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Herwig Birg (*1939)
- Zur Interdependenz der Bevölkerungs- und Arbeitsplatzentwicklung (1979) -
- Leben und Werk Johann Peter Süßmilchs (1986) -
- Der Bevölkerungsrückgang in der Bundesrepublik Deutschland (1987) -
- Johann Peter Süßmilch und Thomas Robert Malthus (1989) -
- Unterwegs zu einer philosophischen Demographie (1990) -
- Biographische Theorie der demographischen Reproduktion (1991) -
- Differentielle Reproduktion aus der Sicht der biographischen Theorie der Fertilität (1992) -
- Entwicklung der Familienstrukturen (1996) -
- Die Weltbevölkerung. Dynamik und Gefahren (1996) -
- Stadtbevölkerung im Jahr 2010 - zu alt, zu wenig, zu einsam? (1997) -
- Demographisches Wissen und poltische Verantwortung (1998) -
- Demographische Projektionsberechnungen für die Rentenreform (2000) -
- Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa (2001) -
- Auswirkungen und Kosten der Zuwanderung nach Deutschland (2001) -
- Strategische Optionen der Familien- und Migrationspolitik in Deutschland und Europa (2003) -
- Bevölkerungsentwicklung (2004) -
- Auswirkungen der demograpischen Alterung und der Bevölkerungsschrumpfung ... (2005) -
- Die ausgefallene Generation. Was die Demographie über unsere Zukunft sagt (2005) -
- Was auf Deutschland zukommt (2007)
Birg-Zitate. Da ich Herwig Birg für einen der seriösesten Bevölkerungswissenschaftler halte, möchte ich ihm eine
      separate Seite widmen und aus folgenden seiner demographischen Werke zitieren:
- Differentielle Reproduktion (1992) -
- Die Weltbevölkerung (1996; Auflage 2004) -
- Die demographische Zeitenwende (2001; Auflage 2005) -
- Strategische Optionen der Familien- und Migrationspolitik ... (2003; Auflage 2005) -
- Auswirkungen der demograpischen Alterung und der Bevölkerungsschrumpfung ... (2005) -
- Die ausgefallene Generation (2005) -

[Quellen bzw. Sekundärliteratur]

 

 

Differentielle Reproduktion aus der Sicht der biographischen Theorie der Fertilität (in: Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel, Hrsg.: Eckart Voland; 1992) **

„Der Begriff »differentielle Reproduktion« läßt sich auf der Grundlage der drei Elemente (1) abhängige Variable, (2) unabhängige Variable sowie (3) Zusammenhang zwischen beiden auf dreierlei Art definieren. ... Die dritte Definition, die hier verwendet wird, stützt sich auf die Art des Zusammenhangs zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen. Auf der Grundlage dieser Definition sprechen wir von »differentieller Reproduktion«, wenn sich das Bündel der Einflußfaktoren auf das generative Verhalten eines Individuums A aus anderen Gründen zusammensetzt als bei Individuum B - oder, eine Variante davon, wenn sich die beiden Bündel zwar aus den gleichen Faktoren zusammensetzen, aber die einzelnen Faktoren in bezug auf die Richtung oder Intensität ihrer Wirkung verschieden sind.

Wir nehmen im folgenden an, daß nicht nur die biologische, sondern auch die kulturelle Evolution Variabilität voraussetzt und hervorbringt. Das Argument, daß es gerade auf kulturellem Gebiet häufig zur Ausbildung von Individualität und zu großer Uniformität kommt, beispielsweise bei politischen oder religiösen Massenphänomenen, ist kein Gegenargument, sondern stützt die These fortschreitender Variabilität in der Kulturentwicklung, denn man kann - wie schon gsagt - eine Weltanschauung oder einen Glauben nur übernehmen. indem man ihm den Sinn gibt, den er hat: ein Vorgang, der einen individuellen Akt voraussetzt, auch wenn das Ergebnis des Aktes nicht zu weniger, sondern zu mehr Uniformität führt.

Generatives Verhalten ist also als ein spezifisch menschliches Verhalten ein Individualitätsverhalten, dessen theoretische Erklärung auf der Ebene des Individuums, auf der sogenannten Mikroebene, ansetzen muß (wir nehmen das mal so hin und merken an, daß auch diese individuellen Entscheidungen immer schon von anderen - zumeist ebenfalls nicht individuell getroffenen - Entscheidungen vorentschieden sind, also gar nicht individuell sind und deswegen auch das ›generative Verhalten als ein spezifisch menschliches Verhalten‹ kein ›Individualitätsverhalten‹ sein kann! Anm. HB*).

Wir leben in einer Epoche, in der die persönlichkeitsorientierten Werte über die gruppenorientierten dominieren (dito! Auch wenn man es sich noch so einbildet, ist dieses Verhalten noch kein individuelles Verhalten! Anm. HB*). Dieser Umstand ... macht es unabdingbar, bei der Diskussion von Problemen der differentiellen Reproduktion von der oben dargestellten dritten Definition des Begriffs »Unterschied« auszugehen, also anzunehmen, daß es Unterschiede bezüglich der Art und Weise gibt, in der die unabhängigen Variablen auf die abhängigen einwirken. Ökonomische Variablen wie das Individualeinkommen einer Frau bzw. das gemeinsam erwirtschaftete Haushaltseinkommen eines Paares haben ebenso wie andere Verhaltensbedingungen, zum Beispiel die Verfügbarkeit von Kindergartenplätzen, tendenziell die gleiche Einflußrichtung auf die Wahrscheinlichkeit von Kindergeburten, aber die Intensität der Wirkung dieser Variablen wird ebenso wie die Intensität der Wirkung von »Werten« bei verschiedenen Menschen unterschiedlich sein. (›Unterschied‹ ist - noch - nicht ›Individualität‹! Ähnlich ist es übrigens auch in der Werbung: Einfluß mit gleicher ›Richtung‹, aber unterschiedlicher ›Intensität‹, und der Kunde glaubt [glaubt !], ›individuell› entschieden zu haben, dabei ist längst für ihn ›entschieden‹ worden, denn ›entscheidend‹ ist, daß er sich wie ein Gruppenmitglied verhält und ansonsten als außen vor, als unangepaßt, als Aussteiger, als nicht zur Gruppe gehörig gilt - und übrigens nur dann anerkannt wird, wenn es ihm gelingt, selbst einen Trend zu setzen [mit anderen Worten: wir sind viel angepaßter als wir zugeben wollen, besonders seit wir in einer scheinbar ›persönlichkeitsorientierten‹ Epoche leben], denn es gilt, den Schein zu bewa(h)ren, und so ist auch der scheinbar Unangepaßte nicht der ›Individualist‹, für den er ja nur gehalten werden soll, sondern doch wieder nur der Angepaßte! Anm. HB*).

In Übereinstimmung mit der mikroökonomischen Theorie geht die biographische Theorie von der Sichtweise aus, daß der Mensch unaufhörlich zwischen Alternativen wählt, aber im Unterschied zur mikroökonomischen Theorie wird in der biographischen Theorie das Faktum in die Betrachtung einbezogen, daß der Mensch im allgemeinen die Alternativen nicht wählt, zwischen denen er eine Auswahl trifft. Die biographische Theorie betrachtet die Alternativen als das Ergebnis kumulativer biographieinterner Verdichtungen von Handlungen und Ereignisse sowie das Ergebnis von biographieexternen Vorgaben, die in jedem Lebenslauf eine Rolle spielen. .... Eine generatie Entscheidung ist nicht nur eine Entscheidung für bzw. gegen ein Kind, sondern für bzw. gegen einen bestimmten Lebenslauf als Ganzes. Sie ist eine langfristige Festlegung mit irreversiblen Folgen für den ganzen Lebenslauf: In entwickelten Ländern trifft jede Frau (die aber in Wirklichkeit nicht allein, nicht selbst, nicht einzeln, nicht individuell entscheidet; Anm. HB*) mit der Entscheidung (die eben andere Menschen beeinflussen, also vor- bzw. mit-entscheiden; Anm. HB*) für ein Kind gleichzeitig eine Vorenstscheidung über die Art und Menge der Entscheidungsalternativen im beruflichen Bereich, und umgekehrt bestimmt das Ergebnis einer beruflichen Entscheidung, welche Alternativen bei familialen bzw. generativen Entscheidungen in den Wahlmengen künftiger Entscheidungssituationen vorkommen können und welche nicht.

Die These lautet: Der Industrialisierung- und Modernisierungsprozeß hat zu einer explosionsartigen Erweiterung des biographischen Entwicklungsspielraums ... geführt.

Urbanisierung einerseits und Realeinkommenssteigerungen andererseits führten zu einem Wandel der Verbrauchs- und Produktionsstrukturen in Richtung einer Zunahme des tertiären Sektors (Handel, Verkehr, Dienstleistungen; Anm. HB*). In den Dienstleistungssektoren wurden neue Arbeitsplätze geschaffen, vor allem in den Städten, die zunehmend von Frauen besetzt werden.

Biologie und Bevölkerungstheorie waren in ihrer geschichtlichen Entwicklung aufs engste miteinander verknüpft. Charles Darwin stütze sich beispielsweise auf das »Bevölkerungsgesetz« von Thomas R. Malthus. Die Zusammenarbeit zwischen Demographie und Biologie könnte sich auch heute als fruchtbar erweisen (aber bloß nicht in malthusianistisch-darwinistischer Form! Anm. HB*). .... Die Expansion des biographischen Universums im historischen Prozeß der Industrialisierung und Modernisierung erhöhte sich in den Wirtschaftsgesellschaften, in denen das ... Verhalten auf dem Konkurrenzprinzip beruht, das Risiko irreversibler biographischer Festlegungen und führte auf dem Weg der Risikovermeidung zu einer Selbstbeschränkung bei Reproduktionsentscheidungen. Die reproduktive Selbstbeschränkung ist bei Frauen mit hohem Ausbildungsabschluß (und/oder im städtischen Raum;  Anm. HB*) ... größer als bei Frauen mit niedrigem Ausbildungsgrad (und/oder im ländlichen Raum;  Anm. HB*) .... Das Ergebnis reproduktiver Selbstbeschränkung ist die kohorten-, regions- und lebenslaufspezifische differentielle Reproduktion, die in den hochentwickelten Konkurrenzwirtschaften zu einem Rückgang des allgemeinen Fertilitätsniveaus bis zur Unterschreitung des Bestandserhaltungsniveaus geführt hat.“ (Zitat-Ende).

Die Weltbevölkerung (1996; Auflage 2004)

  1. Einführung (S. 6-11)
  2. Menschliche Fortpflanzung und Bevölkerungswachstum in populationsbiologischer Perspektive (S. 12-20)
  3. Elemente der klassischen Bevölkerungstheorie und die Bürde des Malthusianismus (S. 21-36)
  4. Politische und wissenschaftsgeschichtliche Langzeitwirkungen des Malthusianischen »Bevölkerungsgesetzes« (S. 37-48)
  5. Der erste und der zweite demographische Übergang und die biographische Theorie der demographischen Reproduktion (S. 49-67)
  6. Die Bevölkerungsentwicklung im System sozio-ökonomischer und demo-ökonomischer Wechselwirkungen (S. 68-80)
  7. Entwicklungstrends von Fertitiliät und Mortalität und die Dynamik des Weltbevölkerungswachstums im 21. Jahrhundert (S. 81-106)
  8. Geographische Verteilung, Urbanisierung und das Wachstaum der Megastädte (S. 107-111)
  9. Demographisch verursachte Problemketten und Dilemmata zwischen Bevölkerungs-, Entwicklungs- und Umweltpolitik (S. 112-125)
10. Bevölkerungsentwicklung, Ethik und Politik (S. 126-137)

ä 1. Einführung (S. 6-11):

„Im Jahre 1950 lebten auf der Erde 2,5 Mrd. Menschen, gegenwärtig (2004) sind es 6,4 Mrd., und diese Zahl wird sich aus Gründen, deren Darstellung den Hauptgegenstand dieses Buches bildet, im Verlauf des 21. Jahrhunderts, also zu Lebzeiten der heutigen Kindergeneration, kontinuierlich auf 8 bis 10 Mrd. erhöhen.“ (Zitat-Ende).

Welt und Bevölkerung          Welt und Bevölkerung

ä 2. Menschliche Fortpflanzung und Bevölkerungswachstum in populationsbiologischer Perspektive (S. 12-20):

Welt und Bevölkerung
„Aus evolutionsbiologischer Sicht ist das Weltbevölkerungswachstum ein normaler, keineswegs überraschender oder unerklärlicher Vorgang. Indem die biologische Evolution die Individuen einer Population nach ihrer Lebenstüchtigkeit selektiert, begünstigt sie gleichzeitig auch ihre Fortpflanzungschancen und Fortpflanzungsfähigkeiten - ihre sogenannte Darwin-fitness. Deshalb wächst im Verlauf des Evolutionsprozesses mit der Erhöhung der Lebens- und Überlebenstüchtigkeit der Individuen auch die zahlenmäßige Größe einer Population so lange, bis das Wachstum durch äußere Faktoren wie die Erhöhung der Mortalität auf Grund von Nahrungsmangel oder durch eine Verminderung der Fertilität, gemessen durch die Zahl der Nachkommen pro Individuum, oder durch beide Faktoren zum Stillstand kommt.

Die biologische Zeugungskraft der Lebewesen - die Zahl der biologisch-physiologisch maximal möglichen Nachkommen pro Individuum (= Fekundität) - ist meist wesentlich größer als die Zahl der tatsächlichen Nachkommen pro Individuum (= Fertilität). Käme die Fekundität einer Pflanzen- oder Tierart voll zum Zuge, so würden ihre Nachkommen in kurzer Zeit die gesamte Oberfläche des Planeten bedecken. Dies gilt auch für den Menschen. Hätten z.B. die heute lebenden rd. 6 Mrd. Erdenbewohner auf Dauer pro Frau im Durchschnitt drei Kinder, die sich selbst fortpflanzen, so ergäbe sich schon nach 20 Generationen eine Bevölkerungszahl von 19286 Mrd.. Pro Frau entfallen heute im Durchschnitt der Erdbevölkerung tatsächlich rd. drei Kinder (im Zeitraum 2000-05 sind es 2,69). Daraus ergibt sich sofort, daß die Kinderzahl pro Frau in Zukunft rasch fallen muß, weil sonst die gesamte Oberfläche des Planeten schon nach wenigen Generationen nicht genug Platz für alle hätte.

Bis vor etwa drei Millionen Jahren entwickelten sich die tierischen und die Vorläufer der menschlichen Populationen in einem gemeinsamen Evolutionsprozeß. Nach Erkenntnissen der modernen Anthropologie war die biologische Entwicklung des Menschen vor etwa 100000 Jahren abgeschlossen. Die Zahl der Hominiden in der Steinzeit vor 40000 Jahren wird von einigen Autoren auf wenige Hunderttausend geschätzt (Bourgeois-Pichat, 1980). Das demographische Standardwerk der Vereinten Nationen nennt Zahlen von 5 bis 10 Millionen (UN, 1973). Die Gesamtzahl der Menschen, die jemals gelebt haben, wird auf etwa 80 Mrd. geschätzt (eigene Schätzung auf der Basis von Fucks, 1950). Gehen wir von dem biblischen Sinnbild aus, daß die Menschheit am Anfang aus zwei Individuen bestand, so ergibt sich bei drei Nachkommen pro Frau im Verlauf von beispielsweise 100 000 Jahren - das sind etwa 4000 Generationen - eine Bevölkerungszahl, die die heutige Zahl von 6,4 Mrd. und sogar die im obigen Rechenbeispiel ermittelte 14stellige Zahl noch um astronomische Größenordnungen übertrifft. Es müssen also sehr starke, das Populationswachstum begrenzende Faktoren wirksam gewesen sein, sonst hätte die Menschheit längst den auf dem Planeten vorhandenen Lebensraum ausgeschöpft.

In der Populationsbiologie werden drei wachstumsbegrenzende Faktoren unterschieden, die Begrenzung durch natürliche Umweltbedingungen wie Nahrungsvorkommen, die Begrenzung durch Konkurrenz zwischen Arten und die Begrenzung durch Konkurrenz zwischen den Individuen der gleichen Art. Von diesen drei Faktoren gilt seit der Begründung der modernen Evolutionstheorie durch Charles Darwin die Begrenzung zwischen den Individuen der gleichen Art als der für die menschliche Höherentwicklung weitaus wichtigste Regelmechanismus. Bei menschlichen Populationen greifen die drei Regelmechanismen auf kompliziertere Weise ineinander als bei Pflanzen und Tieren, weil der Mensch in den Wachstumsprozeß steuernd eingreifen kann. Der Nahrungsmittelspielraum stellt z.B. keine feste Wachstumsgrenze dar, die Grenze wurde und wird ständig hinausgeschoben, indem Anbauflächen vergrößert, Anbaumethoden verbessert und Pflanzen und Tiere durch Züchtung bzw. neuerdings durch die Gentechnik verändert werden.

Was die wachstumsbegrenzenden Umweltbedingungen wie die Nahrungsschranke betrifft, ist der Unterschied zu tierischen Populationen evident und in der Wissenschaft unstrittig. Aber beim wachstumsverstärkenden Faktor Fertilität scheiden sich die Geister. In der Biologie und in der biologischen Anthropologie wird die These vertreten, daß der naturhafte Fortpflanzungstrieb - der sogenannte »biologische Imperativ generativer Fitneßmaximierung« (Hubert Markl) - auch das Fortpflanzungsverhalten des Menschen bestimmt, und zwar (nach Ansicht einiger biologischer Anthropologen) auf eine so subtile und unentrinnbare Weise, daß wir uns nur einbilden, unser generatives Verhalten sei stark an kulturellen Werten orientiert, denn aus dieser Sicht sind auch die kulturellen Werte selbst letztlich ein Ergebnis des Evolutionsgeschehens, bei dessen Erklärung die biologische Anthropologie mit ausschließlich biologischen Kategorien zurechtzukommen glaubt. Die kulturell und religiös geprägten Formen des menschlichen Zusammenlebens, z.B. die rechtlich geregelte, institutionalisierte Form der Ehe, sind aus dieser Sicht ein Ergebnis des »biogenetischen Imperativs«, dem der Mensch in seiner Fortpflanzung folgt, indem er (unbewußt) danach strebt, die Chancen für die Weitergabe seiner Gene zu maximieren.

Die unbestreitbare Tatsache, daß viele Tierarten die Zahl ihrer Nachkommen an die Tragfähigkeit ihres Habitats anpassen, also ihre Fertilität begrenzen, wenn z.B. die Nahrungsquellen nicht ausreichen, ist aus dieser Sicht kein Widerspruch zum Prinzip der Maximierung des Fortpflanzungserfolgs. Diese »reproduktive Selbstbeschränkung« (Eckart Voland, 1992) wird in das Erklärungsschema integriert, indem beim Fortpflanzungserfolg zwischen einer quantitativen Komponente (Zahl der Nachkommen pro Individuum) und einer qualitativen Komponente (Qualität und Intensität bei der Fürsorge, Aufzucht und Ausbildung des Nachwuchses) unterschieden wird. Die reproduktive Selbstbeschränkung wird in dieser Interpretation von Tieren (und Menschen) immer dann praktiziert, wenn es für die Weitergabe der Gene günstiger ist, eine kleine, aber dafür im »Kampf ums Dasein« besser gerüstete Zahl von Nachkommen großzuziehen als eine große, von denen die meisten wegen ihrer geringeren Lebenstüchtigkeit nicht bis zum Erreichen der eigenen Fortpflanzungsfähigkeit überleben würden. In diesem Erklärungsschema ergibt sich dann auch aus der Tötung von Geborenen als Mittel zur Anpassung an die Lebensbedingungen des Habitats kein Widerspruch. Die Soziobiologie, die die Kosten-Nutzen-Bilanz der verschiedenen quantitativen und qualitativen Fortpflanzungsstrategien empirisch untersucht, hat zahlreiche Beispiele für die reproduktive Selbstbeschränkung im Dienste der Maximierung des Fortpflanzungserfolgs zusammengetragen. Sie interpretiert auch die reproduktive Selbstbeschränkung des Menschen mittels Geburtenkontrolle, durch Heiratsregeln und zahlreiche kulturelle Normen und Werte, einschließlich gesellschaftlicher Institutionen, aus diesem Blickwinkel.

Ist es möglich, sich irgendeine empirische Entdeckung, irgendeine Tatsache vorzustellen, die die These, daß auch das generative Verhalten des Menschen diesem biologischen Erklärungsschema entspricht, widerlegen könnte?  Mir scheint, daß diese für die Interpretation der Wachstumsursachen menschlicher Populationen wichtige Frage mit Nein beantwortet werden muß. Aber nicht, weil es solche Tatsachen nicht gäbe, sondern weil dieser biologische Ansatz darauf angelegt ist, jede vorstellbare Tatsache auf biologische Weise zu interpretieren, so daß Thesen dieser Art gar nicht widerlegt werden können, selbst wenn sie falsch sind. Mit dieser Bemerkung sollen empirische Untersuchungen, die mit dem Ziel durchgeführt werden, qualitative kulturelle Phänomene mit einfachen quantitativen Analyseverfahren zu erklären, nicht kritisiert oder abgewertet werden. Ihre Fruchtbarkeit wurde oft unter Beweis gestellt, und wenn es mit diesen oft sehr einfachen Ansätzen gelingt, Irrtümer auszuräumen und vage theoretische Konstruktionen zu widerlegen, dann ist dies als ein beträchtlicher wissenschaftlicher Fortschritt anzusehen. Kritik ist jedoch angebracht, wenn empirisch-quantitative Ansätze zu weit über die Reichweite ihrer Erklärungen hinauszielen. Wenn im folgenden der Versuch gemacht wird, die Entstehung der menschlichen Kultur in der Evolutionsgeschichte des Menschen mit dem empirischen, in der Demographie verwendeten Grundbegriff der Lebenserwartung und ihrer Erhöhung im Zusammenhang zu betrachten (nicht auf ihn »zurückzuführen«), dann könnte dies vielleicht als ein solcher, die Reichweite empirischer Erklärungsansätze überschreitender Versuch aufgefaßt werden. Daß ein solcher Erklärungsversuch hier nicht angestrebt wird, dürfte sich aber wohl auf Grund der obigen Relativierungen von selbst verstehen.

Die durchschnittliche Lebenserwartung des Menschen in der evolutionsgeschichtlich späten, aber im Hinblick auf die frühen menschlichen Populationen wichtigen Periode der Steinzeit wird auf der Basis archäologischer Funde, insbesondere auf Grund der Untersuchungen der Reste menschlicher Skelette, auf etwa 20 Jahre geschätzt (UN [Hrsg.]: The Determinants and Consequences of Population Trends, 1973). Dabei ist unter Lebenserwartung die mittlere Lebenserwartung zu verstehen, der Durchschnitt aus der Lebenserwartung der schon im Säuglings- und Kindesalter Gestorbenen und der der Erwachsenen, von denen ein mehr oder weniger großer Teil wahrscheinlich wesentlich älter als 20 Jahre wurde. Wie wir aus relativ zuverlässigen Daten wissen, blieb die Lebenserwartung in Europa bis zum 18. Jahrhundert niedrig, sie betrug im Mittel etwa 35 Jahre. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war sie in Europa auf etwa 40 Jahre gestiegen. Erst seit dem Übergang zum 20. Jahrhundert nahm sie rasch zu, sie erreicht heute in den Industrieländern 74 Jahre bei Männern bzw. 81 Jahre bei Frauen, in den Entwicklungsländern 61 (Männer) bzw. 64 Jahre (Frauen). Der geschlechtsspezifische Unterschied beträgt bei der hohen Lebenserwartung heute fünf bis sechs Jahre; er ist in erster Linie genetisch bedingt. Die Körperzellen des weiblichen Organismus haben beim Menschen ebenso wie bei den meisten Tierarten eine größere Erneuerungsfähigkeit, gemessen an der durchschnittlichen Zahl der Zellteilungen bis zum Absterben der Zellen (Hayflick 1980).

Ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Lebenserwartung und der Entwicklung der menschlichen Kulturfähigkeit ist aus folgenden Gründen wahrscheinlich. In der Anthropologie wird unter dem Begriff Kulturfähigkeit die Fähigkeit des Menschen zur nichtgenetischen, intergenerativen Weitergabe von Informationen verstanden. Die Summe aller Inhalte wird als »Kultur« bezeichnet. Indem eine steigende Lebenserwartung die von der Eltern- und Kindergeneration gemeinsam durchlebte Zeit vergrößert, begünstigt sie die intergenerationalen Vorgänge der Tradierung, deren wesentlichste Voraussetzung sie ist. Der Philosoph David Hume, gleichzeitig einer der wichtigsten Bevölkerungshistoriker des 18. Jahrhunderts, verwendete in diesem Zusammenhang das Beispiel der Generationenfolge bei Schmetterlingen. Hier ist die Überlappung der Lebenszeiten zwischen den Generationen gleich Null, denn zwischen zwei Generationen sind die Stadien der Raupe und der Puppe dazwischengeschaltet. In diesem Beispiel wäre eine intergenerationale Informationsweitergabe nur möglich zwischen einer Elterngeneration und den Nachkommen anderer Eltern. Übertragen auf menschliche Populationen bedeutet dies, daß das Zusammenleben in Verbänden, die aus mehreren Familien bestanden, die Informationsübertragung begünstigte, so daß von einer steigenden Lebenserwartung nicht nur die Tradierung von Informationen, sondern auch die Sozialisation der Individuen und damit die Bildung von sozialen Verbänden und Gesellschaften begünstigt wurde. Auf Grund dieser Überlegungen läßt sich an Hand des Merkmals Lebenserwartung folgendes Drei-Phasen-Modell bilden.

I. Vorgeschichtliche Phase (Steinzeit). Die Lebenserwartung ist mit etwa 20 Jahren außerordentlich niedrig. Entsprechend kurz ist die den Frauen zur Reproduktion verbleibende Lebenszeit, sie beträgt rd. 5 bis 8 Jahre. In dieser Zeitspanne werden pro Frau etwa 4 Kinder geboren. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit ist extrem hoch, im Durchschnitt überleben kaum mehr als zwei Kinder pro Frau bis zum Alter der eigenen Fortpflanzung. Die Bevölkerungszahl ist fast konstant oder wächst nur geringfügig. Sie nahm in Tausenden von Jahren so langsam zu, daß um Christi Geburt erst eine Zahl zwischen 200 und 400 Mio. erreicht wurde. Wegen des Faktors Mortalität bzw. Lebenserwartung sind die demographischen Bedingungen zur intergenerationalen Tradierung geistiger Entdeckungen ungünstig, die Kulturfähigkeit entwickelt sich in dieser Phase entsprechend langsam. Der wichtigste begrenzende Faktor des Bevölkerungswachstums ist in dieser Phase die hohe Mortalität.

II. Frühgeschichte und geschichtliche Phase bis zum Beginn der Neuzeit. In dieser Phase erhöht sich die Lebenswartung von 20 auf 30 bis 35 Jahre. Die für die intergenerationale Tradierung von Kulturleistungen und Informationen verfügbare gemeinsame Lebenszeit der Eltern- und Kindergeneration erhöht sich von 5 auf 15 Jahre. Im Vergleich zu den Lebensbedingungen in der ersten Phase bedeutet dies eine Verdreifachung bis Vervierfachung. Die Kulturentwicklung beschleunigt sich. Entscheidende Entwicklungssprünge wurden durch die Metallbearbeitung, die Erfindung der Schrift, die Entwicklung des Handwerks, des Handels und der Arbeitsteilung möglich. Heute gelten als wichtigste Perioden der frühgeschichtlichen Kulturentwicklung die »Agrarische Revolution« (vor etwa 10000 Jahren in Südwestasien) und die Stadtentwicklung in der »Urbanen Revolution« (ab 4000 v. Chr. in Mesopotamien, in Theben, im Hindus-Tal und am Gelben Fluß in China, oder noch früher in Catal Hüyük in der Türkei um 6500 v. Chr.). Mit diesen kulturellen Entwicklungssprüngen war ein starker Anstieg der Wachstumsrate der Bevölkerung verbunden. Die prozentuale jährliche Wachstumsrate stieg von extrem niedrigen Werten um 0,01% pro Jahr auf Werte um 0,09%, d.h. um das rund Zehnfache (R. Freeman u. B. Berelson 1974). Trotz der Zunahme der Wachstumsraten ist es eine poetische Übertreibung, wenn von der »ersten Bevölkerungsexplosion« in der Geschichte gesprochen wird, denn eine Bevölkerung, die mit 0,09% pro Jahr wächst, braucht zur Verdopplung 800 Jahre! Die Wachstumsrate von 0,09% ist allerdings nur der Durchschnitt für einen jahrhundertelangen Zeitraum, in dem sich Abschnitte rascheren Wachstums mit Stagnations- und Bevölkerungsschrumpfungsphasen abwechselten. Im ersten Jahrtausend nach Christi war die Bevölkerungszahl mit 200-400 Mio. praktisch konstant. Im Mittelalter führten die Pest und andere Seuchen in vielen Landstrichen Europas zu Bevölkerungsrückgängen von 30-60%. Heute wird die Weltbevölkerungszahl für das Jahr 1650 auf etwa 470-545 Mio. geschätzt. Diese Zahl ist zwar nicht hoch, aber im Vergleich zur steinzeitlichen Periode bedeutet sie einen Anstieg um den Faktor 20 bis 100. Das Wachstum war verbunden mit einer räumlichen Konzentration auf Siedlungen. Daraus ergaben sich - neben dem Faktor Mortalität - zusätzliche Wachstumsbarrieren auf Grund von knapp werdenden Subsistenzmitteln in der Nähe der Siedlungen.

III. Phase der Kulturentwicklung in der der Moderne. Im Vergleich zu den ersten beiden Phasen umfaßt diese Phase einen extrem kurzen Zeitraum. Allerdings läßt sich auch schon das vor uns liegende 21. Jahrhundert gedanklich dieser Phase zuordnen, weil die weitere Entwicklung der Lebenserwartung, die dieser Phaseneinteilung zugrunde liegt, bereits absehbar ist. Bei der heutigen Lebenserwartung von 75 Jahren und mehr in den Industrieländern werden die meisten Menschen nicht nur Eltern, sondern auch Großeltern, in zunehmendem Maße auch Urgroßeltern. Die von den verschiedenen Generationen gemeinsam durchlebbare Zeit hat sich dadurch im Übergang von der zweiten zur dritten Phase nochmals stark erhöht, und weitere Erhöhungen sind möglich, ja wahrscheinlich. Die von Demographen, Gerontologen und Gesundheitswissenschaftlern diskutierten Szenarien mit einer Lebenserwartung von über 84 Jahren (Männer) bzw. 90 Jahren (Frauen) sind keine Spekulationen, sie beruhen auf relativ moderaten Annahmen über die auch künftig zu erwartenden Fortschritte der Medizin und der allgemeinen Lebensbedingungen. Allerdings kann man heute nicht mehr sagen, daß die weitere Entwicklung der menschlichen Kultur von der durch die steigende Lebenserwartung begünstigten intergenerationalen Tradierung von Informationen ebenso stark gefördert wird wie in den ersten beiden Phasen. Die entscheidende Rolle haben heute die elektronischen Kommunikationstechniken übernommen. Deren weitere Entwicklung wird die menschliche Kultur wahrscheinlich stärker revolutionieren als irgendeine der Neuerungen in der gesamten Menschheitsgeschichte.“ (Zitat-Ende).

ä 3. Elemente der klassischen Bevölkerungstheorie und die Bürde des Malthusianismus (S. 21-36):

„Um bei der Diskussion des Themas Weltbevölkerung auf der Höhe unserer Zeit zu sein, führt kein Weg daran vorbei, von den Photographien der Erde, die Astronauten aus dem Weltraum aufgenommen haben, eine Brücke zu schlagen zu den alten Vorstellungen, die sich die Gelehrten des 18. Jahrhunderts über unsere »Erd- und Wasserkugel« bildeten. Denn die Fragen nach der Tragfähigkeit der Erde bzw. nach den Formen eines »nachhaltigen Wachstums«, die uns heute bewegen, standen schon am Beginn der Bevölkerungswissenschaft im Zentrum des Interesses, und wir knüpfen heute nach einer etwa 200jährigen Unterbrechung sozusagen nur wieder an der Stelle an, an der die Klassiker der Bevölkerungswissenschaft, vor allem der Preuße J. P. Süßmilch und der Engländer Th. R. Malthus, mit ihren Überlegungen angelangt waren.

Der Begriff »Tragfähigkeit« ist eines der zentralen Themen in Süßmilchs Hauptwerk aus dem Jahr 1741, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, Tod und Fortpflanzung desselben erwiesen. Auch in Malthus’ Bevölkerungsgesetz (The Principle of Population), das 1798 erschien, geht es um die Frage, wieviel Menschen die Erde tragen kann. Erst seit den 70er Jahren unseres Jahrhunderts rückten diese Fragen im Zusammenhang mit den Befürchtungen über eine Erschöpfung der Rohstoffe oder der Nahrungsquellen wieder in das allgemeine Bewußtsein, wobei die Ressourcenfrage seit den 80er Jahren mehr und mehr durch die Umweltprobleme - die Gefahr einer irreversiblen Schädigung der natürlichen Ökosysteme - verdrängt wird.

Dabei ist den meisten Umwelt- und Bevölkerungsprozessen gemeinsam, daß sie graduelle Veränderungen bewirken, die wegen ihrer Langsamkeit die Wahrnehmungsschwellen des Problembewußtseins unterlaufen und zur Gewöhnung an Zustände führen, die sonst kaum toleriert würden. Ein Beispiel sind die Lebensbedingungen im heutigen Rußland. Die Lebenserwartung sank dort seit den 1960er Jahren kontinuierlich, ohne daß dies besonders registriert wurde. Die Verschlechterung hat ein solches Ausmaß erreicht, daß die Lebenserwartung der Männer inzwischen um sechs Jahre niedriger ist als beispielsweise in dem Entwicklungsland Mexiko (61 bzw. 70 Jahre). Hinzu kommt, daß sich die Schädigungen nicht immer dort auswirken, wo sie entstehen. So bildet sich z.B. in Deutschland (ähnlich wie in anderen Industrieländern) durch die Verbrennung fossiler Energieträger eine so große Menge an Kohlendioxid, daß dieses Treibhausgas jedes Jahr auf der gesamten Fläche des Landes eine zwei Meter dicke Schicht bilden und darunter alles Leben ersticken würde, wenn es sich nicht durch Wind und Wetter in der Atmosphäre verteilte. Da es auf Grund des graduellen Charakters dieser Schädigungen unmöglich ist, eine objektive Grenze zwischen umweltneutralen oder gerade noch tolerierbaren und nicht mehr hinnehmbaren Schädigungen festzulegen, wird die Suche nach einer allgemein verbindlichen Definition des heute vieldiskutierten Begriffs der »nachhaltigen », d.h. Ökonomie und Ökologie versöhnenden Entwicklung vergeblich bleiben. Das gleiche gilt für den Begriff der Tragfähigkeit. Trotzdem überrascht es, wie stark sich die Aussagen der beiden Klassiker über die maximale demographische Tragfähigkeit der Erde unterscheiden.

Das Ergebnis der Süßmilchschen Berechnungen stimmt mit den Bevölkerungsprojektionen unserer Zeit überein: Im Verlauf des nächsten und übernächsten Jahrhunderts kann bzw. wird die Weltbevölkerung auf mindestens 8 Milliarden wachsen, wobei die Obergrenze weit weniger sicher angegeben werden kann, aber auch hier stimmt die Süßmilchsche Schätzung mit den modernen Berechnungen erstaunlich gut überein: Sie könnte bei etwa 13 Milliarden liegen. Als Süßmilch diese Zahlen veröffentlichte, lebten auf der Erde erst etwa 800 Millionen Menschen, er schätzte also das Wachstumspotential auf das Zehn- bis Sechzehnfache - eine für die damalige Zeit ungeheuerliche Aussage, die auf viel Widerspruch stieß. Malthus kam zu einem völlig anderen Resultat. Für ihn war die Erde mit etwa einer Milliarde Menschen, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des »Bevölkerungsgesetzes« lebten, bereits übervölkert. Die Kernthese seiner Bevölkerungstheorie war, daß gesellschaftlicher Fortschritt, wie er in der französischen Revolution propagiert wurde, aus demographischen Gründen unmöglich sei. Das Bevölkerungswachstum, das als Folge solcher gesellschaftlicher Veränderungen zu erwarten war, müsse auf Grund der »naturgesetzlichen« Mechanismen des »Bevölkerungsgesetzes« zwangsläufig zum Zusammenbruch des Staates und zum moralischen Ruin der Gesellschaft führen.

Wenn wir unterstellen, daß es grundsätzlich möglich sein könnte, daß eine Bevölkerungstheorie entwickelt wird, die die Wirklichkeit zutreffend beschreibt und das Beschriebene richtig erklärt, dann ist eine solche Theorie - ob von ihrem Urheber beabsichtigt oder nicht - stets viel mehr als eine demographische Theorie i.e.S.. Sie bietet dann nicht nur Aussagen über die Entwicklung der Geborenen und der Gestorbenen und über das Wachstum der Bevölkerung, sondern antwortet direkt oder indirekt auf viel wesentlichere Fragen, die jenseits der Demographie liegen, und zwar unabhängig davon, ob diese Fragen den demographischen Berechnungen zugrunde lagen. Man könnte dies den Bedeutungsüberschuß der Demographie nennen. Der Bedeutungsüberschuß demographischer Berechnungsergebnisse ist etwas Unvermeidliches, er beruht auf der außerordentlichen Tragweite, die selbst die einfachsten Aussagen über demographische Fakten haben. Wer z.B. feststellt, daß in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Zahl von Menschen geboren wurde oder starb, legt mit dieser Tatsachenfeststellung den Grund für die Frage, warum es gerade so viele waren und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, bis hin zur Frage nach der Beeinflußbarkeit und Gestaltbarkeit der Bevölkerungsvorgänge durch Politik.

