, aber die
entsprechende »rohe Geburtenrate« (Zahl der Geburten auf 1000
Einwohner) ist bei weitem nicht genau geung, um den Gründen des Geburtenrückgangs
auf die Spur zu kommen. Denn bei einer gegebenen Zahl von Frauen in der Altersgruppe
von 15 bis 45 hängt die Zahl der Geborenen auch davon ab, wie sich die Frauen
auf die 31 Altersjahre innerhalb des Intervalls von 15 bis 45 aufteilen. Je mehr
von ihnen zu der Altersgruppe gehören, in der die meisten Kinder zur Welt
kommen - in Deutschland liegt das Gebäralter mit der höchsten Geburtenrate
bei 30 -, desto höher ist bei gleicher Zahl und gleichem Fortpflanzungsverhalten
der Frauen die jährliche Geburtenzahl. Die Verteilung der Frauen
auf die Altersjahre von 15 bis 45 ist in jedem der miteinander verglichenen Kalenderjahre
oder Länder meist unterschiedlich. Deshalb wird bei zeitlichen oder internationalen
Vergleichen künstlich eine gleiche Altersverteilung zugrunde gelegt, indem
pro Altersjahr genau 1000 Frauen angenommen werden. Mit diesem Kunstgriff läßt
sich die zur Erklärung von Verhaltensänderungen wesentlich besser geeignete,
von den Einflüssen der Altersstruktur bereinigte »Zahl der Lebendgeborenen
pro Frau« berechnen, die auch als »zusammengefaßte Geburtenziffer«
(englisch: Total Fertility Rate, TFR) bezeichnet wird. Der
Begriff »zusammengefaßt« drückt dabei aus, daß die
Kinder, die in einem Kalenderjahr von dem im Altersintervall von 15 bis 45 gleichzeitig
lebenden 30 Frauenjahrgängen geboren wurden, zusammen berücksichtigt
werden. Man tut dabei so, als ob die in einem Kalenderjahr geborenen Kinder von
einer künstlich zusammengesetzten Generation zur Welt gebracht worden seien,
die aus den 30 verschiedenen Jahrgängen besteht, die im Jahr der Betrachtung
gemeinsam leben und in einem unterschiedlichen Alter stehen. Die simpel erscheinende
statistische Größe - »Zahl der Geburten pro Frau« - läßt
sich also nicht durch Umfragen ermitteln, sie ist das Ergebnis von Berechnungen,
die auch Annahmen über die Zahl der Geburten enthalten, die die heute erst
15, 16, 20 oder 30 Jahre alten Frauen in der Zukunft noch haben werden. Eine dieser
Annahmen ist beispielsweise, daß die im Jahr der Betrachtung 25jährigen
zehn Jahre später als 35jährige so viele Kinder (pro 1000) zur Welt
bringen werden wie die heute 35jährigen. Das klingt nicht nur ziemlich konstruiert,
sondern ist es auch. Es gibt jedoch keine einfachere Methode um die Geburtenrate
eines Landes in einem bestimmten Kalenderjahr - gemessen durch die simpel erscheinde
Zahl der Lebendgeborenen pro Frau - anzugeben. Die Unterschiede der Altersstruktur
machen sich auch dann störend bemerkbar, wenn nicht verschiedene Kalenderjahre
oder Länder, sondern verschiedene Geburtsjahrgänge miteinander verglichen
werden. In der Fachliteratur wird ein Geburtsjahrgang auch mit dem Begriff »Kohorte«
und die Kinderzahl pro Frau eines Geburtsjahrgangs entspechend als »jahrgangs-
bzw. kohortenspezifische Geburtenzahl pro Frau« bezeichnet (englisch:
Completed [oder: Cohort] Fertility Rate, CFR). Auch bei der Berechnung
der Geburtenzahl pro Frau für die verschiedenen Geburtsjahrgänge wird
der im Zeitablauf variierende Einfluß der Altersstruktur künstlich
ausgeschaltet, um den reinen Effekt des Fortpflanzungsverhaltens zu messen.In
Deutschland hat seit 150 Jahren tendenziell jeder Jahrgang - mit Ausnahme der
um 1932 geborenen Frauen - weniger Kinder als der jeweils vorangegangene (siehe
Tabelle).Geburtenzahl
der Frauenjahrgänge in Deutschland | Geburtsjahrgang
1860 | 5,0 Lebendgebornene | (1875-1905) | (=>
1890) | Geburtsjahrgang 1874 | 4,0
Lebendgebornene | (1899-1919) | (=>
1904) | Geburtsjahrgang 1881 | 3,0
Lebendgebornene | (1906-1926) | (=>
1911) | Geburtsjahrgang 1904 | 2,0
Lebendgebornene | (1919-1949) | (=>
1934) | Geburtsjahrgang 1920 | 1,9
Lebendgebornene | (1935-1965) | (=>
1950) | Geburtsjahrgang 1932 | 2,2
Lebendgebornene | (1947-1977) | (=>
1962) | Geburtsjahrgang 1965 | 1,5
Lebendgebornene | (1980-2010) | (=>
1995) |
Die Zahl für den zuletzt aufgeführten
Geburtsjahrgang von 1965 wurde zu einem Zeitpunkt ermittelt, als die Frauen das
Ende des gebärfähigen Alters noch nicht ganz erreicht hatten. Da aber
beispielsweise nach dem Alter 35 nur noch 15% oder weniger der gesamten Nachkommen
eines Jahrgangs geboren werden, läßt sich die insgesamt zu erwartende
Kinderzahl bereits zuverlässig vorausberechnen, bevor der Jahrgang das Intervall
von 15 bis 45 ganz durchlaufen hat. |
Die
für ein bestimmtes Kalenderjahr berechnete Geburtenzahl pro Frau kann mit
der für einen Geburtsjahrgang berechneten verglichen werden, obwohl beide
auf völlig verschiedenen Zeitskalen gemessen werden. Beim Vergleich von Kalenderjahren
bezieht sich die Zahl der Kinder pro Frau auf dasjenige Jahr, in dem die Kinder
zur Welt kommen, beim Vergleich von Frauenjahrgängen auf das Geburtsjahr
der Mütter. Obwohl die beiden Zeitskalen verschieden sind, lassen sich die
beiden Fertilitätsmaße in das gleiche Diagramm eintragen und miteinander
vergleichen, wenn man den folgenden Trick anwendet.Dafür wird die
Kinderzahl, die sich bei jedem Jahrgang auf das Altersintervall von 15 bis 45,
also auf 30 Lebensjahre bzw. auf 30 Kalenderjahre verteilt, vereinfachend einem
einzigen Kalenderjahr zugeordnet. Man wählt dafür dasjenige Kalenderjahr,
auf das beim betreffenden Jahrgang die meisten Geburten entfallen. Dadurch kann
die Geburtenrate eines Jahrgangs (CFR) im gleichen Diagramm dargestellt werden
wie die Geburtenrate eines Kalenderjahres (TFR). Aus dem Vergleich der beiden
Kurven im Schaubild erkennt man, daß die jahrgangsspezifische Kinderzahl
pro Frau (CFR) schon seit dem Jahrgang 1860 abnimmt. Außerdem fällt
deutlich ins Auge, daß die von wichtigen historischen Ereignissen wie den
Weltkriegen und der Weltwirtschaftskrise von 1932 beeinflußte zusammengefaßte
Geburtenziffer (TFR) einen viel unregelImäßigeren Verlauf hat als die
Kurve für die Geburtsjahrgänge, die auf solche Ereignisse reagieren,
indem Geburten aufgeschoben und später nachgeholt werden. Beiden Kurven gemeinsam
ist der deutliche Abwärtstrend. Er zeigt, daß der Rückgang der
Fertilität, also die Änderung des von der variierenden Altersstruktur
unabhängigen, reinen Fortpflanzungsverhaltens, in Deutschland schon Ende
des 19. Jahrhunderts begann. Das Zusammenspiel des Fortpflanzungsverhaltens mit
der jeweiligen Zahl der weiblichen Bevölkerung, insbesondere mit der Zahl
in der Altersgruppe 15-45 und deren Verteilung innerhalb dieses Intervalls, ergibt
die jährliche Geburtenzahl. (Zitat-Ende).Anzahl
der Einwohner* und der Lebendgeborenen in Deutschland** seit 1840 mit Vorausberechnungen
bis 2100 *
Von 1840 bis 1989: Bevölkerung am 31.12. eines Jahres, von 2000 bis 2100
mittleree Bevölkerung eines Jahres. ** Von 1840 bis 1945 Reichsgebiet;
von 1945 bis 1990 Gebiet der 1990 vereinten Bundesrepubik Deutschland. Quelle:
Herwig Birg, Universität Bielefeld, 2005. Daten: Daten von 1840 bis 1999
Statistisches Bundesamt, Daten von 2000 bis 2100 Herwig Birg / Ernst-Jürgen
Flöthmann, Demographische Projektionsberechnungen für die Rentenreform,
2000; Materialien des IBS, Band 47A; Universität Bielefeld, 2001 (Variante
5) |
Geburtenziffer
und Sterbeziffer in Deutschland* von 1816 bis 2000 *
1816 bis 1840 Preußen, 1841 bis 1945 Reichsgebiet, 1945 bis 2000 Bundesgebiet. |
ä
Vorausberechnungen der Weltbevölkerung - Zuverlässigkeit und Hauptergebnisse
(S. 45-58):Die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen
führte in ihrem demographischen Forschungsinstitut in New York seit den 50er
Jahren des 20.Jahrhunderts insgesamt 19 Runden von Bevölkerungsvorausberechnungen
für die Länder der Welt durch; die erste fand 1951 statt, die jüngste
im Frühjahr 2005. Das Zieljahr der Vorausberechnungen war für die ersten
drei Runden aus den Jahren 1951, 1954 und 1957 jeweils das Jahr 1980. Die Abweichungen
zwischen der tatsächlichen Bevölkerungszahl im Jahr 1980 (4,43 Mrd.)
und den vorausberechneten waren bei den ersten Runden noch relativ groß,
bei der dritten von 1957 betrug der Fehler beispielsweise für einen Prognosezeitraum
von 23 Jahren 5,0%. In den folgenden Runden verringerten sich die Abweichungen
mit dem näher rückenden Zieljahr naturgemäß immer weiter,
aber der entscheidende Grund für die zunehmende Genauigkeit war, daß
die Datenbasis für die zurückliegenden Jahre bis 1950 als Basis für
die Vorausberechnungen ständig verbessert wurde. Da nur eine kleine Minderheit
der 200 Länder der Welt über zuverlässige Bevölkerungsstatistiken
verfügt - in vielen Entwicklungsländern werden auch heute noch bei weitem
nicht alle Geburten- und Sterbefälle in der amtlichen Bevölkerungsstatistik
registriert, geschweige denn die genaue Bevölkerungszahl -, besteht das Hauptgeschäft
der Bevölkerungsvorausberechnungen der UN darin, eine möglichst zuverlässige
Datenbasis für die Vergangenheit durch Stichproben und Informationsquellen
aller Art bis hin zu Luftaufnahmen über die Dichte der besiedelten Flächen
zu erarbeiten, auf der die Vorausberechnungen aufbauen können.Selbst
in Ländern wie Indonesien, in denen es (im Gegensatz zu Deutschland) Volkszählungen
gibt, ist die Qualität der Daten meist so gering, daß sie vor jeder
Verwendung für wissenschaftliche Analysen und Prognosen von offensichtlichen
Fehlern bereinigt werden müssen. So sind die Altersangaben in Indonesien
unbrauchbar, weil die Menschen ihrem Alter keine besondere Bedeutung beimessen,
was sich u.a. darin äußert, daß sie ihren Geburtstag nicht feiern.
Noch vor wenigen Jahrzehnten wußten die Menschen nicht genau, in welchem
Jahr sie geboren wurden. Bei der Beantwortung der Fragen nach dem Alter werden
dann - den religiösen und kulturellen Vorstellungen entsprechend - Glückszahlen
bevorzugt und Unglück verheißende Zahlen vermieden. Das Ergebnis ist
eine Bevölkerungspyramide, in der bestimmte Altersgruppen unter- und andere
stark überschätzt sind. In den bisherigen 19 Vorausschätzungsrunden
für die einzelnen Länder der Welt wurden neben den Vorausberechnungen
auch die Daten für die Vergangenheit sowie für das Ausgangsjahr der
Vorausberechnungen jeweils durch immer genauere Schätzungen ersetzt. Hinzu
kamen ständige Verbesserungen der Methodik der Vorausberechnungen. Wenn die
Zahlen für das Ausgangsjahr einer Revision unterzogen werden, dann ändert
sich jedoch - bei gleicher Prognosemethode - auch das Vorausberechnungsergebnis,
so daß die Abweichung zwischen der tatsächlichen und der vorausberechneten
Bevölkerungszahl nicht im vollen Umfang als Prognosefehler interpretiert
werden darf. Insgesamt läßt sich feststellen, daß sich
die Genauigkeit ständig erhöht hat: Die erste Vorausberechnung der Weltbevölkerung
für das Jahr 2000 fand 1957 statt, das Ergebnis war 6,28 Mrd.. Die tatsächliche
Zahl wird heute von den UN mit 6,07 Mrd. angegeben, die Differenz zwischen Ist
und Soll beträgt mithin 3,5%. Der eigentliche Prognosefehler ist jedoch niedriger,
denn in den 80er und 90er Jahren hat die Bevölkerungsabteilung der UN die
Bevölkerungszahlen zurück bis 1950 für die Entwicklungsländer,
die über keine zuverlässigen demographischen Statistiken verfügen,
mehrmals revidiert. Dabei wurden die Geburtenraten in vielen Entwicklungsländern
nach unten korrigiert, sie waren also niedriger als in der Vorausberechnung von
1957 angenommen. Wäre die Vorausberechnung von 1957 schon auf der Grundlage
der später revidierten Datenbasis erarbeitet worden, läge die Vorausberechnung
von 1957 noch näher an der tatsächlichen Zahl, der Prognosefehler betrüge
dann schätzungsweise 1,5 bis 2 %. Aus den gleichen Gründen
- verbesserte Schätzungen der Daten für die Vergangenheit und für
das Ausgangsjahr der Vorausberechnungen sowie Verbesserungen der Methodik - weichen
die Ergebnisse der sechs Runden mit dem gleichen Zieljahr 2050 voneinander ab.
Das Ergebnis der 14. Runde von 1994 (1990; Anm. HB*)
für das Jahr 2050 betrug beispielsweise 9,83 Mrd., das der zur Zeit neuesten
19. Runde von Anfang 2005 9,08 Mrd.. Die jüngste Vorausberechnung liegt also
um eine Dreiviertel Milliarde unter der 14., jedoch um über hundert Millionen
über der vorangegangenen 18. Runde von 2002 (8,92 Mrd.). Der Hauptgrund für
diese Differenzen sind unterschiedliche Berechnungsverfahren für die Auswirkungen
der AIDS-Pandemie.Bevölkerungsprognosen sind zuverlässiger
als Prognosen über die wirtschaftliche Entwicklung, weil die künftigen
Bevölkerungszahlen in erster Linie von der Größe der verschiedenen
Altersgruppen in der bekannten Bevölkerungspyramide abhängen und erst
in zweiter Linie vom Verhalten der Menschen, das sich ändern kann. Aber auch
die sich ändernden Verhaltensweisen lassen sich analysieren und die dabei
festgestellten Richtungen der Verhaltensänderungen bei den Annahmen für
die Zukunft berücksichtigen. Der Unterschied zwischen den dominierenden Einfluß
der Altersstruktur und dem der Verhaltensweisen läßt sich vergleichen
mit dem ziemlich sicher prognostizierbaren Wechsel der Jahreszeiten und den kurzfristigen
Wetterprognosen. (Zitat-Ende).