Der Bedeutungsüberschuß demographischer Fakten wurde von den Klassikern der Demographie nicht nur als etwas Unvermeidliches hingenommen, sondern als Chance für den Entwurf von Theorien von einer außerordentlichen Tragweite genutzt. Die Größe dieser Theorien liegt darin, daß es bei ihnen eine vollkommene Entsprechung zwischen der Tragweite ihrer demographischen Aussagen und der Reichweite ihrer theoretischen Reflexionen und Interpretationen gibt.

Eine der Grundthesen Simons (vgl. Julian Simon, The Ultimate Resource, 1981) ist, daß die Wahrscheinlichkeit innovativer Lösungen der bevölkerungsbedingten Probleme in dem Maße zunimmt, wie der demographische Problemdruck zunimmt. Meine Kritik an dieser Theorie möchte ich in vier Punkten zusammenfassen: (1) Aus der Grundaussage, derzufolge die Fortschritte der Menschheit immer im Kampf gegen Probleme errungen wurden, kann nicht gefolgert werden, daß aus allen Problemen immer Fortschritte resultieren. Gerade die bevölkerungsbedingten Probleme widerlegen eine solche Schlußfolgerung. Die Tragfähigkeit der Erde ist begrenzt wie die einer Brücke; wenn eine Brücke lange getragen hat, beweist das nicht, daß sie allen Lasten gewachsen ist. (2) Die Epoche, für die Simons Theorie am ehesten zutraf, ist Vergangenheit. Die Theorie paßt allenfalls auf jene Epoche der Menschheitsgeschichte, in der die unbesiedelten Flächen und die Ressourcen unerschöpflich schienen, also für jene Zeit, in der die Welt entdeckt und besiedelt wurde, insbesondere für die Neuzeit und die Epoche des Merkantilismus. (3) Die Theorie schweigt über die Kosten des Fortschritts. Es werden nur die positiven Wirkungen des Bevölkerungswachstums aufgeführt. Nötig wäre eine Bilanz, also eine Gegenüberstellung von Nutzen und Kosten. Es trifft zu, daß viele mit dem Bevölkerungswachstum zusammenhängende Größen einen ständigen Fortschritt anzeigen. Aber es ist ebenso nicht zu bestreiten, daß sich andere Indikatoren verschlechtern, z.B. die Umweltindikatoren »Ausdünnung der schützenden Ozonschicht«, »Zunahme der Treibhausgase«, »Zahl der ausgestorbenen Arten«, »Verlust an Ackerboden«, »Vernichtung der Tropenwälder« etc.. (4) Wenn Ressourcen knapper werden - daß sie knapper werden, bestreitet auch Simon nicht -, steigen ihre Preise, was ebenfalls zugegeben wird. Bevor aber die knapper gewordenen Ressourcen durch Ersatzstoffe ersetzt werden können, haben die Preise eine Höhe erreicht, daß sie für die armen Länder unerschwinglich werden. Die Ressourcenfrage ist somit mit der Verteilungs- bzw. Gerechtigkeitsfrage untrennbar verbunden. Das Weltbevölkerungswachstum führt tendenziell zu größerer Knappheit und damit zu weniger Gerechtigkeit. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit von Unfrieden und Konflikten. Darüber schweigt die Theorie.

Simon begründet seine Theorie mit dem metaphysisch-utilitaristischen Grundsatz, daß menschliches Leben ein hoher Wert an sich ist, so daß folglich viele menschliche Leben mehr Wert sein müssen als wenige. Die Kehrseite dieses erhabenen metaphysischen Arguments ist die triviale Banalität der aus ihm abgeleiteten konkreten Aussagen, die den Charakter des Vorwissenschaftlichen haben. Trotzdem: Die Theorie hat meine Sympathie - Wissenschaft hin, Wissenschaft her. Aber was nützt die Sympathie zu einer metaphysischen Theorie?  Die mangelnde »Nützlichkeit« der Metaphysik müßte für den Utilitaristen Simon eigentlich ein großes Problem sein, denn »die metaphysische Erfahrung entbehrt jeder Nachprüfbarkeit, die sie zu einer gültigen für jedermann machen könnte« (Karl Jaspers); dieser zahlreiche »Jedermann« ist aber gerade der eigentliche Adressat des Utilitarismus.

Ich habe Simons Buch in den Kontext der klassischen Bevölkerungstheorie eingeordnet und nicht in das Kapitel über die moderne Demographie, weil es einen wissenschaftsgeschichtlichen Anachronismus darstellt und einen Schritt zurück hinter die merkantilistischen Ansätze der Bevölkerungswissenschaft bedeutet, bei denen es ebenfalls darum ging, die Bevölkerungszahl zu maximieren. Andererseits hat dieses Buch den modernen Beiträgen zum Thema Weltbevölkerungswachstum etwas voraus, gerade weil es den metaphysischen Aspekt des Themas nicht aus den Augen verloren hat. Man könnte vielleicht sagen, daß die klassische Theodizee-Frage in Simons Bevölkerungstheorie in eine weltliche, für das heutige Leben relevante Form umgesetzt ist und auf eine Weise beantwortet wird, mit der viele Menschen etwas anfangen können: Die Botschaft seines Buches ist, den Glauben daran zu erhalten, daß schon dafür gesorgt ist, daß es mit dem Ganzen dieser Welt gut gehen wird, wenn nur jeder einzelne sein Handeln in seinem persönlichen Nahbereich an den Prinzipien der Humanität und der Vernunft ausrichtet.

Aber ist auf diese Botschaft wirklich Verlaß ?  Süßmilch, der im Hauptberuf Probst der brandenburgisch-lutherischen Kirche in Berlin war, wird als ein frommer »gottestrunkener Mann« geschildert, aber obwohl seine Frömmigkeit der von Julian Simon gewiß nicht nachstand, war für ihn die Frage von größter Bedeutung, ob es Mechanismen oder Gesetzmäßigkeiten gibt, die verhindern, daß der Wachstumsprozeß der Bevölkerung die Tragfähigkeitsgrenzen der Erde sprengt, und die garantieren, daß das Wachstum auf irgendeine Weise vor Erreichen dieses Punktes zum Stillstand kommt. Süßmilch war sich der Dringlichkeit dieser Frage gerade als Theologe bewußt. Denn nicht nur die christliche Religion, sondern auch alle anderen Weltreligionen bergen in ihren Ge- und Verboten Handlungsanweisungen, die pronatalistische Wirkungen haben und die - wenn sie von den Gläubigen befolgt würden - eine Geburtenrate zur Folge hätten, die mit großer Wahrscheinlichkeit über zwei Kindern pro Frau läge.

Ein halbes Jahrhundert später erschien das »Bevölkerungsgesetz« von Malthus. .... Malthus' »Bevölkerungsgesetz erfüllt keine der Voraussetzungen, die jede Theorie erfüllen sollte, um in der Wissenschaft ernstgenommen zu werden.

Es ist sogar zu befürchten, daß der Malthusianismus nach seinem gegenwärtigen Wandel zum ökologischen Malthusianismus im 21. Jahrhundert noch verheerendere Auswirkungen haben wird als in den beiden vergangenen Jahrhunderten.

Süßmilch hatte durch empirische Tragfähikeitsanalysen begründet, daß die Erde mehr als das Zehnfache der Menschenzahl ernähren könne, als zu seiner Zeit lebten. Malthus' Kernthese war, daß die Erde bereits mit der damaligen (um 1800; Anm. HB*) Bevölkerungszahl von rd. einer Milliarde übervölkert sei und daß ein weitere Zuwachs die Gesellschaft in den politischen, ökonomischen und moralischen Ruin führen müsse. Heute (1996; Anm. HB*) lebt die sechsfache Zahl der Menschen als zu Malthus' Zeit, wobei ein großer Teil von ihnen - mehr als die gesamte damalige Menschheit - einen unvergleichlich höheren Lebensstandard hat als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte, und dies bei mehr als der doppelten Lebenserwartung. Süßmilchs Ideen haben sich bestätigt, nicht die von Mathus, warum ist dann aber Süßmilch nahezu vergessen und nicht Malthus?  Wahrscheinlich kann diese Frage in hundert Jahren genauso gestellt werden wie heute. Die Antwort darauf hat viel mit dem Problem zu tun, warum Menschen Hungers sterben müssen, obwohl das Ernährungspotential der Erde groß genug ist, um eine weitaus größere als die heute lebende Menschenzahl zu ernähren.

In seiner Beweisführung führt Malthus ein Zahlenbeispiel an, das die entscheidende Vorausetzung seiner Theorie verdeutlichen soll, daß sich nämlich die Bevölkerung in der Form einer geometrischen Reihe vermehrt (entsprechend der Zinseszinsformel), während die Nahrungsmittelmenge nur in linearer Form wächst (wie eine Gerade). Bei einer geometrischen Reihe ist der Zuwachs von Periode zu Periode prozentual gleich und deshalb absolut steigend. Bei einer linearen Reihe ist der Zuwachs absolut gleich und deshalb prozentual fallend. Daher muß jede geometrisch wachsende Reihe jede linear wachsende ab einem bestimmten Punkt übersteigen. Das Zahlenbeispiel von Malthus ist: »Nehmen wir für die Bevölkerung der Welt eine bestimmte Zahl an, zum Beispiel 1000 Millionen, so würde die Vermehrung der Menschheit in der Reihe 1, 2, 3, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512 etc. vor sich gehen, die der Unterhaltsmittel in der Reihe 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 etc.. Nach 225 Jahren würde die Bevölkerung zu den Nahrungsmitteln in einem Verhältnis von 512 zu 10 stehen, nach 300 Jahren 4096 zu 13, nach 2000 Jahren wäre es beinahe unmöglich, den Unterschied zu berechnen, obwohl der Ernteertrag zu jenem Zeitpunkt zu einer ungeheuren Größe herangewachsen wäre.«

Die in diesem Beispiel zugrunde gelegte Voraussetzung, daß die Nahrungsmittelmenge nur linear wächst, erwies sich in den meisten Ländern und im Weltmaßstab als falsch. Die empirisch gewonnenen Ergebnisse von Süßmilch bestätigten sich dagegen. Durch die Verbesserung der Anbaumethoden, durch Erfolge bei der Pflanzen- und Tierzüchtung und später durch den Einsatz des Mineraldüngers, der von Justus von Liebig 1840 entdeckt wurde, wuchsen die landwirtschaftlichen Erträge nicht linear, sondern geometrisch. Die jährliche Wachstumsrate der Nahrungsmittelmenge überstieg sogar die Wachstumsrate der Bevölkerung, so daß die Pro-Kopf-Nahrungsmittelmenge zunahm, statt wie in dem Zahlenbeispiel abzunehmen. Das Malthusianische »Bevölkerungsgesetz« war durch die Arbeiten Süßmilchs bereits zu dem Zeitpunkt seiner Veröffentlichung widerlegt.“ (Zitat-Ende).

ä 4. Politische und wissenschaftsgeschichtliche Langzeitwirkungen des Malthusianischen »Bevölkerungsgesetzes« (S. 37-48):

„Zu Süßmilchs Zeit hatte noch die Sorge vor einer Untervölkerung und einem zu geringen Bevölkerungswachstum dominiert. Es war die Epoche der Populationisten, aus deren Sicht ein Land gar nicht genug Einwohner haben konnte. Dieser Bevölkerungsoptimismus schlug gegen Ende des 18. Jahrhunderts in einen tiefen Pessimismus um, die Sorge vor einer Untervölkerung wich der Angst vor einer Übervölkerung.

Wie es dazu kam, soll am Beispiel Englands illustriert werden. Das Beispiel ist für das Verständnis der Lehrmeinungen wichtig, die sich in der Auseinandersetzung mit dem realen Geschehen der Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung bildeten und als klassische Theorien auch heute noch bestimmte Sichtweisen in der Nationalökonomie und der Sozialwissenschaft prägen. Der Industriellen Revolution war in England eine Rationalisierung in der Landwirtschaft vorausgegangen, die zu schweren sozialen Erschütterungen führte. Kleinhäusler und Kleinbauern verloren durch Einfriedungen des Gemeindelandes und durch die Zusammenfassung zu Großgrundbesitz ihre Gärten und Grundstücke - die Basis für ihre Existenzgrundlage, die in einer Mischung aus kleinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft und Heimarbeit bestand. Zwar wuchs im Zuge der Industrialisierung das allgemeine Beschäftigungsniveau, aber die Zahl der Unterbeschäftigten und Arbeitslosen übertraf das Wachstum der Beschäftigung und der Industriearbeiterschaft. Es bildete sich die von Friedrich Engels mit dem Begriff der »industriellen Reservearmee« bezeichnete neue Schicht der Armen, der »Pauper«. Parallel zur Industrialisierung verlief eine Form der Urbanisierung, bei der eine Gemeinde nicht selten von einer einzigen Fabrik dominiert wurde, so daß sich eine konjunkturelle Absatzkrise für die Arbeiter schnell zu einer existenzbedrohenden Gefahr auswuchs. Die von Adam Smith in seinem bahnbrechenden Werk Wealth of Nations propagierte Arbeitsteilung sollte in der Industrie zu einer wachsenden Produktivität und in der Volkswirtschaft als Ganzes zu mehr Wohlstand führen. Dies geschah auch, aber gleichzeitig nahmen Arbeitslosigkeit und Pauperismus zu. Dies war kein Widerspruch, denn es gab keinen Arbeitsmarkt, der das wachsende Arbeitsangebot und die Nachfrage nach Arbeit hätte in Übereinstimmung bringen können. Daß sich ein Arbeitsmarkt nicht entwickeln konnte, war tragischerweise auf das gut gemeinte, aber fatal wirkende System der Armenunterstützung (»Speenhamland-System«) zurückzuführen, das 1795 eingeführt und 1834 wieder abgeschafft wurde.

In Speenhamland (Grafschaft Newbury) hatten die Friedensrichter 1795 in einer Zeit großer Not beschlossen, daß zusätzlich zu den Löhnen Lohnzuschüsse gezahlt werden sollten. Den Armen sollte unabhängig von ihren Einkünften ein Minimaleinkommen garantiert werden. Die detaillierten Regelungen wurden bald in anderen ländlichen Gebieten übernommen. »Unter elisabethanischen Gesetzen waren die Armen gezwungen, für jeden Lohn, den man ihnen anbot, zu arbeiten, und nur jene, die keine Arbeit bekommen konnten, hatten ein Recht auf Unterstützung; Hilfe in Form eines Zuschusses zum Lohn war nicht beabsichtigt und wurde nicht gegeben. Im Rahmen des Speenhamland-Gesetzes bekam ein Mann den Zuschuß, auch wenn er Beschäftigung hatte, falls seine Entlohnung geringer war als das ihm nach dem Tarif zustehende Familieneinkommen. Daher hatte kein Arbeiter irgendein materielles Interesse daran, seinen Arbeitgeber zufriedenzustellen, da sein Einkommen gleich blieb, unabhängig vom erhaltenen Lohn .... Keine Maßnahme hatte sich jemals größerer allgemeiner Beliebtheit erfreut. Eltern waren der Sorge um ihre Kinder enthoben, und Kinder waren nicht mehr von Eltern abhängig; Arbeitgeber konnten die Löhne nach Gutdünken herabdrücken, und die Arbeiter, ob fleißig oder faul, waren vor Hunger gesichert .... Auf lange Sicht war das Resultat furchtbar. Obwohl es einige Zeit dauerte, bis die Selbstachtung des einfachen Mannes so weit sank, daß er lieber die Armenhilfe als einen Arbeitslohn entgegennahm, so mußte sein aus öffentlichen Mitteln subventionierter Lohn schließlich ins Uferlose absinken und ihn völlig von der Unterstützung abhängig machen. Langsam wurden die Menschen auf dem Land immer mehr pauperisiert ...« K. Polanyi, von dem diese Beschreibung stammt, faßt sein Urteil so zusammen: »Ohne die langfristigen Auswirkungen des Zuschußsystems wären die menschlichen und sozialen Erniedrigungen des Frühkapitalismus kaum zu erklären .... Das Speenhamland-System war ein unfehlbares Instrument zur Dernoralisierung der Bevölkerung. Wenn eine menschliche Gesellschaft eine selbsttätige Maschine zur Aufrechterhaltung jener Normen ist, auf der sie beruht, dann war das Speenhamland-System ein Automat zur Zerstörung von Normen jeglicher Art von Gesellschaft.«

Die Debatten über die negativen Wirkungen des im Speenharnland-Systems garantierten Rechts auf Lebensunterhalt mündeten in eine Kontroverse über das Für und Wider der Armengesetzgebung überhaupt. Es war die Zeit, in der das »Bevölkerungsgesetz« von Malthus großen Widerhall fand. Malthus hatte in seinem »Bevölkerungsgesetz« gefordert, nicht nur das staatliche Unterstützungssystem für die Armen abzuschaffen, sondern auch jede Form privater Mildtätigkeit einzustellen, denn die Armenunterstützung erhöhte aufgrund des »Bevölkerungsgesetzes« nur die Vermehrungsrate der Armen und vergrößerte so das Übel noch, das sie beseitigen sollte.

Auch nach der Abschaffung der Armengesetze wuchs die Bevölkerung Englands weiter. Der Erklärungsmechanismus des »Bevölkerungsgesetzes« war offensichtlich kein geeignetes Instrument, um die vielfältigen Ursachen des Wachstums zu entschlüsseln. Denn die Nahrungsmittel- oder Subsistenzmittelschranke wirkte sich nicht direkt auf die Bevölkerungszahl aus, sondern indirekt über ein differenziertes Geflecht kultureller und politisch-gesellschaftlicher Faktoren. Dabei kam den Beschränkungen der Eheschließungen eine besondere Bedeutung zu. Ziel der Ehekontrollsysteme war es, das Wachstum der Zahl der Mittellosen zu begrenzen. Bevölkerungstheoretisch gesehen ging es darum, die Zahl der Menschen der Zahl der Existenzmöglichkeiten - den »Stellen« - anzupassen. Der Begriff »Stellen« zur Bezeichnung der Existenzmöglichkeiten ist im Vergleich zur »Nahrungsschranke« der modernere, allgemeinere Begriff. Die Zahl der »Stellen« im Handwerk, in der Industrie und im Heimgewerbe war nicht starr an die Zahl der Stellen in der Landwirtschaft gekoppelt, sondern ließ unabhängig von der landwirtschaftlichen Fläche eine Vermehrung oder eine Verminderung zu. Die Bevölkerungszahl wurde mit dem Instrument der Ehekontrolle nicht an eine unveränderbare »Nahrungsschranke« angepaßt, sondern an eine durchaus variable Stellenzahl, die den berufsständischen, kommunalen, kirchlichen und staatlichen Zielen und Interessen entsprach.

Weil außerehelicher Sexualverkehr in der Regel geächtet war und in verschiedenen Ländern sogar unter Strafe stand, erklären die Unterschiede zwischen den Ländern bezüglich der Maßnahmen bei der Ehekontrolle einen Großteil der Unterschiede der Geburtenrate und der Wachstumsrate der Bevölkerung.

Auf Grund der großen Bedeutung der sozialhistorischen Faktoren für die Bevölkerungsentwicklung stellt sich die grundsätzliche Frage, welche Leitwissenschaft und welche Leitgedanken - die Biologie oder die Kultur- und Sozialwissenschaften - die Grundlage für die theoretische Erklärung der Bevölkerungsentwicklung bilden sollen?  Der Mensch ist ein Natur- und ein Kulturwesen zugleich, und deshalb ist dieses Entweder-Oder zwischen Natur- und Kulturwissenschaft eigentlich unsinnig, es müßte sich immer um ein Sowohl-Als-Auch handeln. Aber die Wissenschaft macht sich bei der Produktion des Wissens ebenso wie die Wirtschaft bei der Produktion von Gütern die Vorteile der Arbeitsteilung zunutze, um effektiv zu sein. Ob gewollt oder nicht, führt dies dann in der Praxis dazu, daß eine bestimmte Wissenschaft bei der Erklärung eines Phänomens dominiert, auch ohne förmlich zur Leitwissenschaft erklärt worden zu sein.

Die Kultur im allgemeinen Sinne des Wortes ist es letztlich, die das generative Verhalten des Menschen und damit die Bevölkerungsentwicklung in entscheidender Weise bestimmt, aber die von ihr direkt bewirkten Veränderungen der Bevölkerungszahl und -struktur wirken auf indirekte Weise auf die Entwicklung wesentlicher Inhalte der Kultur zurück, insbesondere auf die Ethik der Beziehungen zwischen den Generationen - die Grundlage sowohl der zwischenmenschlichen Beziehungen als auch der intergenerationalen ökonomischen Leistungstransfers in Form von Unterstüzungszahlungen der mittleren Generation für die ökonomisch noch nicht selbständige junge Generation und die nicht mehr erwerbstätige ältere -, so daß zwischen der Kultur- und Bevölkerungsentwicklung stets eine Wechselbeziehung besteht. Dies bedeutet, daß das Verständnis der Kulturentwicklung das Verstehen der demographischen Entwicklung voraussetzt und umgekehrt.

Umso wichtiger ist es, sich zu vergegenwärtigen, daß schon seit den Anfängen der klassischen Bevölkerungstheorie ein Antagonismus zwischen der kulturtheoretischen und der biologischen Fundierung der Bevölkerungswissenschaft besteht. Anders als bei Süßmilch bilden bei Malthus biologische Reflexionen und nicht kultur- und sozialwissenschaftliche Grundtatsachen den Ausgangspunkt bei der Theorienbildung. Dabei überwiegt die biologische Sichtweise so stark, daß Charles Darwin in seinen biographischen Notizen bekannte, daß er die Idee für eine Theorie der Evolution der Lektüre von Malthus' »Bevölkerungsgesetz« verdanke.

In Darwins Autobiographie ist ... zu lesen: »fünfzehn Monate, nachdem ich meine Untersuchungen systematisch angefangen hatte, las ich zufällig und zur Unterhaltung Malthus' Über die Bevölkerung, und da ich hinreichend darauf vorbereitet war, den überall stattfindenden Kampf um die Existenz zu würdigen, namentlich durch lange fortgesetzte Beobachtungen über die Lebensweise von Tieren und Pflanzen, kam mir sofort der Gedanke, daß unter solchen Umständen günstige Abänderungen dazu neigen, erhalten zu werden, und ungünstige, zerstört zu werden. Das Resultat hiervon würde die Bildung neuer Arten sein. Hier hatte ich nun endlich eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte.«

Malthus' biologische Argumentationsweise ...: »Im Tier- und Pflanzenreich hat die Natur den Lebenssamen mit der verschwenderischsten und freigiebigsten Hand weit umhergestreut. Dafür hat sie an Lebensraum und an Unterhaltsmitteln, die zur Ernährung nötig sind, gespart. Die Lebenskeime auf unserem Fleckchen Erde würden, falls sie ausreichend Nahrung und Platz zur Ausbreitung hätten, im Laufe einiger Jahrtausende Milionen von Welten anfüllen. Die Not als das übermächtige, alles durchdringende Naturgesetz hält sie aber innerhalb der vorgegebenen Schranken zurück. Die Pflanzen- und Tierarten schrumpfen unter diesem großen, einschränkenden Gesetz zusammen. Auch das Menschengeschlecht vermag ihm durch keinerlei Bestrebungen der Vernunft zu entkommen.«

Wenn die Zahl der Nachkommen bei menschlichen Populationen ebenso wie bei Pflanzen und Tieren größer ist als die Zahl der Existenzmöglichkeiten, wie werden dann an Hand welcher Kriterien aus der Menge der Lebenden die zum Überleben bestimmten Individuen selektiert?  Die in dieser Frage angesprochene Analogie zwischen dem Selektionsmechanismus der »checks« aufgrund des »Bevölkerungsgesetzes« und den Selektionsmechanismen in der Evolutionsbiologie bestand auch auf einem anderen wichtigen Gebiet: Alles Wirtschaften steht unter dem »kalten Stern der Knappheit«, und auch hier gab es einen Selektionsmechanismus, der die überschüssigen Marktteilnehmer zum Ausscheiden aus dem Markt zwingt, und zwar durch die Mechanismen der Konkurrenz und des Wettbewerbs auf den Güter- und Arbeitsmärkten.

Aus der Sicht der Theoretiker des Wirtschaftsliberalismus mußte sich der Selektionsmechanismus der ökonomischen Konkurrenz und des Wettbewerbs auf den Wohlstand eines Gemeinwesens positiv auswirken, weil er die weniger Tüchtigen zurückdrängt und die Tüchtigen zum Zuge kommen läßt. Die Selektionstheorie hatte offensichtlich eine außerordentlich hohe Erklärungskraft: Im Falle der Biologie erklärte sie die Tendenz der Organismen zur Höherentwicklung im Verlauf der Evolution, wie Darwin auf Malthus gestützt erkannte, und im Falle der Wirtschaft die Tendenz zu wachsendem Wohlstand bei den Nationen, derern Wirtschaft sich an den Prinzipien des Marktes, der ökonomischen Konkurrenz und des Wettbewerbs orientierten.

Karl Marx und Friedrich Engels waren sich der bitteren Konsequenzen aus der Analogie zwischen dem Selektionsmechanismus des »Bevölkerungsgesetzes« und dem des Marktes und der ökonomischen Konkurrenz deutlich bewußt. Die geistige Nähe und die strukturelle Ähnlichkeit der Argumentation, die zwischen dem ökonomischen Liberalismus englischer Prägung und der malthusianischen Bevölkerungstheorie bestand, zwangen Marx und Engels nicht nur zur bisher schärfsten Ablehnung der malthusianischen Bevölkerungstheorie, sondern auch zum Gegenentwurf einer Sozialutopie, deren Gegensatz zur liberalistischen Position ins Extreme gesteigert ist. Man darf aber nicht verkennen, daß Malthus' moralphilosophisch begründete Klassentheorie die marxistisch-leninistische Klassentheorie in ihrer theoretischen Radikalität und rabiaten Unversöhnlichkeit übertrifft.

Noch dramatischere Auswirkungen als auf dem Gebiet der Nationalökonomie und der politischen Theorie hatte das »Bevölkerungsgesetz« im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts in der Anthropologie und in den Wissenschaften, die die geistigen Grundlagen für die Selbstinterpretation des Menschen entwickeln und das Bild prägen, das sich der Mensch von sich selbst macht. Zunächst verstrichen aber von der Entdeckung der Evolutionstheorie im Jahr 1838 bis zur Veröffentlichung der Entstehung der Arten (On the Origin of species) im Jahr 1859 zwanzig Jahre. Darwin war sich der Brisanz seiner Entdeckung, daß der Mensch und die höheren und niederen Tiere und Pflanzen gemeinsame Vorfahren haben, bewußt. Deshalb zögerte er zwei Jahrzehnte lang mit der Veröffentlichung seiner Ideen, bis er sich dazu gezwungen sah, weil ihm sonst der Naturforscher Alfred Russel Wallace zuvorgekommen wäre, der unabhängig von ihm die gleichen Ideen entwickelt und 1858 in einem zur Veröffentlichung bestimmten Manuskript niedergeschrieben hatte. Diese Ideen lagen um die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Luft, sie reiften in vielen Köpfen gleichzeitig heran. Der Reifungsprozeß brauchte Zeit; am Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn war Darwin ebenso wie Malthus und wie die meisten seiner naturwissenschaftlichen Lehrer ein ordinierter Theologe, der noch an die christliche Schöpfungsgeschichte glaubte.“ (Zitat-Ende).

ä 5. Der erste und der zweite demographische Übergang und die biographische Theorie der demographischen Reproduktion (S. 49-67):

Erste These: Die Industrieländer vollzogen im Verlauf ihrer sozio-ökonomischen Entwicklung einen Übergang von einer »vorindustriellen Bevölkerungsweise« ... zu einer »industriellen Bevölkerungsweise« .... Die Differenz zwischen Geburten- und Sterberate - die Wachstunmsrate der Bevölkerung - war sowohl in der vorindustriellen als auch in der industriellen Stufe nach Vollzug des Übergangs relativ niedrig, aber in der Zwischenzeit des Übergangs ... vergrößerte sich die Wachstumsrate, weil der Rückgang der Sterberate schon begann, während die Geburtenrate noch unverändert hoch blieb (bzw. sogar noch stieg; Anm. HB*), bis auch sie dem Rückgang der Sterberate mit zeitlicher Verzögerung nachfolgte, do daß sich die Schere zwischen beiden wieder schloß und die Wachstumsrate wieder auf ein niedriges Niveau fiel.

Zweite These: Auch nach Abschluß des demographischen Übergangs bleibt die Differenz zwischen Geburtenrate und Sterberate größer als Null (mittlerweile ist das erwiesenerweise falsch! Anm. HB*), d.h. die natürliche Wachstumsrate ist immer noch positiv, wenn auch nicht sehr hoch, weil die Geburtenrate allenfalls vorübergehend unter das für die langfristige Bestandserhaltung der Bevölkerung erforderliche Mindestniveau (= »Ersatzniveau« der Fertilität) sinken kann, aber auf Dauer doch ausreicht, um zumindest die Bestandserhaltung der Bevölkerung auch ohne permanente Einwanderungsüberschüsse zu garantieren.

Die erste Theorie der Transformationstheorie wurde durch historisch-demographische Untersuchungen für ... eine Vielzahl europäischer Länder und regionen bestätigt. Die zweite These erwies sich dagegen später für nahezu alle Industrieländer als falsch.

In meiner Biographischen Theorie der Fertilität (vgl. Herwig Birg, 1991 und 1992) sind ökonomische, soziologische und entwicklungspsychologische Erklärungsansätze des generativen Verhaltens zu einer Theorie vereinigt. Abgesehen von ihrer Zielsetzung im Rahmen der wissenschaftlichen Grundlagenforschung hat sich die Theorie als ein brauchbares Instrument für die Erarbeitung realistischer Weltbevölkerungsprojektionen erwiesen, denn sie erklärt nicht nur die Entwicklung hin zu einem extrem niedrigen Fertilitätsniveau in den westlichen Industrieländern, sondern auch das erstaunlich niedrige und weiter abnehmende Fertilitätsniveau in bestimmten Ländern Lateinamerikas und Asiens, vor allem in Japan, Hong Kong, Südkorea, Singapur, Thailand und teilweise auch schon Indonesien - Gebiete, deren wirtschaftliche Dynamik zu ähnlichen biographischen Entwicklungsbedingungen geführt hat wie in den westlichen Industrieländern. Trotz starker Unterschiede hinsichtlich ihrer Geschichte, Religion und Kultur ist diesen dynamischen Wirtschaftsregionen ein schon mit europäischen Verhältnissen vergleichbares niedriges Fertilitätsniveau gemeinsam, so daß Demographen von einer »Revolution des generativen Verhaltens« in Asien sprechen (R. Leete und I. Alam, 1993).

Kinderzahl

Die Kernthese der biographischen Fertilitätstheorie ist, daß das Risiko irreversibler langfristiger Festlegungen im Lebenslauf unter den Bedingungen eines permanenten Wandels der ökonomischen, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebensbedingungen zugenommen hat und weiter zunehmen muß. In einer instabilen, von einer permanenten Veränderungsdynamik geprägten Welt ist es rational, irreversible langfristige Festlegungen im Lebenslauf zu vermeiden, um die biographische Entscheidungsfreiheit nicht zu verlieren. Deshalb wurden und werden die familialen langfristigen Festlegungen im Lebenslauf wie die Bindung an einen Partner und die Geburt eines Kindes in eine spätere Lebenslaufphase aufgeschoben oder ganz vermieden. Die Vermeidung langfristiger Festlegungen im Lebenslauf dient insbesondere dazu, berufliche Optionen offen zu halten und die Anpassungsfähigkeit an die Anforderungen der Arbeitsmärkte funktionsfähig zu halten, die Arbeitslosigkeit zu minimieren und die für ein möglichst hohes Pro-Kopf-Einkommen notwendige Produktivität zu maximieren. (**).

Die ungewollte demographische Konsequenz dieser Entwicklungstrends ist die permanente Zunahme des Anteils der Frauen an einem Jahrgang, der zeitlebens kinderlos bleibt. Die niedrige Geburtenrate ist ... in erster Linie eine Folge des Anstiegs des Anteils der lebenslang kinderlosen Frauen, nicht etwa, wie fälschlicherweise immer wieder behauptet wird, ein Anstieg der Häufigkeit der Ein-Kind-Familie. Wenn Menschen trotz der damit verbundenen biographischen Festlegungsrisiken die Entscheidung für die Gründung einer Familie treffen, dann haben sie wesentlich häufiger zwei Kinder als eins. Die Zwei-Kinder-Familie und nicht die Ein-Kind-Familie ist die typische und häufigste Familienform.

Das in solchen demographischen Kennziffern zum Ausdruck kommende generative Verhalten erscheint im Hinblick auf die biographische Entscheidungslogik durchaus als rational: Die biographische Entscheidungsfreiheit wird durch das erste Kind so gravierend eingeschränkt, daß man sagen könnte, daß die Eltern fortan in einer naderen Welt leben. Diese Welt ändert sich durch ein zusätzliches zweites Kind bei weitem nicht so dramatisch wie dies beim Übergang von einem Leben ohne Kinder zum Leben in Elternschaft geschieht. Ein-Kind-Familien sind im Vergleich zu einem Leben ohne Kinder eine grundsätzliche, lebenslaufbestimmende Alternative, während sie im Vergleich zur Familie mit zwei Kindern eher als eine Vorstufe anzusehen sind, die durch das zweite Kind mehr vollendet als ein weiteres Mal entscheidend verändert wird.“ (Zitat-Ende).

ä 6. Die Bevölkerungsentwicklung im System sozio-ökonomischer und demo-ökonomischer Wechselwirkungen (S. 68-80):

„Je höher das Pro-Kopf-Einkommen in einem Land ist, desto größer ist unter sonst gleichen Umständen - diese Bedingung gilt unausgesprochen immer - das entgangene Lebenseinkommen, wenn eine Frau auf ein eigenen Einkommen durch Erwerbsarbeit verzichtet, um Kinder großzuziehen. Wir bezeichnen diese nur in der Vorstellung existierende entgangene Einkommen als ökonomische Opportunitätskosten, wobei der Begriff »Kosten« im Sinne von »unter anderen Bedingungen möglich erscheinendes Einkommen« verwendet wird, also nicht i.S. von realen Ausgaben verstanden werden darf.

An diesem Punkt beziehen wir die neuere Entwicklung der bevölkerungswissenschaftlichen Theorie mit ein, die den bisher ausschließlich im ökonomischen Sinn gebrauchten Begriff der Opportunitätskosten durch die biographischen Opportunitätskosten erweitert: Darunter sind die nur in der Vorstellung der Individuen existierenden, theoretisch möglichen Lebenswege und Lebensinhalte zu verstehen, die im Spektrum der biographischen Möglichkeiten nicht mehr enthalten sind, wenn bestimmte Lebenslaufalternativen durch langfristige Festlegungen in Form von Partnerbindungen oder Kindern aus dem biographischen Universum des einzelnen ausscheiden. Die ausgeschiedenen Alternativen bilden die biographischen Opportunitätskosten.

Die biographische Fertilitätstheorie besagt, daß die Vielheit biographischer Entwicklungsmöglichkeiten im langfristigen Trend zunimmt und damit die biographischen Opportunitätskosten und Festlegungsrisiken steigen. Das hat zur Folge, daß langfristige Festlegungen aufgeschoben oder ganz vermieden werden. Die durchschnittliche Geburtenzahl pro Frau sinkt, weil der Anteil lebenslang kinderlos Frauen zunimmt und die Häufigkeit der Familien mit drei oder mehr Kindern abnimmt. Dabei ist wichtig, daß die biographischen Opportunitätskosten gerade in der Anfangsphase der beruflichen Entwicklung, also in dem für die Familiengründung wichtigen Altersbereich von 20 bis 30 Jahren, größer sind als in höherem Alter und von Jahrgang zu Jahrgang weiter zunehmen, so daß sich der Konflikt zwischen der beruflichen und der familialen Entwicklung der Frauen von Jahrgang zu Jahrgang verschärft. (**).

Der Wandel des generativen Verhaltens ist das ungeplante, ungewollte und unvermeidliche Ergebnis des sozio-ökonomischen Entwicklungsprozesses. Je weiter ein Land in seiner Entwicklung fortgeschritten ist, desto stärker wirken sich die ... kollektiv finanzierten wohlfahrtsstaatlichen Einrichtungen wie die Alters- und Krankenversicherung und die Arbeitslosenversicherung (neuerdings auch die Pflegeversicherung) als zusätzlicher Faktor zu den biographisch-inndividuellen Faktoren aus. Im Ergebnis weicht dann die Geburtenrate um so mehr von dem für die Bestandserhaltung der Bevölkerung erforderlichen Niveau ab, je größer der individuelle Wohlstand und die kollektive Wohlfahrt sind.

In den Industrieländern, auf die es demographisch gesehen in Zukunft immer weniger ankommt, ist eine demographische Stabilitätspolitik noch nicht einmal in Ansätzen erkennbar. Die Förderung der Familienbildung mit fiskalischen und anderen staatlichen Instrumenten müßte entscheidend verbessert werden, aber Erfahrungen ... zeigen, daß die Wirksamkeit der Instrumente der Familienpolitik allein nicht ausreicht, um die Geburtenrate auf rd. 2 Kinder je Frau zu erhöhen. Was nötig wäre, ist ein vollständiger Umbau der gesammten Gesellschaft. Wie aber soll diese gigantische Aufgabe je durchgeführt werden, so lange es üblich ist, Geburtendefizite einfach durch Wanderungen zu kompensieren oder sogar überzukompensieren?

Was aber die in ihrer Entwicklung fortgeschrittensten Länder wie Deutschland und die anderen westeuropäischen Länder betrifft, läßt sich wohl schon sagen, daß sich die demographischen Voraussetzungen ökonomischer Erfolge nicht von selbst erfüllen, wie bisher immer stillschweigend vorausgesetzt wurde.“ (Zitat-Ende).

ä 7. Entwicklungstrends von Fertitiliät und Mortalität und die Dynamik des Weltbevölkerungswachstums im 21. Jahrhundert (S. 81-106):

„Das 20. Jahrhundert ist aus demographischer Sicht einzigartig, es wird als das Jahrhundert mit der größten Bevölkerungszunahme eingehen. Auch das 21. Jahrhundert weist eine Besonderheit auf: In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts wird das jahrhundertelange Weltbevölkerungswachstum zum Stillstand kommen und in die neue Phase der Weltbevölkerungsstagnation oder -schrumpfung übergehen.

Bevölkerungsvorausberechnungen sind wesentlich zuverlässiger als Wirtschaftsprognosen. Sie sind keine Prophezeiungen, sondern »Wenn-Dann-Aussagen« über die künftige Entwicklung, und da die Annahmen über das generative Verhalten der Menschen in der Zukunft sowie die Annahmen über die erwartete Zunahme der Lebenserwartung - das sind die »Wenn-Voraussetzungen« der Projektionsrechnungen - relativ realistisch getroffen werden können, sind die daraus abgeleiteten »Dann-Schlußfolgerungen« bezüglich der künftigen Bevölkerungsentwiscklung ebenso realistisch wie diese Annahmen, denn reine Rechenfehler beim Ableiten der Ergebnisse aus den Annahmen lassen sich trotz des immensen Umfangs der (heute von Computern erledigten) Berechnungen praktisch ausschließen.

Der entscheidende Punkt ist, daß die Zuverlässigkeit einer Projektionsrechnung nicht nur und nicht einmal in erster Linie vom exakten Eintreffen der Annanhmen über das Verhalten der Bevölkerung (Fertilität und Mortalität) abhängt, sondern vor allem von der Altersstruktur, die relativ sicher vorausberechnet werden kann, weil ein Großteil der Bevölkerung, die beispielsweise in fünfzig Jahren lebt, schon geboren ist.

Je mehr Kinder sich die Menschen aus ökonomischer Sicht leisten könnten, desto weniger haben sie.“ (Zitat-Ende).

ä 8. Geographische Verteilung, Urbanisierung und das Wachstum der Megastädte (S. 107-111):

„Zwei Trends von großer Tragweite prägen die internationale Bevölkerungsentwicklung im 20. und 21. Jahrhundert: das zunehmende demographische Gewicht der Entwicklungsländer und der weltweite Prozeß der Verstädterung. Bis 2020 wächst die Weltbevölkerung noch jährlich um 70-80 Mio., bis zur Jahrhundertmitte nimmt der jährliche Zuwachs allmählich auf rund 30 Mio. ab, um gegen Ende des 21. Jahrhunderts abzuflachen und auf Null zu sinken. Da fast der ganze Zuwachs auf die Entwicklungsländer entfällt, erhöht sich ihr demographisches Gewicht beträchtlich - ein Prozeß, der schon seit Anfang des 20. Jahrhaunderts im Gange ist. Dadurch erhöht sich der Anteil der Entwicklungsländer an der Weltbevölkerung von 68% (1950) über 80% (2000) auf 86% (2050) [Quelle: UNO]:

Bevölkerung (in Mrd.)
195020002050
Industrieländer0,8131,1941,220
Entwicklungsländer1,7064,8777,699
Welt2,5196,0718,919

Innerhalb der Gruppe der Entwicklungsländer erhöht sich der Anteil Asiens und Afrikas. In Asien werden am Ende des 21. Jahrhunderts 5 Mrd. Menschen leben, mehr als 1986 in der Welt insgesamt (1987 erreichte die Weltbevölkerung die Zahl 5 Mrd.; Anm. HB*). Besonders hervorzuheben ist, daß nicht mehr China mit seinen 1,2, Mrd. Menschen das bevölkerungsreichste Land sein wird, sondern Indien, dessen Bevölkerung von 2000 bis 2050 von 1,017 Mrd. auf 1,531 Mrd. zunehmen wird. Weitere gravierende Änderungen sind das Vorrücken von Äthiopien von Platz 18 der bevölkerungsreichsten Länder (Stand 2000) auf Platz 9, von Pakistan von Platz 7 auf Platz 4 und von Nigeria von Platz 10 auf Platz 6 (Quelle: UNO):

Bevölkerung der (12) 10 größten Länder 2000 und 2050 (in Millionen)
RangLand2000Land2050
1China1275Indien1531
2Indien1017China1395
3USA  285USA  409
4Indonesien  212Pakistan  349
5Brasilien  172Indonesien  294
6GUS  146Nigeria  258
7Pakistan  143Bangladesch  255
8Bangladesch  138Brasilien  233
9Japan  127Äthiopien  171
10Nigeria  115Dem. Rep. Kongo  152
11Mexiko    98  
12Deutschland    83  

Wie die absolute Bevölkerungszahl, so wird sich auch die Dichte der Bevölkerung (Einwohner pro km²) in den Entwicklungsländern und im Weltdurchschnitt mehr als verdoppeln. Die Erhöhung der Bevölkerungsdichte stellt für sich allein genommen in der Regel noch kein Problem dar, zumal viele Entwicklungsländer noch immer dünner besiedelt sind als die Industrieländer. Im Durchschnitt aller Entwicklungsländer betrug die Bevölkerungsdichte im Jahr 2000 59 Einwohner pro km², in Westeuropa ist sie etwa dreimal so hoch (116), und in Afrika beträgt sie nur ein Sechstel des westeuropäischen Niveaus. Die Dichte ist jedoch als Durchschnittsziffer wenig aussagekräftig. Hinter ihr verbirgt sich eine gewaltige regionale Umschichtung der Bevölkerung durch Binnenwanderung von den ländlichen Siedlungen in die Städte und die urbanen Agglomerationsräume. Die Existenz großer Städte beruhte bisher in den Industrieländern auf den Zuwanderungen aus den ländlichen Gebieten mit Geburtenüberschüssen, denn die Geburtenrate der Stadtbevölkerung unterschreitet das für die Bestandserhaltung der Bevölkerung erforderliche Niveau bei weitem. Im Unterschied dazu wachsen die Städte in den Entwicklungsländern nicht nur durch starke Zuwanderungen aus ländlichen Gebieten, sondern auch durch starke Geburtenüberschüsse ihrer Stadtbevölkerungen.

In den Industrieländern ist der Prozeß der Urbanisierung weitgehend zum Stillstand gekommen. Hier ging die Urbanisierung seit den 1970er Jahren in den Prozeß der Suburbaniserung über, ein Begriff, mit dem das Wachstum der Peripherien der urbanen Agglomerationsräume bei gleichzeitiger Stagnation oder Schrumpfung ihrer Kernstädte bezeichnet wird. In den Entwicklungsländern wachsen meist nicht nur die Peripherien der urbanen Agglomerationsräume, sondern auch deren Zentren.

Im Jahr 1950 gab es in der Welt nur eine einzige Stadt mit mehr als 10 Mio. Einwohnern - New York. In ihr lebten 1,7% der Städtebewohner der Welt. 1990 waren es 12 Städte (mit 7,1% der Stadtbevölkerung der Welt), und bis zum Jahr 2015 wird es 27 solcher Megastädte (mit 10,9% der Stadtbewohner) geben, davon 23 in den Entwicklungsländern. In den 27 Megastädten werden im Jahr 2015 450 Mio. Menschen leben. Davon entfallen 71 Mio. auf die Industrieländer und 378 Mio. auf die Entwicklungsländer.

Tokio hat den ersten Platz seit 1970 inne und wird ihn nach den Projektionsrechnungen der UN (1994) bis 2015 behalten. New York fiel von 1960 bis 1970 vom ersten auf den zweiten Platz, und es wird bis 2000 weiter auf den fünften und bis 2015 auf den elften Platz zurückfallen. Die Liste der größten 15 urbanen Agglomerationsräume ändert sich vor allem durch das Wachstum der Megastädte in den Entwicklungsländern. Bis zum Jahr 2000 werden Lagos (Nigeria), Karachi (Pakistan) und Neu-Delhi (Indien) zu den größten 15 gehören; dagegen werden Rio de Janiero, Osaka und Buenos Aires aus dieser Gruppe ausscheiden. Dhakka (Bangladesch) wird bis 2010 Seoul ersetzen. Lagos wird nach Tokio und Bombay der drittgrößte Agglomerationsraum der Welt sein, vorausgesetzt, daß sich das Wachstum unter Status-quo-Bedingungen fortsetzt und die Entwicklung nicht, wie in Ruanda, in Bürgerkrieg und Chaos endet.

Die 15 größten urbanen Agglomerationsräume der Welt
Rang1994Mio.2015Mio.
1Tokio26,5Tokio27,9
2New York 16,3Bombay18,1
3Sao Paulo 16,1Sao Paulo 17,8
4Mexiko Stadt 15,5Schanghai17,2
5Schanghai14,7New York 16,6
6Bombay14,5Mexiko Stadt 16,4
7Los Angeles 12,2Peking14,2
8Peking12,0Djakarta14,1
9Kalkutta11,5Lagos13,5
10Seoul11,5Los Angeles 13,1
11Djakarta11,0Kalkutta12,7
12Buenos Aires 10,9Tianjin12,4
13Osaka10,6Seoul12,3
14Tianjin10,4Karachi12,1
15Rio de Janeiro  9,8Delhi11,7
Zum Vergleich :   Rhein-Ruhr13,0

Wie in Kapitel 6 erläutert, steht vor allem die Fertitlität in Wechselwirkung mit ökonomischen und sozialen Prozessen. Dabei wurde durch zahlreiche Untersuchungen empirisch belegt, daß die Fertilität einer Region bzw. eines urbanen Agglomerationsraumes umso niedriger ist bzw. umso rascher abnimmt, je höher das Pro-Kopf-Einkommen ist und je schneller es wächst (= demographisch-ökonomisches Paradoxon).

In den ökonomisch am stärksten expandierenden Agglomerationsräumen Asiens ist die Fertilität bereits unter das Ersatzniveau gesunken; sie nähert sich dem westeuropäischen Niveau. In diesen Ländern ist die Dynamik der ökonomischen Entwicklung die entscheidende Bestimmungsgröße sowohl für das Bevölkerungswachstum als auch für die regionale Verteilung der Bevölkerung. Daß der Anteil der Weltbevölkerung, die in den Städten lebt, von 1950 bis 1995 von 29,3 auf 45,2% zunahm (bald wird er die 50%-Marke überschreiten; Anm. HB*), ist unter den vielen Größen, die die weltweite Abnahme der Geburtenrate verursacht haben, der wichtigste statistische Einzelindikator. Er ist ein komplexes Maß, in dem sich Größen wie Alphabetisierung der Bevölkerung, die Stellung der Frau, das Pro-Kopf-Einkommen, die Säuglings- und Kindersterblichkeit und das Niveau der Lebensbedingungen widerspiegeln. Bis zum Jahr 2025 wird von der UN ein weiterer Anstieg des Anteils der Stadtbevölkerung auf 61% vorausberechnet - ein Trend, der mit dem erhofften bzw. erwarteten Rückgang der Geburtenrate in der Zukunft in enger Beziehung steht. Die Urbanisierung ist eine Bedingung des Fertilitätsrückgangs, und der Fertilitätsrückgang führt zu regionalen Ungleichgewichten der Geburtenbilanz, die Wanderungsströme auslösen und dadurch den Prozeß der Urbanisierung intensivieren.“ (Zitat-Ende).

ä 9. Demographisch verursachte Problemketten und Dilemmata zwischen Bevölkerungs-, Entwicklungs- und Umweltpolitik (S. 112-125):

„Alle drei Hauptprozesse der demographischen Entwicklung - die Fertilität, die Mortalität und die Migration - sind erfahrungsgemäß außerordentlich schwer politisch zu steuern oder auch zu kontrollieren. Man tutu deshalb gut daran, das prognostische Potential demographischer Projektions- und Simulationsmodelle zu nutzen, um sich so ein realistisches Bild von der durch die Altersstruktur und durch die Verhaltenstrends (generatives Verhalten, Lebenserwartung, Wanderungsverhalten) weitgehend vorprogrammierten Entwicklung zu bilden. Für jedes der über 200 Länder der Welt werden von der Bevölkerungsabteilung der UN je drei Projektionsrechnungen durchgeführt (untere, mittlere, obere Variante). Hinzu kommt eine Simulationsrechnung, die auf der (bewußt fiktiven) Annahme beruht, daß die Fertilität bis zum Jahre 2050 unverändert bleibt (UN, 2004). Der Sinn dieses »constant fertility scenarios« ist, zu zeigen, daß etwas geschehen muß, damit die errechneten Szenarios nicht eintreten.

Das »constant fertility scenario« ergibt für Westeuropa von 2000 bis 2050 eine Bevölkerungsschrumpfung von 184 auf 173 Mio. und für die Entwicklungsländer einen Bevölkerungszuwachs von 4,9 Mrd. auf 11,6 Mrd.. In Deutschland ... schrumpft die Bevölkerung seit 1972, was nur deshalb nicht auffällt, weil das Geburtendefizit bisher durch Einwanderungen mehr als ausgeglichen wurde. Deutschland hat ein Mehrfaches an Einwanderungen als die klassischen Einwanderungsländer USA, Kanada und Australien. Die jährliche Zahl der Einwanderungen pro 100 000 Einwohner betrug z.B. in den 80er Jahren (also bereits vor dem Zusammenbruch des Ostblocks) in die USA 245, nach Kanada 479 und nach Australien 694; nach Deutschland kamen 1022 auf 100 000 Einwohner. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks stieg die Zahl der Zuwanderer nach Deutschland sogar auf 1566 pro 100 000 Einwohner.

So erstaunlich diese (in der Fachwelt wenig umstrittene) Entwicklung ist - mindestens ebenso viel Erstaunen erregt die Art, wie die politische Öffentlichkeit mit diesen Informationen umgeht. Am 15.01.1996 wurden die demographischen Fakten und Prognosen anläßlich einer Anhörung des Deutschen Bundestages vor der Enquete-Kommission »Demographischer Wandel« durch Experten vorgetragen und erläutert. Zwei Tage später fand eine andere Sitzung aus Anlaß der Telefongebührenänderung statt. Über die zweite Sitzung wurde in den Medien berichtet. Über die verschiedenen Sitzungen der Enquete-Kommission »Demographischer Wandel«, die schon seit Dezember 1992 tätig ist und deren Arbeit auf Beschluß des Bundestages seit 01.06.1995 fortgesetzt wird, erfuhr die Öffentlichkeit sehr wenig. Das Friedenskomitee 2000 stellte darin fest: »Es gibt Dinge, die sind so unvorstellbar, daß man sie am liebsten verdrängt. Dazu gehört die Prognose, daß in einigen Jahrzehnten die Deutschen in Deutschland eine Minderheit sein werden. Das Deutsche Volk des Grundgesetzes als Träger der Staatsgewalt wird es dann nicht mehr geben« (Argumentationspapier des Friedenskomitees 2000, 4/1995). Es fällt in der Tat sehr schwer, sich diesen Problemen zu stellen. Tut man es, kommt einem unwillkürlich folgender Vergleich in den Sinn: Durch das Treibenlassen seiner demographischen Probleme gefährdet sich Deutschland im 21. Jahrhundert auf eine ähnlich existenzbedrohende Weise wie durch die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert.“ (Zitat-Ende).

ä 10. Bevölkerungsentwicklung, Ethik und Politik (S. 126-137):

„Das vorherrschende Charakteristikum der Evolution ist aus rein biologischer Sicht nicht das Gleichgewicht und die Harmonie, sondern die schöpferische Zerstörung. Im Verlauf der natürlichen Evolution sind viele Arten ausgestorben, sogar mehr als heute existieren, und zwar ohne Zutun des Menschen bzw. lange bevor sich die menschliche Spezies entwickelte.

Die Existenz der menschlichen Kultur mag überwiegend oder ausschließlich evolutionsbiologische Ursachen haben, aber ob dies die Menschen zu einem den Bedingungen der »Nachhaltigkeit« entsprechenden Verhalten gegenüber den natürlichen Lebensbedingungen veranlaßt, hängt nicht von irgendwelchen vielleicht in der Natur verborgenen Selbstregulierungskräften ab, sondern ganz allein davon, was die Menschen wollen. Ob ihr Wille frei genug ist, das Vernünftige zu wollen und das Selbstzerstörerische zu vermeiden, ist nicht eine Frage der Natur, sondern der Kultur.

Die größte Gefahr für die Umwelt und die Natur ist nicht ihre rationale, ökonomische Nutzung, sondern ihre Romantisierung und die gutgemeinte, aber sinnlose Naturtümelei. Um dies zu erkennen, muß man sich bewußt machen, daß der Begriff der Natur nicht etwas ist, was einfach aus der Natur übernommen werden kann, sondern durch einen Akt der Kultur geschaffen wedren muß:

Die Weltgemeinschaft hätte - vorasugesetzt, es gäbe sie - die Macht, die wissenschaftlich-technischen Fähigkeiten und das ökonomische Potential, um die Erde unter größtmöglichstem Schutz der Natur in ein Paradies zu verwandeln. Daß dies nicht geschieht, liegt daran, daß es eine Weltgemeinschaft oder die Menschheit als Handlungssubjekt nicht gibt. Die zentralen menschlichen Handlungsakteure sind das Individuum, die Familie, die soziale Gruppe, der Stamm und allenfalls die Nation. Machtvolle supra- bzw. internationale handlungssubjekte, die die Menschheit zur Lösung ihrer globalen Probleme benötigen würde, gilt es erst noch zu entwickeln.

Unser Wissen, daß sich diese die künftigen Generationen belastenden Probleme im Prinzip vermeiden oder technisch lösen ließen, läßt uns bewußt werden, daß unser Versagen kulturell bedingt ist.

Es ist leichter, ganze Volkswirtschaften ökonomisch und technisch auf umweltfreundliche Kreislaufwirtschaften umzustellen, als eine kulturelle Veränderung zu bewirken, die den dafür nötigen Willen schafft. Die zu lösende Aufgabe besteht also primär darin, zunächst kulturell bedingte problemlösungsfähigkeit zu gewinnen, damit die Probleme real gelöst werden können.

Wenn man sich auf den Standpunkt stellt, daß alle Bevölkerungsprobleme letztlich politische Probleme sind, dann sind sie eben dadurch in erster Linie kulturelle Probleme. Das wichigste Bevölkerungsproblem entstünde dann nicht aus der realen Bevölkerungsentwicklung durch Wachstum oder Schrumpfung, sondern es bestünde in der Art des kulturellen, intellektuellen Umgangs mit den durch die Bevölkerungsentwicklung aufgeworfenen Fragen, von denen die politischen Antworten erst provoziert werden, nicht umgekehrt.“ (Zitat-Ende).

Die demographische Zeitenwende (2001)

  1. Einführung (S. 9-20)
  2. Transformiert die ökonomische Globalisierung die Weltbevölkerung in eine Weltgesellschaft ?  (S. 21-41)
  3. Das demographisch-ökonomische Paradoxon und der langfristige Rückgang der Geburtenrate in Deutschland und Europa (S. 42-52)
  4. Wirtschaftliche Prosperität und demographischer Niedergang (S. 53-63)
  5. Grenzen der Familienpolitik im Hinblick auf die Logik biographischer Entscheidungen (S. 64-82)
  6. Zweck, Verfahren und Genauigkeit demographischer Vorausberechnungen (S. 83-96)
  7. Bevölkerungsvorausberechnungen für Deutschland im 21. Jahrhundert (S. 97-118)

  8. Bevölkerungsvorausberechnungen für Europa und die südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers (S. 119-136)
  9. Veränderungen der Zahl und Größe der privaten Haushalte und des Bedarfs an Wohnraum - regionale & sozialräumliche Aspekte (S. 137-159)
10. Notwendige Vorüberlegungen zur Erforschung der wirtschaftlichen Auswirkungen (S. 160-169)
11. Konsequenzen für das soziale Sicherungssystem in Deutschland (S. 170-193)
12. Demographie und Politik (S. 194-206)
13. Ethische Aspekte der menschlichen Fortpflanzung - die Verantwortungsethik von Hans Jonas (S. 207-218)

ä 1. Einführung (S. 9-20):

„Für das Nichts-Tun und das Nicht-Wissen-Wollen gibt es viele Gründe, so daß ich als Autor eine Beweislast spüre, darlegen zu müssen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Der wichtigste Beweggrund ist die Aussicht, daß der demographische Niedergang Deutschlans und Europas rückblickend einmal als ein Vorzeichen für den Abschied unseres Landes aus seiner zweitausendjährigen Geschichte gedeutet werden könnte, ohne daß diese Gefahr den heutigen Zeitgenossen bewußt war.

Von der Gruppe der führenden Industrieländer wurde die »Global Ageing Initiative« ins Leben gerufen, um Politik und Öffentlichkeit wach zu rütteln. Unter Anwesenheit mehrerer Minister und früherer Kanzler, Ministerpräsidenten und Notenbankgouverneure fand im Januar 2001 unter Federführung des Washingtoner »Center for Strategic and International Studies« in Zürich eine internationale Konferenz statt, auf der die negativen Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die Volkswirtschaften der sieben bedeutendsten Industrieländer (in dieser Reihenfolge: USA, Deutschland, Japan, Großbritannien, Frankreich, Kanada, Italien) im Zentrum der Debatte standen. Die Gruppe der sogenannten G7-Länder (in dieser Reihenfolge: USA, Deutschland, Japan, Großbritannien, Frankreich, Kanada, Italien) hat einen Anteil von rund 40% am Sozialprodukt der Welt, und es wird befürchtet, daß sich ihr Gewicht in Zukunft aus demographischen Gründen verringern wird. (Die internationale Konferenz »A Policy Summit of the Global Ageing Initiative«, die im Januar 2001 in Zürich stattfand, wurde im August 2001 in Tokio fortgesetzt). Diese Furcht besteht zu Recht.

(1) Die Kluft zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit hat sich seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts beständig erweitert, weil das Ziel des sozialen Rechtsstaates mit den veränderten demographischen Strukturen immer weniger vereinbar ist. Heute bleibt bereits ein Drittel der jüngeren Frauenjahrgänge zeitlebens kinderlos, bei den zwei Dritteln mit Kindern hat die Geburtenrate jedoch den idealen Wert von rd. zwei Kindern pro Frau. Eine noch schärfere, gefahrenträchtigere Spaltung der Gesellschaft ist kaum vorstellbar. Das Drittel der Frauen und Männer ohne Kinder erfüllt nur einen Teil des Generationenvertrages als Kern des allgemeinen Gesellschaftsvertrages. Diese Menschen zahlen zwar wie alle anderen Beiträge in die sozialen Sicherungssysteme ein, aber die Erziehung künftiger Beitragszahler ist die weitaus wichtigste Verpflichtung aus dem Gesellschafts- und Generationenvertrag, und dieser Vertragsbestandteil wird immer weniger erfüllt. Der Tatbestand selbst ist unbestritten; er läßt sich auf folgenden Nenner bringen: »An Kindern profitiert, wer keine hat !«  Hierzu führte Paul Kirchhof, ein früherer Verfassungsrichter, aus: »Den Generationenvertrag des Sozialstaats halten nur die Eltern ein. Daß gerade sie an diesem Vertrag kaum beteiligt werden, ist ein rechtsstaatlicher Skandal.« (Paul Kirchhof, Wer Kinder hat, ist angeschmiert, in: Die Zeit, 11.01.2001, S. 9). Die demographische Spaltung der Gesellschaft gefährdet nicht nur die Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme, sondern das Gerechtigkeitszielals Fundament unserer Verfassung.

(2) Die Einwanderung aus dem Ausland verläuft in Deutschland seit Jahrzehnten ungesteuert. Das Migrations- und Integrationsproblem hat in der Lebenswirklichkeit vieler großer Städte ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen. Die Schrumpfung der einheimischen Bevölkerung durch den Sterbeüberschuß -bei gleichzeitigem starkem Wachstum der zugewanderten Populationen durch Geburtenüberschüsse und fortwährende Einwanderungen -hat nicht zur multikulturellen Gesellschaft geführt, sondern zu einem Gesellschaftstyp, den ich als »Multiminoritätengesellschaft« bezeichne, weil die bisherige »Mehrheitsgesellschaft« ihre absolute Mehrheit bei der für die Zukunft wichtigen Altersgruppe der unter 40 jährigen vielerorts schon in ein bis zwei Jahrzehnten verlieren wird. Dabei ist die ungesteuerte Einwanderung junger Menschen aus Entwicklungsländern nicht geeignet, um die Altersstruktur der Bevölkerung nachhaltig zu verjüngen. Sie ist auch kein Instrument, um den Bedarf der Wirtschaft an qualifizierten Arbeitskräften zu decken, weil die Bildungsabschlüsse der zugewanderten Bevölkerung und ihrer hier geborenen Nachkommen in den allermeisten Fällen bei weitem nicht dem Qualifikationsniveau der deutschen Bevölkerung entsprechen. Es gibt zwar auch kleine Einwanderergruppen, insbesondere aus Asien, deren Bildungsverhalten zu ähnlichen oder sogar noch höheren Bildungsabschlüssen wie bei der deutschen Bevölkerung führt, aber in Deutschland fallen diese extrem seltenen Ausnahmen quantitativ nicht ins Gewicht.“ (Zitat-Ende).

ä 2. Transformiert die ökonomische Globalisierung die Weltbevölkerung in eine Weltgesellschaft?  (S. 21-41):

Demographie
Diese Abbildung stammt nicht von Herwig Birg, sondern von mir; HB.
Demographie
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„Vergleicht man die Entwicklung der 30 größten Länder mit dem Ziel, Zusammenhänge zwischen den ökonomischen und den demographischen Veränderungen zu erkennen, so stößt man auf einen grundlegenden Tatbestand, den ich als das »demo-ökonomisches Paradoxon« bezeichnet habe: Es scheint auf den ersten Blick paradox, daß die Pro-Kopf-Geburtenzahl in jenen Ländern besonders niedrig ist, in denen das Pro-Kopf-Einkommen ein überdurchschnittlich hohes Niveau erreicht hat. Dabei fungiert das Pro-Kopf-Einkommen als Maßstab für den Entwicklungsstand eines Landes. Ein anderer Maßstab ist die Lebenserwartung. Bei Verwendung der Lebenserwartung ergibt sich der gleiche gegenläufige Zusammenhang: Je höher die Lebenserwartung war bzw. je stärker sie zunahm, desto niedriger war bzw. ist die Kinderzahl pro Frau. Einem Zuwachs der Lebenserwartung z.B. in Asien und Lateinamerika in den letzten drei Jahrzehnten um rd. 10 Jahre entsprach im Mittel eine Abnahme um rd. 2,5 Geburten je Frau. Mißt man den Entwicklungsstand eines Landes nicht nur an der Lebenswerwartung und am Pro-Kopf-Einkommen, sondern auch am Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung, indem man die drei Größen zu einem Index zusammenfaßt (= Human Development Index [HDI]), bestätigt sich der Grundzusammenhang: Jedes Land hat auf der Skala des Human Development Index einen Wert zwischen 0 und 1; je höher diese Meßzahl ist, desto niedriger ist tendenziell die Zahl der Lebendgeborenen pro Frau.

In Europa beträgt die Geburtenzahl pro Frau 1,41, sie liegt um ein Drittel unter dem Niveau, das für die langfristige Konstanz der Bevölkerung ohne Wanderungen erforderlich wäre (= 2,1 Lebendgeborene je Frau = »Bestandserhaltungsniveau«).

Von der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen wird erwartet, daß die Geburtenzahl pro Frau, die im Zeitraum 1995-2000 im Weltsurchschnitt noch 2,82 betrug, noch vor der Jahrhundertmitte die langfristig bestandserhaltende Zahl von 2,13 unterschreiten wird, so daß die Weltbevölkerung nach Ausklingen des von der jungen Altersstruktur getragenen »Schwungs« des Bevölkerungswachstums am Ende des Jahrhunderts ihr Maximum erreicht und danach abzunehmen beginnt.

Eine Gesellschaft ist nicht wie eine Population eine bloß additiv zusammengesetzte oder faktisch voneinander abhängige Menge von Individuen, sondern eine geschichtlich gewachsene Gesamtheit von Menschen (Menschengruppen/-gemeinschaften, Kulturen, Völker, Nationen u.s.w.; Anm. HB*), die zur Erreichung ihrer gemeinsamen Ziele und zur Abwehr von Gefahren in gegenseitiger Solidarität miteinander verbunden sind.

Die ökonomische Globalisierung nivelliert zwar sowohl die kulturellen Unterschiede und Standards als auch die internationalen Unterschiede des Fortpflanzungsverhaltens. Dadurch könnte das Niveau der Geburtenrate im Weltdurchschnitt vielleicht schon in zwei bis drei Jahrtzehnten bis unter das Bestandserhaltungsniveau abnehmen. Aber der Abbau der Unterschiede ist nicht das Ergebnis eines entsprechenden Willens zur Erreichung gemeinsamer, die Nationen und Länder übergreifender gesellschaftlicher Ziele, der in der internationalen Konvergenz der Geburtenraten in Erscheinung tritt, sondern die unbeabsichtigte Nebenwirkung der globalen ökonomischen Veränderungen. Sie zeigt sich in dem paradox erscheinen Sachverhalt, daß die Menschen ihre Kinderzahl mit dem steigenden Realeinkommen verringert statt erhöht haben.

In den Entwicklungsländern ist die Geburtenzahl pro Frau in den vergangenen drei Jahrzehnten durch den ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß noch schneller zurückgegangen als in den Industrieländern, ohne das dies Ergebnis einer entsprechenden gesellschaftlichen Willensbildung oder eines planvollen politischen Handelns interpretiert werden kann.

Eine in ihren demographischen Verhaltensweisen gleichartiger werdende Weltbevölkerung ist jedoch weder eine notwendige, noch eine hinreichende Bedingung für das Entstehen einer Weltgesellschaft. Und selbst wenn es sich tatsächlich um eine notwendige Bedingung handelte, wäre ihre Erfüllung für die tatsächliche Herausbildung einer Weltgesellschaft nicht ausreichend, falls die Mitglieder dieser Gesellschaft nicht auch den Willen hätten, eine Weltgesellschaft zu konstituieren. (Und das wollen sie nicht! Und wahrscheinlich werden sie das auch zukünftig nicht wollen! Anm. HB*). Denn eine Gesellschaft kann dann und nur dann als eine Weltgesellschaft bezeichnet werden, wenn die Menschen sich als Mitglieder einer Weltgesellschaft betrachten statt lediglich durch wirtschaftliche, politische und informationelle Gelegenheiten de facto immer stärker voneinander abzuhängen.

Die Wahrscheinlichkeit, daß ein solcher Wille zu einer gemeinsamen Gesellschaft in Zukunft entsteht, ist aus mehreren gründen gering. Aus psychologscher Sicht ist die Entstehung eines Wilens zur Weltgesellschaft unwahrscheinlich, denn dafür ist eine innere Beziehung der Menschen erforderlich. .... Aus politischer Sicht wäre die Preisgabe der nationalen Identität zugunsten der bloßen Hoffnung auf die Entstehung einer Weltgesellschaft eine Leichtfertigkeit (ein Masochismus bis hin zum Selbstmord! Anm. HB*), jedenfalls in Ländern wie Deutschland, in denen die Menschenrechte durch die Verfassung garantiert und in der Praxis realisiert sind. Hierzu führte ein früherer Richter am Bundesverffasungsgericht aus: »Nur die Existenz verschiedener Staaten sichert dem Menschen auch das elementarste seiner Rechte, auszuwandern, Zuflucht zu suchen, Asyl zu beantragen. Die Weltaufgaben fordern nicht den Weltstaat, sondern weltoffene Staaten und Staatenverbände.« (Paul Kirchhof, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.1999, S. 8).

Ob ein Zustand ohne ökonomische Knappheit tatsächlich einmal verwirklicht wird, hängt aus heutiger Sicht nicht primär von der Ökonomie, sondern in erster Linie von der Politik ab, denn die Möglichkeiten für die Realisierung dieses Zustandes in einer nicht allzu fernen Zukunft sind angesichts der technischen Möglichkeiten und ökonomischen Potentiale keineswegs utopisch. Selbst bei einem nur mäßigen Wachstum der Wirtschaftsleistung pro Kopf um 1,5 bis 2 % pro Jahr ließe sich das Niveau des Lebensstandards z.B. in 250 Jahren um den Faktor 41 bis 141 erhöhen. Durch die Fähigkeiten des schöpferischen menschlichen Geistes könnte der Lebensstandard so beträchtlich steigen, daß sich die ökonomischen Probleme des 21. Jahrhunderts - das noch vom »kalten Stern der Knappheit« regiert werden wird, wie es in den Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre aus dem vorigen Jahrhundert heißt - dann überwinden ließen. Die Gesellschaft als Mittel zum Zweck der gegenseitigen Hilfe in Not und als Mittel zur Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt würde dann nicht mehr gebraucht. Aber das würde wahrscheinlich nicht das Ende allen gesellschaftlichen Zusammenlebens bedeuten, die Gesellschaft als Mittel zum Zweck würde nur von einer anderen Art von Gesellschaft abgelöst. Denn die Menschen würden einander immer noch brauchen, weil der einzelne immer nur durch den anderen zu sich selbst kommen kann.

Was nützt es also, sich die Welt als ein einzige gesellschaftliche Einheit vorzustellen, in der Populationen und Nationen, Kulturen und regionale Lebensstrukturen in einem großen Ganzen augehen, so daß viele der jetzt noch wichtig erscheinenden Fragen ihre Bedeutung verlieren .... Die Verwirklichung dieser Vorstellung würde nichts daran ändern, daß sich die Teile dieser Weltgesellschaft nach ihrer Geschichte, nach ihrer räumlichen Nähe und kulturellen Distanz voneinander unterscheiden, wie sie es immer getan haben.

Man sollte die Beharrungstendenzen dieser Unterschiede nicht bedauern. Denn wenn der Trend zur Universalisierung und Internationalisierung tatsächlich bedeutet, daß sich die nationalen Strukturen und Kulturen auflösen, dann läßt sich dieser Auflösungsprozeß nicht auf die abstrakte Ebene des Nationalen beschränken. Die Auflösung der Strukturen ist dann ein durchgängiger, auf allen Ebenen parallel ablaufender Prozeß, der auch auf der untersten Ebene der Gesellschaft, in der Familie und in den Beziehungen zwischen den Menschen (deren kleinste Einheit ist das Paar; Anm. HB*), seine Spuren hinterläßt. Eine solche Weltgesellschaft, die sich nicht auf Nationen gründet, wäre eine ebenso abschreckende Vorstellung wie eine Nation, bei der es keine Familien mehr gibt und beid er die Fortpflanzung durch den Staat organisiert oder durch den Markt reguliert wird.“ (Zitat-Ende).

ä 3. Das demographisch-ökonomische Paradoxon und der langfristige Rückgang der Geburtenrate in Deutschland und Europa (S. 42-52):

„Wenn die Anwendung einer gut bestätigten Regel zum Gegenteil des erwarteten Resultats führt und wenn es sich bei dem betreffenden Fall nicht um eine zufällige Ausnahme handelt, sondern um eine durch Logik und Folgerichtigkeit geprägte Erscheinung, kann man von einem Paradoxon sprechen. Als demographisch-ökonomisches Paradoxon bezeichne ich den Sachverhalt, daß sich die Menschen in den entwickelten Ländern, aber auch die wachsende Population des Mittelstands in den Entwicklungs- und Schwellenländern, um so weniger Kinder leisten, je mehr sie sich auf Grund des seit Jahrzehnten steigenden Realeinkommens eigentlich leisten könnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg - im sogenannten Nachkriegs-Babyboom - hatten die Menschen in Deutschland z. B. im Durchschnitt 2,4 Kinder je Frau - doppelt so viele wie heute, obwohl das Realeinkommen weniger als die Hälfte des heutigen erreichte. Diese Entwicklung ist allgemein bekannt. Aber was steckt dahinter, wie läßt sich dieser Sachverhalt verstehen und erklären?

Ein Deutungsversuch aus einem speziellen Forschungsgebiet der Wirtschaftswissenschaften, das als Bevölkerungsökonomie bezeichnet wird, argumentiert folgendermaßen: Die Preise und Kosten der für die Erziehung von Kindern benötigten Dienstleistungen, insbesondere für die Betreuung und Aufsicht durch Dienstpersonal, sind stärker gestiegen als die Preise der industriell erzeugbaren materiellen Konsumgüter, so daß heute mit einem gegebenen Einkommen ein höheres Maß an Nutzen erzielt werden kann, wenn der für den Erwerb von industriell erzeugbaren Gütern verwendete Anteil am verfügbaren Einkommen ausgeweitet und der für Kinder aufgewendete entsprechend reduziert wird. Diese Erklärung ist schlüssig, aber ihre Gültigkeit hängt davon ab, ob die dabei unterstellte Regel immer anwendbar ist, daß bei einem gegebenen Einkommen von jedem Konsumgut eine um so größere Menge nachgefragt wird, je niedriger sein Preis ist.