ä
Implodierende Generationen - Gründe des Geburtenrückgangs (S. 80-93):Natürlich
hat auch die Demographie ihren eigenen blinden Fleck, aber an welcher Stelle sitzt
er?Die Vermutung eines Zusammenhangs zwischen dem Rückgang der Geburtenrate
und der Zunahme der kompensatorischen Zuwanderung ist ein so naheliegender Gedanke,
daß man sich fragt, warum er von Zeithistorikern, Soziologen und Politologen
bisher vollkommen übersehen wurde. Vielleicht liegt der spezifische blinde
Fleck dieser Disziplinen bei ihrer Wahrnehmung und Analyse der demographischen
Phänomene in Deutschland.Eine zweite Gruppe von Faktoren ist in
ihrer Wirkung auf bestimmte, wenige Geburtsjahrgänge konzentriert. Beispielsweise
hatten sich die in den 1940er und 1950er Jahren Geborenen während ihrer Phase
der Familienbildung mit den Auswirkungen der Emanzipationsbewegung und den Leitbildern
einer antiautoritären und dezidiert antifamilialen Selbstverwirklichungsideologie
auseinanderzusetzen, deren Folgen heute noch wirksam sind. Zu den Faktoren mit
einer spezifischen Wirkung auf bestimmte Jahrgänge gehören auch die
Auf- und Abschwungphasen der wirtschaftlichen Konjunktur- und Wachstumszyklen.
So traf beispielsweise der Jahrgang 1950 bei seinem Eintritt in das Berufsleben
im Jahr 1970 auf einen Arbeitsmarkt mit einer extrem niedrigen Arbeitslosenquote
von 0,8% (!) und entsprechend günstigen beruflichen Aufstiegschancen, während
der nur fünf Jahre später geborene Jahrgang von 1955 infolge der ölpreisbedingten
Konjunkturkrise von 1973 eine damals als hoch empfundene Arbeitslosenquote von
5% und wesentlich schlechtere Berufsperspektiven vorfand. Dabei läßt
sich empirisch nachweisen, daß sich der Prozentsatz der zeitlebens Kinderlosen
bei jenen Jahrgängen überdurchschnittlich stark erhöhte, bei denen
die Arbeitsmarktlage in der Phase der Familienbildung (Alter 20 bis 25) besonders
günstige berufliche Perspektiven bot. Daraus läßt sich schließen,
daß die Verwirklichung beruflicher Ziele bei den meisten Menschen de facto
Vorrang vor den familialen Zielen hat. Weitere Beispiele für Faktoren
mit generationsspezifischen Auswirkungen auf die Geburtenrate sind die Maßnahmen
und Gesetze auf dem Gebiet des Ehe-, Scheidungs- und Familienrechts sowie die
Maßnahmen der Familienpolitik, beispielsweise die Einführung von Erziehungsgeld,
Erziehungsurlaub und die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung
der Eltern (1986), der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz sowie die (äußerst
bescheidene) Anerkennung der Erziehungsleistungen bei der Höhe des Beitragssatzes
für die gesetzliche Pflegeversicherung (2005).Unter
den hier aufgeführten (und nicht aufgeführten) Beispielen kommt der
großen Rentenreform von 1957 und dem damals eingeführten Umlageverfahren,
auf dem auch die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung beruht, eine herausragende
Bedeutung zu. Durch diese Reform wurden die Ansprüche auf Altersversorgung
kollektiviert, aber die zur Erfüllung der Ansprüche notwendigen »generativen
Leistungen« in der Form der Erziehung künftiger Beitragszahler den
Familien aufgebürdet - eine nach meinem Dafürhalten verfassungswidrige
Reform, die den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung verletzt, indem sie die Gruppe
der Kinderlosen privilegiert, und die darüber hinaus den Artikel 6 des Grundgesetzes
- »Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung«
- in sein Gegenteil verkehrt, ein Tatbestand, der von Fachleuten als »Transferausbeutung
der Familien« bezeichnet wird (Jürgen Borchert). Der verfassungssrechtliche
Skandal hat wahrscheinlich eine subtile, zerstörerische Wirkung auf die kulturelle
Substanz unserer Gesellschaft und auf unsere rechtsstaatliche Kultur. Er ist der
entscheidende Grund für den schwindenden Wunsch nach Kindern und für
die fehlende Bereitschaft der Bürger, durch ihre Wahlentscheidungen eine
Politik zu erzwingen, in deren Zentrum die Familie und nicht das abstrakte Interesse
des Individuums steht, dessen Existenz ohne Familien nicht vorstellbar ist.
Die familienfeindliche Fehlkonstruktion der gesetzlichen Renten-, Kranken- und
Pflegeversicherung ist eine einzeln benennbare, wichtige Ursache des Geburtenrückgangs
nach dem Zweiten Weltkrieg. Würde man sie jedoch durch eine Reform des sozialen
Sicherungssystems beseitigen, wäre das Problem nicht gelöst, weil jeder
einzelne Grund seinerseits auf tiefer liegenden Gründen beruht, die mit einer
solchen Reform nicht aus der Welt zu schaffen sind. Die hinter diesen Gründen
wirkenden Faktoren betreffen nicht nur einzelne Geburtsjahrgänge oder Jahrgangsgruppen,
sondern sämtliche Jahrgänge, die den säkularen Geburtenrückgang
seit Ende des 19. Jahrhunderts getragen haben. Deshalb ist es sinnvoll, sie in
einer eigenen, dritten Gruppe zusammenzufassen. Allen seit 1940 geborenen
Frauenjahrgängen ist gemeinsam, daß ein immer größerer Anteil
des Jahrgangs kinderlos blieb. Das gleiche gilt für die Männer, bei
denen die Prozentsätze generell höher sind als bei den Frauen. Beim
Frauenjahrgang 1940 waren es 10,6%, beim Jahrgang 1950 15,8% und beim Jahrgang
1965 32,1%. Parallel dazu sank der Anteil der Frauen mit zeitlebens einem Kind
von 26,4% beim Jahrgang 1940 auf 17,6% beim Jahrgang 1965. Der Anteil mit zwei
Kindern verringerte sich nur leicht von 34,1 auf 31,2%, der Anteil mit drei Kindern
fiel stärker von 18,5 auf 11,1 % und der mit vier oder mehr Kindern von 10,4
auf 8,1%. Daß der Anteil der größeren Familien mit vier und mehr
Kindern schwächer abnahm als der mit drei, beruht auf den Zuwanderungen aus
dem Ausland: Bereits am Anfang der 1990er Jahre hatten 42% der Kinder, die als
vierte oder weitere Kinder zur Welt kamen, ausländische Eltern.Diese
Zahlen zeigen mit aller Deutlichkeit, daß sich die einzelnen Jahrgänge
immer stärker in zwei Teilgruppen mit und ohne Kinder spalten. Die Behauptung,
daß die 1-Kind-Familie in Deutschland dominiere, entbehrt jeder Grundlage,
der weitaus häufigste Familientyp ist die 2-Kinder-Familie. Wenn die Menschen
überhaupt eine Familie gründen, haben sie beinahe doppelt so häufig
zwei Kinder als eines. Daß die Geburtenrate mit 1,3 bis 1,4 Kindern so stark
von der 2-Kinder-Familie abweicht, liegt daran, daß ein großer Teil
der Menschen gar keine Kinder mehr hat. Hier liegt auch der entscheidende Grund
für die höhere Geburtenrate in ländlichen Gebieten oder bei Menschen
mit Migrationshintergrund, es ist der wesentlich niedrigere Anteil der zeitlebens
Kinderlosen. Aus dem gleichen Grund lag auch die Geburtenrate in der früheren
DDR bis zur Wiedervereinigung über der in den alten Bundesländern.Diese
Befunde bieten natürlich noch keine Erklärungen für die tieferen
Gründe des Geburtenrückgangs, aber sie zeigen, an welcher Stelle man
bohren muß, um fündig zu werden. Die entsprechenden Bretter sind jedoch
hart und dick. sind jedoch hart und dick. Viele Gelegenheitsdemographen mit soziologischem
oder ökonomischem Hintergrund halten die hier skizzierten demographischen
Analysen für einen überflüssigen Umweg, sie glauben, daß
die Befragung der Menschen der direkteste und einfachste Weg zu den Informationen
über die Ursachen des Geburtenrückgangs ist. Inzwischen gibt es über
hundert wissenschaftlich fundierte Untersuchungen über das Fortpflanzungsverhalten
auf der Grundlage solcher Umfragen. Was läßt sich aus ihnen lernen
?Bei einigen Erhebungen werden die Menschen nach einer Reihe von Jahren
wiederholt befragt. Dabei geben die Interviewten auf die Frage nach der idealen
oder gewünschten Kinderzahl häufig diejenige Zahl an Kindern an, die
sie zum Zeitpunkt der Wiederholungsbefragung tatsächlich haben, wobei die
meisten die gleiche Frage in der vorangegangenen Befragungsrunde, als sie noch
weniger oder gar keine Kinder hatten, anders beantworteten. Der Weg über
das Interview führt also nicht direkt zum Ziel, weil die Befragungsergebnisse
meist aufwendigen Analysen unterzogen werden müssen, um »richtig«
interpretiert zu werden. Wenn die Befragten, was die Regel ist, ihre Antworten
nach der sozialen Wünschbarkeit ausrichten, steht man vor einem fast unlösbaren
Problem. So wurde beispielsweise in allen Forschungsprojekten eine Scheu festgestellt,
ökonomische Faktoren als wichtig für die Geburt von eigenen Kindern
anzugeben, für andere Menschen werden dagegen ökonomische Faktoren gleichzeitig
als extrem wichtig eingestuft. Ein weiteres Beispiel für die Interpretierbarkeit
der Antworten auf die Frage nach Gründen für wenige oder gar keine Kinder
ist der Faktor »fehlender Partner«, den mehr als zwei Drittel der
Befragten als wichtigsten Grund für die niedrige Geburtenrate angeben, und
zwar noch wesentlich wichtiger als fehlende Betreuungseinrichtungen und staatliche
Unterstützungszahlungen. Daß hinter dieser Antwort mehr stecken muß,
ist klar, denn bei allen Jahrgängen entfallen auf 100 geborene Mädchen
rund 106 Knaben, eine Relation, die sich infolge der in jedem Lebensalter höheren
Sterblichkeit des männlichen Geschlechts bis zum Erwachsenenalter immer mehr
einer ausgeglichenen Sexualproportion von 100 zu 100 annähert. Wenn aber
bei allen Jahrgängen auf jeden Mann im statistischen Mittel eine Frau entfällt,
kann die sinkende Geburtenrate nicht auf einem Mangel an Partnern beruhen, sondern
sie muß mit der schwindenden Fähigkeit und Bereitschaft zusammenhängen,
mit Partnern Bindungen einzugehen. Dazu kommt die objektive Bindungsfeindlichkeit
der Lebensbedingungen dynamischer Wirtschaftsgesellschaften. Die Anforderungen
des Arbeitsmarktes an die berufliche Flexibilität und die räumliche
Mobilität lassen für die Entwicklung der bindungsabhängigen, partnerschaftlichen
Tugenden der unbedingten Verläßlichkeit und Treue wenig Raum - lauter
Voraussetzungen für die Bereitschaft und Fähigkeit, in der Biographie
das Risiko einer langfristigen, irreversiblen Festlegung durch Kinder oder durch
eine seelische Bindung einzugehen. Dabei hat auch die nichteheliche Lebensgemeinschaft
die Dauer der Bindungen nicht erhöht. Die Wahrscheinlichkeit einer Ehescheidung
nach einer vorangegangenen »Probeehe« ist jedenfalls nicht niedriger
als bei Ehen ohne Probephase. Diese Überlegungen stimmen mit der Einsicht
überein, daß Partnerschaft nicht als eine moderne Form von Elternschaft
oder als ein Ersatz für die Lebensform der Familie verstanden werden kann,
weil sie zu einer anderen Lebenssphäre gehört: Im Gegensatz zur Partnerschaft
kann die Elternschaft und die Zugehörigkeit zu einer Familie nicht gekündigt
werden, Vater oder Mutter zu sein ist eine lebenslange Gunst und Verpflichtung.
Zu dem Risiko einer langfristigen Festlegung in der Biographie des Einzelnen
kommt bei der Bindung an einen Partner das organisatorisch-praktische Problem
der räumlichen und zeitlichen Abstimmung zweier Biographien hinzu. Wenn beide
Partner eine berufliche Karriere anstreben, tritt früher oder später
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Schwierigkeit auf, daß
ein aus beruflichen Gründen erforderlicher Arbeits- und Wohnortwechsel des
einen Partners nicht im gleichen Zeitpunkt auch in der Biographie des anderen
Partners auftritt und beide an den gleichen neuen Wohnort führt. Die dann
erforderliche Anpassung des einen Partners an die Biographie des anderen führt
zu einer Beeinträchtigung der Karrierechancen, nicht selten auch zur Trennung,
wenn die Bereitschaft zur Anpassung fehlt. Die abnehmende Häufigkeit
von Eheschließungen und die zunehmende von Scheidungen hat also oft wenig
mit dem Fehlen eines passenden Partners zu tun, sondern mit den objektiv schwieriger
gewordenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für
ein erfolgreiches Leben in einer Partnerschaft oder Familie. Beruflicher Erfolg
und die Gründung einer Familie schließen sich in unserer Wirtschafts-
und Konkurrenzgesellschaft gegenseitig aus, unser Gesellschaftstyp macht aus Lebensläufen
Hindernisläufe.Die Risiken langfristiger, irreversibler Festlegungen
im Lebenslauf nehmen in modernen Wirtschaftsgesellschaften mit den permanenten
Strukturveränderungen auch in Zukunft tendenziell weiter zu, so daß
sich die Spaltung der Gesellschaft in einen Sektor ohne und mit Kindern vertieft
und die Geburtenrate wahrscheinlich weiter abnimmt. Dabei ist offen, wie stark
sich die wachsende Population der Zugewanderten mit ihrem immer noch wesentlich
geringeren Anteil an Kinderlosen diesem Trend anpaßt oder auf Dauer abweichenden
biographischen Lebensentwürfen folgt. Hinter der seit Jahrzehnten annähernd
konstanten Geburtenrate von 1,3 bis 1,4 Geburten pro Frau verbirgt sich eine hohe
Dynamik: Die deutsche Bevölkerung mit ihrer tendenziell abnehmenden Geburtenrate
bewirkt tendenziell eine Senkung der Geburtenrate für Deutschland insgesamt,
die zunehmende Zahl der Population mit Migrationshintergrund bewirkt umgekehrt
eine Erhöhung, wobei sich beide Wirkungen bisher weitgehend kompensierten,
so daß die Geburtenrate insgesamt seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts
fast konstant blieb. Die Risiken langfristiger Festlegungen im Lebenslauf
sind am größten, wenn eine Entscheidung über den Schritt zum ersten
Kind getroffen werden muß. Die Übergänge vom ersten zum zweiten
und vom zweiten zum dritten Kind unterscheiden sich grundlegend von diesem ersten
Schritt, denn der Wechsel zur Elternschaft ist irreversibel, er ist wie ein Übergang
von einer Welt in eine andere, während der Zuwachs einer Familie durch ein
weiteres Kind als ein Ereignis aus der gleichen Welt erfahren wird, nicht als
Übergang in eine neue. Deshalb erhöhte sich der Anteil der Kinderlosen
vom Frauenjahrgang 1940 bis zum Jahrgang 1965 kontinuierlich von 10,6% auf 32,1
%. Die Familienstrukturen bei den nach 1940 geborenen Jahrgängen sind eindeutig:
Ungefähr ein Drittel der Frauen bleibt kinderlos, ein weiteres Drittel hat
zwei Kinder, während das letzte Drittel die Frauen mit einem oder mit drei
und mehr Kindern umfaßt, wobei der Anteil der Frauen mit drei und mehr höher
ist als der Anteil mit einem Kind (Tabelle 12).Menschen, die bei der
Wahl ihres Lebenslaufs langfristige Festlegungen durch Kinder oder Partnerbindungen
vermeiden oder aufschieben, um die Größe ihres potentiellen biographischen
Universums - den Möglichkeitsraum biographischer Alternativen in der Außenwelt
- mit seiner Vielfalt an Optionen nicht einzuschränken, verzichten dafür
auf das andersartige, nur durch langfristige Festlegungen erreichbare Universum
in der Innenwelt. In unserer Gesellschaft wird der Lebenslauf nicht mehr
als Vollzug einer biographischen Anpassung an ein von der Herkunftsfamilie oder
von der Gesellschaft vorgegebenes oder empfohlenes Muster betrachtet, sondern
er ist ein Projekt des Einzelnen, dessen Erfolg oder Mißerfolg dem Individuum
zugerechnet wird. Statt zu fragen, warum die Menschen so wenig Kinder haben, wäre
es eigentlich richtiger zu fragen, wie es viele Menschen bei ihrem biographischen
Hindernislauf überhaupt zuwege bringen, noch Kinder zu erziehen. Bei
alledem darf nicht übersehen werden, daß die Fähigkeit zur Empfängnis
und Geburt bei den Frauen ab dem 45. Lebensjahr aus biologischen Gründen
fast vollkommen erlischt. Die Häufigkeit der Geburten hängt extrem stark
vom Alter der Frauen ab. Betrachtet man je 100 Frauen in der Altersgruppe 15-19,
so bringt diese Gruppe pro Jahr 4 bis 5 Kinder zur Welt. In der Altersgruppe 20-24
sind es rund 24 und in der Altersgruppe 25-29 sowie in der Gruppe 30-34 je 41.