Wer diese Nachfrageregel auf den vorliegenden Fall anwendet, stellt eine Analogie zwischen Kindern und ökonomischen Konsumgütern her. In der Bevölkerungsökonomie ist dies üblich. Man spricht dort ausdrücklich und ungeniert von Kindern als »Konsumgütern« und vom »Konsumnutzen des Kindes« für die Eltern, der sich z. B. aus der emotionalen Befriedigung ergibt, die die Eltern durch ihre Kinder gewinnen, während der »Versorge- oder Investitionsnutzen des Kindes« aus den längerfristigen Vorteilen erwächst, insbesondere aus der Sicherheit, die die Eltern in Notfällen durch die Hilfe ihrer Kinder erwarten. Doch wer die Gleichsetzung von Kindern mit Konsumgütern wie Perserteppichen und Staubsaugern oder mit Investitionsgütern wie Immobilien und Aktien unpassend findet und als zu weit gehend ablehnt, dem fehlt das gedankliche Hilfsmittel, mit dem sich aus der Sicht der Bevölkerungsökonomie das demo-ökonomische Paradoxon auflösen läßt.

Selbst wenn man statt der Gleichheit nur eine Ähnlichkeit zwischen Kindern und ökonomischen Gütern annimmt, muß zur Aufrechterhaltung der ökonomischen Sichtweise doch eine Übereinstimmung in wesentlichen Merkmalen unterstellt werden. Aber auch die Annahme einer weniger strengen Entsprechung wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet. Denn eines der entscheidenden Merkmale des ökonomischen Begriffs des Konsumguts ist, daß das Gut vom Konsumenten »genutzt« bzw. »verbraucht« wird, und daß der Konsument in beliebiger Weise über das Gut verfügen kann, indem er es beispielsweise durch ein anderes ersetzt, verkauft oder auf Grund seiner »Konsumentensouveränität« einfach wegwirft. In unserer Kultur lassen sich Kinder jedoch nicht wie beliebige Gebrauchsgüter wieder loswerden, wenn die Eltern nicht mehr mit ihnen zufrieden sind. Ein Kind ist kein Bild, das sich einfach von der Wand nehmen läßt, wenn es nicht mehr gefällt.

Ein anderer Begriff aus der Bevölkerungsökonomie stellt nicht auf die manifesten Kosten von Kindern im Sinne von tatsächlich entstandenen Ausgaben ab, sondern auf die meist nur vorgestellten, entgangenen Einkommen, mit denen zu rechnen wäre, wenn eine Frau, statt durch Erwerbsarbeit Einkommen zu erzielen, unbezahlte Familienarbeit leisten und Kinder großziehen würde. Diese als »Opportunitätskosten von Kindern« bezeichneten entgangenen Einkommen, die nur in der Vorstellung existieren und deshalb eigentlich nur dann als entgangen zu betrachten sind, wenn sie eine sichere Option gewesen wären, wachsen seit Jahrzehnten im gleichen Maße wie die Realeinkommen und der allgemeine Wohlstand. Die Folge ist, daß Kinder gemessen an den Opportunitätskosten immer unerschwinglicher werden, so daß die Geburtenrate seit Jahrzehnten abnimmt.

Das demo-ökonomische Paradoxon läßt sich anscheinend mit dem Begriff der Opportunitätskosten recht gut verstehen, aber auch hier muß dann eine zusätzliche Regel herangezogen werden, die ein mindestens ebenso unerklärliches Paradoxon in sich birgt wie mit ihr beseitigt werden soll. Bei genauerer Betrachtung bietet der Begriff der Opportunitätskosten nur eine Scheinlösung, denn wenn sich die Menschen tatsächlich nach dem Opportunitätskostenprinzip verhielten, indem sie auf Kinder um so eher verzichteten, je höher das ohne Kinder erzielbare Einkommen ist, dann hieße dies, daß ein höheres Einkommen um seiner selbst willen angestrebt würde und nicht z.B. wegen des Nutzens, den die mit ihm erreichbaren Güter stiften. Wenn dies zuträfe, dann müßte erklärt werden, warum Menschen ihr Einkommen überhaupt zum Erwerb von Gütern ausgeben, anstatt so viel wie möglich davon zu sparen und einkommensteigernd anzulegen. Auch wenn viele Menschen nichts anderes im Sinn zu haben scheinen, als dem Geld nachzujagen und sich tatsächlich so verhalten, als ob »entgangener Gewinn schon Verlust« sei (Robert Spaemann), bleibt für die meisten das Einkommen doch in erster Linie ein Mittel zum Zweck des Gütererwerbs und ist nicht Selbstzweck. Aber auch bei jenen Menschen, für die die Gewinnmaximierung tatsächlich ein Selbstzweck ist - vorausgesetzt, daß es solche Menschen überhaupt gibt - ließe sich das demo-ökonomische Paradoxon mit dem Begriff der Opportunitätskosten nicht einfach auflösen, weil mit diesem Ansatz das Paradoxon nur durch ein noch absurderes Prinzip - nämlich die Gewinnerzielung um ihrer selbst willen - ersetzt würde.

Zu welchen Hilfskonstruktionen man auch greift - ein Rest von Paradoxie bleibt übrig, wenn man rational zu erklären versucht, warum sich Menschen um so weniger Kinder leisten, je mehr sie sich aus rein ökonomischer Sicht auf Grund des steigenden Realeinkommens eigentlich leisten könnten. Bei diesem Sachverhalt handelt es sich um einen Aspekt der geschichtlichen Realität, der sich gegen die üblichen theoretischen Erklärungsversuche der Sozialwissenschaften sperrt, und der auch von der Geschichtswissenschaft noch wenig verstanden wird. Dabei war die Wirtschaftsgeschichte als Teil des Zivilisationsprozesses im 20. Jahrhundert in der Regel so paradox mit der Bevölkerungsgeschichte verbunden, daß ökonomische Prosperität mit einer Abnahme und nicht mit einer Zunahme der Geburtenrate einherging. Es ist nachweisbar, daß ähnliche Zusammenhänge auch in früheren abendländischen Kulturen wirksam gewesen sein müssen, insbesondere in der griechischen und römischen Antike, wie dies durch literarische Zeugnisse aus dieser Zeit belegt wird, so daß wir es hier vielleicht mit einem allgemeinen Charakteristikum geschichtlicher Entwicklungsverläufe zu tun haben. (Eine frühe Schilderung des Geburtenrückgangs in Griechenland stammt von einem griechischen Historiker aus dem 2. Jahrhundert v. Chr.: Polybios, Historien, um 150 v. Chr.).

In der jüngsten Geschichte, insbesondere seit dem Zusammenbruch des Ostblocks, hat der westliche Zivilisationstyp mit seiner erfolgreichen Verbindung von Demokratie und wirtschaftlichem Liberalismus über die westlichen Industrieländer hinaus so stark an Überzeugungskraft gewonnen, daß der demographische Preis der ökonomischen Prosperität, der in den westlichen Industrieländern seit Jahrzehnten bezahlt wird - das sind neben der Schrumpfung der Bevölkerung vor allem die demographische Alterung der Gesellschaft und die hohen Einwanderungen mit ihren Integrationsproblemen -, allmählich aus dem Blick geriet, als ob es sich dabei um einen selbstverständlichen Vorgang handelte, der bei den Zeitzeugen auf Grund seiner Plausibilität gar nicht das Bedürfnis erweckte, verstanden und erklärt zu werden. In dem Maße, wie dieser Entwicklungstyp durch die ökonomische Globalisierung eine weltweite Verbreitung findet, wird das demo-ökonomische Paradoxon zu einer allgemeinen Begleiterscheinung auch der internationalen Bevölkerungsentwicklung, und zwar auch in den Schwellenländern und sogar in den armen Ländern der Dritten Welt. Der im vorangegangenen Kapitel dargestellte intensive Rückgang der Geburtenrate in den Entwicklungsländern ist dafür ein deutliches Indiz.

Das Wechselspiel der demographisch-ökonomischen Entwicklung wirkt sich allerdings in jedem Land auf Grund seiner besonderen, geschichtlichen Bedingungen in verschiedener Weise aus. In Deutschland spielte dabei die Einführung der modernen Sozialversicherung in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle. Die Geburtenrate begann seit jener Epoche abzunehmen, in der durch die Bismarckschen Sozialreformen die Krankenversicherung der Arbeiter (1883), die Unfallversicherung (1884) und die Invaliditäts- und Altersversicherung (1889) als eine öffentlich-rechtlich organisierte Vorsorge auf genossenschaftlicher Grundlage eingeführt wurde. In den folgenden Jahrzehnten wurde das kollektive Sozialversicherungssystem ausgebaut und auf Angestellte, Handwerker und Landwirte ausgedehnt. Auch die versicherten Risiken wurden schrittweise erweitert, z. B. durch Einführung der Hinterbliebenenrenten (1911), durch die Erweiterung des Unfallschutzes und durch die Arbeitslosenversicherung (1927). Ein weiterer wichtiger Schritt war die sogenannte Dynamisierung der Renten durch ihre Kopplung an die wachsenden Einkommen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Seit Einführung der modernen Sozialversicherung ging die Geburtenrate in Deutschland in dem Maße zurück, in dem persönliche Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall oder Tod des Ehepartners, die vor Einführung der Sozialversicherung durch die Familie aufgefangen werden mußten, von der Gesellschaft der Versicherten getragen wurden. Das bedeutet natürlich nicht, daß die Einführung der kollektiven Sozialversicherung der einzige Grund für den Rückgang der Geburtenrate in Deutschland und in anderen Ländern Europas war, aber es ist ein wichtiges Element in einem Bündel von Ursachen.

Diese Interpretation läßt sich durch internationale Vergleiche stützen. In den Entwicklungsländern, in denen die Geburtenrate besonders hoch ist, gibt es keine Sozialversicherungssysteme, die denen in den Industrieländern auch nur entfernt vergleichbar wären. Dort müssen die existentiellen Lebensrisiken auch heute noch großenteils durch die Mitglieder der eigenen Familie aufgefangen werden. So lange eigene Kinder in den meist kleinbäuerlichen Familienbetrieben als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft unentbehrlich bleiben, wird das internationale Gefälle der Geburtenraten den internationalen Versorgungsunterschieden zwischen den familienbasierten und den kollektivorganisierten sozialen Versorgungssystemen ähneln.

Abweichungen von dem nun schon seit mehr als hundert Jahren andauernden stetigen Abnahmetrend der Geburtenrate in Deutschland gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur durch drei historische Einschnitte: durch die Geburtenausfälle im Ersten Weltkrieg, in der Weltwirtschaftskrise von 1932 und im Zweiten Weltkrieg. Auch nach der Wiedervereinigung gingen die Geburtenrate und die Geburtenzahl in den neuen Bundesländern ähnlich drastisch zurück wie bei diesen drei Ereignissen. Aber während die Rückgänge durch die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise jeweils schon nach fünf Jahren wieder durch einen raschen Anstieg auf das vorige Niveau des langfristigen Trends der Geburtenrate ausgeglichen wurden, lag die Geburtenrate in den neuen Bundesländern fast ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung noch immer um 23% unter dem ohnehin niedrigen Niveau in den alten: Die Zahl der Lebendgeborenen pro Frau betrug 1998 in den neuen Bundesländern 1,09, in den alten 1,41 und in Deutschland insgesamt 1,36.

Der Grund für den im Vergleich zu den früheren historischen Einschnitten wesentlich langsameren Wiederanstieg der Geburtenrate in den neuen Bundesländern nach 1990 liegt nicht in der längeren Dauer der verursachenden Krise. Diese Erklärung trifft nicht den entscheidenden Punkt, zumal der gesellschaftliche und wirtschaftliche Systemwechsel in den neuen Bundesländern für die große Mehrheit der Bevölkerung im Gegensatz zu den beiden Weltkriegen und zur Weltwirtschaftskrise keine Verschlechterung, sondern eine wesentliche Verbesserung der Lebensbedingungen bedeutete. Ein wichtiger Faktor für die nur langsame Angleichung der Geburtenrate an das Niveau in den alten Bundesländern sind nicht die Kostensteigerungen für Kinder im Sinne von Ausgaben, sondern der Anstieg der ökonomischen Opportunitätskosten der Kinder, die von einem parallelen Anstieg der biographischen Opportunitätskosten und Festlegungsrisiken begleitet wurden. Dabei ist der Begriff der biographischen Opportunitätskosten eine Verallgemeinerung des ökonomischen Ansatzes: Während es in der früheren DDR nicht viele Möglichkeiten gab, sein Leben außerhalb der durch die staatlichen Vorgaben gesetzten biographischen Ablaufschemata zu gestalten, hatten nach dem Fall der Mauer viele Frauen und Männer erstmals in ihrem Leben die Möglichkeit, zwischen neuen biographischen Alternativen zu wählen. Um sich insbesondere die beruflichen Optionen offen zu halten - was nur möglich ist, wenn die Menschen regional und sozial mobil bleiben -, wurden biographische Festlegungen durch Eheschließungen und Kindgeburten von vielen Menschen aufgeschoben oder ganz vermieden. Die Eheschließungsrate nahm daher in den neuen Bundesländern nach 1989 ähnlich stark ab wie die Geburtenrate.

Daß die Geburten- und Eheschließungsrate nach der Wiedervereinigung abnahm anstatt anzusteigen, darf also nicht einfach als Ausdruck von Zukunftsangst, Unsicherheit und negativen Zukunftserwartungen interpretiert werden, meist trifft sogar das Gegenteil zu: Um die neue Freiheit und die mit ihr verfbundenen Optionen nicht wieder zu verlieren, wurden langfristige biographische Festlegungen durch Kinder aufgeschoben oder vermieden. Frauen, die einen Arbeitsplatz hatten, stellten Kinderwünsche zurück, um den Arbeitsplatz zu behalten, während Frauen ohne Arbeit auf Kinder verzichteten, um ihre Chancen für eine Erwerbstätigkeit zu erhöhen. Da aber auch nach dem drastischen Rückgang der Geburtenrate in der früheren DDR von 1,52 (1990) auf 1,09 (1998) die weitaus meisten Frauen - nämlich über zwei Drittel - erwerbstätig und nur weniger als ein Drittel arbeitslos waren, kann schon deshalb die Arbeitslosigkeit bei der großen Mehrheit der Bevölkerung nicht der Grund für den drastischen Rückgang der Geburtenrate gewesen sein, wie das oft behauptet wurde. Die umgekehrte Interpretation ist mindestens genauso plausibel: Gerade weil es bei den meisten Frauen und Männern durch die Wiedervereinigung wirtschaftlich deutlich nach oben ging, war es mit der Geburtenrate umgekehrt. Betrugen die ökonomischen Opportunitätskosten von Kindern in der früheren DDR pro Monat z.B. 800 Ost-Mark (= durchschnittliches Einkommen der Frauen), so stiegen sie nach der Wiedervereinigung auf 2000,- oder 3000,- DM. Selbst bei einem Umtauschkurs von 1: 1 bedeutet das eine Erhöhung der ökonomischen Opportunitätskosten von Kindern um das Doppelte und mehr.

Es ist einfacher, bestimmte vorübergehende Abweichungen der Geburtenrate vom langfristigen Trend nach unten zu interpretieren als die wenigen Abweichungen vom Trend nach oben zu erklären. Einen deutlichen Sprung nach oben gab es in der früheren Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg nur einmal: Die Geburtenrate stieg im sogenannten Nachkriegs-Babyboom von 1955 bis 1964 von 2,1 auf 2,5 Lebendgeborene pro Frau - aus heutiger Sicht ein ziemlich hoher Wert. In der früheren DDR vetlief die Entwicklung ähnlich. In Deutschland hatte die Geburtenrate schon zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg meist unter 2 Kindern pro Frau gelegen, in der alten Bundesrepublik hatte sie sich nach 1975 auf dem Niveau von 1,3 bis 1,4 eingependelt. Was ist der Grund für die einmalige Abweichung nach oben in der Zeit des Nachkriegs- Babybooms von 1955 bis 1964?

In der Literatur wird diese Sonderbewegung mit der wirtschaftlichen Erholung in der Zeit des »Wirtschaftswunders« in Verbindung gebracht. Eine zur Konsumwelle parallele Geburtenwelle, in der die im Krieg aufgeschobenen Geburten ebenso wie der lange entbehrte Konsum nachgeholt wurden, ist eine so einleuchtende Erklärung, daß sich weitere Fragen zu erübrigen scheinen. Die Dinge sind jedoch komplizierter und interessanter.

CFR und TFR

Fragt man nach Gründen für die Änderungen des Fortpflanzungsverhaltens, so liegt es nahe, nicht nur die Besonderheiten der Periode zu betrachten, in der die Geburtenrate nach oben schnellte, sondern auch die vorausgegangene Epoche in die Betrachtung mit einzubeziehen, in der das generative Verhalten der betreffenden Frauenjahrgänge innerhalb ihres Erziehungs- und Entwicklungsprozesses geprägt wurde. Die Unterscheidung von Frauenjahrgängen nach ihren jeweiligen Sozialisationsperioden erfordert allerdings eine Berechnung der Geburtenzahl pro Frau getrennt nach einzelnen Frauenjahrgängen statt nur getrennt nach Kalenderjahren. Im Schaubild sind die Ergebnisse der beiden Berechnungsarten in Form von zwei Kurven dargestellt. Die eine Kurve ordnet die Kinderzahl pro Frau dem Kalenderjahr zu, in dem die Kinder zur Welt kamen. Dieses Verfahren wird als Perioden- oder als Querschnittsanalyse bezeichnet (= periodenbezogene Geburtenrate, im Englischen »Total Fertility Rate«, TFR). Die andere Kurve ordnet die Kinderzahl pro Frau dem Jahrgang der Mutter zu, deren Geburtsjahr auf der oberen waagerechten Achse ablesbar ist. Dieses Verfahren wird als Kohorten- oder Längsschnittsanalyse bezeichnet ( = jahrgangsbezogene Geburtenrate, im Englischen »Cohort Fertility Rate«, CFR). Die Markierungen der oberen Achse sind um das mittlere Gebäralter (heute rd. 30 Jahre) nach links verschoben, so daß das Geburtsjahr der Frauen (ungefähr) vertikal über dem Kalenderjahr liegt, in dem der betreffende Jahrgang die Kinder im Mittel zur Welt brachte. (Bei der Perioden- oder Querschnittsanalyse wird die Kinderzahl pro Frau als Querschnitt für die in einem Kalenderjahr gleichzeitig lebenden Frauenjahrgänge im Alter von 15 bis 45 [= gebärfähiges Alter] gebildet. indem die Geburtenzahlen auf jeweils 1000 Frauen im Alter 15, 16, ..., 45 berechnet und anschließend addiert werden. Die Summe ergibt die Geburtenzahl pro 1000 Frauen bzw, pro Frau für einen fiktiven Durchschnittsjahrgang, der die 31 gleichzeitig lebenden Jahrgänge repräsentiert. Im Unterschied dazu werden die Geburtenzahlen auf 1000 Frauen im Alter 15, 16, ..., 45 bei den Längsschnitt- oder Kohortenannalyse für einen bestimmten Jahrgang im Zeitverlauf addiert). Das mittlere Gebäralter differiert allerdings bei den einzelnen Jahrgängen, bei den meisten liegt es im Intervall von 25-30. Deshalb läßt sich der Sachverhalt mit einer einheitlichen Verschiebung um 30 Jahre nicht genau wiedergeben. Eine exaktere Darstellung ist möglich, wenn die obere Achse im Schaubild nicht wie hier linear, sondern nicht linear unterteilt wird, was jedoch andere darstellerische Nachteile zur Folge hätte.

Schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Geburtenrate der verschiedenen Frauenjahrgänge ständig abgenommen:

Generation18605,0 Kinder pro Frau
Generation 18744,0 Kinder pro Frau
Generation18813,0 Kinder pro Frau
Generation19042,0 Kinder pro Frau
Generation19201,9 Kinder pro Frau(Zwischenminmum)
Generation19322,2 Kinder pro Frau(Maximum im 20. Jh.) **
Generation19651,5 Kinder pro Frau

Die Aufstellung zeigt den langfristigen Abnahmetrend der Geburtenhäufigkeit im 19. und 20. Jahrhundert: In Deutschland hatte seit dem Jahrgang von 1856 (5,2 Kinder) jeder Frauenjahrgang weniger Kinder als der jeweils vorangegangene. Beim Jahrgang 1904 wurde zum ersten Mal die Zahl von zwei Lebendgeborenen pro Frau erreicht und dann unterschritten, sie sank bis zum Jahrgang 1920 auf ein Zwischenminimum (1,9 Kinder). Darauf folgte der im 20. Jahrhundert einmalige, vorübergehende Anstieg, der mit den Jahrgängen 1926-'28 (1,9-2,1 Kinder) begann und bis zum Jahrgang von 1932 (2,2 Kinder) anhielt. Danach setzte sich der trendmäßige Rückgang fort. Bis zum Jahrgang von 1941 (1,9 Kinder) lag die generationenbezogene Geburtenrate noch über den niedrigen Trendwerten der zwanzig Jahre früher geborenen Frauen der Jahrgänge 1920-25, erst bei den nach 1941 Geborenen arunter.

Die Analyse zeigt, daß der Anstieg der absoluten Geburtenzahlen nach dem Zweiten Weltkrieg in der Periode des Wirtschaftswunders - der sogenannte »Nachkriegs-Babyboom« -von jenen Geburtsjahrgängen getragen wurde, bei denen die Zahl der Lebendgeborenen pro Frau vom langfristigen Abnahmetrend nach oben abwich (Jahrgänge 1926 bis 1941). Addiert man zum Geburtsjahr der Frauengeneration 1926 das mittlere Gebäralter dieses Jahrgangs (= 29 Jahre) und zum Geburtsjahr der Generation 1941 das (niedrigere) mittlere Gebäralter dieses Jahrgangs (= 25 Jahre), so erhält man 1955 und 1966 als Anfangs- und Endpunkte für die Hauptphase des sogenannten »Nachkriegs-Babybooms«. In dieser Periode nahm die absolute Geburtenzahl in der früheren Bundesrepublik von 820 Tsd. (1955) auf 1050 Tsd. (1966) zu.

Die Generationen, die in der Zeit des »Wirtschaftswunders« mit ihrem generativen Verhalten die Geburtenwelle hervorbrachten, wurden also schon in der Vorkriegszeit sozialisiert. Ihr Verhalten wurde nicht in der Zeit des »Wirtschaftswunders«, sondern durch die Erziehungsideale der Vorkriegszeit und die Wertvorstellungen ihrer Vorbilder und Eltern geprägt, die zum größten Teil schon vor dem Ersten Weltkrieg geboren wurden. Der sogenannte Nachkriegs-Babyboom beruht somit auf einem Typ des generativen Verhaltens, dessen Prägung vor dem Zweiten Weltkrieg lag. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser Verhaltenstyp von Menschen beeinflußt, deren Persönlichkeitsentwicklung schon vor dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen war. Es ist daher problematisch, wenn der sogenannte »Nachkriegs-Babyboom« ursächlich in erster Linie mit den typischen Erscheinungsformen der Wirtschaftswunderzeit, insbesondere mit der sogenannten Konsumwelle, in Verbindung gebracht wird.“ (Zitat-Ende).


* Berechnet man die Geburtenzahl pro Frau für die Kalenderjahre statt für die Frauengeneration, dann beträgt das Maximu 2,5 statt 2,2. Die Differenz beruht auf auf den methodischen Unterschieden zwischen der generationenbezogenen Analyse (= Längsschnittanalyse) und der kalenderbezogenen Analyse (= Querschnittanalyse).

ä 4. Wirtschaftliche Prosperität und demographischer Niedergang (S. 53-63):

„Die Prägekraft der Leitbilder der Persönlichkeitentwicklung, die aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammten, war nur von kurzer Dauer, wie der lediglich vorübergehende Anstieg der Geburtenrate der 1960er Jahre zeigte. Auch die politische Bewegung der 1968er-Generation wirkte sich weniger stark auf das generative Verhalten aus, als es auf den ersten Blick scheint. Man würde die Ideen zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Einzelnen, die Ziele der Emanzipation, insbesondere der Frauen, und die sogenannte antiautoritäre Grundhaltung in ihrem Einfluß auf die Prozesse der Familienbildung überschätzen, wenn man als Maß für die Wirkung dieser Ideologien den Rückgang der Geburtenrate heranzöge.

Bei einer geanueren Analyse des Geburtenrückgangs muß die Geburtenrate nach Ersten Kinder, Zweiten Kindern, Dritten Kindern und Vierten und weiteren Kindern aufgegliedert werden. Dann zeigt sich, daß der Wandel des generativen Verhaltens bei den Vierten Kindern (und den Kindern mit noch höherer sogenannter »Ordnungsnummer der Geburt«) begann und sich anschließend stufenweise auf die Häufigkeit der Dritten, der Zweiten und zuletzt der Ersten Kinder ausbreitete. .... Die Mitglieder der etwa fünf Geburtsjahrgänge innerhalb der 1968er-Generation standen zur Mitte dieser hauptwirkungsperiode, nämlich im Jahr 1968, zwar in dem für die Höhe der Geburtenzahl wichtigen Alter von 25 bis 30, aber da die Abnahme der Geburtenzahl in dieser Periode vor allem auf dem Wegfall der Vierten und Dritten Kinder beruhte, deren prozentualer Rückgang von einer Generation zur nächsten fünf bis zehn mal so groß war wie der der prozentuale Rückgang der Zweiten und Ersten Kinder, hätten die Ideen der 1968er-Generation - wenn sie wirklich die Ursache des Verhaltenswamdels gewesen wären - vor allem bei jenen Bevölkerungsgruppen auf Zustimmung stoßen und dadurch das generative Verhalten ursächlich verändern müssen, die bereits Familien mit überdurchschnittlich vielen Kindern, nämlich mit drei oder mehr, gegründet hatten - eine wenig wahrscheinliche Schlußfolgerung. Denn dies würde bedeuten, daß sich ausgerechnet die kinderreichen Eltern an den Studenten der 1968er-Generation orientiert hätten, die ja ihrerseits nicht bereits zwei oder drei Kinder hatten, was die Voraussetzung dafür gewesen wäre, daß bei ihnen der Wegfall der Dritten und Vierten Kinder als Vorbild für die anderen hätte dienen können. Im übrigen war das zahlenmäßige Gewicht der 1968er-Generation ohnehin bei weitem zu gering, um den Rückgang der Geburtenzahl an der Größenordnung von über Hunderttausend selbst bewirkt haben zu können.

Die Frage besteht also darin, warum bestimmte Werte in bestimmten Zeiten zur Geltung kommen und in anderen nicht. Unter welchen Lebensbedingungen die Menschen sich zu Persönlichkeiten entwickeln, die frei genug sind, den von ihnen anerkannten Werten durch ihr selbstbestimmtes Handeln zum Durchbruch zu verhelfen, ist eine ebenso politisch-praktische wie philosophische Frage. Versucht man sie von der praktischen Seite aus zu beantworten, indem man die Forschungsergebnisse international vergleichender Studien über den Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen und der demographischen Entwicklung eines Landes heranzieht, dann rückt der paradoxe, gegenläufige Zusammenhang zwischen der Höhe des Pro-Kopf-Einkommens bzw. des allgemeinen Entwicklungsstandes eines Landes und der Geburtenrate erneut ins Blickfeld. Was sind die tieferen Ursachen dieser Paradoxie?

Für alle entwickelten Gesellschaften ist kennzeichnend, daß sich - unabhängig von ihrer politischen Verfassung, ihrer wirtschaftlichen Organisation und ihrer kulturellen und geschichtlichen Tradition - die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen an einem bestimmten, durchgreifend wirksamen Handlungsprinzip ausrichten, das man als konkurrenzorientiertes Handlungsprinzip bezeichnen kann, und das nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in den meisten anderen Lebensbereichen die Orientierungen der Menschen entscheidend bestimmt. Es ist jenes Prinzip, das seit dem 19. Jahrhundert durch die gewaltigen Erfolge der biologischen Evolutionstheorie Darwins etwas vorschnell und überstürzt auch als Regulativ für die Entwicklung der gesellschaftliche Lebensbedingungen anerkannt wurde. Das Prinzip des »survival of the fittest« wurde seitdem so stark verinnerlicht, daß es als handlungsleitende Idee für die Praxis menschlichen Verhaltens kaum noch in Frage gestellt wird. Es bestehen zwar immer noch konkurrenzfreie Handlungsräume, beispielsweise unter den Mitgliedern kirchlicher und gemeinnütziger Gemeinschaften, aber diese Beispiele sind ebenso wie die persönlichen Beziehungen zwischen den Mitgliedern intakter Familien und zwischen Freunden eher als Ausnahmen von der allgemeinen Regel anzusehen.

Gesellschaften, in denen das konkurrenzorientierte Handlungsprinzip alle anderen Prinzipien in den Hintergrund drängt, indem die positive Seite des Konkurrenzprinzips - nämlich das Konkurrieren im Wettbewerb um eine optimale Kooperation bei der Verwirklichung gemeinsamer Ziele - nicht mehr als wesentlich betrachtet wird, nehmen es nicht nur hin, sondern sie fördern es, daß die Gesetze der Arbeitswelt die übrigen Lebensbereiche dominieren. Die Überordnung des Ziels der Maximierung des Wohlstands über alle anderen Zwecke, dem sich in unserer Demokratie alle politischen Parteien verpflichtet haben, bedeutet, daß das Ziel der maximalen Produktivitätssteigerung mit dem Mittel der permanenten Umstrukturierung der Volkswirtschaft innerhalb des marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmens Vorrang hat, wobei die sich daraus ergebenden Folgen für die Entwicklung der Familien in Kauf genommen werden. Die sich aus der fortwährenden Umstrukturierung ergebende Dynamik wirkt sich auf den Arbeitsmärkten in ständigen Arbeitsplatzumbesetzungen aus. So wird z.B. in Deutschland pro Jahr jeder vierte Arbeitsplatz durch zwischenbetriebliche Arbeitsplatzwechsel neu besetzt. Bei der millionenfachen neuen Zuordnung von Arbeitskräften zu Arbeitsplätzen, die in der Hochkonjunktur stets besonders intensiv ist, verlangt das konkurrenzorientierte Handlungsprinzip, das auch mit dem rhetorisch angenehmeren Begriff als »Wettbewerbsprinzip« bezeichnet wird, von den Arbeitskräften biographische Anpassungsleistungen in Form von Tätigkeitswechseln, Ortswechseln und Berufswechseln, die oft nur erbracht werden können, wenn geplante Partnerbindungen, Eheschließungen und Kindgeburten aufgeschoben oder die entsprechenden Lebensziele gar nicht erst angestrebt werden. Die wirtschaftlichen Tugenden der Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und Mobilität, auf denen unser wirtschaftlicher Wohlstand beruht, stehen den für die Gründung von Familien wichtigen Tugenden und den Zielen der biographischen Planungssicherheit und Voraussicht diametral entgegen, weil sie langfristige Bindung an Menschen erschweren und die Übernahme einer meist lebenslangen Verantwortung für den Lebenspartner und für Kinder oftganz ausschließen.

Zur Sicherung des für die volkswirtschaftliche Produktivitätssteigerung unabdingbaren, permanenten Strukturwandels haben sich die Bundesrepublik Deutschland und nach ihrem Vorbild auch die übrigen Staaten der Europäischen Union eine Art zweite Verfassung gegeben - das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen -, das die eigentliche Magna Charta der modernen Wirtschaftsgesellschaft bildet. Das Gesetz ist seiner Zielsetzung nach primär gegen Wettbewerbsbeschränkungen gerichtet und hat eine segensreiche Wirkung, aber wegen seiner Nebenwirkungen, könnte es auch als eine Art Anti-Familiengesetz bezeichnet werden, gegen dessen destruktive Auswirkungen mit den gesetzgeberischen Maßnahmen der Familienpolitik nicht viel auszurichten ist: Mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen soll die Dynamik des wirtschaftlichen Strukturwandels gesichert werden, wobei die Menschen als Produktionsfaktoren fungieren, die flexibel auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes reagieren und bei regionalen oder branchenmäßigen Arbeitsmarktungleichgewichten durch ihre berufliche und räumliche Mobilität den Ausgleich des Angebots und der Nachfrage nach Arbeitskräften sicherstellen sollen.

In ihrem Streben nach hoher Produktivität sind die Menschen an ihren Arbeitsplätzen als »Humankapital« der Konkurrenz mit ihren eigenen Schöpfungen, den Maschinen ausgesetzt, deren Produktivität sie mit ihrer Kreativität beständig steigern. Auf diese Weise steht der Mensch in einer Art Wettbewerb mit seinen ureigensten Fähigkeiten und gerät in einen Widerspruch zu sich selbst. Man kann den Typ unserer modernen Wirtschaftsgesellschaft nicht treffender charakterisieren als mit den Worten des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt, der sich einmal in aller Offenheit als »Aufsichtsratsvorsitzender der Aktiengesellschaft Bundesrepublik Deutschland« bezeichnete - ohne dabei über die tiefe Wahrheit seiner Worte zu erschrecken.

Die Geburtenrate hat in der früheren Bundesrepublik seit Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts das für die Bestandserhaltung (ohne Einwanderungen) erforderliche Niveau von 2,1 Lebendgeborenen pro Frau permanent unterschritten. In den meisten anderen westlichen Industrieländern verlief die Entwicklung, zeitversetzt, ähnlich. Trotzdem zeigte sich bisher noch kein politisch wirksames Bedürfnis, den wohlstandsverbürgenden Mechanismus der Konkurrenzgesellschaften in Frage zu stellen. Die alten, liberalen Vorstellungen über die Voraussetzungen der ökonomischen Prosperität haben sich bisher nicht gewandelt, ganz im Gegenteil: Das Konkurrenz- und Wettbewerbsprinzip stieg im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft in allen Gesellschaftssystemen zu einer weltweit anerkannten Leitidee auf.

Dabei hat sich inzwischen ein radikaler Wandel der bisherigen Entwicklungsverläufe vollzogen: Die Voraussetzung aller Entwicklungen - nämlich die kulturelle Basis der Gesellschaften, auf der sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen vollziehen - ist selbst starken Veränderungen unterworfen und zum Gegenstand von Entwicklung bzw. zum Objekt des Geschehens geworden. Was noch in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts als Gipfel modernster wirtschaftspolitischer Errungenschaften galt - in der Bundesrepublik Deutschland gehörte dazu in erster Linie das »Wachstums- und Stabilitätsgesetz« -, scheint aus heutiger Sicht von einem naiv anmutenden, geradezu obsoleten Reformoptimismus geprägt. Mit dem Wachstums- und Stabilitätsgesetz sollte die Stabilität der ökonomischen Entwicklung gegen Konjunktur- und Wachstumskrisen gesichert und ein dauerhaftes, sogenanntes gleichgewichtiges Wirtschaftswachstum erreicht werden. Daß aber die demographischen Stabilitätsbedingungen der wirtschaftlichen Entwicklung einmal zu einem gravierenden Problem werden könnten, war damals offensichtlich noch unvorstellbar. Mit dem (immer noch gültigen) Wachstums- und Stabilitätsgesetz sollen alle wichtigen volkswirtschaftlichen Zielgrößen wie Vollbeschäftigung, Preisstabilität und außenwirtschaftliches Gleichgewicht in Einklang gebracht werden, aber die diesen Zielen vorgelagerte Voraussetzung einer nachhaltigen Bevölkerungsentwicklung wird in diesem Gesetz nicht einmal erwähnt. Beruhte dies auf Naivität oder auf politischer Kurzsichtigkeit?  Man nahm wahrscheinlich an, daß sich die demographischen Stabilitätsbedingungen des wirtschaftlichen Erfolgs von selbst erfüllen.

Aus heutiger Sicht müßte das sogenannte »magische« Zieldreieck, bestehend aus Vollbeschäftigung, Preisstabilität und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht, durch das Ziel der demographischen Nachhaltigkeit erweitert werden. Eine Diskussion über eine solche Erweiterung auf breitem politischem Fundament gibt es jedoch noch nicht einmal in Ansätzen. Die wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten (Renten- und Gesundheitsreform) und die demographischen Reformdiskussionen (Familienpolitik, Staatsbürgerschaftsrecht, Einwanderungs- und Integrationspolitik) werden in der Regel in getrennt voneinander arbeitenden Sachverständigengremien und Kommissionen diskutiert, so als ob sich auch die wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit in verschiedene ressortspezifische Welten aufteilen ließe.

Im Hinblick auf den realen Problemdruck ist die ressortspezifische Zerstückelung des Denkens, Planens und Handelns ein Anachronismus, dem etwas Vormodernes anhaftet. Die diesbezügliche Rückständigkeit birgt große Gefahren, denn die spezifischen Probleme der Industrieländer sind im Zuge der ökonomischen Globalisierung zu allgemeinen Entwicklungsproblemen der Welt geworden, die in allen Kontinenten und Kulturen auftreten. Wie in Kapitel 2 gezeigt, vollzieht sich parallel zur Globalisierung der volkwirtschaftlichen Standort- und der betriebswirtschaftlichen Produktionsbedingungen eine Globalisierung der demographischen Reproduktionsbedingungen in nahezu allen Populationen der Welt.

Versucht man, die Bevölkerungsentwicklung der Industrieländer und das demographisch-ökonomische Paradoxon zu erklären, so greifen die entsprechenden soziologischen, ökonomischen oder biologischen Ansätze zu kurz. Sie können zwar wichtige Einzelaspekte der demographischen Phänomene erfassen, aber eine bloße Addition der einzelnen Erklärungsbeiträge ergibt naturgemäß keine schlüssige Theorie.