Danach sinken die Zahlen wieder, in der Altersgruppe 35-39 sind es noch 19, in
der Gruppe 40-44 drei bis vier und in der Gruppe 45-49 ergibt sich beim Runden
auf ganze Zahlen eine Null, genauer: 0,15. Die Summe über alle Altersjahre
von 15-49 ergibt 134 Lebendgeborene auf 100 Frauen bzw. 1,34 je Frau (Daten für
2003).Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zwei Verschiebungen dieser glockenfötmigen
Altersverteilung, zunächst eine Vorverlagerung des mittleren Gebäralters,
später eine Rückverlagerung in höheres Alter. Durch die immer noch
anhaltende Rechtsverschiebung der Glockenkurve zu einem höheren Gebäralter
hat sich die Zahl der Geburten pro Frau in den Altersjahren über 35 erhöht,
aber gleichzeitig die der unter 30jährigen verringert. Die beiden Veränderungen
kompensierten sich in ihrer Wirkung fast vollständig, so daß die Geburtenrate
über Jahrzehnte nahezu konstant blieb. Seit dem Jahr 2000 werden jedoch die
weiter abnehmenden Geburtenraten der jüngeren Altersgruppen durch die zunehmenden
bei den über 35jährigen nicht mehr ganz ausgeglichen, seitdem sinkt
die Gesamt-Geburtenrate, wenn auch nur leicht (Abnahme von 2000 bis 2003 von 1,38
auf 1,34 Geburten pro Frau).Von den 134 Lebendgeborenen je 100 Frauen
im Alter von 15 bis 49 im Jahr 2003 entfielen 17% auf die Altersgruppe 35-49.
Selbst wenn sich die Geburtenrate der 35-49jährigen verdoppelte, würde
dies nur einen Anstieg der gesamten Geburtenrate von 134 auf 156 bewirken. Auf
die Altersgruppe 40-49 entfallen 2,6% und auf die Gruppe 45-49 rund 0,1% der Lebendgeborenen.
Das Gewicht dieser Altersgruppe ist so gering, daß selbst eine Verdreifachung
der Geburtenrate der 40-49jährigen nur einen Anstieg der gesamten Geburtenrate
von 134 auf 145 bewirken würde. Eine Verzehnfachung der Geburtenrate der
45-49jährigen hätte einen Anstieg der gesamten Geburtenrate von 134,0
auf 135,5 zur Folge, die Geburtenzahl pro Frau würde sich dadurch also nur
in der zweiten und dritten Stelle nach dem Komma ändern: 1,355 statt 1,340.Diese
Beispielrechnungen widerlegen die neuerdings vom Max-Planck-lnstitut für
demografische Forschung aufgestellte Behauptung, daß das niedrige Niveau
der Geburtenrate immer noch auf der Verschiebung des mittleren Gebäralters
in ein höheres Alter beruht und nach Abschluß der Verschiebung ansteigt.
Der Verschiebungseffekt hat sich in Deutschland zu einem großen Teil längst
ausgewirkt, ohne daß es zu einem merklichen Wiederanstieg der Geburtenrate
kam. Seit 2000 sinkt die Geburtenrate sogar, obwohl sich die Verschiebung immer
noch fortsetzt, weil die Geburtenrate der unter 30jährigen Frauen weiter
abnimmt. Stößt die Rechtsverschiebung der Kurve aus biologischen Gründen
an ihre Grenzen, was bald zu erwarten ist, wird die Geburtenrate sogar stärker
abnehmen, als sie es jetzt schon tut. (Zitat-Ende).

ä
Demographie, Wohlstand und öffentliche Wohlfahrt (S. 110-119):Am
Anfang des 20. Jahrhunderts ernährte ein Bauer seine eigene Familie und dazu
vielleicht noch ein Dutzend andere, aber in den folgenden Jahrzehnten stieg die
Produktivität um das Hundertfache, so daß heute Nahrungsmittel sogar
künstlich vernichtet werden. Weil die Produktivität der Wirtschaft auch
künftig zunimmt, während die Bevölkerung schrumpft - so die voreilige
Schlußfolgerung -, seien ernsthafte wirtschaftlich begründete Sorgen
über die demographische Schrumpfung überflüssig. Das Argument
sieht stärker aus als es ist, denn die Produktivitätszuwächse in
einem bestimmten Sektor kommen auch den anderen Sektoren zugute und sind dann
für die Volkswirtschaft insgesamt viel kleiner, im Prinzip aber trifft das
Argument zu: Wenn eine Bevölkerungsschrumpfung möglich wäre, ohne
daß sich das Durchschnittsalter automatisch erhöhte, gäbe es viele
der wirtschaftlichen Auswirkungen der demographischen Alterung nicht. Die demographische
Alterung ist jedoch unvermeidbar, und zwar auch dann, wenn die niedrige Geburtenrate
- ihre Hauptursache - ab sofort stark zunähme. So lange wir an dem (inzwischen
durch den Nachhaltigkeitsfaktor modifizierten) sozialpolitischen Gebot und dem
humanen Grundsatz festhalten, daß das Versorgungsniveau der älteren
Bevölkerung prozentual um den gleichen Prozentsatz zunehmen soll wie die
Produktivität bzw. das Einkommen der Erwerbstätigen (»dynamische
Rente« ), sind mit jeder Produktivitäts- bzw. Einkommenssteigerung
gleich hohe prozentuale Rentensteigerungen verbunden. Unter dieser Voraussetzung
bewirkt der Anstieg des Altenquotienten um mehr als das Doppelte automatisch einen
Anstieg der demographisch bedingten Belastungen der Erwerbstätigen um den
gleichen Faktor, und zwar unabhängig davon, ob sich die Produktivität
und das Einkommen veri doppeln, verzehnfachen oder verhundertfachen. Das
entscheidende Problem der Bevölkerungsschrumpfung ist also nicht in erster
Linie die Abnahme der Bevölkerungszahl, sondern die mit ihr automatisch verbundene
demographische Alterung und das damit heraufbeschworene Verteilungsproblem zwischen
den Generationen. Hinzu kommt ein weiteres, altersbedingtes Problem: Die hohen
Beiträge in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung werden je zur Hälfte
von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen. Sie gehen in die Kalkulation
der Produktpreise ein, mit der Folge, daß sich die von Deutschland exportierten
Güter im Vergleich zu anderen Ländern mit geringerer demographischer
Alterung verteuern. Dies führt, dazu, daß der Standort Deutschland
an Attraktivität verliert, die Investitionen abnehmen und das Wirtschaftswachstum
erlahmt. Unter den zahllosen Auswirkungen der demographischen Entwicklung
auf die Renten-, Kranken-, und Pflegeversicherung, die Arbeits- und Wohnungsmärkte,
die Auslastung der kommunalen Infrastruktur und die öffentlichen Finanzen
u.s.w. sind in Deutschland die negativen Folgen für das Wirtschaftswachstum
besonders nachhaltig und gefährlich: Durch die Bevölkerungsschrumpfung
und die demographische Alterung verringert sich die Wachstumsrate des Volkseinkommens,
was einen großen Verlust an Einkommen und einen entsprechenden Ausfall an
Steuereinnahmen bedeutet. Die negativen wirtschaftlichen Konsequenzen haben ihrerseits
einen ungünstigen Einfluß auf die Geburtenrate, so daß sich die
Ursache der demographischen Probleme - die niedrige Geburtenrate - durch deren
Folgen noch verstärkt.Deutschland ist immer noch eines der weltoffensten,
sichersten und reichsten Länder der Erde. Mit welcher Art von Politik läßt
sich das erreichte Lebensniveau sichern und weiter anheben? Wenn alles in
erster Linie auf die Wahl richtiger Ziele ankäme, wäre der wirtschaftliche
Erfolg eines Landes zwar als ein besonders wichtiges, aber nicht als Ziel aller
Ziele anzusehen. Denn noch erstrebenswerter als eine wirtschaftlich erfolgreiche
Gesellschaft ist nach allgemeiner Übereinkunft ein Land, in dem die menschlichen
Werte auf der Skala der Prioritäten nicht hinter, sondern vor den wirtschaftlichen
rangieren. War also die richtige Positionierung der menschlichen und ökonomischen
Werte in der Rangfolge der Ziele die entscheidende Ursache für die bisher
gute Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg? Wie immer man
die Frage für die Vergangenheit beantwortet, für die Zukunft werden
in Deutschland im Hinblick auf die ökonomische Leistung, wie sie etwa im
Bruttoinlandsprodukt gemessen wird, nur noch drittklassige Ziele verfolgt; die
erstklassigen, mit persönlichem Wohlstand und öffentlicher Wohlfahrt
verbundenen, werden nicht einmal mehr diskutiert. Ein besorgniserregendes Beispiel
dafür ist die in der Wissenschaft und Politik ständig wiederholte, beschwörende
Feststellung, daß sich durch jeden zugewanderten Einwohner, falls er nicht
von der übrigen Bevölkerung unterstützt werden muß, bzw.
durch das von ihm erwirtschaftete Einkommen das Bruttoinlandsprodukt des Landes
erhöht. Doppelt so viele erwerbstätige Zuwanderer bedeuten dann beispielsweise
einen doppelt so hohen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts. Es kann kein
Zweifel daran bestehen, daß sich das Bruttoinlandsprodukt erhöht, wenn
zusätzliches Einkommen entsteht, denn das Bruttoinlandsprodukt ist ja definitionsgemäß
pie Summe aller Erwerbs- und Vermögenseinkommen. Aber dies bedeutet nicht,
daß freie Wanderungen »die bestmögliche Lösung für
alle Länder« sind, wie es beispielsweise in einem Fachbuch über
Arbeitskräftemigration im Zuge der Diskussion zur Ost-Erweiterung der EU
heißt (Hans-Werner Sinn u. a.: EU-Erweiterung und
Arbeitskräftemigration -Wege :i in einer schrittweisen Annäherung der
Arbeitsmärkte. Ifo-Beiträge zur Wirtschaftsforschung Nr. 21, 2001)und
wie es Politik und Öffentlichkeit gerne glauben wollen. Selbst wenn man die
Frage der Zuwanderungen unter rein ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet
und die bei der Zuwanderungsfrage zu beachtenden, nicht weniger wichtigen gesellschaftlichen
und kulturellen Kriterien ganz ausklammert, ist ein hohes Bruttoinlandsprodukt
kein lohnendes Ziel der Politik, denn im Wohlstand zu leben bedeutet nicht, daß
das Bruttoinlandsprodukt insgesamt, sondern daß das Bruttoinlandsprodukt
pro Kopf der Bevölkerung hoch ist.

Zur Veranschaulichung dieses wichtigen, regelmäßig übergangenen
Problems sei folgendes einfaches Zahlenbeispiel gebildet. Das Pro-Kopf-Einkommen
ist ein Bruch mit dem Bruttoinlandsprodukt im Zähler und der Bevölkerungszahl
im Nenner. Mit einfacher Schulmathematik läßt sich demonstrieren, daß
die prozentuale jährliche Wachstumsrate eines Bruchs (bei stetiger Entwicklung)
stets gleich der Wachstumsrate des Zählers minus der Wachstumsrate des Nenners
ist. Wenn beispielsweise das Bruttoinlandsprodukt mit einer Wachstumsrate von
drei und die Einwohnerzahl mit einer Wachstumsrate von einem Prozent zunimmt,
wächst das Pro-Kopf-Einkommen um rund zwei Prozent.Industrieländer
wie Deutschland und die Schweiz sind für Zuwanderer aus armen Ländern
nicht wegen des hohen Bruttoinlandsprodukts insgesamt attraktiv, sondern wegen
des hohen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf, sonst wäre beispielsweise Indien
ein Ziel für Migranten aus der Schweiz und nicht die Schweiz ein Ziel für
Migranten aus Indien, denn das Bruttoinlandsprodukt Indiens übertrifft wegen
seiner hohen Einwohnerzahl naturgemäß das Bruttoinlandsprodukt der
Schweiz. Wählt man für eine an rein ökonomischen Zielen
orientierte Zuwanderungspolitik sinnvollerweise das Pro-Kopf-Einkommen, dann läßt
sich die Frage, ob niedrige oder hohe Einwanderungen günstiger sind, durch
folgendes Zahlenbeispiel illustrieren. Im Fall A sei durch hohe Einwanderungen
eine leicht positive Wachstumsrate der Bevölkerung von beispielsweise 0,7
% pro Jahr möglich, im Fall B sei die Wachstumsrate der Bevölkerung
bei geringeren Einwanderungen negativ, beispielsweise 0,5%. Das Bruttoinlandsprodukt
möge durch hohe Einwanderungen im Fall A jährlich mit 2,5% wachsen,
im Fall B nur mit 1,5%. Unter diesen Annahmen erhöht sich das Pro-Kopf-Einkommen
im Fall A bei hohen Einwanderungen jährlich um 1,8% (= 2,5 - 0,7), im Fall
B wächst das Pro-Kopf-Einkommen bei niedrigeren Einwanderungen jedoch schneller,
nämlich um 2,0% ( = 1,5 - (-0,5)). Nach beispielsweise 50 Jahren wäre
das Pro-Kopf-Einkommen bei niedrigen Einwanderungen um 170% gestiegen, bei hohen
nur um 144%. Was folgt aus dieser Betrachtung? Nichts charakterisiert
die Einstellung einer Gesellschaft gegenüber ihren existentiellen Zukunftsproblemen
treffender als die Ziele, die sie nicht einmal mehr diskutiert, geschweige denn
durch politische Anstrengungen aktiv verfolgt. Deutschland konkurriert im internationalen
ökonomischen Wettbewerb nur noch um die rangtieferen Plätze. Die für
die Sicherung des Wohlstands unabdingbaren, ehrgeizigeren Ziele wurden in der
Politik stillschweigend aufgegeben, sie kommen im politischen Diskurs und in den
Gutachten, die von Wissenschaftlern für Politiker angefertigt werden, nicht
mehr vor. Zuwanderungsfragen können zwar nicht nur nach ökonomischen
Maßstäben entschieden werden, aber selbst wenn man alle gesellschaftlichen
und kulturellen Zuwanderungsprobleme beiseite läßt und ökonomische
Ziele in den Vordergrund stellt, ist eine auf hohe Einwanderungen abzielende Zuwanderungspolitik
für Deutschland ökonomisch von Nachteil, weil sie das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens
verringert, jedenfalls so lange das Qualifikationsniveau der Zuwanderer mehrheitlich
wesentlich niedriger ist als im Landesdurchschnitt. Noch gravierendere
wirtschaftliche Einbußen entstehen, wenn Zuwanderer wegen ihrer unterdurchschnittlichen
Qualifikation nicht nur keine hochqualifizierten beruflichen Tätigkeiten,
sondern überhaupt keine Erwerbstätigkeit ausüben, was für
zahlreiche Einwanderer nach Deutschland zutrifft und treffend als »Einwanderung
in die Sozialsysteme« bezeichnet wird. Deutschland ist ein wichtiges
Einwanderungsland. Es wählt die auf Grund von politischer oder geschlechtlicher
Verfolgung Zugewanderten nicht nach irgendwelchen Nützlichkeitskriterien
aus, dies wäre auch nach dem Grundgesetz - dem eigentlichen Zuwanderungsgesetz
- ausgeschlossen, und es sollte sinnvollerweise auch ausgeschlossen bleiben. Die
humanitäre Zuwanderung auf Grund von politischer Verfolgung soll hier also
keineswegs in Frage gestellt werden. Um so wichtiger ist es dann jedoch, daß
die an ökonomischen Zielen ausgerichtete Zuwanderungspolitik für den
nicht humanitären Teil der Migration ohne ideologische Scheuklappen analysiert
und ihre überwiegend negativen ökonomischen Auswirkungen realistisch
beurteilt werden: Die Abwanderung qualifizierter Menschen aus Deutschland und
die Zuwanderung mehrheitlich wenig qualifizierter ist keine Quelle des Wohlstands,
sondern ein schwerwiegendes, wohlstandsminderndes Risiko des wirtschaftlichen
Niedergangs. Wachstum, Wohlstand und Wohlfahrt einer Volkswirtschaft
speisen sich aus drei Quellen, darunter das Wachstum des Arbeitskräftepotentials
und des Produktionskapitals. Die erste der beiden Quellen ist in Deutschland demographisch
bedingt versiegt; das jüngere sogenannte Erwerbspersonenpotential - die Zahl
der 20-40jährigen - schrumpft seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts
um mehrere Hunderttausend pro Jahr. Als eine Folge davon wird auch die zweite
Wachstumsquelle - der volkswirtschaftliche Kapitalstock - schwächer, weil
zu wenig investiert und Produktionskapital ins Ausland verlagert wird. Gäbe
es nicht eine dritte Quelle - Volkswirte bezeichnen sie mit dem Begriff »technischer
Fortschritt« -, läge die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts in
Deutschland, die nur noch zwischen ein und zwei Prozent beträgt, bereits
bei Null. Ein abnehmendes oder wachsendes Bruttoinlandsprodukt kann theoretisch
mit einem wachsenden, schrumpfenden oder gleichbleibenden Pro-Kopf-Einkommen verbunden
sein. Der Fall eines steigenden Pro-Kopf-Einkommens bei schrumpfender Bevölkerung
wird seit Beginn der Bevölkerungsschrumpfung in den 1970er Jahren in den
Lehrbüchern der Volkswirte als eine besondere Variante des Wirtschaftswachstums
behandelt. Eine solche Volkswirtschaft gleicht einer Armee auf dem Rückzug,
die mit kaltem Blut zusieht, wie sich ihre Reihen lichten, ohne daß ihre
Soldaten auseinanderlaufen. Ein Betrieb nach dem anderen wird geschlossen oder
ins Ausland verlagert. Wenn der letzte Hochofen abgeschaltet ist, macht der letzte
Arbeiter das Licht aus. Die schrumpfende Volkswirtschaft stirbt, ohne daß
zwischendurch jemand die Nerven verliert und Chaos ausbricht - so die Lehrbücher.