Die klassische Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie des 18. Jahrhunderts hat z.B. ihre übergreifenden Ziele stets betont und auch ihre bevölkerungstheoretischen Ansätze noch im Rahmen übergeordneter Sichtweisen entwickelt. Dies gilt vor allem für die englische Nationalökonomie bzw. für die »politische Ökonomie«. Ihre Grundüberzeugungen wurden in einprägsamen Metaphern veranschaulicht, z.B. in der »Bienenfabel« Mandevilles und in der Metapher der »unsichtbaren Hand« bei Adam Smith. Beide vermitteln die gleiche Botschaft: Wirtschaftlicher Eigennutz ist gemeinwohlfördernd.

Ob diese Botschaft immer noch trägt, gerät immer mehr in Zweifel, weil die demographische Basis der ökonomisch prosperierenden Länder durch ihre niedrige Geburtenrate schwindet, und zwar als Folge von Prosperität, die sich eben dadurch selbst in Frage stellt.

Die Voraussetzung der Bienenfabel Mandevilles ist die Existenz von Bienen und von Blumen und Blüten als deren Lebensgrundlage. In die gesellschaftliche Realität übersetzt heißt das: Die Existenz von Familien muß vorausgesetzt werden, damit das wirtschaftliche und soziale Leben überhaupt stattfinden und prosperieren kann. Wenn aber ökonomischer Wohlstand seine eigene Voraussetzung schwächt, ist weder die Metapher der Bienenfabel noch die Botschaft von Adam Smith bezüglich einer durch die »unsichtbare Hand« prästabilisierten Harmonie in der Konkurrenz egoistischer Interessen realistisch. Der Egoismus hat zwar, wie Adam Smith zu Recht betont, zweifellos zahlreiche unintendierte gemeinwohlfördernde Nebenwirkungen, doch wird heute übersehen, daß seine Hauptwirkung gemeinwohlzerstörend ist.

Friedrich List hat den Antagonismus von Demographie und Ökonomie herausgearbeitet, indem er auf die Tatsache abstellte, daß die Aufzucht von Menschen im Gegensatz zu der von Nutznießern nicht in die Berechnung der von einer Volkswirtsxchaft erzeugten Güter und Dienstleistungen eingeht und bis heute in der Volkseinkommensberechnung unberücksichtigt bleibt: »wer Schweine erzieht, ist ... ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft ..., ein Newton, ein Watt, ein Kepler sind nicht so produktiv als ein Esel, ein Pferd oder ein Pflugtier ....« (Friedrich List, Das nationale System der politischen Ökonomie, 1841, S. 231).

Die ökonomische Aufwertung und die realistische Bewertung der Leistungen der Familien sind zwar eine notwendige Voraussetzung für die Lösung der demographisch bedingten gesellschaftlichen Probleme, aber ihre Erfüllung durch gerechtere familienpolitische Leistungen ist nicht hinreichend für die Lösung, weil die Menschen nicht nur aus ökonomischen, sondern zunehmend aus anderen Gründen wenig Kinder haben und zu einem immer größeren Prozentsatz lebenslang kinderlos bleiben.“ (Zitat-Ende).

ä 5. Grenzen der Familienpolitik im Hinblick auf die Logik biographischer Entscheidungen (S. 64-82):

„Faßt man die Befunde zusammen, so ergibt sich folgendes Fazit: Der Hauptgrund für die niedrige Geburtenzahl pro Frau ist der hohe Anteil von rd. einem Drittel zeitlebens kinderlos bleibender Frauen bei den jüngeren Jahrgängen ab 1965. Innerhalb der Gruppe der Frauen mit Kindern hat die Geburtenrate jedoch den idealen Wert von rd. 2 Kindern pro Frau. Die Polarisierung der Bevölkerung nach den beiden Gruppen mit und ohne Kinder ist in Deutschland besonders hoch. .... Der Trend zur lebenslangen Kinderlosigkeit wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit fortsetzen. Der Anteil der Frauen an einem Jahrgang, die zeitlebens ein Kind haben, wird weiter abnehmen, der Anteil der Frauen mit zwei Kindern relativ stabil bleiben und der Anteil der Frauen mit drei Kindern wird stagnieren. Dagegen wird sich der Anteil der Frauen mit vier und mehr Kindern - bedingt durch die große Zahl von Zugewanderten mit höherer Geburtenrate - leicht erhöhen.

Durch die Dynamik ihrer Volkswirtschaften haben die westlichen Industrieländer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine beispiellose Steigerung des Wohlstands erfahren. Parallel dazu hat sich das biographische Universum der Individuen als Sinnbild für die Größe der biographischen Entscheidungsfreiheit stark erweitert. Die Expansion des biographischen Entscheidungsraums beruhte sowohl auf der Zunahme der Entscheidungsfreiheit durch das Auftreten neuer biographischer Alternativen und Optionen als auch auf dem Wegfall von handlungsbegrenzenden Normen und Tabus. An die Stelle der kulturellen und sozialen Überbestimmtheit der Biographien früherer Zeiten trat die Unterbestimmtheit moderner Lebensläufe. Der biographische Freiheitszuwachs bedeutete zugleich eine starke Erhöhung des Risikos langfristiger biographischer Festlegungen. Ob und gegebenenfalls wie viele Kinder jemand hat, bestimmt sich in modernen Gesellschaften nicht aus biologischen Kausalitäten und ebenso wenig durch verbindliche gesellschaftliche Verhaltensmuster, sondern durch die Rationalität und Logik biographischer Entwicklungsverläufe und deren Festlegungsrisiken im Hinblick auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes.

Der Lebenslauf ist in der modernen Gesellschaft zum Projekt des Einzelnen geworden, dessen Erfolg und Mißerfolg dem Individuum und nicht der Gesellschaft oder der Herkunftsfamilie zugerechnet wird. Die hohen Anforderungen an die Flexibilität und Mobilität der Individuen in modernen Wirtschaftsgesellschaften stehen der Übernahme einer langfristigen Verantwortung für den Lebenspartner und für Kinder diametral entgegen. Der wirtschaftliche Erfolg unserer Gesellschaft wird in zunehmendem Maß durch die Instabilität der Familien, den Rückgang der Geburtenrate und die damit verbundene demographische Alterung der Gesellschaft erkauft. Die Alterung hat so gravierende Rückwirkungen auf die Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und die von ihr abhängige internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, daß die bisher gewohnte ökonomische Prosperität durch die demographische Entwicklung langfristig gefährdet erscheint.“ (Zitat-Ende).

ä 6. Zweck, Verfahren und Genauigkeit demographischer Vorausberechnungen (S. 83-96):

„Um eine hohe Treffsicherheit zu erreichen, muß bei der Festlegung der Annahmen über die Verhaltensweisen der Menschen in der Zukunft, z.B. über das Fortpflanzungsverhalten, immer die Entwicklung in der Vergangenheit berücksichtigt werden. Insofern entsteht der substantielle Gehalt jeder Prognose stets aus einer Analyse der tatsächlichen Entwicklung in der Vergangenheit. Die Prognoseaussagen beschreiben zwar etwas prinzipiell Unbekanntes in der Zukunft und scheinen sich daher von den Aussagen über die Vergangenheit grundlegend zu unterscheiden, aber dieser Unterschied ist weniger gravierend, als es den Anschein hat, weil die Prognoseaussagen, soweit sie inhaltlich bedeutsam sind, zur Gänze aus den substantiellen Prämissen abgeleitet werden, die ihrerseits stets auf Erkenntnissen über die faktische Entwicklung in der Vergangenheit beruhen. Wenn die zugrunde gelegten Annahmen zutreffen oder nahe an der Realität liegen, treffen auch die Prognosen exakt oder mit großer Genauigkeit ein. Die Qualität einer Prognose ist daher stets identisch mit der Qualität ihrer Annahmen.

Ein Urteil über die künftige demographische Entwicklung sollte deshalb ein Urteil über die Annahmen einschließen, auf denen die Prognose beruht. Das Urteil über die Annahmen kann positiv sein, wenn man die Wahrscheinlichkeit, mit der sie zutreffen, als hoch einschätzt, und gleichzeitig kann die Bewertung der prognostizierten demographischen Entwicklung selbst, die sich aus den Annahmen ergibt, wegen ihrer Folgen für die Wirtschaft und Gesellschaft negativ ausfallen. Die Größe der Differenz zwischen den beiden Bewertungen zeigt an, wie umfangreich das Aufgabenspektrum der Politik ist, wenn die vorausberechnete, negativ beurteilte Entwicklung vermieden werden soll. Dabei müssen die Folgen der demographischen Entwicklung nach verschiedenen Auswirkungsbereichen differenziert werden, denn mit jeder Entwicklung sind in der Regel sowohl positive als auch negative Erscheinungen verbunden. Beschränkt man sich auf die schon heute offen zutage liegenden, rein quantitativen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft, so sind folgende Konsequenzen nicht mehr zu übersehen:

  1. Die Bevölkerungsschrumpfung und Alterung der einheimischen Bevölkerung ist in Deutschland seit Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts im Gange. Sie beschleunigt sich durch das wachsende Geburtendefizit und läßt sich auch bei optimistischen Annahmen über einen möglichen Wiederanstieg der Geburtenrate auf Jahrzehnte nicht mehr stoppen, wobei der Rückgang in den neuen Bundesländern besonders gravierend ist.
  2. Auf dem Arbeitsmarkt geht die Zahl der jüngeren Arbeitskräfte stark zurück. Z. Zt. nimmt die Zahl der 20-bis40jährigen um 500 Tsd. pro Jahr ab, während die Zahl der 40-bis-unter60jährigen zunächst noch bis 2010 wächst, bevor dann auch sie kontinuierlich schrumpft. Die Abnahme der Erwerbspersonenzahl kann nur noch für wenige Jahre mit einem Abbau der Arbeitslosigkeit oder mit einer Annäherung der Frauenerwerbsquote an das Niveau der Männer aufgefangen werden. Ab 2010 sind auch diese noch theoretisch vorhandenen Reserven erschöpft. Danach wäre der Rückgang nur noch durch exorbitant hohe Einwanderungen zu stoppen, die jedoch mehr Probleme mit sich bringen als lösen würden.
  3. Auf dem Gütermarkt ergibt sich aus der demographischen Alterung und aus der abnehmenden Zahl der Konsumenten eine starke Veränderung der Nachfragestruktur und eine Reduzierung des Wachstums der Gesamtnachfrage, durch die das Wirtschaftswachstum gedämpft wird.
  4. Das System der sozialen Sicherung (Renten-, gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung) wurde ursprünglich für eine junge Bevölkerung konzipiert. Das gesamte System muß reformiert und an die auf dem Kopf stehende Alterspyramide angepaßt werden.
  5. Das Gesellschaftssystem polarisiert sich zunehmend in eine nicht zugewanderte, deutsche Population und in eine Population mit Migrationshintergrund. Die nicht zugewanderte deutsche Mehrheitsgesellschaft verliert in den großen Städten bei den Jüngeren ihre absolute Mehrheit und wird zu einer Minderheit unter anderen Minoritäten. Deutschland entwickelt sich dadurch zu einer Multiminoritätengesellschaft, statt eine multikulturelle Gesellschaft hervorzubringen, bei der das Minoritätenproblem eine andere Bedeutung hätte.

Die Bevölkerungsschrumpfung ist in Deutschland und Europa untrennbar mit einer demographischen Alterung gekoppelt. Deshalb ist es nicht möglich, die entlastenden Wirkungen der Bevölkerungsschrumpfung, die sich beispielsweise auf dem Gebiet des Verkehrs und in einigen Teilbereichen der Umwelt zeigen, zu begrüßen, ohne auch die negativen Auswirkungen der demographischen Alterung zu akzeptieren. Auf dem Arbeitsmarkt hat die demographische Schrumpfung z.B. eine entlastende Wirkung bei der Arbeitslosenquote, aber dieser positive Effekt muß mit einer Schwächung des Wirtschaftswachstums bezahlt werden, die die Gesellschaft teuer zustehen kommt, und die darüber hinaus indirekt auch die Arbeitsmarktbilanz beeinträchtigt, weil ein schwächeres Wachstum das Angebot an Arbeitsplätzen verringert.

Ein weiteres Beispiel für gegenläufige Auswirkungen ist der Wohnungsmarkt. Hier hat die demographische Entwicklung eine dreifache Wirkung. Erstens schwächt sich die Nachfrage nach Wohnraum wegen der Dämpfung des Wirtschaftswachstums und der Kaufkraft ab. Zweitens geht langfristig mit der schrumpfenden Bevölkerung die für die Nachfrage nach Wohnraum wichtige Zahl der Mehrpersonenhaushalte zurück. In Deutschland wird zwar vor allem die Zahl der Einpersonenhaushalte wegen der schon seit Jahrzehnten im Gange befindlichen Verkleinerung der durchschnittlichen Haushaltsgröße noch vorübergehend wachsen. Der Prozeß der Bevölkerungsschrumpfung intensiviert sich jedoch immer stärker, so daß nach 2020 schließlich die Gesamtzahl der Haushalte permanent abnimmt. In den neuen Bundesländern setzt der Rückgang wegen der dort schon seit 1989 stark schrumpfenden Bevölkerung wesentlich früher ein, wahrscheinlich schon zwischen 2005 und 2010. Drittens ändert sich demographisch bedingt das Konsumverhalten, das Sparverhalten und das Anspruchsniveau in bezug auf die qualitative und quantitative Versorgung mit Wohnraum.

Für die Berechnung der Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwiklung, den Arbeits- und Wohnungsmarkt, die Umwelt und andere Bereiche sind demographische Vorausberechnungen unerläßlich. Diese Berechnungen sind die Grundlage für wissenschaftliche Prognosen, die stets die Form von Wenn-Dann-Sätzen haben. Sie unterscheiden sich von den als Vorhersagen und Prophetien bezeichneten nichtwissenschaftlichen Aussagen über die Zukunft dadurch, daß die Bedingungen und Annahmen explizit angegeben werden, von denen ihr Eintreffen abhängt. Eine nichtwissenschaftliche Aussage über die Zukunft stellt lediglich fest, was der Fall sein wird, ohne daß es möglich ist, zu beurteilen, auf Grund welcher Annahmen die Aussage zustande kam und wie verläßlich sie ist.

Alle Bevölkerungsvorausberechnungen enthalten Annahmen über die künftige Entwicklung der Geburtenrate (gemessen an der Zahl der Lebendgeborenen pro Frau), der Sterberate (abgestimmt mit den Annahmen über die Entwicklung der Lebenserwartung) und der Migrationsrate (Ein- und Auswanderungen bzw. Wanderungssaldo als Differenz zwischen beiden). Werden mehrere unterschiedliche Annahmen formuliert, um das Intervall der künftigen Entwicklung abzustecken, indem z.B. alternativ eine hohe, eine mittlere und eine niedrige Geburtenrate zugrunde gelegt wird, spricht man von »Bevölkerungsprojektionen«. Als »Bevölkerungsprognose« wird eine Vorausberechnung bezeichnet, bei der aus der Vielzahl möglicher Annahmen diejenige ausgewählt wird, der man den höchsten Grad an Wahrscheinlichkeit beimißt. Von einer bloßen »Modellrechnung« spricht man, wenn die Annahmen beliebig gesetzt werden, ohne sie nach ihrer Wahrscheinlichkeit zu bewerten. Ein Beispiel solcher Modellrechnungen sind die sogenannten »probabilistischen Bevölkerungsvorausberechnungen«, bei denen die Auswahl der Annahmen für die Geburten-, Sterbe- und Migrationsrate gleichsam blind vorgenommen wird, indem mittels des Computers eine Zufallsstichprobe aus einem vorgegebenen Intervall für die Geburtenrate, die Sterberate und die Migrationsrate gezogen wird. Aus Tausenden solcher mit Zufallsstichproben gezogener Annahmen und den daraus abgeleiteten Bevölkerungsvorausberechnungen läßt sich das Gesamtergebnis anschließend z.B. als Durchschnitt ermitteln. Die entsprechenden Ergebnisse sind jedoch für die Politik weniger relevant und dienen meist nur analytischen Zwecken.

Bevölkerungsprognosen und -projektionen haben sich in den letzten Jahrzehnten als erstaunlich genau erwiesen. Im Jahr 1958 veröffentlichte z.B. die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen eine Bevölkerungsprojektion für die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2000. Das Ergebnis war 6267 Mio. Zum Vergleich: Im Jahr 1950 betrug die Weltbevölkerung 2521 Mio.. Die Differenz zwischen der vor mehr als vier Jahrzehnten vorausberechneten und der tatsächlichen Zahl für 2000 (6,1 Mrd.) beträgt 3,5%. Der eigentliche Prognosefehler ist aber noch niedriger, denn in den 80er und 90er Jahren hat die Bevölkerungsabteilung der UN die Bevölkerungszahlen für die Entwicklungsländer ohne zuverlässige demographische Statistiken für die Vergangenheit zurück bis 1950 mehrmals revidiert. Dabei wurden die Geburtenraten in vielen Entwicklungsländern nach unten gesetzt. Wäre die 1958 veröffentlichte UN-Projektion schon auf der Grundlage der später nach unten revidierten Datenbasis erarbeitet worden, läge die Prognose noch näher an der tatsächlichen Zahl, die Differenz dürfte dann 2% oder weniger betragen.

Auch für einzelne Länder erwiesen sich die demographischen Vorausberechnungen als relativ zuverlässig. Für die frühere Bundesrepublik beträgt z.B. die Differenz zwischen dem auf der Basis der Volkszählung von 1970 für das Jahr 1985 vorausberechneten Ergebnis und der tatsächlichen Zahl 1,2%. Dabei ist zu beachten, daß die Berechnungen für einzelne Länder wie Deutschland wegen der hohen Migrationsströme größeren Fehlerrisiken unterliegen als eine Weltbevölkerungsprognose, bei der sich die Fehler bei den Migrationsprognosen für die einzelnen Länder kompensieren.

Die im Vergleich zu Wirtschaftsprognosen hohe Treffsicherheit demographischer Vorausberechnungen beruht nicht auf irgendwelchen besonderen Fähigkeiten der Demographen, mit denen sie sich z.B. von Wirtschaftswissenschaftlern unterscheiden, zumal die meisten Demographen ohnehin spezialisierte Wirtschaftswissenschaftler sind, sondern auf der hohen Trägheit der Bevölkerungsentwicklung, die wiederum dadurch zu erklären ist, daß die beiden wichtigsten demographischen Prozesse - der die Geburtenzahl bestimmende Fortpflanzungsprozeß und der die Zahl der Sterbefälle bestimmende Mortalitätsprozeß - in entscheidender Weise von der gut vorausberechenbaren Altersstruktur abhängen.“ (Zitat-Ende).

ä 7. Bevölkerungsvorausberechnungen für Deutschland im 21. Jahrhundert (S. 97-118):

Deutsches Volk 2003

‹- Deutschland -›

„Die hohe Genauigkeit der ... UN-Weltbevölkerungsprojektionen aus den 1950er Jahren für das Jahr 2000 zeigt, daß auch bei langfristigen Vorausberechnungen relativ zuverlässige Ergebnisse möglich sind.

Die Zahl der Geburten und Sterbefälle sowie die Differenz - der Geburtenüberschuß bzw. das Geburtendefizit ...

Systemtische Übersicht über die 36 Varianten der Vorausberechnungen und deren Annahmen
WanderungssaldoLebenserwartung (M/W )Geburtenrate: 1,4 Geburtenrate: 1,6Geburtenrate: 2,1
Null
(0)
Niedrig (81/87)
Mittel (84/90)
Hoch (87/93)
1
2
3
13
14
15
25
26
27
Niedrig
(150000)
Niedrig (81/87)
Mittel (84/90)
Hoch (87/93)
4
5
6
16
17
18
28
29
30
Mittel
(225000)
Niedrig (81/87)
Mittel (84/90)
Hoch (87/93)
7
8
9
19
20
21
31
32
33
Hoch
(300000)
Niedrig (81/87)
Mittel (84/90)
Hoch (87/93)
10
11
12
22
23
24
34
35
36

Das markanteste Ergebnis der demographischen Vorausberechnung ist die folgende gegenläufige Entwicklung: Die Zahl der Sterbefälle nimmt zu, die Zahl der Geburten ab. Dadurch erhöht sich das Geburtendefizit.

Die demographische Alterung läuft ab wie ein Uhrwerk, ihre zentralen Konsequenzen sind die Bevölkerungsschrumpfung und die Internationalisierung der Bevölkerungsentwicklung ... durch Einwanderungen sowie die daraus folgenden Integrationsproblme. Die demographische Alterung kann durch politische Maßnahmen nicht mehr abgewendet werden.

Aus den Berechnungen ergibt sich folgende Erkenntnis: Mit Einwanderungen in einer für die Gesellschaft akzeptablen, integrierbaren Größenordnung läßt sich weder die demographische Alterung noch die Bevölkerungsschrumpfung verhindern. Wenn man z.B. den Anstieg des Altenquotienten durch die Einwanderung Jüngerer ganz verhindern wollte, müßte Deutschland bis 2050 netto 188 Mio. Einwanderer aufnehmen. Die Zahl ist deshalb so groß, weil jüngere Einwanderer den Altenquotienten nur kurzfristig verringern, aber langfristig erhöhen, wenn sie selbst zur Gruppe der 60jährigen und Älteren gehören. (Vgl. UN (Hrsg.], Replacement Migration, 2000, Tabelle IV.7, S. 25; vgl. meinen Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12.04.2000).

Fazit: Die einzige, allerdings nur langfristig erfolgsversprechende Weg zurück zu einer weniger gravierenden Alterung ist eine Zunahme der Geburtenrate auf rd. 2,1 Lebendgeborene pro Frau. (Und das heißt: Deutsche Frau! Anm. HB*). Die zusätzlich geborenen Kinder müßten jedoch erst ihrerseits mehr Kinder zur Welt bringen, damit sich die Altersstruktur allmählich ändert, so daß es bis zum Jahr 2080 dauern würde, bis das Geburtendefizit wieder verschwände (ohne Wanderungen). Bis dahin würde sich die Bevölkerungsschrumpfung jedoch auch bei einem z.B. bis 2025 erreichten Anstieg der Geburtenrate auf 2,1 Geburten pro Frau fortsetzen, und die Bevölkerungszahl würde z.B. auf 66,5 Mio. im Jahr 2080 abnehmen. Auch die demographische Alterung würde sich noch intensivieren. Der Altenquotient betrüge dann z.B. im Jahr 2080 63,0 (zu den Annahmen dieser Variante siehe Tabelle: Variante 25).“ (Zitat-Ende).

ä 8. Bevölkerungsvorausberechnungen für Europa und die südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers (S. 119-136):

„Ausgangspunkt der folgenden betrachtung ist der Tatbestand der weltweiten Abnahme der Geburtenrate in den Industrie- und Enwtwicklungsländern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Zahl der Lebendgeborenen pro Frau nahm im Weltdurchschnitt von 1950-55 bis 1995-2000 von 5,0 auf 2,8 ab. In den Entwicklungsländern war der Rückgang prozentual etwa ebenso stark (genau gesagt: etwas stärker! Anm. HB*) wie in den Industrieländern: Abnahme von 6,2 auf 3,1 (Entwicklungsländer [Rückgang: 50%; Anm. HB*]) bzw. von 2,8 auf 1,6 (Industrieländer [Rückgang: 42,86%; Anm. HB*]). In Westeuropa sank die Geburtenzahl pro Frau von 2,4 auf 1,5 (Rückgang: 37,5%; Anm. HB*).

In Deutschland (alte und neue Bundesländer) erhöhte sich die Zahl der Lebendgeborenen pro Frau im sogenannten »Nachkriegs-Babyboom« zunächst von 1950-55 bis 1960-65 von 2,16 auf 2,49, anschleißend ging sie bis 1995-2000 auf 1,30 zurück. Für Europa (inklusive Rußland; Anm. HB*) insgesamt mit seinen 728 Mio. Einwohnern im Jahr 2000 lauten die Zahlen 2,57 (1950-55), 2,56 (1960-65) und 1,42 (1995-2000). (Vgl. UN [Hrsg.], World Population Prospect - The 2000 Revision, 2001).

Durch das starke Bevölkerungswachstum in den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers steigt der Einwanderungsdruck in die Länder der EU allein schon demographisch bedingt an. Hinzu kommt die magnetische Anziehungskraft des hohen Lebensstandards in Europa, der in Verbindung mit Rechtssicherheit, geordneten Lebensbedingungen, vergleichsweise geringer Kriminalität und einer das Existenzminimum garantierenden staatlichen Sozialhilfe eine um so größere Wirkung entfaltet, je perspektivloser die Entwicklung in den Herkunftsländern der potentiellen Einwanderer ist.

In Europa folgte auf den generellen Abnahmetrend der Geburtenzahl pro Frau eine Schrumpfung der absoluten Geburtenzahlen. Die Schrumpfung beruhte vor allem auf einem Wandel des Fortpflanzungsverhaltens, nicht auf einer Änderung der für die absolute Geburtenzahl ebenfalls wichtigen Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter. Die Gründe des Verhaltenswandels sind vielfältig, sie umfassen ein breites Spektrum von Faktoren, darunter der sogenannte Wertewandel und die »sexuelle Befreiung«, die Emanzipation der Frau und die mit dem schon erläuterten »demo-ökonomischen Paradoxon« (Kapitel 3) zusammenhängenden okonomischen Faktoren (»Opportunitätskosten von Kindern«), wobei die im 20. Jahrhundert immer stärker perfektionierte Absicherung gegen die elementaren Lebensrisiken durch die moderne Sozialversicherung, die schließlich eigene Kinder als eine Art familienbegründete Sozialversicherung entbehrlich macht, eine entscheidende Rolle spielte.

Diese Faktoren bieten zwar streng genommen nur eine Beschreibung und noch keine Erklärung für die Änderung des Fortpflanzungsverhaltens, weil sie voneinander abhängen und ihrerseits erklärungsbedürftig sind.

Durch das starke Bevölkerungswachstum in den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers steigt der Einwanderungsdruck in die Länder der EU allein schon demographisch bedingt stark an. Hinzu kommt die magnetische Anziehungskraft des hohen Lebensstandards in Europa, der in Verbindung mit Rechtssicherheit, geordneten Lebensbedingungen, vergleichsweise geringer Kriminalität und einer das Existenzminimum garantierenden staatlichen Sozialhilfe eine um so größere Wirkung entfaltet, je perspektiloser die Entwicklung in den Herkunftsländern der potentiellen Einwanderer ist.“ (Zitat-Ende).

Wanderungen zwischen Deutschland sowie anderen europäischen und außereuropäischen Ländern
 Zuzüge (in 1000)Fortzüge (in 1000)Saldo (in 1000)
 199419971994199719941997
Europäisches Ausland
EU-Staaten (15 Staaten)
Ehemaliges Jugoslawien
Polen
Übriges Europa
  756
  185
  155
    88
  263
  554
  180
    54
    86
  177
  553
  171
  116
    70
  148
  569
  198
  153
    79
    91
  203
    14
    39
    18
  115
  –15
  –18
 –100
     7
    86
Außereuropäisches Ausland
Türkei
Afrika

Amerika
Asien (einschließlich ehemalige UdSSR)
Australien und Ozeanien
  309
    65
    38
    44
  224
      3
  270
    57
    37
    47
  183
      3
  153
    47
    38
    47
    64
      4
  158
    47
    27
    53
    73
      4
  155
    18
      0
    –3
  160
    –1
  112
    10
    10
    –6
  110
    –1
Unbekanntes Ausland      5      7    35    15  –29    –8
Insgesamt1083  841  768  747  315   94

ä 9. Veränderungen der Zahl und Größe der privaten Haushalte und des Bedarfs an Wohnraum - regionale und sozialräumliche Aspekte (S. 137-159):

„Eine der sichtbarsten Auswirkungen des demographischen wandels ist die Veränderung der Zahl und Größe der privaten Haushalte und des Wohnungsbedarfs. Die Vorboten dieser Entwicklung sind bereits an den zunehmenden Wohnungsleerständen und den vielerorts sinkenden Immobilienpreisen erkennbar. Im folgenden werden die Zahl und Größenstruktur der privaten Haushalte aus den Ergebnissen der Bevölkerungsvorausberechnungen abgeleitet und die sich daraus ergebenden Schlußfolgerungen für die Entwicklung des Wohnungsbedarfs in Deutschland dargestellt. Dabei erweist sich die oft vernachlässigte regionale und die sozialräumliche Dimension der demographischen Entwicklung als ein besonders wichtiges Problem.

Der Bedarf an Wohnraum ändert sich im Lebensverlauf in Abhängigkeit vom Alter und von der jeweiligen Phase im Familienbildungsprozeß, wobei insbesondere der Familienstand (ledig, verheiratet, verwitwet, geschieden) mit dem betreffenden Haushaltstyp (Ein- oder Mehrpersonenhaushalt) und dem sich daraus ergebenden Bedarf an Wohnraum zusammenhängt. Umgekehrt werden jedoch das Eheschließungsverhalten und die Geburtenrate zum Teil auch von der Verfügbarkeit an geeignetem Wohnraum beeinflußt. Ein Prognosemodell für die Vorausschätzung des Wohnungsbedarfs müßte daher idealerweise aus mehreren miteinander gekoppelten Teilmodellen bestehen, vor allem aus einem Bevölkerungs-, einem Familien- und einem Haushaltsmodell. Mit einem solchen Idealmodell müßten alle wesentlichen Beziehungen zwischen den zentralen Größen quantitativ beschrieben und prognostiziert werden. Die verschiedenen Teilmodelle müßten außerdem mit einem Wirtschaftsmodell gekoppelt werden, das die Einkommensentwicklung abbildet, um daraus auch die kaufkräftige Nachfrage nach Wohnraum zu bestimmen.

Ein derartiges Gesamtmodell läßt sich zwar in der Form eines Systems aus Gleichungen entwerfen, mit denen die Beziehungen zwischen den interessierenden Größen beschrieben werden, denn das dafür erforderliche theoretische Wissen ist größtenteils verfügbar, aber das genügt nicht. Die Anwendung eines solchen Modells scheiterte in der Praxis bisher nicht nur daran, daß die empirischen Daten für die Füllung des Gleichungssystems fehlen, sondern die Art des Gleichungssystems selbst änderte sich in den vergangenen Jahrzehnten auf Grund des Wandels der demographischen, sozialen und ökonomischen Verhaltensweisen so rasch, daß die Datenerhebung und Modellbildung stets um einige Jahre hinter der tatsächlichen Entwicklung zurückblieb, wobei sich der Abstand zwischen Modell und Realität tendenziell vergrößerte. So krankt z.B. das z.Zt. anspruchsvollste Modell zur Bevölkerungs- und Haushaltsprognose, das vom Rostocker Max-Planck-Institut für demografische Forschung entworfen wurde, und das vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung mit Daten gefüllt werden soll, u.a. daran, daß das Bevölkerungsmodell keine Ein- und Auswanderungen enthält und daß die Unterschiede zwischen den Deutschen und den Zugewanderten in bezug auf die Geburtenrate, das Eheschließungsverhalten, die Haushaltsgröße und sämtliche anderen relevanten Verhaltensweisen nicht berücksichtigt werden. Es läßt sich z. Zt. noch nicht absehen, ob und gegebenenfalls wann das Modell in der Zukunft einmal in einer anwendungsreifen Form vorliegen wird. Bis dahin werden Haushaltsprognosen wie bisher mit Methoden durchgeführt, die zwar weniger differenziert sind, aber für die Praxis dennoch brauchbare Ergebnisse liefern.

Die privaten Haushalte und der Wohnungsbedarf werden stark von der Bevölkerungszahl und der Altersstruktur beeinflußt. Der Einfluß der Altersstruktur beruht auf den mit dem Alter stark variierenden Lebensformen im Lebenszyklus. In der Altersgruppe unter 20 leben z.B. mehr als zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen im Haushalt ihrer Eltern. Ein Rückgang der Geburtenzahl bewirkt daher unmittelbar einen Rückgang des Anteils der Haushalte mit drei und mehr Personen. In der Altersgruppe 20 bis 30 sinkt der Anteil der unverheiratet bei ihren Eltern lebenden Kinder durch den Auszug aus dem Elternhaus auf ein Viertel, im höheren Alter auf ein Zehntel. Die Größe der Altersgruppe 20 bis 40 ist entscheidend für die Zahl der verheiratet zusammenlebenden Menschen. Die Besetzungsstärke hängt von der Geburtenrate in der vorangegangenen Generation ab, außerdem von der Eheschließungs- und Scheidungsrate. Die Geburten-, Eheschließungs- und Scheidungsraten beeinflussen wiederum gemeinsam die Zahl der Allienlebenden. Die entsprechenden Zusammenhänge sind bei Männern und Frauen unterschiedlich, so steigt z.B. der Anteil der Alleinlebenden mit dem Alter bei den Frauen wesentlich stärker an als bei den Männern, wobei die bei den Frauen um rd. 6 Jahre höhere Lebenserwartung eine bedeutsame Rolle spielt.

Das Haushaltsbildungs- und -auflsöungsverhalten ist ein komplexes Phänomen, bei dem sozialdemographische und ökonomische Verhaltensweise eng zusammenwirken. Die wichtigsten demographischen faktoren sind: (1) die Höhe der Geburtenraten für Erste, Zweite, Dritte und weitere Kinder, (2) das Lösungsverhalten der Kinder von den Eltern und die Gründung eines eigenen Haushalts, (3) die Entwicklung des Heirats- und Scheidungsverhaltens und des Wiederverheiratungsverhaltens, (4) die Häufigkeit von nicht ehelichen Lebensgemeinschaften, (5) die vom Alter, Geschlecht und Geburtsjahrgang abhängige Mobilität, (6) die nach Alter, Geschlecht und Geburtsjahrgang differierende Sterblichkeit und Lebenserwartung sowie (7) die Häufigkeit von Lebensformen mit mehreren Wohnunngen.

Die aufgeführten Verhaltensweisen differeieren zusätzlich nach der Staatsangehörigkeit (genauer gesagt: Kulturzugehörigkeit! Anm. HB*) und dem regionalen Lebensraum. Wegen der höheren Geburtenrate der Ausländer (nur bestimmter Ausländer! Anm. HB*) und der jüngeren Alterststruktur (nein: nur bei bestimmten Ausländern! Anm. HB*) ist z.B. der Anteil der Personen, dein größeren Haushalten leben, mehr als doppelt so hoch wie bei den Deutschen (vgl. Tabelle). Dieses und die folgenden Analyseergebnisse beruhen auf der Mikrozensus-Erhebung des Statistischen Bundesamtes von 1998.

Bevölkerung in Privathaushalten mit 1, 2, 3, 4, 5, 6 und mehr Personen (1998) in %
 12345 und mehr
Deutsche16,8%31,5%20,7%21,5%  9.6%
Ausländer10,0%16,6%20,1%27,5%25,7%

Nicht nur die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen, sondern auch die regionalen Unterschiede der sozialdemographischen Verhaltensweisen sind beträchtlich. Wie bereits erläutert, unterscheidet sich die Geburtenzahl pro Frau für die gleiche Generation bei einem Vergleich zwischen den verschiedenen Regionen stärker als für die gleiche Region bei einem Vergleich der verschiedenen Generationen. Der Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Haushalten ist insbesondere wegen der niedrigeren Geburtenrate in Städten mit 500000 u.m. Einwohnern wesentlich größer (47,9%) als in den kleinen Siedlungen (36,2%). (Vgl. Tabelle). Im Umland von Berlin (Brandenburg) betrug er z.B. 1994 27,7%, in Berlin-West 49,6% und in Berlin-Ost 41,2%.

Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Haushalten (1998) in %
 Im LandesgebietIn Städten mit 500000 u.m. Einwohnern
197025,5%27,0%
198030,2%42,2%
199035,0%46,5%
199836,2%47,9%

Für die Ableitung der Haushalte aus den Bevölkerungsvorausschätzungen ist wichtig, daß die Häufigkeit der Eheschließungen ebenso wie die Geburtenrate seit Anfang der 1970er Jahre stark abgenommen hat. Die Heiratsneigung läßt sich quantitativ messen, und zwar durch die nach einzelnen Altersjahren untergliederten Zahlen der Erstheiraten auf 1000 Einwohner. Gleichzeitig mit der abnehmenden Heiratsneigung hat sich die Zahl der gerichtlichen Ehelösungen permanent erhöht. Der Saldo aus der Zahl der Eheschließungen und der Summe aller gerichtlichen und sonstigen Ehelösungen war in der früheren Bundesrepublik seit 1975, in der früheren DDR schon seit 1965, negativ . (Vgl. J. Dorbritz und K. Gärtner, Bericht über die demographische Lage in Deutschland, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 4, 1998. S. 377f.). Diese Trends wirken sich in einer Abnahme der Zahl der Mehrpersonenhaushalte aus.“ (Zitat-Ende).

Einpersonenhaushalte

Zum Beispiel 1994:
Berlin-West: 49,6%
Berlin-Ost: 41,2%
Brandenburg:: 27,4%

 

 

 

Deutsches Volk 2003

‹- Deutschland -›
Entwicklung der Ein- und Mehrfamilienhaushalte von 1950 bis 1998 mit Vorausberechnungen bis 2050
 Personen je HaushaltAnteil der 1-Personen-Haushalte in %
1950Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
3,47
2,99
19,4%
1978Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
3,15
2,52
29,3%
1988Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
2,94
2,26
34,9%
1998Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
2,84
2,19
35,4%
2015Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
2,70
2,08
36,7%
2030Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
2,65
2,00
39,2%
2050Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte
Summe
1,00
2,60
1,96
39,8%

Vorausberechnungen der Bevölkerung nach Altersgruppen in Einpersonenhaushalten von 1998 bis 2050
  0-20 Jahre 20-40 Jahre40-60 Jahre60 u.m. Jahre Insgesamt
1998Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte

SUMME
     112 000
17 336 000

17 448 000
  4 395 000
19 144 000
23 539 000
  1 881 000
19 730 000
21 611 000
  5 908 000
12 612 000
18 520 000
13 297 000
68 822 000
82 119 000
2015Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte

SUMME
       99 000
13 992 000

14 091 000
  3 748 000
14 994 000

18 742 000
  3 531 000
21 693 000

25 224 000
  6 991 000
16 312 000

23 303 000
14 369 000
66 991 000
81 360 000
2030Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte

SUMME
       84 000
11 877 000

11 961 000
  3 582 000
12 700 000

16 282 000
  2 978 000
16 876 000

19 854 000
  8 519 000
20 858 000

29 377 000
15 163 000
62 311 000
77 474 000
2050Einpersonenhaushalte
Mehrpersonenhaushalte

SUMME
       68 000
  9 653 000

  9 721 000
  3 071 000
10 281 000

13 352 000
  2 563 000
14 751 000

17 314 000
  8 068 000
19 751 000

27 819 000
13 770 000
54 206 000
67 976 000

ä 10. Notwendige Vorüberlegungen zur Erforschung der wirtschaftlichen Auswirkungen (S. 160-169):

„Die demographische Entwicklung hat für die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Politik und Kultur so hohe Bedeutung, daß für die Darstellung der entsprechenden Auswirkungen ein ganzes Buch erforderlich wäre. Der Umfang des folgenden Kapitels würde nicht einmal ausreichen, um die vielfältigen Aspekte dieses Themas auch nur einigermaßen vollständig aufzulisten. Etwas Derartiges wird hier auch gar nicht versucht. Die folgenden Überlegungen sind vielmehr prinzipieller Art: Es wird gefragt, welche Vergleiche bei der ökonomischen Auswirkungsforschung angestellt werden sollten, welche Maßstäbe für eine Messung der demographischen Auswirkungen geeignet und wie die Ergebnisse der vergleichenden Messungen aus wirtschaftspolitischer Sicht zu bewerten sind. Da auch diese Fragen zu umfangreich sind, um in diesem Kapitel erschöpfend behandelt zu werden, soll die Betrachtung auf jene prinzipiellen Probleme konzentriert werden, denen auch in umfangreichen Büchern oft zu wenig Platz eingeräumt wird.

Was ist das wichtigste prinzipielle Problem?  Auf diese Frage läßt sich eine klare Antwort geben. Um sie zu begründen, muß auf ein Ergebnis der theoretischen Demographie eingegangen werden, das sich mit den Mitteln der Schulmathematik ableiten läßt. Es läßt sich mathematisch beweisen, daß unter den unzähligen denkbaren demographischen Entwicklungsverläufen eine Variante mit besonderen Eigenschaften existiert, die für eine Beurteilung der Auswirkungen aus ökonomischer Sicht besonders wichtig ist. Bei dieser Variante ist die Summe aus den ökonomischen Belastungen der mittleren Generation durch die Unterstützung der noch nicht erwerbstätigen Kindergeneration und durch die Leistungen für die nicht mehr erwerbstätige, ältere Generation am geringsten.

Der mathematische Beweis stützt sich auf ein Drei-Generationen-Modell, das für alle Gesellschaften relevant ist, unabhängig davon, wie sie politisch und rechtlich verfaßt sind. Die Voraussetzungen des Modells sind einfach: Die mittlere Generation leistet Unterstützungszahlungen an die Generation ihrer Kinder in Höhe von a Geldeinheiten pro Kopf der Kindergeneration sowie Unterstützungszahlungen in Höhe von b pro Kopf ihrer Elterngeneration. Umgekehrt empfängt die Generation während ihrer Jugendphase Unterstützungszahlungen von ihrer Elterngeneration und während ihrer Altersphase von ihrer Kindergeneration. Diese Drei-Generationen-Verflechtung, die sich als Drei-Generationen-Vertrag interpretieren läßt, soll für jede Generation gelten. Dann läßt sich folgendes Ergebnis ableiten: Der Quotient aus den von einer Generation geleisteten zu den von ihr empfangenen Unterstützungszahlungen, für den ich den Begriff »intergenerationaler Transferquotient« vorgeschlagen habe, ist dann am geringsten, wenn so viele Kinder geboren werden, daß die sogenannte Nettoreproduktionsrate gleich der Wurzel des Quotienten aus b und a ist. Dabei läßt sich der Begriff der Nettoreproduktionsrate in Gesellschaften mit niedriger Sterblichkeit, insbesondere in Deutschland, auf einfache Weise aus der Geburtenzahl pro Frau herleiten, er ist als Zahl der weiblichen Nachkommen pro Frau definiert, entspricht also etwa der Hälfte der der Geburtenzahl pro Frau:

b = Eltern(generation)-Unterstützung (in Geldeinheiten pro Kopf)
a
= Kinder(generation)-Unterstützung (in Geldeinheiten pro Kopf)

Für den Sonderfall, daß die Unterstützungszahlen pro Kopf der älteren und der jüngeren Generation gleich sind, hat die Nettoreproduktionsrate, die den Transferquotienten minimiert, den Wert 1, d. h. die demographischen Belastungen sind in diesem Fall genau dann minimal, wenn pro Frau zwei Kinder geboren werden. Da sich auch aus Befragungen immer wieder ergibt, daß in der Bevölkerung zwei Kinder als ideal gelten, stimmt das Ergebnis der mathematischen Analyse mit den subjektiven Vorstellungen über die ideale Kinderzahl überein. Diese Übereinstimmung hat eine große politische Bedeutung, denn sie führt zu der Frage, warum der demographische Zustand der modernen Wirtschaftsdemokratien so stark vom mathematischen Optimum und von den Idealvorstellungen der Gesellschaftsmitglieder abweicht, deren große Mehrheit eine Kinderzahl von zwei für ideal hält ?

Man sollte also erwarten, daß wirtschafts- und gesellschaftswissenschaftliche Analysen über die Auswirkungen der demographischen Entwicklung nicht nur die faktische demographische Veränderung in der Vergangenheit bzw. die prognostizierte, wahrscheinliche Entwicklung in der Zukunft zum Gegenstand haben, sondern auch die Frage einbeziehen, wie weit und warum die faktische bzw. die prognostizierte Entwicklung und die oben definierte »optimale« Entwicklung voneinander abweichen, um über Maßnahmen nachzusinnen, mit denen sich die absehbare Entwicklung so weit wie möglich an die optimale annähern läßt.

Daß diese Frage bisher fast vollständig aus den Auswirkungsanalysen ausgeklammert wurde, liegt an der verständlichen Scheu vor ihren weitreichenden politischen Folgen. Eine Bevölkerungspolitik, die eine Nettoreproduktionsrate von 1,0 anstrebt, wird von keiner im Deutschen Bundestag vertretenen Partei vorgeschlagen. Dies liegt zum großen Teil an der Belastung des Begriffs »Bevölkerungspolitik« durch frühere Inhalte aus der Zeit des Nationalsozialismus. Daß der Begriff »Bevölkerungspolitik« in unserer Gesellschaft statt mit rassistischen und totalitären Bedeutungen auch mit einem an demokratischen Zielen orientierten Inhalt gefüllt werden könnte, dessen Basis die Anerkennung einer gesellschaftlichen und politischen Verantwortung für die nachwachsenden Generationen sein müßte, ist noch nicht in das öffentliche Bewußtsein gedrungen. Es ist jedoch hohe Zeit, daß die allgemein begrüßten familienpolitischen Wirkungen unserer Sozialpolitik auf die Geburtenzahl ebenso wie die demographischen Wirkungen , der bisher ungesteuerten Einwanderungen in eine »bevölkerungspolititische«, »demographiepolitische« oder wie auch immer bezeichnete gesellschaftspolitische Rahmenkonzeption integriert werden. Die Wortwahl auf diesem sensibelsten aller politischen Gebiete ist von größter Bedeutung. Aber für das semantische Problem ließen sich sicherlich Lösungen finden, wenn danach gesucht würde.

Die Scheu vor dieser Thematik ist nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft verbreitet. Aber wenn die Frage nach der optimalen Entwicklung mit mehr oder weniger guten oder auch fragwürdigen Gründen aus der politischen Diskussion ausgeklammert wird, rechtfertigt das nicht, sie auch in den wissenschaftlichen Analysen zu vernachläsigen. Trotzdem wird gerade in der Wissenschaft der wachstumsdämpfende Effekt einer niedrigen Geburtenrate häufig mit dem Hinweis darauf verharmlost, daß schon eine jähriche Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts von z.B. 1,7% ausreichen würde, um das heutige Volkseinkommen bis zum Jahr 2040 real - also nach Abzug von Preissteigerungen - zu verdoppeln. Damit soll ausgedrückt werden, daß die Leistungsfähigkeit moderner Volkswirtschaften so groß ist, daß die demographisch bedingten Wachstumseinbußen nicht ins Gewicht fallen. Die Aussage, daß sich das Volkseinkommen schon bei einer mäßigen Wachstumsrate von 1,7% pro jahr bis 2040 verdoppelt, ist zwar mathematisch richtig, aber sie bleibt unvollständig, wenn nicht mit betrachtet wird, welches Wachstum mit einer höheren Geburtenrate verbunden wäre.

Hält man bei einer demographischen Entwicklung mit höherer Geburtenrate, wie sie z. B. in den USA mit rd. zwei Kindern pro Frau vorliegt, eine Wachstumsrate des Volkseinkommens von z.B. 2,5% für möglich und bei niedrigerer Geburtenrate nur eine mäßigere von z.B. 1,7%, so stehen die Niveaus der beiden Volkseinkommen nach 40 Jahren, also z.B. vom Jahr 2000 aus betrachtet im Jahr 2040, zueinander im Verhältnis von 270 zu 200, wobei das anfängliche Volkseinkommen gleich 100 gesetzt ist. Es ergibt sich also ein beträchtlicher Unterschied, der klar für eine positive demographische Entwicklung als Faktor des Wirtschaftswachstums spricht oder - vorsichtiger formuliert - zu sprechen scheint, denn die Rechnung läßt sich auch anders aufmachen und führt dann zu einem gänzlich anderen Resultat, was sich an Hand des gleichen Beispiels zeigen läßt.

Das eindeutig scheinende Ergebnis des Sozialproduktvergleichs erweist sich als zweifelhaft, wenn man als Vergleichsmaßstab das Pro-Kopf-Einkommen statt des Volkseinkommens wählt. Die Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens läßt sich mathematisch als Differenz aus den Wachstumsraten des Volkseinkommens und der Bevölkerungszahl berechnen. Wendet man diese Erkenntnis an, indem man in dem obigen Beispiel unterstellt, daß die Bevölkerung bei hoher Geburtenrate z.B. um 0,7% p.a. wächst und bei niedriger um 0,7% p.a. schrumpft, kehrt sich das Ergebnis um: Das Pro-Kopf-Einkommen nimmt dann im Fall der ungünstigen demographischen Entwicklung mit einer jährlichen Wachstumsrate von 2,4% zu (= 1,7 -(-0,7)) und im Fall der günstigen demographischen Entwicklung nur mit 1,8% (= 2,5-0,7). Die Bevölkerungsschrumpfung ist also für das Pro-Kopf-Einkommen günstiger als das Bevölkerungswachstum, d.h. das Ergebnis der vorstehenden Betrachtung verkehrt sich ins Gegenteil.

Die beiden Beispiele zeigen, wie wichtig es für die Auswirkungsforschung ist, die prinzipielle Frage nach dem geeigneten Vergleichsmaßstab zu klären, bevor Empfehlungen für die Politik abgegeben werden. Diese naheliegende Einsicht wird jedoch allzu oft vernachlässigt. Dabei ist die Maximierung des Pro-Kopf-Einkommens nur aus kurzfristiger Sicht ein so plausibles Ziel, um über andere Ziele nicht weiter nachzudenken. Denn langfristig hat die Geburtenrate stets gegenläufig auf eine Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens reagiert: Wie in Kapitel 3 dargestellt, ist dieses demo-ökonomische Paradoxon sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern zu beobachten, und es wird in der Zukunft ebenso wie in der Vergangenheit wirksam bleiben, weil die kausalen Ursachen des generativen Verhaltens weiterwirken, so daß mit permanenten Bevölkerungsschrumpfung zu rechnen ist, wenn man die Maximierung des Pro-Kopf-Einkommens als langfristiges Ziel verfolgt - eine in sich widersprüchliche Strategie, weil ein hohes Pro-Kopf-Einkommen ohne Köpfe sinnlos wäre.

Die große praktische Bedeutung der prinzipiellen Fragen soll abschließend noch aus einem anderen Blickwinkel dargestellt werden, indem die Erkenntnisse der modernen ökonomischen Wachstumstheorie berücksichtigt werden. In den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts stellten die Wirtschaftswissenschaftler fest, daß nur etwa die Hälfte des jährlichen prozentualen Zuwachses des Volkseinkommens in den Industrieländern auf dem mengenmäßigen Zuwachs der Arbeitskräftezahl und des physischen Kapitals in Form von maschinellen Produktionsanlagen beruht. Die andere Hälfte der Wachstumsrate des Volkseinkommens ließ sich nicht auf den vermehrten Einsatz der Faktoren Arbeit und Kapital zurückführen, sondern schien wie das biblische »Manna« gleichsam vom Himmel zu fallen. Diese neben den Faktoren Arbeit und Kapital wichtige dritte Quelle der Wirtschaftsleistung wurde dem technischen Fortschritt zugeschrieben. Die damals entwickelte, noch wenig differenzierte Theorie des technischen Fortschritts wurde auch als »Manna-Theorie« bezeichnet, obwohl man natürlich immer wußte, daß der technische Fortschritt nicht durch ein Wunder auf die Volkswirtschaft herabregnet, sondern reale Ursachen hat. In den später entwickelten Theorien wurde der technische Fortschritt vor allem mit dem durch Wissenschaft, Forschung und Ausbildung erzeugten, ständig steigenden Wissenskapital erklärt. Das in die Köpfe der Arbeitskräfte investierte Human- bzw. Wissenskapital und die von diesen Köpfen konstruierten, immer leistungsfähigeren physischen Produktionsanlagen und betrieblichen Organisationsstrukturen gelten seitdem als eine entscheidende, unerschöpfliche Quelle der wirtschaftlichen Leistungskraft einer Volkswirtschaft.

Wie stark wird der technische Fortschritt und die Wachstumsrate der deutschen Volkswirtschaft in den nächsten Jahrzehnten durch die demographische Entwicklung gedämpft ?  Schon in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts erschienen Bücher mit Titeln wie »Wirtschaftliche Entwicklung bei schrumpfender Bevölkerung« (B. Felderer, 1983). Viele Autoren wollten die Öffentlichkeit mit ihren Beiträgen beruhigen. Die demographische Entwicklung habe zwar einen dämpfenden, aber nicht allzu großen Effekt auf das Wirtschaftswachstum, so daß es überflüssig sei, sich um die Wachstumsaussichten Sorgen zu machen. Trägt diese Botschaft noch?  Der Ton der wirtschaftswissenschaftlichen Veröffentlichungen ist inzwischen skeptischer geworden, denn die demographische Schrumpfung führt trotz der Massenarbeitslosigkeit bereits heute zu Knappheitserscheinungen auf dem Arbeitsmarkt. In Deutschland betrug die Zahl der Personen in der für das Erwerbspersonenpotential und für das Volkseinkommen entscheidenden Altersgruppe von 20 bis 60 im Jahr 2000 rd. 45,5 Mio., sie nimmt - bei einem jährlichen Einwanderungsüberschuß von 170 Tsd. - zunächst bis 2010 nur mäßig auf 45,2 Mio. ab, doch danach beschleunigt sich die Schrumpfung infolge des Geburtenrückgangs der 1970er Jahre, und zwar auf 36,2 Mio. im Jahr 2030 bzw. auf 30,4 Mio. im Jahr 2050 (Tabelle 22). Die darüber hinaus angegebenen Zahlen bis 2100 sind nicht als Prognosen zu verstehen, sondern als Informationen über die Konsequenzen einer annähernd konstanten Geburtenrate bei einem jährlichen Einwanderungsüberschuß von 170 Tsd. Personen (zu den Einzelheiten siehe Kapitel 7).

Vorausberechnungen der Bevölkerung in den für die Erwerbspersonenzahl wichtigen Altersgruppen von 20-40 J. bzw. 20-60 J. - in Mio.
Altersgruppe20002010202020302040205020602070208020902100
20-bis-40-Jährige23,519,318,416,314,513,412,211,110,4  9,8  9,2
40-bis-60-Jährige20,025,923,619,919,217,015,414,313,212,111,4
Summe (20-bis-60-Jährige)45,545,242,036,233,730,427,625,423,621,920,6

Selbst wenn man annimmt, daß die Frauen künftig zum gleichen Prozentsatz wie die Männer auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind, indem sich die niedrigere Frauenerwerbsquote bis 2010 weitgehend an die höhere Erwerbsquote der Männer angleicht (heute zählen von den Männern rd. 60%, von den Frauen rd. 43% zu den Erwerbspersonen), ließe sich der Rückgang der Erwerbspersonenzahl bei den Männern nur bis 2010 durch einen Anstieg bei den Frauen kompensieren. Auf dieser wenig wahrscheinlichen Annahme beruht die Rentenreform der Regierung Schröder, wobei die Folgen eines so drastischen Anstiegs der Frauenerwerbstätigkeit für die Geburtenrate bzw. die Konsequenzen der dadurch intensivierten Alterung für spätere Rentenreformen von der Regierung bisher nicht einmal am Rande zur Sprache gebracht werden.

Es ist möglich, daß der positive Bestandteil der Wachstumsrate, der aus dem technischen Fortschritt und aus dem vermehrten Einsatz von leistungsfähigeren physischen Produktionsanlagen entsteht, künftig durch den negativen Bestandteil infolge der schrumpfenden Erwerbspersonenzahl zum großen Teil kompensiert wird, so daß das Wachstum in eine Stagnation oder im Extremfall sogar in die Schrumpfung übergeht.

Diese negative Entwicklung ist insbesondere dann zu erwarten, wenn der technische Fortschritt als Motor des Wirtschaftswachstums durch die demographische Entwicklung beeinträchtigt wird. Das für diesen Fortschritt entscheidende durchschnittliche Qualifikationsniveau des Arbeitskräftebestandes wird durch zwei Faktoren verringert. Zum einen schrumpft die Zahl der jüngeren Erwerbspersonen von 20-40 als Teilgruppe der 20- bis 60jährigen zwischen 1998 und 2050 besonders stark, nämlich von 24,5 Mio. auf 13,4 Mio., während die Gruppe der 40-bis60jährigen noch bis 2015 von 21,9 Mio. auf 25,2 Mio. wächst, ehe auch sie bis 2050 auf 17,1 Mio. abnimmt - eine für den technischen Fortschritt nachteilige Entwicklung, weil das durch Ausbildung geschaffene neue Wissen vor allem in den Köpfen der jüngeren, nicht der älteren, gebildet wird. Zum anderen wird das Wissenskapital auch verringert, weil sich der Anteil der Zugewanderten und ihrer Nachkommen mit weit unterdurchschqittlichen Ausbildungsstandards an den 20-bis40jährigen besonders stark erhöht. Wie schon ausgeführt, beträgt bei der deutschen Bevölkerung der Anteil der Personen, die eine Hochschule besuchen, in der Altersgruppe 20-25 17%, bei der zugewanderten Bevölkerung und ihren in Deutschland geborenen Nachkommen ist dieser Prozentsatz mit 3 bis 4% wesentlich niedriger, und es ist keine Tendenz zu einer merklichen Verringerung des Unterschieds feststellbar. Die Zahlen 17% bzw. 3% sind unabhängig von den am 1.1.2000 in Kraft getretenen Änderungen des Staatsangehörigkeitsrechts, sie geben den Durchschnitt der miteinander verglichenen Bevölkerungsgruppen wieder, deren Verhalten sich nicht schon dadurch ändert, daß viele einen deutschen Paß haben werden. Bei bestimmten Einwanderungsgruppen, vor allem aus Asien, ist der Prozentsatz der gut Ausgebildeten zwar höher als bei den Deutschen, aber in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle ergibt sich ein starkes Gefälle in umgekehrter Richtung. Gegen diese Überlegungen wird häufig das Argument vorgebracht, daß sich die Menge wissenschaftlicher Kenntnisse in der Informationsgesellschaft etwa alle 4 bis 5 Jahre verdoppelt, also bei Fortsetzung der heutigen Wachstumsraten der Wissenszunahme bis zum Jahr 2040 um den Faktor 256 (!) zunimmt, so daß es auf die Zahl der Arbeitskräfte kaum noch ankommt. Was nützt aber das Wissen, wenn es nicht in die Köpfe der Arbeitskräfte gelangt?  In Deutschland verläßt ein Fünftel bis ein Viertel der Zugewanderten und ihrer Nachkommen das Ausbildungssystem ohne jeden Abschluß ! (Und dies betrifft auch nur diejenigen Ausländer, die eine Ausbildung machen, denn die weitaus meisten Ausländer beginnen ja noch nicht einmal mit einer Ausbildung! Anm. HB*).

Wie sind die zur Kompensation der schrumpfenden Erwerbspersonenzahl vorgeschlagenen Maßnahmen des lebenslangen Lernens und der schrittweisen Erhöhung des Ruhestandsalters zu beurteilen?  Bestimmte Berufe und Tätigkeiten wie die des Pfarrers, des Philosophen und des Dirigenten eines Symphonieorchesters werden häufig bis ins hohe Alter ausgeübt. Was den klassischen Typ des Philosophen betrifft, läßt sich sagen, daß die Leistungsfähigkeit bei dieser Art von geistiger Tätigkeit mit dem Alter oft zunimmt anstatt abzunehmen. Umgekehrt ist es bei Mathematikern, von denen es heißt, daß ihre spezifische Kreativität, die zur Entdeckung neuer bahnbrechender Einsichten erforderlich ist, schon vor dem dreißigsten Lebensjahr überschritten wird. Ähnliche Aussagen gibt es über Informatiker und andere Berufe, die eine maximale geistige Konzentration in bestimmten, von außen vorgegebenen Situationen verlangen. Die vom Lebensalter abhängigen Gehirnfunktionen lassen sich nicht nach den Erfordernissen z.B. des Arbeitsmarktes manipulieren. Es ist deshalb nur begrenzt möglich, die im Alter abnehmende geistige Beweglichkeit und Spontaneität durch lebenslanges Lernen auszugleichen. Dies wäre die Voraussetzung dafür, daß 70jährige Deutsche mit 30jährigen z.B. in Indien auf dem internationalen Arbeitsmarkt für Spitzenkräfte der Informationstechnologie konkurrieren können. Die Einsicht in diese Unmöglichkeit hat zur Green-Card-Debatte geführt, mit der diese Spezialisten z.B. aus Indien oder Osteuropa als Einwanderer gewonnen werden sollen. Aber der Weltmarkt für gut ausgebildete, junge Spezialisten ist eng, und die USA und andere Industrieländer konkurrieren mit Deutschland um die begehrten Arbeitskräfte.

Es ist realitätsfremd, wenn vorgerechnet wird, daß sich das Arbeitskräftepotential durch eine schrittweise Erhöhung des Ruhestandsalters bis zum Jahr 2030 konstant halten läßt. Der Konkurrenzmechanismus des Arbeitsmarktes bewertet die älteren Menschen nun einmal nach eigenen Kriterien, und wenn man dies ändern wollte, müßte man unser gesamtes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem durch eine andere Gesellschaftsordnung ersetzen, wobei der Rest der Welt genauso umgestaltet werden müßte, weil die ökonomische Globalisierung nationale Alleingänge nicht zuläßt. Heute wird den mit den Prinzipien des konkurrenzorientierten Verhaltens erreichbaren ökonomischen Zielen weltweit eine hohe Priorität eingeräumt. Die modernen Gesellschaften, vor allem Deutschland, haben sogar das Verschwinden der Famili in Kauf genommen, um die ökonomische Effektivität des Wettbewerbs zu maximieren - ist es da zu erwarten, daß sich diese Gesellschaften ausgerechnet bei der Behandlung der älteren Menschen in Zukunft an anderen Maßstäben orientieren werden?  Der abrupte Sinneswandel der Regierung Schröder vom Februar/März 2001, statt die Frühverrentung zu fördern, nun die Aktivierung arbeitsloser 50jähriger zu propagieren, ist von der zunehmenden Arbeitskräfteknappheit diktiert. Die Maßnahmen könnten schon bald auf die 55- und 60jährigen ausgedehnt werden, ohne daß dies eine Änderung der Einstellung gegenüber älteren Menschen bedeuten muß.“ (Zitat-Ende).

ä 11. Konsequenzen für das soziale Sicherungssystem in Deutschland (S. 170-193):

„Dieses Kapitel beruht auf meinem Gutachten vom 04.07.2000 für das Bundesverfassungsgericht. Darauf stützte das Gericht sein Urteil vom 03.04.2001, in dem die Pflegeversicherung wegen des »systemspezifischen Vorteils« der Kinderlosigkeit in Teilen als verfassungswidrig erklärt und eine Überprüfung auch der Rentenversicherung auf Verfassungsmäßigkeit verfügt wurde.

Rentenversicherung

In Deutschland beruht die gesetzliche Rentenversicherung zum weitaus überwiegenden Teil auf dem sogenannten Umlageverfahren: Die heutigen Beitragszahler bekommen ihre Rentenbeiträge nicht im Ruhestand als Rente wieder, sondern ihre Beitragszahlungen werden ohne zeitlichen Umweg sofort an die heutigen Rentner ausbezahlt. Wenn die heutigen Beitragszahler selbst das Rentenalter erreicht haben, sind ihre früheren Einzahlungen schon lange ausgegeben, ihre Renten müssen aus den Beitragseinnahmen der dann im Erwerbsleben stehenden Bevölkerung finanziert werden. Eine Erhöhung des Verhältnisses der Zahl der zu versorgenden älteren Menschen zur Zahl der die Versorgungsleistungen erbringenden im mittleren Alter (= Altenquotient) um einen Faktor von z.B. 2,4 bedeutet, daß die Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung um den gleichen Faktor angehoben - oder daß das Rentenniveau (= Verhältnis der Durchschnittsrente zum Durchschnittseinkommen) um den Faktor 1/2,4 verringert werden müßte. Für den heutigen Beitragssatz von rd. 20% liefe das auf eine Erhöhung auf mehr als das Doppelte hinaus; alternativ könnte das Rentenniveau von z. Zt. 70% auf weniger als die Hälfte gesenkt werden. Würde man die Einnahmen der Rentenversicherung zu einem immer höheren Anteil aus Steuern finanzieren, wie das heute bereits zu einem Drittel z. B. durch die Ökosteuer geschieht, ließe sich der Anstieg des Beitragssatzes begrenzen, aber nicht der Anstieg der realen Belastungen, denn es ist im Prinzip gleichgültig, ob die Abzüge von den Einkommen in Form von Beiträgen oder als Steuern einbehalten werden.

Rentenformel

Die Formel besagt: Für jedes gegebene Rentenniveau (Rn) ist der Beitragssatz (Rb) um so größer, je höher der Altenquotient (Aq) ist. Da sich der Altenquotient wegen der steigenden Zahl der über 60jährigen (AR = Altersgruppe Rentner) und der abnehmenden Zahl der 20-60jährigen (AB = Altersgruppe Beitragszahler) um den Faktor 2,4 erhöht, müßte der Beitragssatz von z.Zt. rd 20% bei unverändertem Renteniveau von z. Zt. rd 70% um den Faktor 2,4 auf 48% angehoben werden. Wollte man umgekehrt den Beitragssatz konstant halten, müßte das Rentenniveau statt dessen um den Faktor 1/2,4, d.h. auf 29% gesenkt werden. ... Schließlich ließe sich theoretisch der aus Steuern (S = Steuern) finanzierte Anteil an den Einnahmen der Rentenversicherung um den Faktor 2,4 erhöhen ....

„Obwohl die Ledigen und die Ehepaare ohne Kinder über ein Vielfaches an Einkommen gegenüber den Familien mit Kindern verfügen (vgl. Tabelle), hat der zunehmende Anteil der Kinderlosen zu einer Verringerung statt zu einer Erhöhung der volkswirtschaftlichen Sparquote geführt. (Extreme Kinderfeindlichkeit! Anm. HB*). Die durch den Geburtenrückgang verringeren Ausgaben für Kinder wurden nicht für Ersparnisse, sondern für den Konsum verwendet. (Das auch noch! HB*). Das Deutsche Institut für Altersvorsorge hat diesen Effekt bei der Berechnung der gesamtwirtschaftlichen Sparquote berücksichtigt und festgestellt, daß die Sparquote seit Beginn der 1970er Jahre parallel zum Geburtenrückgang stark abnahm. »Nach Abzug (der für Kinder eingesparten Kosten; Einschub: Herwig Birg) ergibt sich für das Jahr 1998 eine ... Gesamtsparquote von nur noch 6%, während die reine Finanzsparquote einen Wert von 10% angibt .... Dieser Rückgang der gesamten Sparquote blieb über ... 30 Jahre hinweg ohne Konsequenzen, weil die positiven Rahmenbedingungen der Umlagerente den direkten Zusammenhang zwischen Kindern und individueller Altersvorsorge vernebelten und eine ständige Verscheibung der intergenerationalen Lastenverteilung erlaubten. Dies wird für eine breite Öffentlichkeit erst jetzt mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung spürbar.« (Deutsches Institut für Altersvorsorge [Hrsg.], Vermögensbildung unter neuen Rahmenbedingungen, 2000, S. 27). - Dem ist nichts hinzuzufügen. Man darf gespannt sein, wie lange es noch dauert, bis die Politik eingesteht, daß die von ihr genährten Illusionen haltlos sind und zugibt, daß sie der Bevölkerung etwas vorgemacht hat .... Für Menschen gibt es ... keinen Ersatz.

Vorausberechnung des Jugend- und Altenquotienten von 1998 bis 2100
 Jugendquotient
(Unter-20-Jährige auf 100 20-bis-60-Jährige)
Altenquotient
(Über-60-Jährige auf 100 20-bis-60-Jährige)
Gesamtquotient*
(Unterstützungsquotient)
19980,380 <=> 38,0%0,386 <=> 38,6%0,766 <=> 76,6%
20000,381 <=> 38,1%0,428 <=> 42,8%0,809 <=> 80,9%
20100,332 <=> 33,2%0,483 <=> 48,3%0,815 <=> 81,5%
20200,313 <=> 31,3%0,599 <=> 59,9%0,912 <=> 91,2%
20300,331 <=> 33,1%0,813 <=> 81,3% 1,114 <=> 114,4%
20400,321 <=> 32,1%0,859 <=> 85,9%1,180 <=> 118,0%
20500,319 <=> 31,9%0,914 <=> 91,4%1,233 <=> 123,3%
20600,327 <=> 32,7%0,926 <=> 92,6%1,253 <=> 125,3%
20700,331 <=> 33,1%0,930 <=> 93,0%1,261 <=> 126,1%
20800,332 <=> 33,2%0,922 <=> 92,2%1,254 <=> 125,4%
20900,340 <=> 34,0%0,909 <=> 90,9%1,249 <=> 124,9%
21000,345 <=> 34,5%0,887 <=> 88,7%1,232 <=> 123,2%
* Unterstützungsquotient = Summe aus Jugendquotient und Altenquotient = Die-unter-20-und-über-60-Jährigen auf 100 20-bis-60-Jährige.

Auch die Einwanderung Jüngerer in einer integrierbaren Größenordnung reicht als Ersatzmaßname nicht aus, zumal die Eingewanderten meist keine ausreichenden Schulabschlüsse haben und häufig erwerbslos sind.

Die Konsequenz ist, daß die auf dem Umlageverfahren beruhende gesetzliche Rentenversicherung reformiert werden muß. Um sowohl eine übermäßige Erhöhung des Beitragsatzes als auch eine untragbare Verringerung des Rentenniveaus zu vermeiden, sollte eine zusätzliche, auf Eigenvorsorge durch private Ersparnis beruhende Altersvorsorge eingeführt werden, die von der demographischen Alterung wesentlich unabhängier ist als das Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung.

Die notwendigen Reformen können nicht verhindern, daß sich die soziale Ungleichheit zwischen den Geenerationen, zwischen den Familien mit Kindern und den Kinderlosen sowie zwischen gut ausgebildeten deutschen und der zugewanderten Bevölkerung und ihren Nachkommen, deren schulische und berufliche Qualifikation wesentlich geringer ist (meistens sogar gar nicht vorhanden ist; Anm. HB*), stark erhöht. Das Verteilungsproblem wird zur entscheidenden politischen Herasuforderung im 21. Jahrhundert.

Der soziale Rechtsstaat wird in Zukunft durch eine zunehmende Kluft zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit geprägt sein. Seit Jahrzehnten wird der Generationenvertrag nur durch die Eltern eingehalten. Dieser Tatbestand wird von Verfassungsrichtern als ein »rechtsstaatlicher Skandal« bezeichnet (Paul Kirchhof). Von den Propagandisten des »Verfassungspatriotismus« wurde er bisher mit Schweigen quittiert.

Frei verfügbares Einkommen von Haushalten mit und ohne Kinder
Einkommen / AbzügeLedig ohne KinderEhepaar ohne KinderEhepaar mit 1 KindEhepar mit 2 KindernEhepaar mit 3 Kindern
Brutto6000060000600006000060000
Lohnsteuer12255  5840  5840  5840  5840
Solidaritätszuschlag*    674     321      49        0        0
Kirchensteuer  1103    525    352    184      25
Sozialversicherung AN*1258012580125801258012580
Kindergeld        0        0  3000  6000  9600
Netto3338840734441794739651155
Offizielles Existenzminimum*
für Erwachsene (je 13067 DM)
1306726135261352613526135
Offizielles Existenzminimum*
für Kinder (je 6912 DM)
        0        0  69121382420736
Gesamt1306726135261352613526135
Frei verfügbares Einkommen20321
für 1 Person !
14599
für 2 Personen!
11132
für 3 Personen!
  7437
für 4 Personen !
  4284
für 5 Personen!
Quelle: Jürgen Borchert, Arme Kinderreiche - Nur eine Reform des Steuer- und Beitragssystems kann die Familienarmut beseitigen, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 243, 19. Oktober 1999, S. 9.

Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 03.04.2001 festgestellt, daß die Pflegeversicherung (und darüber hinaus auch die umlagefinanzierte Rentenversicherung) voraussetzt, daß erstens Beiträge eingezahlt und zweitens künftige Beitragszahler betreut und erzogen werden (= »generativer Beitrag«). Kinderlose leisten nur den finanzielle Beitrag, nicht den generativen, kommen aber in den Genuß der vollen Leistungen. Darin sieht das Gericht einen »systemspezifischen Vorteil« der Kinderlosen. Es hat dabei nicht von der Erziehung eigener, d. h. leiblicher Kinder, gesprochen. Die Kritik, daß es Menschen gibt, die aus gesundheitlichen Gründen keine Kinder haben, trifft nicht zu, weil es auf die Betreuungs- und Erziehungsleistung ankommt, die auch nicht leiblichen Kindern zuteil werden kann, z. B. auf dem Wege der Adoption.

Schlußbetrachtung

Die nach 1960 geborenen Frauenjahrgänge in Deutschland bleiben zu einem Drittel zeitlebens kinderlos, bei ihren Eltern lag dieser Anteil erst bei rd. 10 Prozent. Der hohe und weiter wachsende Anteil der Kinderlosigkeit ist der entscheidende Grund für den niedrigen, langjährigen Durchschnitt von 1,2 bis 1,4 Lebendgeborenen je Frau im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts. Bei den zwei Dritteln der Frauen unter den jüngeren Jahrgängen, die nicht kinderlos bleiben, entfallen im Durchschnitt 2,1 Kinder auf jede Frau - eine unter mehreren Gesichtspunkten ideale Zahl.

In entwickelten Gesellschaften mit niedriger Sterblichkeit wird das für die Finanzierung des sozialen Sicherungssystems günstigste Verhältnis der Zahl der Über-60-Jährigen zur Zahl der 20-bis-unter-60-Jährigen genau dann erreicht, wenn die Geburtenrate im Durchschnitt, d. h. unter Einschluß auch der kinderlos bleibenden Frauen, rd. 2,1 Lebendgeborene pro Frau beträgt. Dieses stringent beweisbare, ermutigende Ergebnis der Bevölkerungsmathematik bedeutet, daß das entscheidende Ziel einer an demographischen Strukturen orientierten Politik darin bestehen sollte, die lebenslange Kinderlosigkeit zu verringern. Wenn das Drittel der kinderlosen Frauen pro Kopf im Durchschnitt ebenso viele Kinder hätte wie die zwei Drittel mit Kindern, wäre die Altersstruktur langfristig optimal, die demographisch bedingten Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme würden ein Minimum erreichen, und permanente Einwanderungen wären nicht erforderlich.