Unserer Volkswirtschaft blieb die Probe aufs Exempel bisher erspart. Wenn das
auf Dauer so bleiben soll, muß gewährleistet sein, daß sich die
Bevölkerungsschrumpfung in Grenzen hält und der technische Fortschritt
als einzige verbleibende Wohlstandsquelle nicht auch noch versiegt. Er fällt
nicht wie das Manna vom Himmel, sondern ist das Endprodukt einer langen Produktionskette,
die in den Familien mit der Erziehung lernfähiger Kinder beginnt, sich in
den Schulen und Universitäten bei der Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte
fortsetzt und sich schließlich in den Betrieben in Form qualitätsvoller,
konkurrenzfähiger Produkte manifestiert. Der technische Fortschritt wird
jedoch in Deutschland demographisch bedingt nachhaltig gebremst, weil - zusätzlich
zu einer weitverbreiteten technikfeindlichen Ideologie - die Gruppe der 20-40jährigen
als Träger des neuen Ausbildungskapitals auch in Zukunft um Hunderttausende
pro Jahr abnehmen wird, und das trotz (mehr noch: wegen
!) der hohen Zahl von 800 Tsd. Zuwanderrn jährlich, von denen die
meisten zu dieser Altersgruppe gehören.Berücksichtigt man das
unterdurchschnittliche Ausbildungsniveau der überwiegenden Mehrheit der Zugewanderten
und ihrer Nachkommen, dann ist eine permanente Absenkung des Qualifikationsniveaus
in Deutschland vorprogrammiert. Die PISA-Studien haben gezeigt, daß der
Prozeß schon weit fortgeschritten ist. Da die Kinder der Zugewanderten in
den Schulen wesentlich schlechter abschneiden als die Deutschen, während
sich ihr quantitativer Anteil und ihre absolute Zahl Jahr für Jahr erhöhen,
bedarf es großer Anstrengungen, um die negativen demographischen Auswirkungen
auf das Ausbildungsniveau auszugleichen. Das hohe Qualifikationsniveau war bisher
ein entscheidender Standortvorteil und der Garant des Wohlstands in Deutschland.
In den kommenden Jahrzehnten geht dieser Standortvorteil demographisch bedingt
verloren. Weniger Arbeitskräfte benötigen weniger Arbeitsplätze
- die Arbeitslosenzahlen müßten also eigentlich demographisch bedingt
zurückgehen. Eine demographische Entlastung des Arbeitsmarktes ist jedoch
- wenn überhaupt - erst nach 2010 zu erwarten, weil die Schrumpfung der Gruppe
der 20-40jährigen bis dahin noch vom Wachstum der 40-60jährigen ausgeglichen
wird, die als schwer vermittelbar gelten. Erst danach schrumpft auch die Gruppe
der 40-60jährigen. Aber auch dann ist nicht sicher, daß sich die Massenarbeitslosigkeit
deutlich verringert. Zweifel sind angebracht, weil erstens das Pro- Kopf- Einkommen
nur noch schwach zunimmt und weil zweitens ein immer größerer Teil
des Einkommens für den Aufbau privat finanzierter Zusatzversicherungen zur
Schließung der Versorgungslücken bei der gesetzlichen Renten-, Kranken-
und Pflegeversicherung ausgegeben werden muß. Das hat zur Folge, daß
sich das für den Konsum verfügbare Einkommen und mit ihm die volkswirtschaftliche
Nachfrage sowie die Produktion und damit auch der Bedarf an Arbeitskräften
verringern. Gegen diese Überlegungen wird die vom technischen Fortschritt
ermöglichte wachsende Produktivität der Wirtschaft ins Feld geführt.
Es trifft zu: Wenn die Produktivität - die pro Erwerbstätigem erzeugte
Menge an Gütern und Dienstleistungen - durch den technischen Fortschritt
wie zur Zeit jährlich um 1,5% wächst, verdoppelt sie sich bis 2050,
so daß auch die realen Pro-Kopf-Einkommen der Erwerbstätigen bis 2050
auf das Doppelte zunehmen können. Da aber die für die Erwerbspersonenzahl
wichtige Altersgruppe der 20-60jährigen (trotz angenommener hoher Einwanderungen)
bis 2050 um 16 Mio. abnimmt, steigt das Bruttoinlandsprodukt auch bei doppelter
Produktivität bis dahin nicht auf das Doppelte, sondern nur um ein Drittel.
Gleichzeitig nimmt die Zahl der über 60jährigen um 10 Mio. zu. Zu deren
Versorgung muß von dem nur um ein Drittel höheren Bruttoinlandsprodukt
ein wesentlich größerer Prozentsatz verwendet werden als heute. Selbst
wenn sich also die Produktivität und das reale Pro-Kopf-Einkommen verdoppeln,
nimmt das für den Konsum der Erwerbstätigen verfügbare Einkommen
weit weniger als auf das Doppelte zu (Schaubild 20).Daraus läßt
sich folgern: Um den erreichten Wohlstand zu sichern und zu mehren, muß
die Wachstumsrate der Produktivität gesteigert werden. Eine Wachstumsrate
von drei Prozent - das Doppelte von heute -ist erreichbar, wie ein Blick auf vergangene
Jahrzehnte zeigt. Bei einer Verdoppelung des Produktivitätswachstums von
1,5 auf 3 % würde das inflationsbereinigte Pro-Kopf-Einkommen bis 2050 fast
auf das Vierfache und das Bruttoinlandsprodukt (wegen der schrumpfenden Zahl der
Erwerbstätigen) auf etwa das Zweieinhalbfache zunehmen. Das ändert jedoch
nichts daran, daß die Summe der demographischen Belastungen für die
Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung bei einer Beibehaltung des Umlageverfahrens
pro Kopf eines Erwerbstätigen um etwa den gleichen Faktor zunimmt wie der
Altenquotient, also mindestens auf das Doppelte. Dieser Zusammenhang gilt unabhängig
vom Ausmaß der Produktivitätssteigerung. Über diesen grundlegenden
Zusammenhang sollte in der Öffentlichkeit Klarheit herrschen. Ansonsten verwandelt
sie sich allmählich von einer Informations- in eine Desinformationsgesellschaft.
Die Bevölkerungsexplosion bei den Älteren und die -implosion
bei den Jüngeren spaltet die Volkswirtschaft in wachsende und schrumpfende
Märkte, in Gewinner- und Verliererbranchen. Die Volkswirtschaft als Summe
aller Branchen hat um so günstigere Entwicklungschancen, je besser es gelingt,
ältere Menschen in den Produktionsprozeß zu integrieren, um die Schrumpfung
der Erwerbstätigenzahl zu dämpfen. Je mehr Rentner zu beitragszahlenden
Erwerbstätigen werden, desto niedriger sind die Lohnnebenkosten - heute schon
ein schwerwiegender demographischer Standortnachteil Deutschlands im internationalen
Wettbewerb. Alternde Gesellschaften sind nicht automatisch weniger innovativ
und produktiv als junge. So erwirtschaftete die Bevölkerung Indiens mit ihrem
jungen Durchschnittsalter von 23 Jahren 2001 ein ProKopf-Einkommen von 460 Dollar,
aber die Bevölkerung Deutschlands brachte es trotz ihres hohen Durchschnittsalters
von 40 Jahren auf das Fünfzigfache, auf 23 700 Dollar. Deutschland braucht
gesellschaftliche Reformen, Innovationen und Ideen, mit denen sich der Schatz
an Produktivitätsreserven heben läßt, der ungenutzt im Humankapital
der Älteren auf seine Verwandlung wartet. Wenn es gelingt, das bisherige
Produktivitätswachstum trotz der Alterung zu beschleunigen, dann - allerdings
auch nur dann - wird sich der erreichte Wohlstand bewahren und vermehren lassen.
Optimisten könnten aus dieser Betrachtung schließen, daß die
Bevölkerungsschrumpfung keine unüberwindlichen wirtschaftlichen Probleme
mit sich bringt, wenn die kleiner werdenden Erwerbstätigenzahlen durch eine
höhere Produktivität ausgeglichen werden. Aber eine steigende Produktivität
setzt eine Gesellschaft voraus, in der Leistung etwas zählt - in der Schule,
in den Universitäten und in allen Bereichen des Lebens. Zu bedenken ist auch,
daß schrumpfende Einwohnerzahlen mit steigenden Staatsschulden pro Kopf
der Bevölkerung verbunden sind. Wie die zahlenmäßig kleiner werdenden
Jahrgänge die pro Kopf ins Schwindelerregende steigenden Schulden abtragen
sollen, weiß niemand. Generationengerechtigkeit bei abnehmenden Generationsgrößen
ist aus diesem Blickwinkel ein unerreichbares Ziel, dessen permanente Verletzung
auf die nachrückenden Leistungsträger demotivierend wirkt. (Zitat-Ende).ä
Demographie und soziale Gerechtigkeit (S. 120-133):Was ist die
letzte Quelle der Sicherheit, beispielsweise im Alter, wenn alle anderen Sicherungen
versagen? Die Antwort hat der us-amerikanische Demograph Julian Sirnon in
treffender Weise im Titel eines seiner Bücher zusammengefaßt: »The
ultimate resource« - die eigentliche Quelle aller Werte, derer der Mensch
bedarf - ist der Mensch. Soziale Sicherheit im Alter kann auch durch Kapitalbesitz
nur dann gewährleistet werden, wenn die nachwachsenden Generationen mit Hilfe
des Kapitals Erträge erwirtschaften; denn Kapital arbeitet leider überhaupt
nicht. Die 1955 von dem Kölner Privatdozenten Wilfried Schreiber
(Volkswirt und Geschäftsführer des Katholischen Unternehmerverbandes)
vorgeschlagene und von Konrad Adenauer in der epochemachenden Rentenreform von
1957 verwirklichte Idee einer demographischen Garantie der Alterssicherung durch
das Umlageverfahren - die jeweils mittlere Generation finanziert die Renten der
gleichzeitig lebenden Ruheständler - ist im Prinzip die beste Lösung,
allerdings nur dann, wenn die demographische Basis langfristig trägt, und
zwar über einen Zeitraum von Generationen. Ist diese Voraussetzung verletzt
- Adenauer glaubte, daß die Menschen sowieso »immer« genügend
Kinder haben und lehnte die von Schreiber zusätzlich zur Rentenkasse geforderte
»Familienkasse« strikt ab -, treten schwierigste Bewertungsprobleme
auf. Dann müssen bei der Bemessung der Rentenhöhe zwei verschiedene
Arten von Lebensleistungen gerecht gegeneinander abgewogen werden: Die unbezahlten
Arbeits- und Erziehungsleistungen der Eltern, insbesondere der Frauen, und die
vom Markt entlohnten Arbeitsleistungen der Erwerbstätigen bzw. die daraus
entrichteten monetären Rentenbeiträge. Schon eine Einteilung
der Arbeits- und Erziehungsleistungen der Eltern und der monetären Leistungen
der Erwerbstätigen in je drei Klassen - beispielsweise niedrig, mittel, hoch
- ergibt bei einer Kombination neun Fallgruppen von Rentenansprüchen, also
mehr als Steuerklassen - abgesehen von einer notwendigen zusätzlichen Differenzierung
innerhalb jeder der neun Fallgruppen. Soziale Gerechtigkeit erfordert also Differenzierungen,
die im deutschen Sozialversicherungssystem erst noch durch tiefgreifende Reformen
eingeführt werden müssen.Was würde geschehen, wenn die
Bevölkerung aus der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung
austreten und sich unter Beibehaltung des Umlageverfahrens in einem neuen Verein
zusammenschließen könnte? Der Verein würde das Niveau der
individuellen Versorgungsansprüche der Rentner, Kranken und Pflegebedürftigen
ebenso wie die Höhe der zu entrichtenden Beitragssätze nach der Kinderzahl
staffeln, alles andere würde bei einem umlagefinanzierten Versorgungssystem
als ungerecht empfunden und abgelehnt werden. Es dürfte eigentlich kein Problem
sein, eine politische Mehrheit für diese Regelung zu erreichen, denn wenn
ein Drittel der Jahrgänge seit 1965 kinderlos bleibt, dann bedeutet dies
auch, daß die übrigen zwei Drittel mit Kindern ihre Interessen mit
Mehrheit durchsetzen könnten. Das Bundesverfassungsgericht kam in
seinem Urteil zur Pflegeversicherung (03.04.2001) zum gleichen Ergebnis: Durch
unser umlagefinanziertes System werden Menschen ohne Kinder in verfassungswidriger
Weise bevorzugt, weil sie, so das Gericht, die gleichen Versorgungsansprüche
wie Menschen mit Kindern erwerben, obwohl sie nur den monetären, nicht aber
den vom Gericht sogenannten »generativen« Beitrag in Form der Erziehung
künftiger Beitragszahler leisten - die entscheidende Voraussetzung für
das Funktionieren der umlagefinanzierten Pflegeversicherung. Nicht nur
die gesetzliche Pflegeversicherung, sondern auch die gesetzliche Renten- und die
Krankenversicherung beruhen auf dem Umlageverfahren. Das Gericht hat deshalb in
seinem Urteil der Politik zu verstehen gegeben, daß wahrscheinlich auch
die Renten- und die Krankenversicherung die Kinderlosen in einer den Gleichheitsgrundsatz
der Verfassung verletzenden Weise bevorzugen und eine diesbezügliche Überprüfung
des gesamten umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems verlangt. Wenn eine
realistische Überprüfung stattfände, würde das Ergebnis ähnlich
wie bei der Pflegeversicherung lauten: Durch die Vervierfachung des Anteils der
zeitlebens kinderlos bleibenden Menschen an einem Jahrgang verletzt das Umlageverfahren
mit seiner Privilegierung der Kinderlosen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung
auch in der gesetzlichen Renten- und sogar in der Krankenversicherung, denn die
von den Kinderlosen mitfinanzierten Gesundheitsausgaben für die beitragslos
mitversicherten Kinder sind wesentlich niedriger als die Gesundheitsausgaben für
ältere Menschen mit oder ohne Kinder. Eine der entscheidenden Auswirkungen
der demographischen Entwicklung bzw. der extremen Kinderlosigkeit besteht darin,
daß das soziale Sicherungssystem als Ganzes schließlich unsozial,
ungerecht und verfassungswidrig wurde. Dieser Sachverhalt wurde auf die Formel
gebracht: »An Kindern profitiert, wer keine hat«, so der Titel eines
Tagungsbandes des Forums Familie, Rheinland-Pfalz. In Deutschland bildet
die gesetzliche Rentenversicherung die Grundlage für die Versorgung von über
90% der Bevölkerung im Ruhestand. Wenn dieses System seine Funktionsfähigkeit
verliert, steht der Staat als Ganzes auf dem Spiel. Im folgenden werden zwei Fragen
diskutiert. Erstens: Wie läßt sich das System reformieren, damit es
funktionsfähig bleibt? Zweitens: Wie läßt es sich reformieren,
damit es gerecht funktioniert und die Verfassung nicht verletzt? Die
demographische Entwicklung hat eine grundlegende Bedeutung für die Funktionsfähigkeit
und für jede Reform des gesamten sozialen Sicherungssystems: Wenn sich im
umlagefinanzierten Rentensystem die Zahl der zu Versorgenden zur Zahl der die
Versorgungsleistungen erbringenden Menschen in der mittleren Altersgruppe als
Folge des Anstiegs des Altenquotienten mehr als verdoppelt - und genau dies ist
unvermeidlich -, muß der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung (=
Prozentsatz vom Lohn bzw. Gehalt, zur Zeit rund 20%, je zur Hälfte getragen
vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer) verdoppelt oder alternativ das sogenannte Rentenniveau
gesenkt werden (Rentenniveau = Durchschnittsrente in Prozent des Durchschnittseinkommens,
früher 70%, inzwischen durch die Riestersche Rentenreform abgesenkt).