Es genügt allerdings nicht, daß wieder ein größerer Anteil der Menschen Kinder hat und erzieht, sondern diese Erziehung muß eine demographisch nachhaltige Wirkung haben, so daß die Kinder ihrerseits Kinder zur Welt bringen usf.. Das war in der übertausendjährigen Geschichte Deutschlands und Europas eine Selbstverständlichkeit, warum sonst hätten z. B. die Menschen im Jahr 1245 mit dem Bau des Kölner Doms beginnen sollen, der erst im 19. Jahrhundert vollendet wurde, wenn sie nicht über ihre eigene Generation hinaus gedacht und gehandelt hätten?

Es gibt einen Punkt, an dem alle Kulturen der Welt trotz der Relativität aller Werte miteinander verglichen werden können, das ist die Fähigkeit, über das eigene Leben hinaus zu denken, zu planen und entsprechende Entscheidungen zu treffen. Die Menschen in Deutschland und Europa haben diese Aufgabe schon seit Jahrzehnten nicht mehr zufriedenstellend erfüllt. Als Konsequenz wird das demographische Defizit im 21. Jahrhundert unaufhaltsam zunehmen.

Alles scheint von der Kultur abzuhängen, aber mit der Kultur hat es eine eigene Bewandtnis. Wenn einer Kultur die Fähigkeit fehlt, in ihren Kindern weiterzuleben, woraus sollen dann die Mahnungen und Appelle für eine Änderung der kulturellen Werte ihre Kraft schöpfen?  Bloße Appelle können nicht aus der Sackgasse der demographischen Schrumpfung und Alterung herausführen. Eine Änderung der Wertebasis zu fordern, scheint deshalb einen Widerspruch zu bergen. Aber es kann keine andere Quelle geben, aus der sich eine Kultur erneuert, als die Kraft dieser Kultur selbst.“ (Zitat-Ende).

ä 12. Demographie und Politik (S. 194-206):

„Die Gefährlichkeit dieser Form menschlicher Verwahrlosung liegt darin, daß es neben dem Rassismus als Theorie und als politische Ideologie noch eine andere Art von tiefer liegendem, zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften praktiziertem Rassismus gibt, den man mit einem Begriff aus der kriegswissenschaft als strategischen Rassismus bezeichnen könnte, wobei die Betonung auf dem Begriff Strategie und nicht auf dem der Rasse liegt. Diese Form kommt in vielen Spielarten vor, auch bei Menschen, die den üblichen Rassismus am schärfsten verurteilen. Der strategische Rassismus hat im Gegensatz zum bekannten, offenen nichts mit höher- oder minderwertigen Eigenschaften bestimmter Menschengruppen zu tun, es geht dabei überhaupt nicht um irgendwelche tatsächlichen oder vermeintlichen Unterschiede zwischen Menschen, vielmehr besteht das strategische Ziel darin, ein absolut sicheres Mittel zur Herrschaft über andere zu erlangen. Als ein solches Mittel eignet sich aus der Sicht der strategischen Rassisten die Zurückführung eines Menschen auf seine Herkunft - sei es seine biologische Abstammung oder seinen kulturellen Ursprung.

Einen Menschen wegen seiner Herkunft zu kritisieren, ihn abzulehnen und zu verurteilen, bedeutet, ihn absolut wehrlos und vollkommen verletzlich und beherrschbar zu machen, denn im Hinblick auf seine Herkunft ist jeder Mensch hilflos, weil niemand seinen Ursprung wählen kann. Für den strategischen Rassismus ist die Kategorie der Abstammung als solche gar nicht von Interesse. Sie dient ihm als Instrument, um den anderen durch die Zuschreibung von nicht änderbaren Eigenschaften in die Situation einer vollkommenen Ausweglosigkeit und Wehrlosigkeit zu bringen, die eine sichere Überlegenheit und Herrschaft garantiert.

Wenn die Suche nach dem Ursprung, der Herkunft, der Entstehung - sei es einer Sache, eines Gedankens oder einer Person - mit einer alles andere verdrängenden Besessenheit betrieben wird, sollte man immer wachsam sein: Dann ist Ungerechtigkeit eine beinahe unvermeidliche Folge. Eines der Beispiele hierfür ist der Umgang mit den Verbrechen der Nazi-Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Verbrechen der Nationalsozialisten, deren Ursachen und Folgen man nicht gründlich genug nachgehen kann, sind etwas Ungeheuerliches. Es geht jedoch nicht an, daß das Andenken der Opfer gemindert wird, indem die an diesen Verbrechen unbeteiligten Menschen, die zur Tatzeit im Kindesalter oder noch nicht geboren waren - das sind vier Fünftel der heute in Deutschland lebenden Menschen -, durch die strategisch eingesetzte Kategorie ihrer Abstammung und ihrer kulturellen Herkunft in eine Position absoluter Wehrlosigkeit gebracht werden, die bei den Betroffenen das Gefühl eines unverschuldeten, unerträglichen Ausgeliefertseins heraufbeschwören muß. Dieses Gefühl macht unfrei und schwächt den Impuls für die Übernahme von Verantwortung für das Gewesene, dabei wäre es gerade im Hinblick auf die Verbrechen der Nazizeit so wichtig, daß sich das Gefühl, Verantwortung übernehmen zu müssen, spontan und in Freiheit bildet.

Bei der politischen Selbsterziehung einer Bevölkerung zu einer gesitteten, gesellschaftsfähigen Gemeinschaft führt jedoch nur ein Weg zum Ziel. Es ist der gleiche Weg, der auch im Kleinen, bei der gegenseitigen Erziehung der Menschen, z.B. in der Familie, Erfolg hat: Offenheit und und Ehrlichkeit verbunden mit Liebe und vorbildlichem eigenem Verhalten. Kein Land, das diese Erfahrung mißachtet, wird dies ungestraft tun, Haß und Gewalt werden die Folge sein, ohne daß staatliche Gewalt als Gegenmittel gegen Verbrechen dauerhaft etwas ausrichten kann. Wenn die Fehlentwicklung lange genug währt, wird es schwer, zum Weg der Liebe und des Vorbildes zurückzufinden, bis schließlich in Vergessenheit gerät, daß es diesen Weg überhaupt gibt. Dann bestimmen andere Gesetze das Geschehen, der Staat antwortet auf die Gewalt der durch Uninformiertheit infantilen, unmündig gebliebenen Gesellschaft schließlich nur noch mit Gegengewalt.

Die Infantilisierung ist weit fortgeschritten, heute muß niemand mehr lernen, erwachsen zu werden, jeder kann z.B. seine eigene Ausbildung und Erziehung ernst nehmen oder sie als eine überflüssige Last abschütteln, jeder kann heiraten, Kinder haben und sich wieder scheiden lassen, ohne für die Folgen seines Verhaltens wirklich selbst einstehen zu müssen, denn die Gesellschaft übernimmt lebenslang eine schützende Vaterrolle, auch wenn die eigenen Eltern nicht mehr leben und es ihren Schutz nicht mehr gibt. Wird die Ehe geschieden, kümmern sich Gerichte und öffentliche Einrichtungen um die Existenz der Kinder, und die Ehegatten werden, wenn sie es wünschen, vor und nach der Scheidung von professionellen Helfern betreut. Es ist fast schon für alle Eventualitäten vorgesorgt, warum sollte also ausgerechnet die demographische Entwicklung ernsthafte Sorgen bereiten?

In einer Demokratie wie der unseren sind die sozialpolitischen Vorsorgemaßnahmen das Ergebnis des ständigen Bemühens der Parteien um die Stimmen der Wähler, nicht unbedingt um ihre echte Gunst, und dieser Unterschied hat Folgen. Um die Macht zu erlangen und zu behalten, glauben die Parteien, es den Wählern durch soziale Wohltaten sogar ersparen zu müssen, die Mühen des Erwachsenwerdens auf sich zu nehmen. Die Wirkung der Wahlgeschenke ist progressiv - die Wohlfahrt nimmt zu - und sie ist regressiv zugleich, denn die Umworbenen werden dazu verführt, nicht mehr selbst für sich zu sorgen, bis sie es schließlich nicht mehr können und »infantil« werden - ein Ausdruck, der immer häufiger zur Charakterisierung unserer Gesellschaft gebraucht wird und sich z.B. auch in der von Niklas Luhmann formulierten Logik des Wohlfahrtsstaates findet. (Vgl. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 1998, S. 427). Wenn die Sozialpolitik schließlich nur noch als Instrument der Parteien im Konkurrenzkampf um politische Macht fungiert, wird ein kritischer Punkt erreicht. Die Gesellschaft hilft jedem, aber niemand fühlt sich mehr verpflichtet, ihr zu helfen, weil das bei erwachsenen Menschen selbstverständliche Wissen verlorengegangen ist, daß eine Leistung in der Regel eine Gegenleistung voraussetzt.

Die Entwicklung hat etwas Zwanghaftes, sie scheint sich wie von selbst aus der Art unserer Demokratie zu ergeben, die entgegen der Theorie und im Gegensatz zu den offiziellen Äußerungen vieler Politiker und Staatsrechtler Gewaltenteilung kennt, weil die Regierung durch die im Parlament vertretene Regierungspartei, die die Mehrheit und damit die Macht hat, eben nicht »kontrolliert«, sondern unterstützt wird. Darüber macht sich die Politik selbst noch am wenigsten Illusionen, wie das folgende Zitat aus der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift »Das Parlament« illustriert: »In Bezug auf die Gewaltenteilung zwischen Bundestag und Bundesregierung gibt es einen merkwürdigen Widerspruch. In Schul- und Lehrbüchern ... wird immer noch das - wie es in der Literatur überwiegend genannt wird - klassische Gewaltenteilungskonzept als selbstverständlich vorausgesetzt .... Von Anfang an - schon in der ersten Wahlperiode des Bundestages - hat die Praxis nicht der Gewaltenteilungsnorm entsprochen. Wenn das Fernsehen Plenardebatten aus dem Bundestag überträgt, dann stehen sich nicht .... Bundestag und Bundesregierung als Legislative und Exekutive gegenüber, sondern konkurrierende Fraktionen bzw. Parteien«. (E. Schütt, Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive?  In: Aus Politik und Zeitgeschichte - Beilage zur Wochenzeitung «Das Parlament», 07.07.2000, S. 5).

Die im Parlament vertretene, jeweilige Oppositionspartei allein kann die mit dem Prinzip der Gewaltenteilung angestrebte Kontrollfunktion nicht ausüben, dafür hat sie keine ausreichende Mehrheit, und wenn sie sie erreichte, verhielte sie sich als Regierungspartei wahrscheinlich auf die gleiche Weise. Deshalb ist nicht die Oppositionspartei der eigentliche Opponent der Regierungsmacht, sondern in Umkehrung des Urgedankens der Demokratie - das Volk bzw. das Wahlvolk. Die eigentliche Gefahr, die Macht zu verlieren, droht vom Volk bzw. vom Wähler. Der Wähler verleiht oder entzieht die Macht, nicht das Parlament und nicht die Opposition. Für eine machtbesessene Partei kann es deshalb verführerisch sein, die Macht so zu verwenden, daß die Gefahr, sie wieder zu verlieren, an der Wurzel - also beim Volk - bekämpft wird. Ein wirksames Mittel hierzu ist die Schwächung der Urteilsfähigkeit der potentiellen Wähler durch das Zurückhalten von Informationen und durch unterlassene Aufklärung.

Leider hat keine der im Parlament vertretenen Parteien der Versuchung widerstanden, dieses Mittel einzusetzen. Die Macht könnte zwar im Idealfall theoretisch vielleicht in Zukunft einmal durch die Teilung der Gewalten eingedämmt werden, aber berechenbar und wirklich kontrollierbar wäre sie dann trotzdem nicht. Schiere Macht kann nur von den Mächtigen durch Selbstdisziplin kontrolliert werden - eine Aufgabe, die auch von einer ideal funktionierenden Gewaltenteilung nicht erfüllt werden kann. Die Selbstdisziplin wird nicht wie die Macht vom Wähler verliehen, sie muß von den Mächtigen selbst erworben werden. Das dafür nötige Verantwortungsbewußtsein äußert sich in freiwillig übernommenen Verpflichtungen gegenüber Menschen, denen gegenüber es keinerlei einklagbare Verpflichtungen gibt. Hierzu gehört besonders die Verantwortung gegenüber den nicht mehr lebenden und den noch nicht lebenden Generationen, die keinerlei Möglichkeit haben, von uns irgend etwas einzufordern.

ä 13. Ethische Aspekte der menschlichen Fortpflanzung - die Verantwortungsethik von Hans Jonas (S. 207-218):

„Es ist bezeichnend, daß alle Kulturen, in denen es überhaupt eine Reflexion über Ethik gibt, das Postulat der Universalität allen anderen Prinzipien überordnen. Immanuel Kant hat dies in der bekannten Sentenz ausgedrückt: »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.«

Geburtenrate von rd. zwei Kindern pro Frau .... Eine solche Geburtenrate hat über den hier hervorgehobenen Aspekt der Universalität ethischer Normen hinaus den praktischen Vorteil, daß die denographisch bedingten Belastungen der mittleren Generation durch Unterstützungszahlungen an die ältere und an die nachwachsende so gering wie überhaupt möglich wären.

Für die in Kapitel 2 diskutierte Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß in Zukunft vielleicht eine Weltgesellschaft entstehen könnte, sind die Überlegungen über die universelle Gültigkeit ethischer Prinzipien vor allem wegen der inhaltlichen Konsequenzen der scheinbar nur formal relevanten Maxime von Bedeutung. Denn die Maxime Kants, die ebenso wie das christliche Gebot der Nächstenliebe radikalere Veränderungen der Welt zur Folge hätte als alle Revolutionen zusammengenommen, wenn sie befolgt würde -, läßt sich nicht als ein formales Prinzip abtun; sie ist in Wahrheit die praktisch bedeutsamste ethische Verhaltensregel, die sich denken läßt. Daß die Universalität der wichtigste Prüfstein für die inhaltliche Qualität jeder ethischen Norm ist, soll noch am folgenden Beispiel demonstriert werden. Würde man eine universelle Geltung der deutschen Abtreibungsnormen voraussetzen, so wie heute für die Menschenrechte eine weltweite Geltung anerkannt bzw. gefordert wird, dann hätte das zur Folge, daß über 90% der jährlich 117 Mio. Geburten in den Entwicklungsländern bzw. über 80% der 130 Mio. Geburten in der Welt insgesamt infolge der nach unseren Maßstäben extremen Armut in diesen Ländern unter die Bestimmungen der sozialen Indikation fielen. Würden diese Abtreibungen durchgeführt, gäbe es in der Welt ein Geburtendefizit von 27 Mio. pro Jahr statt eines Geburtenüberschusses von 77 Mio., und die Weltbevölkerung würde schon heute permanent schrumpfen statt zu wachsen.

Wenn sich alle Menschen entsprechend der Kantischen Maxime der Universalisierbarkeit ihrer Handlungsprinzipien verhielten, wäre die ethische Qualität des Endergebnisses ihrer Handlungen keineswegs unkalkulierbar, obwohl die Konsequenzen der Handlungen auch dann unvorhersehbar blieben, sondern ein solches Verhalten würde zu einem ethischen Prinzipien genügenden Gesamtergebnis führen, das keineswegs utopisch, sondern real wäre.

Es läßt sich jedoch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es eine Garantie dafür gibt, daß die millionenfachen, individuellen Handlungen, insbesondere die Fortpflanzungsentscheidungen, auch wenn jede einzelne von ihnen ethisch vorbildlich wäre, in ihrer Summe eine Geburtenrate zur Folge hätten, die weder zu dauernder Bevölkerungsschrumpfung noch zu einem dauernden Wachstum führt. Für Hans Jonas, der sich als einer der wenigen Philosophen in seiner Verantwortungsethik mit den Folgen der Bevölkerungsentwicklung in den Industrie- und Entwicklungsländern auseinandergesetzt hat, ist das Erreichen bevölkerungspolitischer Ziele für das Überleben der Menschheit von einer so ausschlaggebenden Bedeutung, daß er eine Ethik entwarf, bei deren Befolgung es eine Garantie dafür geben soll, daß insbesondere die dauernde Bevölkerungsschrumpfung in den Industrieländern auf Grund einer zu niedrigen Geburtenrate verhindert wird.

Dafür beruft sich Jonas ausdrücklich auf die Ethik Kants und auf dessen Kategorischen Imperativ. Aus der Unbedingtheit der Forderung nach einem Überleben der Menschheit leitet er eine unbedingte, »kategorische Pflicht zur Fortpflanzung« ab: »... der kategorische (Imperativ) gebietet einfach, daß es Menschen gebe .... Für mich, ich gestehe es, ist dieser Imperativ der einzige, auf den die Kantische Bestimmung des Kategorischen, das heißt Unbedingten, wirklich zutrifft. Da sein Prinzip nun aber nicht wie beim Kantischen die Selbsteinstimmigkeit der sich Gesetze des HandeIns gebenden Vernunft ist, das ist, eine Idee des Tuns. .., sondern die auf der Existenz ihres Inhaltes bestehende Idee von möglichen Tätern überhaupt, die insofern eine ontologische ist, das ist, eine Idee des Seins - so ergibt sich, daß das erste Prinzip einer ›Zukünftigkeitsethik‹ nicht selber in der Ethik liegt als einer Lehre vom Tun ..., sondern in der Metaphysik als einer Lehre vom Sein, wovon die Idee des Menschen ein Teil ist.« (Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979, S. 91f.).

Hans Jonas überscheibt in seiner »Ethik für die technologische Zivilisation« - so lautet der Untertitel seines Buches »Das Prinzip Verantwortung« - ein Kapitel mit der Überschrift »Von der Pflicht zum Dasein und Sosein einer Nachkommenschaft überhaupt«. Er spricht dort von einer »Pflicht zur Fortpflanzung«. Friedrich W. Burgdörfer, ein einflußreicher Bevölkerungswissenschaftler zur Zeit des Nationalsozialismus, postulierte ebenfalls eine »Fortpflanzungspflicht« für alle gesunden Mitglieder des »Volkskörpers«. Steht Hans Jonas' demographischer Imperativ in der Nähe des Nationalsozialismus? Diese Frage ist natürlich rhetorisch ....“ (Zitat-Ende).

Strategische Optionen der Familien- und Migrationspolitik in Deutschland und Europa (2003; Auflage 2005)

„Zu- und Abwanderungen haben besonders starke demographische Auswirkungen auf die Zahl und Struktur der Bevölkerung, und zwar auch dann, wenn man sie nicht zur Kenntnis nimmt. Die demographischen Wirkungen politischen Handelns (und Unterlassens) können auch in einer Demokratie nicht vermieden werden, sondern nur anders benannt werden. Aber warum sollte man die bevölkerungspolitischen Auswirkungen der Politik nicht bevölkerungspolitische Auswirkungen nennen?  .... Dieses Land muß die Souveränität über seine Sprache wieder gewinnen, ohne die es keine geistige und auf Dauer auch keine politische Souveränität geben kann. Die Demokraten in Deutschland haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, den Begriff Bevölkerungspolitik neu zu definieren und mit einem an demokratischen Zielen orientierten Inhalt zu füllen.“ (Ebd., S. 28).

„Der Rückgang der Geburtenrate in den letzten Jahrzehnten in Deutschland beruht nach den Äußerungen der Befragten aus zahllosen Umfragen nicht auf einer Abschwächung oder gar auf einem Wegfall des Wunsches nach einem Kind, sondern auf wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren, die der Realisierung von Kinderwünschen entgegenstehen. dabei fällt es schwer, zu klären, was unter dem Wunsch nache einem Kind genau zu verstehen ist, denn die Befragten machen ihre Wünsche von bestimmten Voraussetzungen abhängig, z.B. vom Angebot von Einrichtungen zur Kinderbetreuung, von ausreichenden staatlichen Unterstützungszahlungen, vom vorherigen Erreichen bestimmter Ziele der Berufsausbildung und der Erwerbskarierre u.s.w.. Ob die Intensität der Kinderwünsche geringer oder die Hürden zu ihrer Verwirklichung höher geworden sind und welchen Anteil die beiden Faktoren am Rückgang der Geburtenrate haben, ist trotz jahrzehntelanger Forschung nicht leicht zu beantworten. .... Faßt man die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung über die Gründe des Rückgangs der Geburtenrate zusammen, so lassen sich je drei Faktoren auf der Ebene des »Individuums« und auf der Ebene der der Gesellschaft feststellen, aus deren Kombination sich neun Fallgruppen von Ursache-Konstellationen ergeben. (Vgl. Tabelle).“ (Ebd., S. 29).

Intervenierende Einflußgrößen auf das demographisch-ökonomische Paradoxon
 Gesellschaftliche und staatliche Einflußgrößen auf das biographische Universum
 Soziales SicherungssystemVereinbarkeit von Familien- und ErwerbsarbeitWerte und Normen* bzw. Prioritäten für Familien und Kinder
»Individuelle«
Einflußgrößen auf das biographische Universum
Erziehung / Ausbildung
Beruf / Erwerbsarbeit
Regionale Lebenswelt
Demographisch-ökonomisches Paradoxon:
Je höher das pro-Kopf-Einkommen (der Frauen)
*,
desto höher die ökonomischen und biographischen
Opportunitätskosten von Kindern und (folglich
*)
desto niedriger die Zahl der Geburten pro Frau.
Zusätzliche Einflußgrößen auf die Geburtenrate:
– Ausmaß der Einwanderung
– Herkunft der Einwanderer
*
– Ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung
– Siedlungsstruktur und Grad der Urbanisierung
– Anteil der kinderlosen (Männer und)
* Frauen
– Timing-Effekte (Alter der Frau bei der Geburt
    des 1. Kindes, der 2. und der weiteren Kinder)
Ebd., S. 30 (* Zusatz von mir [HB])

„Von der Größe und Art des biographischen Universums werden die biographischen Handlungsalternativen und -optionen des »Individuums« entscheidend beeinflußt. Dabei hat die empirische Lebenslaufforschung gezeigt, daß die Wahrscheinlichkeit einer langfristigen Festlegung im Lebenslauf durch eine Kindergeburt um so geringer ist, je größer die Zahl der Lebenslaufoptionen ist, die aufgrund dieser Festlegung aus dem biographischen Universum ausscheiden würden. Die ausgeschiedenen Lebenslaufoptionen werden als biographische Opportunitätskosten von Kindern bezeichnet. Die ökonomischen Opportunitätskosten bilden einen Teil der biographischen Opportunitätskosten. Sie lassen sich messen durch die Summe der entgangenen Einkommen, auf die eine Frau (oder ein Mann; Anm. HB) verzichten müßte, wenn sie (oder er; Anm. HB) durch die gesellschaftlichen Lebensbedingungen aufgrund einer mangelnden Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit nicht erwerbstätig wäre. Mit der biographischen Theorie der Fertilität läßt sich das als »demographisch-ökonomische Paradoxon« bezeichnete Phänomen erklären, daß die Zahl der Kinder pro Frau um so mehr zurückging, je stärker das Pro-Kopf-Einkommen zunahm.“ (Ebd., S. 30).

„In modernen Gesellschaften sind die folgenreichsten langfristigen Festlegungen in der Biographie die Festlegungen für einen bestimmten Ausbildungsweg und die anschließende Berufswahl. Diese Entscheidungen stehen am Anfang einer Biographie und fallen oft zeitlich zusammen mit der Entscheidung über die Bindung an einen Partner. Durch diese Festlegungen polarisieren sich die Biographien relativ früh in zwei Gruppen mit und ohne Kinder. Innerhalb der Gruppe mit Kindern ist der Übergang von der Phase ohne Kinder zur Elternschaft mit wesentlich höheren biographischen Opportunitätskosten verbunden als der Übergang vom ersten zum zweiten und vom zweiten zum dritten Kind.“ (Ebd., S. 31).

„Entscheidend für die endgültige Zahl der Lebendgeborenen pro Frau ist bei jedem Jahrgang der Anteil der Frauen, die zeitlebens kinderlos bleiben. Der Anteil der Kinderlosen nahm z.B. vom Jahrgang 1940 bis zum Jahrgang 1965 von 10,6% auf 32,1% zu. Bei der größeren, zwei Drittel und mehr umfassenden Teilgruppe von Frauen, die Kinder hatten, blieb jedoch die Kinderzahl pro Frau mit rd. zwei Kindern von Jahrgang zu Jahrgang relativ konstant. Der Rückgang der Geburtenrate der Jahrgänge ab 1940 beruht also in erster Linie darauf, daß die lebenslange Kinderlosigkeit von Jahrgang zu Jahrgang stieg.“ (Ebd., S. 28).

„Nach diesen Ergebnissen der demographischen Forschung bieten sich der Familienpolitik zwei Optionen zur Erhöhung der Geburtenrate. Die erste Option hat als Zielgruppe das Drittel der Frauen, die kinderlos bleiben würden. Bei dieser entscheidenden Zielgruppe müßte die lebenslange Kinderlosigkeit gesenkt werden. Die Zielgruppe für die zweite familienpolitische Option sind die zwei Drittel der Frauen, die Kinder haben. Bei dieser Zielgruppe müßte die durchschnittliche Kinderzahl von rd. zwei Kindern auf mehr als zwei erhöht werden.“ (Ebd., S. 31).

„Die erste Strategie der Verringerung der Kinderlosigkeit hätte - wenn sie erfolgreich wäre - die größte Wirkung auf die Geburtenrate, aber sie bedarf eines familienpolitischen Instrumentariums, das auf diese Zielgruppe zugeschnitten ist. Das entscheidende Element eines solchen familienpolitischen Instrumentariums müßte eine Wertepolitik sein, die die müßte eine Wertepolitik sein, die die Sinnhaftigkeit eines Lebens mit Kindern als gesellschaftliches Leitbild in der Öffentlichkeit vertritt.“ (Ebd., S. 31).

„Wollte man die demographische Alterung, die in erster Linie auf der niedrigen Geburtenrate und erst in zweiter Linie auf der zunehmenden Lebenserwartung beruht, durch die Einwanderungen jüngerer Menschen verhindern, wären dafür so hohe Einwanderungszahlen erforderlich, daß dadurch mehr Probleme geschaffen als gelöst würden.“ (Ebd., S. 36-37).

„Die demographische Alterung ist eine automatische Folge der Bevölkerungsschrumpfung.“ (Ebd., S. 38).

„Die international vergelichende Analyse für die 15 Länder der EU ergibt einen gegenläufigen Zusammenhang zwischen der Höhe der Geburtenrate und der Intensität der demographischen Alterung: Je höher die Zahl der Lebendgeborenen pro Frau, desto niedriger ist der Altenwuotient in der Zukunft. Die niedrigste Geburtenrate bzw. den höchsten Altenquotienten in der Zukunft haben Spanien, Italien und Griechenland. Die höchste Geburtenrate bzw. den niedrigsten Altenquotienten in der Zukunft haben Irland, Dänemark und Finnland.“ (Ebd., S. 39).

„Die Einwanderung jüngerer Menschen würde den Anstieg des Altenquotienten in der EU nur geringfügig mildern. (Dazu kommt noch, daß ja in Wirklichkeit kaum jüngere, sondern eher Menschen mittleren Alters einwandern, die ihrerseits bald Rentner sind und dann den Altenquotienten sogar noch erhöhen! Anm. HB). Auch in den USA hat die Einwanderung junger Menschen nur einen relativ geringen Einfluß auf den Anstieg des Altenquotienten.“ (Ebd., S. 39).

„Aus den Daten und Analysen ergibt sich, daß ein Anstieg der Geburtenrate das wirksamste Mittel (und realistisch gesehen: das einzige Mittel! Anm. HB) ist, um die Bevölkerungsschrumpfung langfristig zu stoppen und der demographischen Alterung entgegen zu wirken. Wollte man die demographische Alterung in der EU durch die Einwanderung jüngerer Menschen verhindern, müßten bis 2050 700,5 Mio. Menschen mehr ein- als auswandern (das ist unmöglich und auch unrealistisch, weil in einem solchen Fall die EU durch Abwanderung ihrr Einheimischen ihre Attraktivität schon lange vor 2050 verloren haben würde! Anm. HB), so daß die Bevölkerungszahl der EU von 1998 bis 2050 von 375 Mio. auf 1,2 Mrd. wachsen würde. Diese Forschungsergebnisse zeigen, daß es absurd wäre, wenn eine demographisch orientierte Politik - statt eine Erhöhung des Geburtenrate anzustreben - auf Dauer auf eine zumindest teilweise Kompensation des Geburtendefizits durch Einwanderungen setzen würde, wie dies in Deutschland durch das Zuwanderungsgesetz (und das heißt: Bevölkerungspolitik [also doch !], wenn auch nur eine extrem negative und dumme! Anm. HB) geplant wird.“ (Ebd., S. 47).

„Erfolge in der Familienpolitik durch eine Erhöhung der Geburtenrate schlagen nach 20 Jahren als Erfolge auf dem Arbeitsmarkt zu Buche.“ (Ebd., S. 51).

„Kosten der Integration .... Wie die vom Ifo-Institut und vom Max-Plack-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht im Auftrag des Bundesarbeitsministers durchgeführten Forschungsarbeiten zeigen, übersteigen die vom Staat für die Zugewanderten erbrachten fiskalischen Leistungen im Rahmen der Sozialversicherung (Gesetzliche Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung) sowie die steuerfinanzierten Transfers und die Zahlungen der Gebietskörperschaften für die Bereitstellung der öffentlichen Güter (Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Verkehrsinfrastruktur, Verwaltung etc.), die vom Staat von den Zugewanderten empfangenen Leistungen pro Kopf und Jahr um mehrere Tausend DM. (Vgl. Tabelle). Dieser Befund widerspricht den landläufigen Vorstellungen (also: der Propaganda und ihrer Wirkung; Anm. HB), daß Deutschland fiskalisch von der Zuwanderung profitiere. Nach dieser Untersuchung (und mit Sicherheit nicht nur nach ihr; Anm. HB) war und ist die Zuwanderung nach Deutschland seit langem eine »Zuwanderung in die Sozialsysteme«, die eine »Umverteilung von den Deutschen zu den Zugewanderten« bewirkt, wie es in dem Forschungsbericht heißt.

Stand: 1990-1999
Bildungsrückstand der Nicht-EU-Bürger
Bilanz pro Zuwanderer (1997)
Direkte fiskalische Auswirkungen der Zuwanderung pro Zuwanderer
EinnahmenAusgaben
GKV1817,- DMGKV2970,- DM
GRV4053,- DMGRV1362,- DM
SPV252,- DMSPV67,- DM
Arbeitslosenversicherung701,- DMArbeitslosenversicherung452,- DM
Steuern6044,- DMSteuerfinanzierte
Transfers und Leistungen
12646,- DM
Einnahmen insgesamt12867,- DMAusgaben insgesamt 17498,- DM
Gesamtbilanz pro Zuwanderer (1997)
  Ausgaben 4631,- DM
Quelle: SOEP; Ifo-Institut; Hans-Werner Sinn, EU-Erweiterung und Arbeitskräftemigration, 2001.

Die Qualifikationsdefizite sind der entscheidende Grund dafür, daß die Arbeitslosenquote und die Quote der Sozilhilfeempfänger bei den Zugewanderten aus Nicht-EU-Ländern um den Faktor 5 und mehr höher sind als bei den Einheimischen, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in nahezu allen (= 15) Ländern der EU. Die Qualifikationsdefizite sind dabei um so größer, je höher der Anteil der Zugewanderten an der Bevölkerung ist. Aufgrund dieser Fakten ist auch in Zukunft nicht damit zu rechnen, daß die Qualifikationsunterschiede im erhofften Umfang abgebaut werden können. Durch die Strategie einer kompensatorischen Zuwanderungspolitik würde das für die Produktivität und das Pro-Kopf-Einkommen wichtige, im Humankapital der jüngeren Erwerbspersonen enthaltene Bildungs- und Ausbildungskapital beeinträchtigt ....

Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts Wachstumsrate der Bevölkerung =Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens
2,5 %0,7 %
=1,8 %
1,7 %– 0,7 %  =2,4 %

In der öffentlichen Debatte ... wird stets ... die Höhe des Bruttoszialprodukts herausgestellt. Aber es kommt auf die Höhe des Pro-Kopf-Bruttossozialprodukts an. Die Schweiz (bzw. Deutschland; Anm. HB) übt nicht deshalb eine magnetische Anziehungskraft auf die Zuwanderer z.B. Indiens aus, weil das Bruttoszozialprodkt der Schweiz größer wäre als das Bruttossozialprodukt Indiens (das BSP Indiens [rd. 600 Mrd. $] ist ja sogar viel höher als das der Schweiz [rd. 320 Mrd. $]! Anm. HB), sondern weil das Pro-Kopf-Bruttossozialprodukt und der mit ihm korrelierende Lebensstandard in der Schweiz wesentlich höher ist. (Dem rd. 564 $ Pro-Kopf-BSP in Indien stehen rd. 43553 $ Pro-Kopf-BSP in der Schweiz gegenüber - das heißt: das Pro-Kopf-BSP in der Schweiz ist um den Faktor 77,22 größer als das in Indien; Anm. HB).

Resümee: In den letzten 50 Jahren gingen die Geburtenraten in den Indiustrieländern um etwa die Hälfte zurück. In Deutschland beruhte der Rückgang vor allem auf dem Anstieg des Anteils der Frauen an einem Jahrgang mit lebenslanger Kinderlosigkeit auf rd. ein Drittel, während sich bei den Frauen mit Kindern nach wie vor eine im langfristigen Vergleich konstante Zahl von rd. zwei Kindern ergibt. Bei den EU-Ländern, bei denen der Anteil kinderloser Frauen niedrig ist (z.B. Frankreich), liegt die Geburtenrate über dem Durchschnitt der EU, bei Ländern mit hoher Kinderlosigkeit unter dem Durchschnitt (z.B. Deutschland). Durch die in Deutschland besonders hohe Kinderlosigkeit (rd. 33%; Anm. HB) spaltet sich die Gesellschaft in einen Familiensektor (2/3-Mehrheit; Anm. HB) und in einen Sektor ohne eigene Nachkommen (1/3-Minderheit; Anm. HB). Daraus ergeben sich gravierende Konsequenzen für das in der Verfassung verankerte Prinzip der »sozialen Gerechtigkeit«, durch dessen Verletzung auch die sozialen Sicherungssysteme ihre Funktion nicht mehr erfüllen können.

Bei ... Zuwanderungen verringert sich das Qualifikationsniveau der Bevölkerung, und es kommt zu Einbußen beim Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens, während gleichzeitig die Integrationskosten steigen. Die Strategie der Zuwanderungen ist auch aus internationaler Sicht problematisch. .... Es wäre eine moralisch durch nichts zu rechtfertigende Strategie, wenn die reichen Länder auf Dauer ihre demographischen Defizite auf Kosten der armen ausgleichen und mit den Mitteln der Migrationspolitik eine Art demographischen Kolonialismus etablieren würden.“ (Zitat-Ende).

Die ausgefallene Generation (2005)

  -   Vorwort (S. 7-8)
 1.  Klassische Bevölkerungsthorie und Moderne (S. 9-12)
 2. 200 Jahre »Bevölkerungsgesetz« (S. 13-17)
 3. Ursprünge der klassischen Demographie in Deutschland (S. 18-23)
 4. Das Ende des Weltbevölkerungswachstums (S. 24-33)
 5. Deutschlands demographische Weltrekorde (S. 33-44)
 6. Vorausberechnungen der Weltbevölkerung - Zuverlässigkeit und Hauptergebnisse (S. 45-58)
 7. Die Bevölkerungsschrumpfung Europas und das Bevölkerungswachstum seines nordafrikanischen und westasiatishen Hinterlandes (S. 59-65)
 8. Bevölkerungsvorausberechnungen für deutschland (S. 66-79)
 9. Implodierende Generationen - Gründe des Geburtenrückgangs (S. 80-93)
10. Langfristige Trends der Lebenserwartung, Langlebigkeit und demographischen Alterung (S. 94-102)
11. Die Internationalisierung der Bevölkerungsentwicklung Deutschlands durch Migration (S. 103-109)
12. Demographie, Wohlstand und öffentliche Wohlfahrt (S. 110-119)
13. Demographie und soziale Gerechtigkeit (S. 120-133)
14. Bevölkerung als Standortfaktor (S. 134-136)
15. Nationale und internationale demographische Konflikte (S. 137-143)
16. Was tun?  - Soziale Politik statt Sozialpolitik (S. 144-148)
  -   Resümee: Es ist dreißig Jahre nach zwölf (S. 149-151)

ä Vorwort (S. 7-8):

„Demographie ist in aller Munde, aber was ist das eigentlich für ein Fach, das ständig mit Demoskopie verwechselt wird ?  Zu den in der Schule vermittelten Grundkenntnissen gehört Geographie, aber über Demographie erfährt man in der Regel nichts.

Die demographische Entwicklung betrifft uns alle. Ihre Auswirkungen sind so weitreichend, daß es schwerfällt, den Überblick zu behalten. Wer weiß beispielsweise, daß die Übernahmeschlachten ausländischer Fondsgesellschaften um deutsche Unternehmen etwas mit Demographie zu tun haben?  Wegen des umlagefinanzierten deutschen Sozialversicherungssystems verfügt Deutschland im Gegensatz zu Ländern mit kapitalstockfinanzierter Alterssicherung wie die USA oder Großbritannien über keine international bedeutenden Kapitalgesellschaften und Banken; es hat trotz seines großen wirtschaftlichen Potentials keine international konkurrenzfähige Finanzmacht. Deswegen fließen die Dividenden der von ausländischen Fonds übernommenen Unternehmen ebenso wie die Zinsen der Staatsanleihen, die von den nachrückenden Generationen verdient werden müssen, den Pensionären in Kalifornien, Philadelphia oder Cornwall zu. Die Staatsanleihen selbst hingegen sind von den schrumpfenden Generationen unserer Kinder und Enkel zurückzuzahlen. Der internationale demographische Konflikt ist nur eines der aktuellen Beispiele für die fachübergreifende Bedeutung der Demographie.