Für die Reform stehen mehrere Handlungsoptionen zur Diskussion, die miteinander
kombiniert werden können, um die Dosierung der Einzelmaßnahmen in Grenzen
zu halten: (1) Erhöhung des Beitragssatzes, (2) Senkung des Rentenniveaus,
(3) Erhöhung der Zahl der Beitragszahler, z.B. durch eine Verringerung der
Arbeitslosigkeit, eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligung der Frauen und der
Eingewanderten, die doppelt so häufig arbeitslos sind wie die übrige
Bevölkerung, eine Verkürzung der Ausbildungszeiten und - mit längerfristiger
Wirkung - eine Erhöhung der Geburtenrate, (4) Verringerung der Zahl der Rentenbezieher
durch eine Anhebung des Ruhestandsalters, (5) Erweiterung der beitragspflichtigen
Einkommen um Mieten, Pachten u.s.w., (6) teilweise Finanzierung der Ausgaben der
Rentenversicherung aus Steuermitteln. Da sich die Dosierung dieser Maßnahmen
nicht beliebig steigern läßt, ist eine Senkung des Rentenniveaus unvermeidlich.
Mit der Einführung des »demographischen Faktors« in der Rentenformel
wurde bereits eine automatische Absenkung des Rentenniveaus gesetzlich beschlossen,
und zwar in Abhängigkeit von der Zunahme des Altenquotienten. Die dadurch
wachsende Versorgungslücke soll von den Bürgern durch höhere Sparleistungen
mit privat finanzierten, kapitalgedeckten Zusatzversicherungen geschlossen werden,
die vom Staat gefördert werden (»Riester-Rente«).
Ähnlich
wie bei der Alterssicherung sind auch bei der Krankenversicherung rund 90% der
Bevölkerung Mitglied in der gesetzlichen (GKV) und rund 10% in der privaten
Krankenversicherung (PKV). Die gesetzliche Krankenversicherung ist ebenso wie
die gesetzliche Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren organisiert, es werden
also keine Rücklagen für die mit der absolut steigenden Zahl der Älteren
wachsenden Gesundheitsausgaben gebildet. Im Gegensatz dazu bildet die private
Krankenversicherung solche Rücklagen mit dem Ziel, den Beitragssatz konstant
zu halten, wenn die Gesundheitsausgaben durch die demographische Alterung steigen
und das Wachstum der Einnahmen demographisch bedingt schwächer wird. Dafür
werden in jüngeren Jahren höhere Beitragssätze erhoben, als es
die altersbedingten Ausgaben für die Gesundheit eigentlich erfordern. Die
daraus gebildeten Rücklagen werden verzinst und später zur Dämpfung
des sonst nötigen Beitragsanstiegs im höheren Alter verwendet. Die
Pro-Kopf-Ausgaben für die Gesundheit sind im höheren Alter etwa um den
Faktor 8 größer als beispielsweise im Alter von 20. Das Profil der
Pro-Kopf-Kosten-Kurve wird mit zunehmendem Alter steiler. Die Aufteilung der Bevölkerung
auf die verschiedenen Altersklassen verschiebt sich mit jedem Jahr immer mehr
zum steileren Teil der Pro-Kopf-Kosten-Kurve, so daß die Gesundheitsausgaben
demographisch bedingt zunehmen (Schaubilder 21 und 22). Die Pro-Kopf-Ausgaben
für die Gesundheit sind bei älteren Menschen höher, weil ältere
häufiger erkranken als jüngere, zum anderen aber steigen die Kosten
auch deshalb, weil die Zahl der Todesfälle durch die demographische Alterung
stark zunimmt, wobei sich die Kosten mit der Nähe des Todes sprunghaft erhöhen:
Von eintausend 20-25jährigen Männern starb in den 1990er Jahren jährlich
nur eine Person, von eintausend 80-85jährigen Männern waren es 111,
und von eintausend 90jährigen und älteren 256. Da die Gesellschaft ständig
altert, ist ein Anstieg der Zahl der Sterbefälle von 2000 bis 2050 von jährlich
rund 800 Tsd. auf 1200 Tsd. und ein entsprechender Anstieg der durch die Hinfälligkeit
vor dem Tod bedingten Ausgaben vorprogrammiert. Die sogenannten Sterbekosten
sind zwar bei Menschen mittleren Alters höher als bei älteren, da aber
die Sterblichkeit bis zum Alter 60 extrem niedrig ist, sind die Fallzahlen in
der mittleren Altersgruppe so gering, daß sie nicht ins Gewicht fallen:
Die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten zwölf Monaten zu sterben, ist
bei Männern bis zum Alter 49 und bei Frauen bis zum Alter 55 sogar niedriger
als die Säuglingssterblichkeit. Eine weitere Tendenz zur Kostensteigerung
entsteht dadurch, daß sich zusätzlich zum Anstieg des Durchschnittsalters
auch das Altersprofil der Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben durch den medizinischtechnischen
Fortschritt insgesamt ständig nach oben verschiebt. So betrug die Spannweite
der Pro-Kopf-Ausgaben zwischen Jung und Alt in den 1990er Jahren noch 1 : 8, sie
könnte sich aber durch diese Verschiebungen bis 2040 auf über 1 : 20
erhöhen, wie die Enquete- Kommission »Demographischer Wandel«
des Deutschen Bundestages unter Bezugnahme auf Untersuchungen von Forschungsinstituten
festgestellt hat. Die demographische Alterung erhöht aber nicht
nur die Ausgaben, sie dämpft auch die Zunahme der Einnahmen der gesetzlichen
Krankenversicherung, weil sich die Zahl der Beitragszahler demographisch bedingt
verringert. Die sich öffnende Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen erfordert
eine kontinuierliche Erhöhung des Beitragssatzes der gesetzlichen Krankenversicherung
in den nächsten Jahrzehnten von rund 14% im Jahr 2005 auf etwa 20 bis 25%,
und zwar selbst dann, wenn der medizinisch-technische Fortschritt keine zusätzlichen
Kosten verursachen würde, was höchst unwahrscheinlich ist.
Die demographische Alterung hat ähnlich wie in der gesetzlichen Krankenversicherung
auch in der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) einnahmensenkende und ausgabenerhöhende
Auswirkungen. Auch hier steigen die Pro-Kopf-Ausgaben für die Pflege mit
zunehmendem Alter steil an: So waren beispielsweise 1996 in der Altersklasse der
35-39jährigen 4 von 1000 Versicherten Empfänger von Leistungen der Sozialen
Pflegeversicherung, in der Altersgruppe der 65-69jährigen waren es 24 und
bei den über 80jährigen 280. Von den über 80jährigen Menschen
sind 33% pflegebedürftig, die meisten von ihnen werden in den Familien, nicht
in Pflegeheimen versorgt. Da die Zahl der über 80jährigen demographisch
bedingt bis 2050 auf rund zehn Mio. ansteigt, ist mit etwa drei Mio. Pflegebedürftigen
zu rechnen gegenüber zwei Mio. am Anfang des 21. Jahrhunderts. Nur wenn es
künftig besser gelingt, die gesundheitliche Konstitution betagter Menschen
zu verbessern, wird die Zahl der Pflegefälle prozentual weniger stark zunehmen
als die der über 80jährigen. Demographische Simulationsrechnungen
verschiedener Institute ergaben, daß der Beitragssatz zur gesetzlichen Pflegeversicherung
von heute 1,7% bis 2040 auf rund 3 bis 6% erhöht werden müßte.
Die kostentreibende Wirkung der demographischen Alterung läßt sich
erkennen, wenn man den »demographischen Altenpflegequotienten«
berechnet, der die Zahl der Menschen in der für die Zahl der pflegebedürftigen
wichtigen Altersgruppe der Hochbetagten angibt, die auf je 100 Menschen in der
um 20 bis 40 Jahre jüngeren Altersgruppe entfallen, von denen die meisten
Pflegeleistungen erbracht werden. Um dem Trend zu höherer Vitalität
und zu einem höheren Lebensalter in Gesundheit Rechnung zu tragen, wird die
Zahl der Hochbetagten alternativ als Gruppe der 85jährigen und älteren
bzw. als Gruppe der 90jährigen und älteren definiert, die der jüngeren
potentiellen Pflegepersonen entsprechend alternativ als 40-60jährige, 45-65jährige
u.s.w.. Der weitaus überwiegende Teil der Pflegeleistungen wird
von den Familienmitgliedern der Pflegebedürftigen und von deren Kindern erbracht.
Die Zahl der Pflegebedürftigen, die außerfamiliale Pflegeleistungen
in Anspruch nehmen müssen, weil sie kinderlos bleiben, wird sich besonders
stark erhöhen. Dies führt zu dem Problem, daß das Prinzip der
Beitragsgerechtigkeit verletzt wird, wenn die Zahl der Nachkommen und deren Pflegeleistungen
bei der Tarifgestaltung nicht berücksichtigt werden. Diesem Gesichtspunkt
trägt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung vom
April 2001 Rechnung. Die Prinzipien des Urteils sind auch für eine gerechte
Reform der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung maßgeblich. Welche
Bedingungen sind bei den Reformen zu beachten, wenn sie mit der Verfassung übereinstimmen
und das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung nicht verletzen sollen?Jeder
Mensch ist im Verlauf seines Lebens zunächst Empfänger (E), dann Unterstützer
(U) und schließlich wieder Empfänger (E) der Leistungen von anderen
und an andere Generationen. Ordnet man die drei Phasen des Lebenslaufs von links
nach rechts an (E, U, E), dann ergibt sich ein Schema, in dem sich die Leistungen
zwischen den verschiedenen Generationen durch senkrechte Pfeile darstellen lassen.
Die steigende Lebenserwartung führt dazu, daß immer mehr Menschen
nicht nur mit Mitgliedern der Generation ihrer Eltern und Großeltern, sondern
auch mit Urgroßeltern zusammenleben. Alle Leistungen an die älteren
Generationen sind in den nach oben gerichteten Pfeilen zusammengefaßt, die
nach unten gerichteten Pfeile stellen die Leistungen an die nachfolgenden Generationen
dar. Die Verflechtung der Generationen durch Leistungen und Gegenleistungen
wird in Deutschland als Generationenvertrag bezeichnet, wobei dieser Vertrag
nicht in Schriftform vorliegt. Selbst wenn es den Generationenvertrag in schriftlicher
Form gäbe, wäre dies keine Garantie dafür, daß er eingehalten
wird. Die wesentliche Voraussetzung für seine Wirksamkeit ist die Bereitschaft
der Menschen zur Anerkennung der wechselseitigen Verpflichtungen durch die beteiligten
Generationen. Dabei ist wichtig, daß am Generationenvertrag immer mindestens
drei Generationen beteiligt sind, nicht nur zwei. Bezieht man die Unterstützung
der Kinder und Enkel durch die Großeltern mit ein, wird der Generationenvertrag
aus vier Generationen gebildet. Jeder Mensch empfängt zweimal - am Anfang
und am Ende seines Lebens - die Unterstützung durch andere Generationen,
diesen empfangenen Leistungen stehen entsprechend zwei Gegenleistungen gegenüber
- an die Generationen seiner Vorfahren und seiner Nachkommen. Der Sachverhalt
wird mit dem Begriff »Drei-Generationen-Vertrag« richtig bezeichnet,
der Ausdruck »Zwei-Generationen-Vertrag« ist hingegen falsch, und
er leistet auch dem Irrtum Vorschub, als ob die mittlere Generation allein durch
ihre Einzahlungen beispielsweise in die gesetzliche Rentenversicherung schon die
Voraussetzungen für ihre eigene Versorgung im Alter erfüllt hätte.
Die mittlere Generation gibt mit diesen Einzahlungen jedoch nur die von ihr in
der Kindes- und Jugendphase empfangenen Leistungen an ihre Elterngeneration zurück;
ihre eigene Versorgung im Alter muß von der Generation ihrer Nachkommen
erwirtschaftet werden. Die Funktionsfähigkeit des Generationenvertrages bzw.
die Sicherheit der Versorgung im Alter hängt daher entscheidend vom Größenverhältnis
der aufeinander folgenden Generationen ab, die Versorgungsleistungen empfangen
und erbringen. Es ist für jede Gesellschaft von existentieller Bedeutung,
daß sie erkennt, daß das Größenverhältnis der Generationen
vom Niveau der Geburtenrate bestimmt wird. Die demographische Gesamtbelastung
der mittleren Generation pro Kopf ihrer Mitglieder läßt sich durch
den Jugendquotienten (=Zahl der unter 15jährigen auf 100 Menschen
von 20 bis 60 Jahren) und den Altenquotienten (= Zahl der 65jährigen
und älteren auf 100 Menschen von 15 bis 65 Jahren) angeben. Die Summe aus
Jugend- und Altenquotient wird auch mit dem Begriff Unterstützungsquotient
bezeichnet. In Deutschland nimmt der Jugendquotient von 1998 bis 2050 von 38,0
auf 31,9 ab, gleichzeitig steigt der Altenquotient von 38,6 auf 91,4, die Summe
aus beiden erhöht sich von 76,6 auf 123,3 (Tabelle 14). Diese Ergebnisse
beruhen auf der in Kapitel 8 dargestellten Vorausberechnung der Geburtenrate und
der Bevölkerungsentwicklung. Was sollte man einer Gesellschaft empfehlen,
wenn sie zwischen einer hohen und niedrigen Geburtenrate wählen könnte,
welche Geburtenrate sollte angestrebt werden, um die demographisch bedingten Belastungen
der mittleren Generation zu minimieren? Bei einer niedrigen Geburtenrate
ist zwar die Belastung der mittleren Generation durch die Unterstützung an
die jüngere Generation gering, aber dafür ist die Belastung durch die
Unterstützung an die ältere Generation um so höher. Die Summe aus
beiden nimmt mit zunehmender Geburtenrate wie bei einer U-förmigen Kurve
zunächst ab und dann wieder zu. Die geringste Belastung am Tiefpunkt der
Kurve liegt bei einer Geburtenrate von rund zwei Kindern je Frau. Dies ist das
Ergebnis mathematischer Ableitungen. (Siehe: H. Birg, Die
demographische Zeitenwende, S. 161).Die USA kommen mit ihrer
Geburtenrate von rund zwei Geburten pro Frau dem mathematisch optimalen Minimum
am nächsten, ihre Geburtenrate ist nach dem Belastungskriterium optimal.
Deutschlands Belastungsquotienten sind wegen der niedrigen Geburtenrate wesentlich
ungünstiger. Die Tabellen 15 und 16 zeigen die Belastungsquotienten für
beispielhaft ausgewählte alternative Geburtenraten. Aus technischen Gründen
beruhen die Definitionen des Jugend- und Altenquotienten in den Tabellen 15 und
16 auf den Altersschwellen 15/65 und nicht, wie in Tabelle 14, auf den Schwellen
20/60. Bei gleichen Definitionen wären die Ergebnisse jedoch identisch; die
optimale Geburtenrate beträgt auch für die Altersschwellen 15/65 rund
zwei Geburten je Frau. Die mit den Mitteln der Mathematik errechnete
optimale Geburtenrate von rund zwei Kindern pro Frau ist ein Ergebnis, das mit
dem subjektiven Empfinden der Menschen übereinstimmt, die bei Befragungen
(bisher) stets zwei Kinder als die ideale Familiengröße nannten. Für
die Politik ist das Resultat ermutigend, denn wenn die subjektiven Wertvorstellungen
der Menschen und die mathematischen Berechnungen übereinstimmen, besteht
um so mehr Grund, die Lebensbedingungen so zu gestalten, daß die von der
großen Mehrheit der Bevölkerung als ideal betrachtete Familiengröße
von rund zwei Kindern pro Frau auch tatsächlich erreicht wird. Bei rund zwei
Kindern ist aber noch ein weiteres erstrebenswertes Ziel erfüllt: Die Bevölkerungszahl
und die Altersstruktur sind dann ohne Ein- und Auswanderungen stabil.Häufig
wird gegen diese Überlegungen eingewandt, daß eine Erhöhung der
Geburtenrate sinnlos sei, wenn die Kinder nach erfolgreicher Berufsausbildung
arbeitslos bleiben. Macht man die Rechnung für die Jahrzehnte bis 2030 oder
2040 auf, mag es für die in dieser Zeitspanne Lebenden günstiger sein,
weniger oder überhaupt keine Kinder zu haben, aber für die Menschen,
die danach leben, wären weniger oder keine Kinder eine Katastrophe. Wenn
die Geburtenrate zunähme, würden zwar vorübergehend auch die demographischen
Belastungen zunehmen, aber langfristig wären sie günstiger, vorausgesetzt,
daß die Geborenen nicht zeitlebens arbeitslos sind. Es ist allerdings
zuzugeben, daß das Abwägen von kurz- und langfristigen Vor- und Nachteilen
den Planungshorizont der an vierjährigen Wahlperioden orientierten Politik
weit überschreitet. Wenn es die Politik nicht einmal zuwege bringt, ihre
kurzfristigen Ziele zu erreichen und die Arbeitslosigkeit zu verringern, wie kann
dann erwartet werden, daß sie die längerfristigen erreicht? Man
sollte besser eine andere Rechnung aufmachen: Wer keine Kinder hat, macht sich
in der Regel weniger Gedanken um die Zukunft; Kinder sind und bleiben aber eine
notwendige Bedingung dafür, daß es überhaupt eine Zukunft gibt.
(Zitat-Ende).ä
Bevölkerung als Standortfaktor (S. 134-136):Die demographischen
Entwicklungsbedingungen eines Landes werden zu einem wichtigen internationalen
Standortfaktor. In Ländern wie Deutschland, das die Renten-, Kranken- und
Pflegeversicherung je zur Hälfte aus Beiträgen von Arbeitnehmern und
Arbeitgebern finanziert, erhöhen die demographisch bedingt steigenden Kosten
für das soziale Sicherungssystem die Produktionskosten und die Produktpreise
auf den internationalen Gütermärkten. Die Folgen sind sichtbar: Arbeitsplätze
werden ins Ausland verlagert, Auslandsinvestitionen in Deutschland sind nur noch
in wenigen Branchen lohnend. Der Wirtschaftsstandort Deutschland hat wegen seiner
niedrigen Geburtenrate ungünstige Zukunftsaussichten. Hinzu kommt der zunehmende
Mangel an jungen, gut ausgebildeten Arbeitskräften. Das internationale
Gefälle der demographischen Standortfaktoren setzt sich innerhalb Deutschlands
auf regionaler Ebene fort. Auf regionaler Ebene müssen neben den beiden bevölkerungsvermehrenden
Faktoren - den Geburten und den Zuwanderungen aus dem Ausland - noch die Zuwanderungen
aus anderen Gemeinden Deutschlands berücksichtigt werden. Auf der anderen
Seite der Bevölkerungsbilanz kommen zu den Sterbefällen und den Abwanderungen
ins Ausland die Fortzüge in andere Gemeinden Deutschlands hinzu.
Die Migrationsbewegungen beeinflussen die Bevölkerungsentwicklung einer Gemeinde
etwa drei- bis fünfmal stärker als die sogenannten natürlichen
Komponenten der Geburten und Sterbefälle: In einem Stadt- oder Landkreis
kommen heute im Durchschnitt pro Geburt im gleichen Jahr drei bis fünf Zuwanderungen
vor, ebenso auf jeden Sterbefall eine vielfache Zahl an Abwanderungen. Daß
sich in Deutschland überhaupt Städte bilden konnten, beruht auf den
Zuwanderungen aus ländlichen Gebieten mit Geburtenüberschüssen.
Im 18. Jahrhundert wurden die Städte wegen der bevölkerungsdezimierenden
Wirkung ihrer niedrigen Geburtenrate und ihrer Sterbeüberschüsse mit
der Pest verglichen. Die seit über einem Jahrhundert andauernde
»säkulare Nachwuchsbeschränkung« hat zwar das Niveau der
Geburtenrate sowohl in den Städten als auch auf dem Lande stark verringert,
aber die relativen Unterschiede der Geburtenraten blieben weitgehend erhalten.
Dabei sind die zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen Jahrgang beobachteten
regionalen Unterschiede der Geburtenrate noch größer als die zeitlichen
Unterschiede zwischen den Jahrgängen in einer bestimmten Region.
Auch die Lebenserwartung differiert regional - bei den 440 Stadt- und Landkreisen
Deutschlands ergibt sich für Männer ein Intervall von 70,1 bis 78,2
Jahren, für Frauen von 77,1 bis 83,1. Dabei darf eine hohe Lebenserwartung
nicht einfach als Wirkung gesundheitsfördernder regionaler Lebens- und Umweltbedingungen
interpretiert werden. Der größte Teil der Unterschiede wird vielmehr
durch die starken Selektionswirkungen der Wanderungsbewegungen in- bzw. exportiert.
Die überdurchschnittliche Lebenserwartung der Männer im Voralpengebiet,
z. B. in Starnberg (78,2), und die unterdurchschnittliche in Ruhrgebietsstädten
wie Gelsenkirchen (72,6) beruht mehr auf der Zuwanderung von Menschen mit überdurchschnittlicher
Ausbildung und dem damit zusammenhängenden gesundheitsbewußteren Verhalten
nach Bayern bzw. auf der Abwanderung dieser Menschen z. B. aus Nordrhein-Westfalen
als auf den regionalen Lebensbedingungen der Herkunfts- und Zielregionen.
Jedes Jahr wechseln vier Millionen Menschen den Wohnsitz zwischen den 440 Stadt-
und Landkreisen. Da jeder Zuzug irgendwo ein Wegzug ist, teilen die Binnenwanderungen
das Land in Gewinner und Verlierer. Die Hauptbewegungsrichtung dieser permanenten
»Abstimmung mit den Füßen« sind der jahrzehntelange Wanderungstrend
von den nördlichen in die südlichen Bundesländer und seit 1990
von Ost nach West. Besonders mobil sind jüngere Menschen mit überdurchschnittlicher
Ausbildung. Sie bilden eine Art innerdeutschen brain drain, von dem die westlichen
Bundesländer, vor allem Baden-Württemberg und Bayern, sowohl demographisch
als auch wirtschaftlich profitieren. Dem Land Mecklenburg-Vorpommern
gingen beispielsweise ein Fünftel der Frauen in der Altersgruppe 20-35 durch
Abwanderungen verloren. Dies wirkt sich negativ auf das wirtschaftliche Entwicklungspotential
aus, wodurch die Abwanderung zusätzlich stimuliert wird. Da die meisten Geburten
auf diese Altersgruppe entfallen, entwickelt sich eine demographisch-ökonomische
Schrumpfungsspirale, der mit den Mitteln der Raumordnungs- und Regionalpolitik
nicht beizukommen ist. Je negativer die Auswirkungen auf das Herkunftsland sind,
desto positiver sind sie für die Zielregion. Unter den Bedingungen
der langfristigen demographischen Schrumpfung wird die Konkurrenz um das gut ausgebildete,
junge Humankapital schärfer. Der demographische Standortwettbewerb der Gemeinden
und Regionen läßt sich nicht durch gesetzliche Maßnahmen beschränken,
denn das im Grundgesetz garantierte Recht auf Freizügigkeit schließt
Maßnahmen zur Steuerung der Wanderungen beispielsweise durch Zuzugsbeschränkungen
aus. Denkbar wäre jedoch eine Differenzierung der Einkommensteuersätze
durch die Gemeinden nach dem Beispiel der Gewerbesteuer, eine Art Anreizpolitik
zur Beeinflussung der Wohnortentscheidungen, die betriebliche Standortentscheidungen
nach sich ziehen könnten.Anders als im 18. und 19. Jahrhundert ist
die durchschnittliche Geburtenrate heute so niedrig, daß die Sterbeüberschüsse
der städtischen Siedlungsgebiete nicht mehr durch die Geburtenüberschüsse
der ländlichen ausgeglichen werden können. In allen 440 Stadt- und Landkreisen
wird die bestandserhaltende Zahl von 2,1 Kindern je Frau unterschritten. Das Maximum
wurde 2000 in Cloppenburg (1,91) registriert, das Minimum (auch bedingt durch
den hohen Anteil an Studentinnen an der Bevölkerung) in Heidelberg (0,88).
Trotz der hohen Einwandererzahlen bleiben die Binnenwanderungen der entscheidende
Faktor, der die dreizehntausend Gemeinden in demographische Gewinner und Verlierer
teilt. Schrumpfende und wachsende Siedlungen heben sich immer kontrastreicher
voneinander ab. Verödende Ortskerne in Dörfern und Kleinstädten
und Ghettobildungen in Großstädten, Rückbau, Abriß und Wohnungsleerstände
auf der einen Seite wechseln mit prosperierenden Siedlungen und Regionen ab, wobei
heute niemand sagen kann, ob die Wachstumspole in zwanzig oder dreißig Jahren
immer noch auf Kosten der Abwanderungsgebiete profitieren können oder ob
die Schrumpfung schließlich auch die noch blühenden Regionen einholen
und das ganze Land mit einer lähmenden Tristesse überziehen wird.
(Zitat-Ende).ä
Nationale und internationale demographische Konflikte (S. 137-143):Der
Ausgleich des sozialen und wirtschaftlichen Gefälles zwischen den Bevölkerungsgruppen,
Regionen und Generationen war in Deutschland eines der Hauptziele bei der Entwicklung
des sozialen Rechtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg. Die im Grundgesetz verankerte
Gleichwertigkeit (nicht Gleichartigkeit) der regionalen Lebensbedingungen und
die Gleichstellung der Geschlechter sind Beispiele für solche Etappenziele
auf dem Weg zu größerer rechtlicher Gleichheit. Durch das geplante
gesetzliche Verbot jeglicher Art von Diskriminierung sollen diese Beispiele verallgemeinert
und auf nahezu alle Lebensbereiche ausgedehnt werden. Der Weg zu größerer
sozialer Gerechtigkeit schien bis zum Ende des 20. Jahrhunderts eine Art Einbahnstraße
zu sein. Paradoxerweise vollzog sich parallel zu der ideellen Annäherung
an das Ziel der sozialen und rechtlichen Gleichheit ein entgegengesetzter Prozeß
zu immer größerer realer Verschiedenheit, beispielsweise bei der Einkommens-
und Vermögensverteilung. Daß diese Kontraste jedoch durch die demographische
Entwicklung bis ins Unerträgliche gesteigert werden könnten, ist in
der Sozial- und Gesellschaftspolitik bisher noch kein Thema. Ganz gegen alle bisherigen
Erwartungen werden die demographischen Veränderungen unsere Gesellschaft
zu einer Bewegung zurück zu größerer materieller Ungleichheit
zwingen. Die Gesellschaft kommt nicht daran vorbei, sich auf eine Reihe ungewohnter,
demographisch bedingter Interessengegensätze einzustellen. Dabei können
die Demographen zwar vorausberechnen, wie stark die Ungleichheit und die materiellen
Ursachen der sozialen Spannungen zunehmen werden, aber wie die Gesellschaft damit
umgeht, ob sie sie erträgt und durch ein wesentlich höheres Maß
an Solidarität entschärft oder ob sich die Spannungen konfliktreich
entladen - das läßt sich mit den mathematischen Modellen nicht vorausberechnen.
Die Zumutungen und Schwierigkeiten lassen sich besser ertragen, wenn man versteht,
wie sie entstanden sind. Deshalb sollte alles getan werden, um die Bürger
darüber aufzuklären, daß die demographisch bedingten Konflikte
nicht das Ergebnis politischer Verschwörungen, sondern die Konsequenz der
demographisch relevanten Verhaltensweisen der Mitglieder dieser Gesellschaft und
ihrer persönlichen Entscheidungen für oder gegen Kinder sind. Die Folgen
dieser Entscheidungen sind zu respektieren, aber dazu gehört auch, daß
man ihre Konsequenzen erkennt, verantwortungsvoll mit ihnen umgeht und die Einbußen
an individueller Wohlfahrt erträgt. Verantwortung setzt Wissen voraus. Unwissenheit
läßt sich durch nichts kompensieren, am wenigsten durch gute Absichten
oder eine gute Gesinnung. Niemand weiß, ob und wie unsere Gesellschaft den
demographischen Härtetest ökonomisch und moralisch übersteht. Die
Hauptwirkung der demographischen Veränderungen besteht darin, daß sich
die Gesellschaft spaltet. Soll sie nicht auseinanderfallen, müssen ihre Teile
durch ein Mehr an Solidarität zusammengehalten werden. Es ist möglich,
daß dies gelingt, aber dazu bedarf es größerer Anstrengungen
und Opfer als bisher. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich vier
nationale und eine internationale demographisch verursachte Konfliktlinie unterscheiden.Auf
nationaler Ebene geht es erstens um den wachsenden Verteilungsstreß zwischen
den Generationen, zweitens um die demographische Spaltung des Landes in wachsende
und schrumpfende Kommunen, Regionen und Bundesländer, drittens um das Auseinanderdriften
der zugewanderten Populationen und der autochthonen Bevölkerung sowie viertens
um die Spaltung der Gesellschaft in zwei Teilgesellschaften mit und ohne Nachkommen.
(1) Das Verhältnis zwischen den Generationen ist unter den Bedingungen unserer
toleranter gewordenen Gesellschaft heute wahrscheinlich besser als jemals zuvor.
Aber hier geht es nicht um die emotionale Seite des Generationenverhältnisses,
sondern um den objektiven Interessengegensatz zwischen der mittleren Generationsgruppe,
die sowohl die Versorgungsleistungen für die Kinder und Jugendlichen als
auch für die ältere Generation erwirtschaften und dabei noch in Kauf
nehmen muß, daß die Sicherheit ihrer eigenen Versorgung im Ruhestand
mit jedem Jahr aus zwingenden demographischen Gründen schwindet. Entsolidarisierungstendenzen
zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zeigen sich in allen Zweigen
des Sozialen Sicherungssystems, vor allem in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung.
Die in den verschiedenen Wirtschaftssektoren unterschiedlich hohe Arbeitslosigkeit
hat auch in der Arbeitslosenversicherung Bestrebungen wachgerufen, die bisher
einheitlichen Beitragssätze nach der in den verschiedenen Branchen unterschiedlichen
Arbeitslosenquote zu differenzieren. Neue Entsolidarisierungstendenzen könnten
sich auch in der Rentenversicherung entwickeln, weil sich die demographische Alterung
bei den autochthonen Bevölkerungsgruppen und bei den Zugewanderten stark
unterscheidet: Der Altenquotient der Zugewanderten ist wesentlich niedriger als
der bei den Deutschen. Wenn sich bestimmte zugewanderte Bevölkerungsgruppen
in politischen Parteien organisieren, könnte der Gegensatz zwischen der demographisch
alten autochthonen und den demographisch jüngeren allochthonen Populationen
zur Entsolidarisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung führen, indem
die Forderung erhoben wird, die Beitragssätze nach dem Altenquotienten zu
differenzieren, ähnlich wie bereits heute die Höhe der Renten in der
Riesterschen Rentenreform durch den demographischen Faktor an den Anstieg des
Altenquotienten gekoppelt wurde. Wenn sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen
kulturell auseinanderentwickeln, fehlt der entscheidende Grund für das solidarische
Miteinander der Teilbevölkerungen mit günstiger und ungünstiger
Altersstruktur. Kultur läßt sich nicht zuletzt als die Bereitschaft
definieren, für andere Menschen freiwillig Opfer zu bringen, zu denen man
durch nichts - außer durch kulturelle Gründe - verpflichtet ist.
(2) Ebenso schwer wie der Generationenkonflikt wiegt der demographisch bedingte
Gegensatz zwischen den neuen und alten Bundesländern. Die Ost-West-Wanderungen
von den neuen in die alten Bundesländer wirken wie alle Wanderungen selektiv:
Junge, gut ausgebildete Menschen sind mobiler als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Die alten Bundesländer, vor allem Baden- Württemberg, Bayern und Südhessen,
sind die Gewinner des großen Null-Summen-Spiels der innerdeutschen Wanderungen.
Ihre Bevölkerungszahl wird auf Kosten der neuen Länder noch etwa zwei
Jahrzehnte zunehmen, gleichzeitig profitieren sie durch die Selektionswirkungen
der Wanderungen vom Humankapital der neuen Länder - von den Investitionen
in die Erziehung und Ausbildung junger Menschen. Die für die wirtschaftliche
Entwicklung entscheidende Altersgruppe der 20-60jährigen wird sich in den
neuen Bundesländern bis 2050 halbieren. Der wirtschaftliche Aufholprozeß
ist unter diesen Bedingungen chancenlos, die Spaltung des Landes und ein ständiger
Verteilungsstreß zur Überbrückung der Gegensätze sind die
Folgen. Analoge Kontraste bestehen zwischen den Kommunen und Regionen innerhalb
der verschiedenen Bundesländer, und zwar auch im Westen. Das nördliche
Ruhrgebiet ist durch ähnliche Erosionsprozesse geprägt wie die neuen
Bundesländer, das gleiche gilt für einige Regionen Niedersachsens, Hessens
und für Teile des Saarlandes. (3) Die Interessenkonflikte zwischen
den Zugewanderten und der autochthonen Bevölkerung betreffen vor allem die
jüngeren Altersgruppen. Die zugewanderte Population wächst durch Geburtenüberschüsse
und weitere Zuwanderungen, gleichzeitig schrumpft die autochthone Population.
Bedingt durch wesentlich ungünstigere Bildungsvoraussetzungen, bilden die
Zugewanderten gleichzeitig eine ethnisch geprägte Unterschicht, ein neues
Proletariat, das einen wachsenden Anteil des staatlichen Sozialbudgets beansprucht.
Laut amtlicher Statistik verlassen 60% der in Deutschland geborenen Kinder aus
Familien mit Migrationshintergrund das Schulsystem mit Hauptschulabschluß
oder ohne Abschluß. Von der Altersgruppe 20-25 besuchen bei den Ausländern
nur 4% Hochschulen, bei den Deutschen sind es 17%. Die Unterschiede gelten für
die Gesamtheit der Zugewanderten. Daß einzelne Ethnien, beispielsweise aus
Asien, bessere schulische Abschlüsse haben als Deutsche, bedeutet, daß
für andere Ethnien noch schlechtere Zahlen als die dargestellten gelten.
(4) Bei einem Anteil der Kinderlosen von einem Drittel bei den Jahrgängen
ab 1965 erodieren nicht nur die sozialen Sicherungssysteme, sondern es entsteht
zugleich auch ein neuer Typ von sozialer Ungerechtigkeit - »die Transferausbeutung
der Familien« (Jürgen Borchert). Die verfassungswidrige Bevorzugung
von Menschen ohne Nachkommen in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung verletzt
den obersten Grundsatz unserer demokratischen Verfassung, das Gleichheitsprinzip
(Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 03.04. 2001). (5) Die Versorgungslücken
des staatlichen sozialen Sicherungssystems erweitem sich; sie sollen durch private
Ersparnis und Kapitalexport in Niedriglohnländer wie China geschlossen werden.
Da auch die Geburtenraten der Entwicklungsländer stark abnahmen und weiter
zurückgehen, ist die demographische Alterung ein weltweites Phänomen.
Der demographisch bedingte Lastenanstieg läßt sich durch Kapitalexport
international nur anders verteilen, aber nicht aus der Welt schaffen, denn die
Weltbevölkerung altert als Ganzes. In China wird der Altenquotient ab den
2030er Jahren sogar höher sein als in den USA. Wie sollen dann die mittleren
Generationen in China durch ihre wirtschaftlichen Leistungen die älteren
Generationen in den Industrieländern - die Eigentümer der in China investierten
Kapitalgüter- mitversorgen, wenn in China selbst bis dahin Hunderte von Millionen
ältere Menschen hinzugekommen sein werden, für die es in China keine
ausreichende Alterssicherung gibt? Dann müßte Kapital aus China
in die Industrieländer exportiert werden, statt umgekehrt. Der Fortschritt
des Entwicklungs- und Zivilisationsprozesses war im 20. Jahrhundert in den hoch
entwickelten Ländern mit einer Abnahme der Geburtenrate bis unter das Bestandserhaltungsniveau
und mit einer Zunahme der alterungsbedingten Stabilitätsrisiken in Wirtschaft
und Gesellschaft verbunden. Bedeutet dieser Zusammenhang, daß die Rückkehr
zu demographischer und gesellschaftlicher Stabilität nicht möglich sein
wird, bevor die negativen Auswirkungen dieser Entwicklung ein solches Ausmaß
angenommen haben, daß sich eine demographische Revolution Bahn bricht, in
deren Verlauf sich die demographisch relevanten Verhaltensweisen grundlegend ändern
? Wie hätte man sich den Weg zurück zu einer höheren Geburtenrate
in Deutschland vorzustellen, falls er wirklich den Durchgang durch Phasen der
sozialen Unsicherheit und der gesellschaftlichen Instabilität voraussetzen
würde, die die Jüngeren in diesem Land nie erlebt haben und die sie
sich wahrscheinlich nicht einmal vorzustellen vermögen? Deutschland
ist im 20. Jahrhundert durch zwei Weltkriege und zwei Diktaturen gegangen. Den
davon betroffenen älteren Generationen könnte man die Bewältigung
der demographischen Krise im 21. Jahrhundert durchaus zutrauen, aber gilt das
auch für ihre Nachkommen in der »Spaßgesellschaft«?
Die westeuropäischen Länder haben in den letzten 50 Jahren in ihrer
wirtschaftlichen Entwicklung gewaltige Fortschritte erzielt. War es unvermeidlich,
daß dieser Erfolg mit einem Verlust ihrer demographischen Stabilität
und eines großen Teils ihres Humanvermögens bezahlt wurde? Es
ist in Deutschland üblich geworden, eine Gesellschaft mit einem wirtschaftlichen
Großbetrieb, einer Aktiengesellschaft, zu vergleichen, wie dies etwa der
frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt tat, der sich gerne als »Aufsichtsratsvorsitzenden
der Aktiengesellschaft Bundesrepublik Deutschland« bezeichnete. Die tiefere
Wahrheit dieses Vergleichs wird nun allmählich deutlich: Es kommt darauf
an, den drohenden, demographisch bedingten Konkurs der Deutschland AG abzuwenden.
Diese Art von Herausforderung ist für eine erfolgsgewohnte Volkswirtschaft
neu: Nach Carl von Clausewitz ist der geordnete Rückzug bei einer militärischen
Niederlage eine viel schwierigere Operation als ein Erfolg durch das Erringen
eines Sieges. Läßt sich die mangelnde demographische Stabilität
eines Landes durch ökonomische Stärke - durch Produktivitätszuwächse
im Inland oder durch Kapitalexport in wachstumsstarke Niedriglohnländer überhaupt
dauerhaft substituieren? Diese Frage ist von größter Bedeutung,
denn eine schnelle Rückkehr zu einer demographisch stabilen Situation ist
unmöglich. Durch den Kapitalexport aus den Industrieländern in Niedriglohnländer
profitieren in der Regel beide Ländergruppen. Da jedoch beide Ländergruppen
und die Welt als Ganzes altern, entsteht durch den Kapitalexport sowohl ein geographisches
Verteilungsproblem in Bezug auf die internationale Verteilung der Kapitaleinkommen
als auch ein soziales Verteilungsproblem in Bezug auf die sozialen Gruppen als
Empfänger der Renditen und als Eigentümer des Kapitals. Bei diesem Prozeß
wird es Gewinner und Verlierer geben, auch wenn es sich nicht um ein Nullsummenspiel
handelt und beide Ländergruppen Vorteile daraus ziehen. Dabei zeichnet
sich für Deutschland ein neuer internationaler Konflikt ab. Da das deutsche
Sozialversicherungssystem umlagefinanziert ist, während beispielsweise das
britische und amerikanische auf Kapitaldeckung beruht, konnten sich in Deutschland
keine international konkurrenzfähigen Kapitalfonds und keine international
bedeutsamen Banken entwickeln. Die ausländischen Alterssicherungsfonds sind
zum Erfolg verurteilt, denn die Existenz der ausländischen Anteilseigner
im Ruhestand hängt davon ab, daß die gewaltigen Fondsvermögen
international renditeträchtig angelegt werden.Die interessantesten
deutschen Unternehmen werden von ausländischen Fonds übernommen, ohne
daß Deutschland bei den Übernahmeschlachten als gleichwertiger Gegner
auftreten kann: »Die deutschen Unternehmen werden zunehmend zu Institutionen
zur Finanzierung der Altersvorsorge, angefangen bei der Rente der kalifornischen
Lehrer und der Feuerwehrleute in Wisconsin bis hin zur Rente der Bergarbeiter
von Mittelengland.« (Uwe H. Schneider, Sonderrecht
für institutionelle Anleger? In: Börsenzeitung, 15.06.2005).
Da Deutschland über keine nennenswerte kapitalstockfinanzierte Altersvorsorge
und keine entsprechende Finanzmacht verfügt, kommen die Dividenden seiner
Unternehmen und die Zinsen seiner Staatsanleihen, die von den nachrückenden
Generationen erwirtschaftet werden müssen, ausländischen Pensionären
zugute. Die Demographie ist wie ein siamesischer Zwilling mit der Wirtschaft verwachsen:
Geht es dem einen schlecht, leidet auch der andere. (Zitat-Ende).ä
Was tun? - Soziale Politik statt Sozialpolitik (S. 144-148):In
einem manifestartigen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung begründete
ein Professor für Medizinsoziologie sein Plädoyer für die Freigabe
des Klonens von Menschen zur Behandlung von Unfruchtbaren mit einem merkwürdigen
Argument: Die geistigen Wurzeln unseres Embryonenschutzgesetzes, das das Klonen
von Menschen strikt verbietet, reichen angeblich zurück in den Nationalsozialismus.
Die Nationalsozialisten lehnten die künstliche Befruchtung als etwas Unnatürliches
ab, und sie hätten - so das Argument - auch das Klonen abgelehnt, wenn diese
Technik damals schon bekannt gewesen wäre. Daraus sei zu folgern: Da nur
das Gegenteil der von den Nationalsozialisten abgelehnten Ansicht richtig sein
könne, sollte man das Klonen von Menschen erlauben und das Embryonenschutzgesetz
entsprechend ändern.Auf einer ähnlich verqueren Logik beruht
der breite Konsens bei der Ablehnung der Bevölkerungspolitik in Deutschland:
Da bevölkerungspolitische Ziele in den vordemokratischen Gesellschaften meist
eine wesentliche Komponente der Politik bildeten, insbesondere in der nationalsozialistischen
Diktatur und in der DDR, läßt sich Bevölkerungspolitik mit den
Prinzipien einer Demokratie angeblich nicht vereinbaren. Diese Ansicht hat etwas
für sich - sie ist bequem -, aber dies kann nicht darüber hinwegtäuschen,
daß der von den Nationalsozialisten gebrauchte Begriff Bevölkerungspolitik
kritiklos hingenommen wird, statt ihn mit neuern Inhalt zu füllen. Viele
halten sich auf diese Einstellung noch etwas zugute, obwohl sie auf eine Art selbstgewählter
- Kant würde sagen »selbstverschuldeter« - Unmündigkeit
hinausläuft. Jede Art politischen Handelns (und Unterlassens) hat
Auswirkungen, auch auf die Zahl und Struktur der Bevölkerung. Sind diese
Auswirkungen beabsichtigt, spricht man von Bevölkerungspolitik. Da die Wirkungen
unabhängig davon eintreten, ob sie beabsichtigt sind oder nicht, können
die demographisch bedeutsamen Auswirkungen der Politik nicht vermieden, sondern
nur auf unterschiedliche Weise benannt werden. Als Ersatzbezeichnungen für
die demographisch bzw. bevölkerungspolitisch bedeutsamen Wirkungen der Politik
auf die Geburtenzahl sind in Deutschland die Begriffe Familienpolitik, familienorientierte
Sozialpolitik oder gesellschaftliche Nachwuchssicherung üblich. Die Politik
zur Verringerung der Sterblichkeit bzw. zur Erhöhung der Lebenserwartung
firmiert unter »Gesundheitspolitik«. Nur die Migrationspolitik wird
nicht mit einem Ersatzbegriff bezeichnet; dafür werden die demographischen
Auswirkungen dieses für Deutschland besonders wichtigen Gebiets der Bevölkerungspolitik
um so konsequenter verdrängt. Selten wird thematisiert, daß
die Nebenwirkungen der Wirtschaftspolitik auf die Geburtenzahl die Wirkungen des
eigentlich zuständigen Familienministeriums bei weitem übertreffen.
Je besser die Wirtschaftspolitik beispielsweise das Ziel eines hohen Pro-Kopf-Einkommens
erreicht, desto unerschwinglicher werden Kinder, falls Erwerbsarbeit und Familienarbeit
nicht oder nur schwer vereinbar sind. So kam es zu dem demographisch-ökonomischen
Paradoxon, daß in Deutschland und anderen Ländern die Pro-Kopf-Kinderzahl
mit dem wachsenden Pro-Kopf-Einkommen abnahm, statt zuzunehmen. In Deutschland
etwa ist die Kinderzahl pro Frau heute nur noch etwa halb so hoch (1,3) wie in
den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts (2,5), obwohl sich das Pro-Kopf-Einkommen
seitdem mehr als verdoppelte. Die Dimension des demographischen Problems
ist für unsere Gesellschaft möglicherweise zu groß, es läßt
sich nicht durch das Nadelöhr der politischen Interessen zwängen: »Die
Bevölkerung hat keine Lobby« (Josef Schmid). Wer den Gedanken von sich
weist, zur Sicherung seines eigenen Alters Kinder zu erziehen, wird für die
Alterssicherung anderer erst recht keine in die Welt setzen. Die demographischen
Nebenwirkungen der ressortspezifischen Interessenpolitik - die Auswirkungen der
Wirtschaftspolitik, der Bildungspolitik, der Arbeitsmarktpolitik und anderer Politikbereiche
auf die demographischen Strukturen und Prozesse - sind in ihrer Summe von so hohem
Gewicht, daß man folgenden Grundsatz formulieren kann: Eine an demographischen
Zielen orientierte Politik kann ihre Ziele nur dann erreichen, wenn sie die demographischen
Nebenwirkungen der anderen Ressorts kontrolliert, die die größten demographischen
Wirkungen ausüben, ohne selbst demographische Ziele zu verfolgen, d. h.,
wenn sie als Querschnittspolitik praktiziert wird.So wie sich jede Sozialpolitik
erübrigte, wenn quer über die Ressorts eine soziale Politik betrieben
würde, so bedürfte es keiner an demographischen Zielen orientierten
Politik, wenn es die Politik zuwege brächte, daß die Bevölkerungszahl
nicht wie in Deutschland schon seit den l970er Jahren ohne Aussicht auf ein Ende
der Talfahrt ständig schrumpft und als Folge davon stark altert. Da die Bevölkerungsschrumpfung
automatisch mit einer Alterung der Gesellschaft gekoppelt ist, muß, wer
beispielsweise die Alterung dämpfen will, die Bevölkerungsschrumpfung
verringern - er muß also eine an demographischen Zielen orientierte Politik
betreiben, ganz gleich, ob er sie als Bevölkerungspolitik bezeichnet oder
nicht. In Deutschland wird seit drei Jahrzehnten eine Bevölkerungspolitik
der kompensatorischen Einwanderungen praktiziert. Diese Politik überflüssig
zu machen und wieder eine Politik für die Bevölkerung zu betreiben,
die die Geburtenrate auf das bestandserhaltende Niveau von zwei Kindern pro Frau
anhebt, ist langfristig auch deshalb ohne Alternative, weil sich die Einwanderer
der niedrigen Geburtenrate in Deutschland erfahrungsgemäß anpassen.
Zur Kompensation der ständig schrumpfenden Geburtenzahl bzw. zur Dämpfung
der Alterung würden in Zukunft dementsprechend immer mehr Einwanderer gebraucht.
Heute reicht noch ein Einwanderungssaldo von rund 200 Tsd. aus, um die Schrumpfung
auszugleichen, aber wegen des steigenden Geburtendefizits müßte der
Saldo künftig auf 500 Tsd. und schließlich auf 700 Tsd. pro Jahr zunehmen.
Die in Deutschland seit drei Jahrzehnten praktizierte Bevölkerungspolitik
durch kompensatorische Einwanderungen ließe sich nicht einmal dann rechtfertigen,
wenn mit ihr mehr Probleme gelöst als geschaffen würden. Denn Einwanderer,
die in Deutschland Probleme lösen, können dies nicht in ihren Herkunftsländern
tun. Die deutsche Bevölkerungspolitik durch Einwanderungen ist den Herkunftsländern
der Einwanderer auf Dauer nicht zuzumuten, und sie wird auch der Verantwortung
nicht gerecht, die wir nicht nur gegenüber anderen Ländern haben, sondern
auch »gegen uns selbst«, wie Immanuel Kant es formulierte. Die Verantwortung
»gegen uns selbst« schließt jene gegenüber den kommenden
Generationen ein - unseren Kindern und Enkeln, denen wir nicht nur eine intakte
natürliche Umwelt, sondern auch eine soziale Mitwelt hinterlassen sollten,
die sie nicht belastet.In einer Demokratie besteht das oberste Ziel allen
staatlichen Handelns in einer Politik für die Bevölkerung. Deren Erfolg
oder Mißerfolg läßt sich nicht zuletzt daran messen, ob die Lebensbedingungen
zu einer ständigen Abnahme der Bevölkerung oder zu einem demographisch
stabilen Fundament der Gesellschaft führen. Wenn das Ziel einer Demokratie
darin besteht, »das größte Glück der größten
Zahl« zu erreichen, wird es bei einer schrumpfenden Zahl von Demokraten
verfehlt. Die Beseitigung der ökonomischen Ausbeutung der Familien
ist eine notwendige Bedingung dafür, daß der Wunsch nach Kindern wieder
zu einem selbstverständlichen Leitbild der Persönlichkeitsentwicklung
wird. Um ihn auch praktisch erfüllbar zu machen, dürfen die Lebensläufe
der Menschen mit Kindern nicht länger zu Hindernisläufen denaturieren,
bei denen sich die Ziele der beruflichen Entwicklung und der Familienentwicklung
in die Quere kommen. Die skandinavischen Länder und besonders Frankreich
zeigen, daß sich dieses Ziel durch eine fachlich gute Betreuung von Kindern
in staatlichen, kirchlichen oder privaten Einrichtungen erreichen läßt.
Es fehlen in Deutschland nicht die Erkenntnisse und auch nicht die finanziellen
Mittel, um mit Frankreich gleichzuziehen, das zwar 25 Millionen Einwohner weniger
aber mittlerweile mehr Geburten als Deutschland hat. Es fehlt schlicht der politische
Wille, sonst hätten die Wähler, die ja mehrheitlich Eltern sind oder
es werden wollen, schon längst folgende Neuerungen durchgesetzt, von denen
eine nachhaltige Erhöhung der Geburtenrate zu erwarten ist: -
Familien- und zukunftsgerechtere Reformen der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung
durch Berücksichtigung der Arbeits- und Erziehungsleistungen der Familien
mit Kindern.
- Einführung hochwertiger Betreuungseinrichtungen ab
dem Vorschulalter sowie Ganztagsschulen (nicht Gesamtschulen) zur Unterstützung
der Erziehungsleistungen der Eltern.
- Erhöhung von Kinderfreibetrag,
Kindergeld und Erziehungsgeld.
- Änderung des Grundgesetzes zur Einführung
eines Eltern- bzw. Familienwahlrechts.
- Priorität für Mütter
bei Stellenbesetzungen durch Frauen.
Vielleicht liegen die Versäumnisse
auf diesen Gebieten an der grassierenden Gedankenlosigkeit und an der üblichen
Überbewertung kurzfristiger Ziele, gepaart mit Unkenntnis über deren
langfristige Konsequenzen. Es könnte aber auch mehr dahinterstecken - eine
Art historisch verwurzeltes, stilles Einverständnis mit dem Abwärtstrend
auf der schiefen Bahn, erkennbar an den unterschiedlichen Gesichtern einer trotzigen
oder ins Elegische entrückten, in jedem Fall aber bekennenden, aggressiven
und geradezu intoleranten Gleichgültigkeit, eine Art Selbstbestrafung als
Folge von Selbsthaß. Deutschland gibt Rätsel auf. Heinrich Heine kommt
einem in den Sinn: »Denk ich an Deutschland in der Nacht ....« Und
Karl Kraus: Die Deutschen werden dereinst Kyffhäuser mit Kaufhäuser
verwechseln. Diese Gefahr ist vorbei, die meisten scheinen sich nur noch für
Kaufhäuser zu interessieren. (Zitat-Ende).ä
Resümee: Es ist dreißig Jahre nach zwölf (S. 149-151):Die
meisten Menschen sind einfach schon zu klug, um noch die Bedeutung der simplen
Wahrheit erfassen zu können: Für Menschen gibt es keinen Ersatz. Auch
die Einwanderer Deutschlands müssen zuerst irgendwo geboren worden sein,
bevor sie zuwandern und hier Probleme lösen können. Daß unser
Land glaubt, seine Zukunft darauf bauen zu können, daß es die von anderen
Ländern mit Kosten und Mühen gewonnenen Früchte erntet - darüber
gibt es hierzulande nicht den geringsten Ansatz einer öffentlichen Reflexion.
Wir sehen uns im Wettbewerb um »die Besten« der anderen Länder
und verstehen nicht, daß wir mit unseren Ansprüchen eine neue Art des
Kolonialismus betreiben. Wie ehrlich muß, darf und soll über
die demographischen Probleme Deutschlands nachgedacht werden? Sind die demographischen
Veränderungen vielleicht gar nicht so wichtig, wie Ralf Dahrendorf uns wissen
läßt? Oder hat Claude Levi-Strauss recht, der feststellte: »Im
Vergleich zur demographischen Katastrophe ist der Zusammenbruch des Kommunismus
unwichtig«?Über kaum ein anderes Thema gehen die Meinungen
so extrem auseinander. Ist es möglicherweise pure Klugheit, wenn nicht sogar
Weisheit, daß die Politik das Thema Demographie jahrzehntelang unter ihrem
dröhnenden Schweigen begrub, als wollte sie damit verhindern, daß es
sich wie eine ansteckende Krankheit ausbreitet? Die politische Quarantäne
der Demographie endete mit Anbruch des neuen Jahrhunderts. Um 2001 explodierte
plötzlich das öffentliche Interesse an demographischen Fragen. Es ist
das Jahr, in dem das Bundesverfassungsgericht den Stab über die Pflegeversicherung
und über die anderen Zweige des irreführenderweise als sozial bezeichneten,
in Wahrheit familienfeindlichen sozialen Sicherungssystems brach. Udo Steiner,
Richter am Bundesverfassungsgericht, bezeichnete die politischen Bemühungen
um die Reform der Renten-, Kranken- und pflegeversicherung als einen Reparaturversuch
»bei laufendem Motor«. Der Verfassungsrichter Udo di Fabio stellte
klar: »Mit dem Urteil zur Pflegeversicherung hat das Bundesverfassungsgericht
die Notbremse gezogern«. Mit welcher Wirkung? Der Zug fährt weiter
in die falsche Richtung. Die vom Gericht festgesetzte Frist für die Änderung
der verfassungswidrigen Bevorzugung der Kinderlosen auf Kosten der Familien mit
Kindern in der Pflegeversicherung (31.12.2004) ist verstrichen, aber die Ungerechtigkeit
blieb. Die durchgeführten gesetzlichen Änderungen werden dem Urteil
nicht gerecht, sie haben den Charakter einer Alibihandlung. Die Funktionsfähigkeit
jedes Zweigs des sozialen Sicherungssystems - auch die der gesetzlichen Renten-
und Krankenversicherung - geht verloren, wenn weniger Beitragszahler nachwachsen
als Menschen in die Gruppe der Versorgungsberechtigten nachrücken. Die Zahl
(nicht nur der Anteil) der versorgungsberechtigten Älteren nimmt bis zur
Jahrhundertmitte explosionsartig zu, was ziemlich sicher ist, denn die 60jährigen
und älteren im Jahr 2050 rekrutieren sich aus den über 15jährigen
von 2005. Gleichzeitig nimmt die Gruppe der Jüngeren implosionsartig ab.
Der wichtigste und schwerwiegendste Irrtum über die Natur der demographischen
Veränderungen ist der Glaube, daß uns ein rascher Wiederanstieg der
Geburtenrate auf 1,6, 1,8 oder zwei Kinder pro Frau vor dem Schlimmsten bewahren
könnte. Aber es ist dreißig Jahre nach zwölf, heute kann selbst
ein Anstieg der Geburtenrate auf die ideale Zahl von zwei Kindern je Frau die
Alterung für Jahrzehnte nicht mehr abwenden. Der Anteil der über 60jährigen
an den 20-60jährigen würde sich bei der deutschen Bevölkerung selbst
dann verdoppeln, wenn die Lebenserwartung nicht mehr zunähme. Daß es
ein demographisches Momentum mit irreversiblen Folgen gibt, ist vielleicht die
wichtigste Erkenntnis der Demographie. Wenn ein demographischer Prozeß ein
Vierteljahrhundert in die falsche Richtung läuft, dauert es ein Dreivierteljahrhundert,
um ihn zu stoppen. So viel Zeit hat unsere schnellebige Gesellschaft nicht, ihr
scheint jetzt schon die Geduld auszugehen. Deshalb ist es konsequent, daß
sich die Gesellschaft Politiker wählte, die ihre existentiellen Probleme
ignorierten und sich nach der Logik verhielten: Wo keine Lösung ist, ist
auch kein Problem (Paul Demeny). Die langen Bremswege in der Demographie
sind bekannt, seit die Demographie im 18. Jahrhundert als Wissenschaft begründet
wurde.Was Deutschland erwartet, haben Wissenschaftler in unzähligen
Artikeln, Büchern und Kongressen seit Jahrzehnten einer desinteressierten
Öffentlichkeit mitzuteilen versucht. Die vielzitierte Bringschuld der Wissenschaft
wurde von der Politik nicht angenommen, auch die Medien brachten das vorhandene
Wissen nicht unter die Leute. Deutschland hat von seinem Recht auf Nichtwissen
in extensiver Weise Gebrauch gemacht und wird dafür teuer bezahlen. Volkszählungen
wurden schon unter der Regierung Kohl ohne viel Federlesen abgeschafft. Keine
Gemeinde in Deutschland weiß heute genau, wieviel Einwohner sie hat; die
amtlichen Einwohnerzahlen beruhen allesamt auf den Daten der letzten Volkszählung
von 1987. Im Informationsblatt des Landtages von Nordrhein-Westfalen
vom April 2005 stand zu lesen: »Fast die Hälfte aller Gotteshäuser,
so schätzte jüngst die evangelische Kirche, ist in Zukunft entbehrlich
und soll verkauft werden.« Sind das die vielbeschworenen »Chancen
der Schrumpfung«, von denen landauf, landab in den Demographie-Kongressen
der Gelegenheitsdemographen die Rede ist? Die in neue Nutzungen überführten
Kirchen werfen Renditen ab, die Gottesdienste verursachen Verluste - was fühlen
die Abgeordneten und die Superintendenten der Evangelischen Kirche bei diesen
Aussichten? Wir wissen es nicht, denn die Veranstalter der Tagungen über
die Chancen der Schrumpfung fühlen sich verpflichtet, Chancen zu entdecken,
statt über Risiken nachzudenken. Aber welche Chancen sollen damit verbunden
sein, daß die Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung
erhöht, die Löhne gekürzt, die Versorgungsniveaus alter und kranker
Menschen gesenkt und Schulen, Bibliotheken und Kirchen geschlossen werden?
Welche Chancen bieten die Rückkehr der Armut, die Ausbreitung der Dritten
Welt in den großen Städten inmitten Deutschlands? Was ist das
für eine Chance, wenn Kinder nicht mit ihren Eltern kommunizieren, weil sie
nicht geboren werden? Diese Chance der Schrumpfung birgt nicht einmal jene
Tröstung, von der Arthur Schopenhauer sagte, daß sie sogar dem Tod
zukäme, der »wie das Winken der Augen ist, welches das Sehen nicht
unterbricht«. (Zitat-Ende). |