Dieses Buch soll einen Überblick über das Fach Demographie bieten. Leser, die sich in fachlichen Grundlagen vertiefen wollen, finden die Quellen und den üblichen Apparat an Fußnoten in meinen ... Büchern „Die Weltbevölkerung - Dynamik und Gefahren“ (1996; Auflage 2004), „Die demographische Zeitenwende - Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa“ (2001; Auflage 2005).

In das vorliegende Buch werden ... die aktuellen Ergebnisse der Weltbevölkerungsprognosen der Vereinten Nationen sowie die Bevölkerungsvorausberechnungen für Deutschland und Europa aufgenommen.“ (Zitat-Ende).

ä Klassische Bevölkerungstheorie und Moderne (S. 9-12):

„Das »Bevölkerungsgesetz« von Malthus hat sich schon zu dessen Lebzeiten als ebenso falsch erwiesen wie die ihr vorangegangene Bevölkerungslehre von Süßmilch als richtig.

Das Potential zur Veränderung der realen Verhältnisse und nicht die Träume über eine Verbesserung der Welt und der Menschen bildet den Kern der klassischen, in ihren wichtigsten Kenntnissen heute noch gültigen Bevölkerungstheorie aus der Epoche vor Malthus, an die es anzuknüpfen gilt.

Die malthusianische Bevölkerungstheorie wurde zwar längst durch die reale Bevölkerungsgeschichte widerlegt, während sich die von Süßmilch als richtig erwies, aber trotzdem ist Süßmilch heute außerhalb der Fachdemographie bzw. in der ausufernden Literatur der Gelegenheitsdemographie unbekannt, während Grundkenntnisse über Malthus weltweit zur Allgemeinbildung gehören. Wie ist es zu erklären, daß die Gedankenwelt von Malthus immer noch die Vorstellungen der Menschen über die demographische Entwicklung beherrscht ?  Warum stehen seine längst widerlegten Thesen immer noch im Zentrum vieler Bestseller, die sich mit der Bevöllkerungsentwicklung befassen?“  (Zitat-Ende).

ä 200 Jahre »Bevölkerungsgesetz« (S. 13-17):

„»Das unerschütterlichste und wichtigste Naturgesetz der ganzen bisherigen Nationalökonomie« - so urteilte der Gelehrte Gustav Cohn 1882 über das von Malthus anonym publizierte »Bevölkerungsgesetz«. »Das dümmste Buch der Weltliteratur« - so lautete hingegen das Urteil von Werner Sombart in seiner »Geisteswissenschaftlichen Anthropolgie« von 1938.

Malthus entstammte einem ... Elternhaus des englischen Landadels. .... Das »Bevölkerungsgesetz« ... wurde zur Bekämpfung der revolutionären politischen Utopien geschaffen, die sich nach der französischen Revolution auch in England ausbreiteten.

Schon die 1. Prämisse (von Malthus) trifft im allgemeinen nicht zu: Die Nahrungsmittelproduktion folgt nicht der einer linearen, sondern meistens ebenso wie die Bevölkerung einer geometrischen Reihe. Überdies ist die Wachstumsrate der Nahrungsmittelmenge in der Mehrzahl der Industrie- und Entwicklungsländer bzw. im Weltdurchschnitt sogar größer als die der Bevölkerung, so daß die pro Kopf produzierte Menge ständig wächst, statt abzunehmen. Ende des 19. Jahrhunderts stellte Franz Oppenheimer das »Bevölkerungsgesetz« folgerichtig auf den Kopf: «Die Bevölkerung hat nicht die Tendenz, über die Unterhaltsmittel hinauszuwachsen, vielmehr haben die Unterhaltsmittel die Tendenz, über die Bevölkerung hinauszuwachsen». Weil dies nicht erst Ende des 19. Jahrhunderts, sondern schon zu Lebzeiten von Malthus so war (was er wußte oder aus Süßmilchs Bevölkerungslehre hätte wissen können), wuchs die Weltbevölkerung zum Zeitpunkt des Erscheinens des »Bevölkerungsgesetzes« bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts von einer Milliarde auf 6,5 Milliarden und sie wird sich im 21. Jahrhundert weiter in Richtung auf 9 bis 10 Milliarden bewegen , weil sich die Nahrungsschranke laufend verschiebt. Die Zahl der Hungernden nimmt nach Feststellung der Vereinten Nationen trotz steigender Weltbevölkerung nicht zu, sondern leicht ab. Leider ist der Nachrichtenwert guter Botschaften geringeer als der von schlechten, so daß dieses Faktum weitgehend unbekannt blieb.

Auch die 2. und 3. Prämisse (von Malthus) sind falsch. Mit steigendem Wohlstand nahm die Kinderzahl pro Frau nicht zu, sondern ab. Auch dies hätte Malthus wissen können, denn in dem Buch von Süßmilch, seinem deutschen Vorgänger, wird dieser Sachverhalt breit erörtert, und zwar mit Schlußfolgerungen, die denen von Malthus diametral entgegengesetzt sind. Wie Süßmilch richtig sah, gehen die Geburtenzahl pro Frau und die Wachstumsrate der Bevölkerung mit dem steigenden Entwicklungsstand, mit der Industrialisierung und Verstädterung, tendenziell zurück. In ... Industrieländern ... wurde die Wachstumsrate in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich sogar negativ, die Bevölkerung schrumpft.

Viele Tierarten passen ihr Fortpflanzungsverhalten den Nahrungsquellen ihres Habitats durch eine Begrenzung der Zahl ihrer Nachkommen an. Sie investieren dann mehr in die Brutpflege und die Überlebensfähigkeit als in die Aufzucht einer maximalen Zahl von Nachkommen. Das war natürlich schon zu Malthus' Zeiten so. Warum sollte der Mensch, das am höchsten entwickelte Wesen, nicht wie die Tiere dazu in der Lage sein, seine Fortpflanzung zu regulieren?  Warum fand das »Bevölkerungsgesetz« trotz dieser wirklichkeitsfremden Prämisse so viel Zuspruch?  Es gibt Theorien, die eine Art ewiges Leben haben, obwohl ihre Falschheit offen zutage liegt.

Als sich schließlich erwies, daß auch die Prophezeiungen der Gelegenheitsdemographen des Club of Rome über eine Erschöpfung wichtiger natürlicher Ressourcen wie fossile Brennstoffe falsch waren - die Menge der bekannten Erdölreserven nimmt trotz steigenden Verbrauchs immer noch zu, statt ab, und die bekannten Kohlenvorräte der Erde reichen noch für Jahrhunderte -, wurde schließlich die Ressourcenschranke durch die Umweltschranke ersetzt. Der Malthusianismus der Nahrungsschranke verwandelte sich in einen ökologischen Malthusianismus.“ (Zitat-Ende).

ä Ursprünge der klassischen Demographie in Deutschland (S. 18-23):

„Es ist nicht möglich, auf die Geschichte der Bevölkerungswissenschaft einzugehen, ohne die Fehlentwicklung dieser Disziplin in der Zeit des Nationalsozialismus in die Betrachtung einzubeziehen. Die Rassen- und Bevölkerungstheorie der Nazis, mit denen die staatlich organisierte Tötung von angeblich minderwertigen Menschen gerechtfertigt wurde, gilt heute vielen als Beweis, daß die Kultur Deutschlands in ihrem Kern die Tendenz zu einer zutiefst inhumanen, verhängnisvollen Entwicklung enthielt, die mit der Folgerichtigkeit einer Geschoßbahn in der Katastrophe des 20. Jahrhunderts endete. Wer das so sieht, wird jedoch gerade durch die Geschichte der Bevölkerungswissenschaft eines besseren belehrt.

Die wichtigsten Erkenntnisse dieser Wissenschaft gehen auf das ein halbes Jahrhundert vor Malthus' »Bevölkerungsgesetz« erschienene Werk Johann Peter Süßmilchs zurück (»Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt- Tod und Fortpflanzung desselben erwiesen«, 1741). Die in diesem Buch erstmals dargestellten Erkenntnisse sind heute ebenso gültig wie zur Zeit ihrer Entdeckung und ebenso aktuell wie die Ideen Immanuel Kants über die Möglichkeit und Notwendigkeit eines »Ewigen Friedens« unter den Völkern der Welt.

Es gibt keinerlei geistige Verbindung und nicht die Spur einer Kontinuität zwischen der klassischen Bevölkerungswissenschaft deutschen Ursprungs und der rassistischen Bevölkerungslehre des 19. und 20. Jahrhunderts. Die in Deutschland entstandene Bevölkerungslehre ist von universalistischen, zutiefst humanen und christlichen Prinzipien geprägt. Der Rassismus in der Bevölkerungswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts beruht auf einem Bruch mit der klassischen deutschen Tradition, nicht auf ihrer Fortsetzung.

Wer nach den bevölkerungswissenschaftlichen Ursprüngen der rassistischen Bevölkerungslehre sucht, findet ihre geistigen Wurzeln in der malthusianischen Bevölkerungsdoktrin, nicht in der Bevölkerunglehre Süßmilchs. Es war ein simples Prinzip - die gnadenlos strenge Auslese der Individuen einer Population nach ihrer Überlebenstüchtigkeit -, das nach der Bevölkerungstheorie von Malthus - und der Evolutionstheorie von Charles Darwin, der sich ausdrücklich auf Malthus' Bevölkerungslehre berief - die biologische Evolution antrieb und über Jahrmillionen zur Entstehung der höheren Arten und schließlich des Menschen führte. Das gleiche Prinzip sollte nach Malthus und der von ihm begründeten Schule der politischen Ökonomie und des ökonomischen Liberalismus auch die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen regeln. Indem es die untüchtigen, weniger konkurrenzfähigen Marktteilnehmer an den Rand des wirtschaftlichen Geschehens drängte oder ganz aus den Märkten ausschloß, sorgte das Selektionsprinzip aus der Sicht der liberalen Wirtschaftstheoretiker für den Ansporn zu einem ökonomischen Umgang mit den knappen Wirtschaftsgütern, für ihre effizienteste Verteilung und Verwendung und für eine dauernde Tendenz zur Steigerung der Produktivität und des Lebensstandards.

Malthus' politische Ökonomie stand zu seiner Bevölkerungslehre in krassem Widerspruch, denn eine wachsende Produktivität war mit einer wachsenden Bevölkerung durchaus vereinbar. Die »Nahrungsschranke« ließ sich permanent hinausschieben, so daß es keineswegs zur Vernichtung der »Überschußbevölkerung« durch einen Anstieg der Mortalität kommen mußte. Vielmehr war nach dieser ökonomischen Theorie ein paralleles Wachstum der Bevölkerung und der Wirtschaft möglich. Von der späteren neoklassischen Wirtschaftstheorie wurde es als ein »Wachstum im Gleichgewicht« bezeichnet, so wie es dann die reale Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte der folgenden Jahrhunderte auch zeigte.

Malthus hat wahrscheinlich den Widerspruch zwischen seiner Bevölkerungs- und Wirtschaftstheorie gesehen und ihn mit einer seltsamen Konstruktion - einer Art moralphilosophischer Klassentheorie - verdeckt. Die Ursache für das Trennende und den Gegensatz zwischen den Klassen lag nach Malthus nicht in erster Linie - wie später bei Karl Marx - in den Unterschieden des Besitzes an ökonomischen Gütern, sondern in der Verschiedenheit der Menschen im Hinblick auf ihre moralischen Eigenschaften und Fähigkeiten. Nach der moralischen Klassentheorie war die Bevölkerung der »lower classes« wegen ihrer minderen moralischen Qualität, also nicht in erster Linie wegen ihrer Armut, unfähig, die Zahl ihrer Nachkommen durch die Zügelung ihres Geschlechtstriebes den Unterhaltsmitteln anzupassen. Die Unterschicht reagiert deshalb nach Malthus' Bevölkerungsgesetz auf eine Verbesserung ihrer ökonomischen Lage stets mit einer Erhöhung ihrer Geburtenrate, nicht mit einer Verringerung. Durch diesen gleichsinnigen Zusammenhang zwischen der Geburtenrate und der Höhe des Lebensstandards ist die Unterschicht in einem »Zirkel der Armut« gefangen: Sozialpolitische Reformen zur Linderung der Armut oder eine Anhebung der Löhne über das Existenzminimum hinaus müssen nach Malthus zwangsläufig an der von ihnen bewirkten Zunahme der Unterschichtbevölkerung scheitern.

Nach Süßmilchs Theorie besteht kein gleichsinniger Zusammenhang zwischen der Geburtenrate und dem Lebensstandard der Bevölkerung, sondern ein gegenläufiger. Dieser Unterschied zu Malthus ist von größter Tragweite. Wie Süßmilchs Analyse der Geburtenrate in den Gemeinden Preußens ergab, variierte die Kinderzahl stark nach der Siedlungsgröße, mit der Folge, daß die Wachstumsrate der Bevölkerung mit zunehmender Verstädterung zurückging. Der Unterschied zu Malthus' Lehre ist keineswegs nur von akademischem Interesse, er ist für die Politik und das von ihr abhängige Überleben der Menschen entscheidend. Im Gegensatz zu Malthus trat Süßmilch für sozialpolitische Reformen zum Wohl der armen Bevölkerungsschichten ein. Er gründete Hebammenschulen und bemühte sich um die Schaffung von Gesundheitseinrichtungen, um die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit zu senken. Sein Ziel war es, Leben zu retten, und nicht durch die Bevölkerungstheorie zu begründen, warum eine Begrenzung des Bevölkerungszuwachses und eine Auslese »naturgesetzlich notwendig« waren.

Für jede Bevölkerungstheorie gilt: Unterbleibt die strenge, an wissenschaftlichen Kriterien orientierte Prüfung der Theorie durch die Fakten, kann das für die Betroffenen lebensgefährlich sein. Malthus war von seiner Lehre so überzeugt, daß er auf diese Prüfung in der ersten Ausgabe seines Werkes von 1798 ganz verzichtete. Auch in der wesentlich erweiterten zweiten Ausgabe von 1803 blieb er den Beweis schuldig. Das ist schlimm genug, aber ebenso zu kritisieren ist, daß er die in Süßmilchs Werk enthaltenen Daten, Ergebnisse und Folgerungen, die seiner Theorie widersprachen, ignorierte.

Wie die Menschen sind, wie viele es sind und wie viele auf der Erde leben können - diese Themen hängen miteinander zusammen, sie bilden den Kern von Süßmilchs Frage nach der »Tragfähigkeit der Erde«: »... im folgenden wird die Frage erörtert, ob Krieg und Pest notwendig zum öfteren vorkommen müssen, welches ich verneine. Weil aber der Beweis hiervon nicht hat können gegeben werden, ohne eine Kenntnis von dem Zustande und der Anzahl der Menschen auf der Erde zu haben: so bin ich daher genötigt worden zu untersuchen, wie viel Menschen zu gleicher Zeit auf dem Erdboden leben können und wie viele gegenwärtig wirklich leben mögen, um aus der Vergleichung der möglichen und wirklichen Anzahl zu urteilen, ob die Vermehrung notwendig müsse gehemmet werden oder nicht«. Das Ergebnis der Berechnungen lautet: » ...es ist bewiesen, daß 4000 Millionen zugleich leben können, und daß gegenwärtig höchstens nur tausend Millionen wirklich zugleich leben«. Die Analysen wurden in der unruhigen Zeit nach der Thronbesteigung Friedrich II. unmittelbar vor dem Beginn des ersten Schlesischen Krieges in großer Eile zu Ende gebracht. An diesem Krieg hatte Süßmilch als Feldprediger teilgenommen, später hatte er neben seiner Tätigkeit als Gelehrter das Amt eines Propstes der brandenburgisch-lutherischen Kirche inne. In dieser Eigenschaft hatte er Zugang zu den Kirchenbüchern der preußischen Gemeinden, deren Eintragungen er für seine bevölkerungsstatistischen Analysen auswertete. Auf dieser Grundlage revidierte er in der zweiten, wesentlich erweiterten Ausgabe von 1762 seine Berechnungen und bezifferte die »Tragfähigkeit der Erde« nicht wie in der ersten Ausgabe auf vier, sondern auf vierzehn Milliarden Menschen.

Die Reaktion der Gelehrten Europas war außerordentlich positiv. Über die Grenzen der Nationen und der wissenschaftlichen Disziplinen hinaus entwickelte sich ein enges Netz an fruchtbaren Kooperationen, das der Internationalität der heutigen Forschung in nichts nachstand. Diese positive Entwicklung endete mit dem Erscheinen des »Bevölkerungsgesetzes« von Malthus. Nach dessen Lehre war die Erde der Grenze ihrer Tragfähigkeit bereits gefährlich nahe, jeder weitere Bevölkerungszuwachs mußte verhindert werden. Die Abschaffung der Armenhilfe in England diente diesem Ziel.

Der krasse Widerspruch zu Süßmilch blieb in der Ära des Malthusianismus unbeachtet. Der Siegeszug der Evolutionstheorie Darwins, der sich bei der Begründung seiner Evolutionstheorie auf Malthus berief, schien das »Bevölkerungsgesetz« und dessen Grundprinzip - die Selektion der Überlebenstüchtigen - unwiderruflich zu bestätigen. Das erste, grundlegende Kapitel des »Bevölkerungsgesetzes« sowie das besonders wichtige 18. Kapitel enthalten Aussagen, die sich wie eine Vorwegnahme der Evolutionstheorie lesen. In seinen Tagebüchern hat Darwin festgehalten, daß ihn bei der Lektüre des »Bevölkerungsgesetzes« eine Art Erleuchtung überkam, durch die er die Eingebung für seine Evolutionstheorie empfing. Die beiden Theorien schienen einander zu stützen und zu bestätigen, die Evolutionstheorie übertrug ihre Faszinationskraft auf die Bevölkerungstheorie. Eine Relativierung der Bevölkerungstheorie hätte zwar der Evolutionstheorie nicht den geringsten Abbruch getan, aber die geistige Verwandtschaft zwischen beiden Theorien - die Schlüsselrolle des ihnen gemeinsamen Grundprinzips der biologischen bzw. sozialen Auslese - ließ für den Gedanken einer Revision der einen unter Beibehaltung der anderen keinen Raum.

Im geistigen Klima des Malthusianismus und Darwinismus entwickelte Francis Galton in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in England die Eugenik - eine Lehre von den erbbedingten Eigenschaften der Menschen und ihrer gezielten Beeinflussung mit Maßnahmen zur Förderung der Fortpflanzung von Menschen mit erwünschten Eigenschaften (»positive Eugenik«) bzw. zur Verhinderung der Fortpflanzung von Menschen mit unerwünschten Eigenschaften (»negative Eugenik«). In Frankreich entstand in dieser Zeit die von Arthur Graf von Gobineau 1853 veröffentlichte Theorie über die »Ungleichheit der Menschenrassen« bzw. über die »Überlegenheit der arischen Rasse«.

In Deutschland verbreiteten sich die Ideen der Eugenik Jahrzehnte später als in England, aber lange vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, und zwar nicht nur in der biologischen Anthropologie, wie viele glauben, sondern ebenso ungehemmt auch in den Sozialwissenschaften. Als Parallelprogramm zur biologischen Eugenik entstanden in der Soziologie die sogenannte »Eubiotik«, die »Sozialbiologie« und die »Gesellschaftshygiene«, die unter diesen Stichworten bereits 1924 im Handwörterbuch der Staatswissenschaften in ausführlichen Artikeln dargestellt sind - unter Einschließung von Vorschlägen zu ihrer Anwendung durch rassenpolitische Gesetze und Maßnahmen des Staa tes. Als die Nationalsozialisten die millionenfache Tötung von Menschen mit der Rassentheorie begründeten, hatte die Wissenschaft diesem Weg ins Verhängnis längst durch zahlreiche soziologische Veröffentlichungen biologisch-rassistischer Prägung den Boden bereitet. Für die Nationalsozialisten war das »Bevölkerungsgesetz« von Malthus eine Lehre, in der sie etwas »entscheidend Richtiges« erkannten.

Die beiden Klassiker der Demographie, Süßmilch und Malthus, waren weit mehr als Demographen im heutigen Sinn des Begriffs; sie erfanden die Demographie als eine Hilfswissenschaft und als ein Beweismittel, das einem höheren Zweck dienen sollte. Bei Malthus war es das Ziel, mit dem »Bevölkerungsgesetz« einen unwiderlegbaren Beweis für die Unmöglichkeit jeden gesellschaftlichen Fortschritts zu erbringen und für die Vergeblichkeit aller politischen Bestrebungen, die Lebensbedingungen der Unterschichten über das bloße Existenzminimum anzuheben. Süßmilch verfolgte ein entgegengesetztes Ziel; er wollte nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit für Sozialreformen unter Beweis stellen, geleitet von dem Bestreben, mit den Daten der Demographie einen empirischen Beweis für die Existenz Gottes zu finden.

Um die Ursprünge der Demographie in Deutschland wieder zu entdecken, ist es wichtig, sich die Aktualität der Süßmilchschen Ideen bewußt zu machen. Zu Süßmilchs Zeit lebte in der damaligen und heutigen Hauptstadt unseres Landes ein größerer Anteil von »Ausländern« als heute, darunter Hugenotten aus Frankreich, Protestanten aus Salzburg, Juden, Muslime und andere, die alle »nach ihrer Façon selig« werden sollten (Friedrich II. [der Große]). Bei der Herausbildung einer bürgerlichen Oberschicht spielten sie eine herausragende Rolle. Anders als im heutigen Einwanderungsland Deutschland, dessen Migrationsbevölkerung überwiegend von einer »Einwanderung in die Sozialsysteme« aus der Dritten Welt geprägt wird, war die Hauptstadt Preußens das Ziel von Gebildeten, von fähigen Handwerkern und integrationswilligen Neubürgern. In Berlin und Potsdam versammelte sich die Geisteselite Europas - Voltaire, führende französische Enzyklopädisten, Gelehrte vom Rang Leonhard Eulers. Die Fähigsten unter ihnen waren Mitglieder der Preußischen Akademie der Wissenschaften, darunter auch Johann Peter Süßmilch. Seine Ausführungen zur Migrationspolitik sind so modern wie unsere heutigen Überlegungen, nur gründlicher und geprägt von einem heute seltenen, generationsübergreifenden Weitblick.“ (Zitat-Ende).

ä Das Ende des Weltbevölkerungswachstums (S. 24-33):

„Seit Jahrhunderten wird das Thema »Weltbevölkerung« unter dem Schlagwort der Wachstumsbeschleunigung diskutiert, aber noch im 21.Jahrhundert, wahrscheinlich um das Jahr 2070, wird das Wachstum enden und in die neue Phase der Weltbevölkerungsschrumpfung übergehen.

Ausgehend von einem kleinen Bestand, der in der Anthropologie auf wenige Hunderttausend Individuen geschätzt wird, hat sich die menschliche Population in vor- und frühgeschichtlicher Zeit zunächst extrem langsam vermehrt, die Geburten- und Sterberaten waren nahezu gleich, die Differenz zwischen ihnen, die Wachstumsrate, fast Null. Die Bevölkerungszahl der Erde zur Zeit um Christi Geburt wird heute auf 200 bis 400 Mio. geschätzt. Auch in den folgenden anderthalb Jahrtausenden blieb die Waage zwischen der Zahl der Geburten und der Sterbefälle nahezu ausgeglichen, die prozentuale jährliche Wachstumsrate lag fast immer bei Null. Noch um die Zeit des Dreißigjährigen Krieges lebten nur rund eine halbe Milliarde Menschen auf der Erde - etwa die Hälfte der heutigen Einwohnerzahl Indiens. Die erste Milliarde wurde erst um 1805 (1804; Anm. HB*) erreicht. Dann beschleunigte sich das Wachstum rasant. Für die zweite Milliarde waren nur rund 121 Jahre nötig, für ihr Erreichen wird das Jahr 1926/'27 angenommen, für die dritte genügten 34 Jahre (1960). Die Abstände wurden immer kürzer, für die vierte, fünfte und sechste Milliarde stehen die Jahre 1974, 1987 und 1999.

Die Wachstumsbeschleunigung hat in der Neuzeit begonnen, sie dauerte in Europa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Diese Phase prägt die Vorstellungen über die Natur des Bevölkerungsprozesses bis heute. Für die meisten Menschen verläuft das Bevölkerungswachstum analog zur Vermehrung eines Geldbetrages bei festem Zinssatz, also nach der Zinseszinsformel bzw. in Form einer geometrisch wachsenden Reihe. Die für die Verdopplung des Kontostandes benötigte Zeit beträgt bei einem festen Zinssatz von beispielsweise 1% 70 Jahre, aber nur 35 Jahre bei 2%, 23 Jahre bei 3% und 18 Jahre bei 4%.

Als die jährliche Wachstumsrate der Weltbevölkerung um 1970 mit rund 2% ihren Höhepunkt erreichte, lebten 3,7 Mrd. Menschen auf der Erde. Die folgende Zahlenreihe erklärt, warum in den 1970er Jahren Bücher Massenauflagen erreichten, in deren Titel der Begriff »Bevölkerungsexplosion« oder »Bevölkerungsbombe« auftauchte. Bei einer Wachstumsrate von 2% verdoppelt sich die Bevölkerungszahl jeweils in 35 Jahren, ausgehend von 3,7 Mrd. im Jahr 1970 ergibt dies (mit den dazugehörigen Jahresangaben in Klammern): 7,4 Mrd. (2005),:14,8 Mrd. (2040), 29,6 Mrd. (2075), 59,2 Mrd. (2110) u.s.w..

So dramatisch diese Zunahme erscheint, sie verliefe noch viel schneller, wenn die Wachstumsrate nicht konstant bliebe, sondern ihrerseits zunähme, wie dies in den vorangegangenen drei Jahrhunderten bis etwa 1970 der Fall war. Seit 1970 nimmt die Wachstumsrate jedoch ständig ab, sie ist bis 2005 auf rund 1,2% gefallen. Wäre sie auf dem Niveau von 1970 konstant geblieben, lebten im Jahr 2005 nicht 6,5 Mrd. Menschen, sondern eine Milliarde mehr.

Die Beschleunigung des Wachstums beruht auf dem Wachstum der Wachstumsrate - eine Form des Wachstumsprozesses, die als hypergeometrisches Wachstum bezeichnet wird. Der hypergeometrische Typ trat zuerst in Europa auf, wo sich die Wachstumsrate zwischen 1750 und 1900 parallel zur Industrialisierung nahezu verdoppelte. Zeitversetzt um ein bis zwei Jahrhunderte erreichten auch die anderen Kontinente die Phase des hypergeometrischen Wachstums. Je später der Beschleunigungsprozeß einsetzte, desto höher war die Wachstumsrate auf dem Gipfel des Prozesses. So betrug die maximale Wachstumsrate in Europa um 1950 1%, in Nordamerika 1,8% (1955-60), in Asien 2,4% (1965-70), in Lateinamerika 2,8% (1960-65) und in Afrika - trotz der Aids-Pandemie - 2,9% (1980-85).

Die Bevölkerungsveränderung entsteht aus den zwei bevölkerungsvermehrenden Komponenten, den Geburten und Zuwanderungen, vermindert um die zwei bevölkerungsverringernden Komponenten, die Todesfälle und die Abwanderungen. Je kleiner das betrachtete Gebiet ist, desto größer ist das Übergewicht der Zu- und Abwanderungen gegenüber den Geburten und Sterbefällen. Heute entfallen beispielsweise in Deutschland auf der untersten Ebene der Verwaltungsgliederung, in den Gemeinden, auf jede Geburt rund fünf bis zehn Zuwanderungen aus anderen Gemeinden oder aus dem Ausland. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen den Todesfällen und den Abwanderungen. Auch auf nationaler Ebene ist die Zahl der jährlichen Zuwanderungen aus dem Ausland größer als die der jährlichen Geburten im Inland.

Auf der höheren Ebene der Kontinente ist das Gewicht der Wanderungen vergleichsweise gering, und auf globaler Ebene spielen Wanderungen für die Bevölkerungszahl der Erde theoretisch gar keine Rolle. Da aber die Kinderzahl der Menschen auch davon abhängt, in welchem Land sie leben, wirkt sich die internationale Migration aus der Dritten Welt in die Erste tendenziell vermindernd auf die Geburtenrate der Weltbevölkerung aus. Dieser Effekt ist jedoch quantitativ so unbedeutend, daß er innerhalb der Grenzen der statistischen Genauigkeit kaum beziffert werden kann.

In den anderthalb Jahrtausenden nach Christi Geburt war die hohe Sterblichkeit der wesentliche Grund für das geringe Bevölkerungswachstum, vor allem die extreme Säuglings- und Kindersterblichkeit, die mehr als 50% erreichen konnte. Die Wachstumsbeschleunigung kam erst in Gang, als sich die Sterblichkeit bei zunächst noch gleichbleibender Geburtenrate verringerte, bis schließlich auch die Geburtenrate sank, wobei sich der Abstand zwischen beiden - die Wachstumsrate - bis zu den 70er Jahren des 20.Jahrhunderts vergrößerte. Seit Anfang der 70er Jahre sinkt die Geburtenrate stärker als die Sterberate, so daß die Wachstumsrate seitdem ständig kleiner wird. Dieser als »demographischer Übergang« bezeichnete Befund gilt nicht nur für die Weltbevölkerung als Ganzes, er läßt sich - von Ausnahmen abgesehen - auch für die meisten Länder bestätigen.

Fazit: Die Geburtenrate hat sich im Durchschnitt der Weltbevölkerung seit Jahrzehnten dramatisch verringert. Sie fiel im Weltdurchschnitt von 5 Geburten je Frau im Zeitraum 1950-55 auf 3,4 zwischen 1985-90 bzw. auf 2,7 in den Jahren 2000-05, darunter 2,9 in den Entwicklungsländern und 1,6 in den Industrieländern.

Die bestandserhaltende Geburtenrate, bei der die Bevölkerungszahl weder wächst noch schrumpft, liegt um so mehr über 2 Geburten pro Frau, je höher die Sterblichkeit des betrachteten Landes ist. Für diese Abweichung über 2 Geburten hinaus ist nicht nur das Niveau der Sterblichkeit wichtig, sondern auch die Sexualproportion der Geborenen (das Verhältnis aus der Zahl der Jungen und zur Zahl der Mädchen). Die natürliche Sexualproportion beträgt 106 Jungen zu 100 Mädchen. In bestimmten Ländern, vor allem in Asien, ist das Verhältnis durch die gezielte Abtreibung von Mädchen infolge der kulturell bedingten Sohnespräferenz wesentlich höher, in China beträgt es beispielsweise bei der Geburt des ersten Kindes 107, bei der des zweiten erreicht sie 162, was auf der verstärkten Abtreibung weiblicher Föten beruht, wenn das erste Kind ein Mädchen war. Die bestandserhaltende Geburtenrate beträgt auch deshalb mehr als 2 Kinder je Frau, weil die Reproduktion der Bevölkerung entscheidend von der Zahl der nachwachsenden Mädchen abhängt, nicht von der Geburtenzahl insgesamt.“ (Zitat-Ende).

ä Deutschlands demographische Weltrekorde (S. 33-44):

„Je höher das Niveau und das Tempo der sozioökonomischen Entwicklung ..., desto niedriger die Geburtenrate.

Ist es wahrscheinlich, daß die Abwärtsbewegung der Geburtenrate bald zum Sillstand kommt - denn sie muß irgendwo oberhalb einer Geburtenrate von Null enden? Wird es dann wieder eine Bewegung zurück zu höheren Geburtenraten geben?

Um auf derartige Fragen Antworten zu finden, die wissenschaftlichen Kriterien genügen, müssen die Veränderungen anhand genauerer Begriffe der Geburtenrate und der Sterberate beschrieben und analysiert werden. Denn die Frage, ob sich das Firtpflanzungsverhalten einer Bevölkerung - die unter dem Begriff »Fertilität« zusammengefaßte Gesamtheit der Bedingungen und Motive des sogenannten generativen Verhaltens - geändert hat, kann ja nicht einfach durch die Betrachtung des Auf und Ab der absoluten Geburtenzahl entschieden werden.

Der Einfluß der simplen Bevölkerungszahl auf die Geburtenzahl läßt sich zwar künstlich ausschalten, indem man die Geburtenzahl einfach durch die Bevölkerungszahl dividiert, aber die entsprechende »rohe Geburtenrate« (Zahl der Geburten auf 1000 Einwohner) ist bei weitem nicht genau geung, um den Gründen des Geburtenrückgangs auf die Spur zu kommen. Denn bei einer gegebenen Zahl von Frauen in der Altersgruppe von 15 bis 45 hängt die Zahl der Geborenen auch davon ab, wie sich die Frauen auf die 31 Altersjahre innerhalb des Intervalls von 15 bis 45 aufteilen. Je mehr von ihnen zu der Altersgruppe gehören, in der die meisten Kinder zur Welt kommen - in Deutschland liegt das Gebäralter mit der höchsten Geburtenrate bei 30 -, desto höher ist bei gleicher Zahl und gleichem Fortpflanzungsverhalten der Frauen die jährliche Geburtenzahl.

Die Verteilung der Frauen auf die Altersjahre von 15 bis 45 ist in jedem der miteinander verglichenen Kalenderjahre oder Länder meist unterschiedlich. Deshalb wird bei zeitlichen oder internationalen Vergleichen künstlich eine gleiche Altersverteilung zugrunde gelegt, indem pro Altersjahr genau 1000 Frauen angenommen werden. Mit diesem Kunstgriff läßt sich die zur Erklärung von Verhaltensänderungen wesentlich besser geeignete, von den Einflüssen der Altersstruktur bereinigte »Zahl der Lebendgeborenen pro Frau« berechnen, die auch als »zusammengefaßte Geburtenziffer«  (englisch: Total Fertility Rate, TFR) bezeichnet wird.

Der Begriff »zusammengefaßt« drückt dabei aus, daß die Kinder, die in einem Kalenderjahr von dem im Altersintervall von 15 bis 45 gleichzeitig lebenden 30 Frauenjahrgängen geboren wurden, zusammen berücksichtigt werden. Man tut dabei so, als ob die in einem Kalenderjahr geborenen Kinder von einer künstlich zusammengesetzten Generation zur Welt gebracht worden seien, die aus den 30 verschiedenen Jahrgängen besteht, die im Jahr der Betrachtung gemeinsam leben und in einem unterschiedlichen Alter stehen. Die simpel erscheinende statistische Größe - »Zahl der Geburten pro Frau« - läßt sich also nicht durch Umfragen ermitteln, sie ist das Ergebnis von Berechnungen, die auch Annahmen über die Zahl der Geburten enthalten, die die heute erst 15, 16, 20 oder 30 Jahre alten Frauen in der Zukunft noch haben werden. Eine dieser Annahmen ist beispielsweise, daß die im Jahr der Betrachtung 25jährigen zehn Jahre später als 35jährige so viele Kinder (pro 1000) zur Welt bringen werden wie die heute 35jährigen. Das klingt nicht nur ziemlich konstruiert, sondern ist es auch. Es gibt jedoch keine einfachere Methode um die Geburtenrate eines Landes in einem bestimmten Kalenderjahr - gemessen durch die simpel erscheinde Zahl der Lebendgeborenen pro Frau - anzugeben.

Die Unterschiede der Altersstruktur machen sich auch dann störend bemerkbar, wenn nicht verschiedene Kalenderjahre oder Länder, sondern verschiedene Geburtsjahrgänge miteinander verglichen werden. In der Fachliteratur wird ein Geburtsjahrgang auch mit dem Begriff »Kohorte« und die Kinderzahl pro Frau eines Geburtsjahrgangs entspechend als »jahrgangs- bzw. kohortenspezifische Geburtenzahl pro Frau« bezeichnet (englisch: Completed [oder: Cohort] Fertility Rate, CFR). Auch bei der Berechnung der Geburtenzahl pro Frau für die verschiedenen Geburtsjahrgänge wird der im Zeitablauf variierende Einfluß der Altersstruktur künstlich ausgeschaltet, um den reinen Effekt des Fortpflanzungsverhaltens zu messen.

In Deutschland hat seit 150 Jahren tendenziell jeder Jahrgang - mit Ausnahme der um 1932 geborenen Frauen - weniger Kinder als der jeweils vorangegangene (siehe Tabelle).

Geburtenzahl der Frauenjahrgänge in Deutschland
Geburtsjahrgang 1860 5,0 Lebendgebornene(1875-1905)(=> 1890)
Geburtsjahrgang 18744,0 Lebendgebornene(1899-1919)(=> 1904)
Geburtsjahrgang 18813,0 Lebendgebornene(1906-1926)(=> 1911)
Geburtsjahrgang 19042,0 Lebendgebornene(1919-1949)(=> 1934)
Geburtsjahrgang 19201,9 Lebendgebornene(1935-1965)(=> 1950)
Geburtsjahrgang 19322,2 Lebendgebornene(1947-1977)(=> 1962)
Geburtsjahrgang 19651,5 Lebendgebornene(1980-2010)(=> 1995)

Die Zahl für den zuletzt aufgeführten Geburtsjahrgang von 1965 wurde zu einem Zeitpunkt ermittelt, als die Frauen das Ende des gebärfähigen Alters noch nicht ganz erreicht hatten. Da aber beispielsweise nach dem Alter 35 nur noch 15% oder weniger der gesamten Nachkommen eines Jahrgangs geboren werden, läßt sich die insgesamt zu erwartende Kinderzahl bereits zuverlässig vorausberechnen, bevor der Jahrgang das Intervall von 15 bis 45 ganz durchlaufen hat.

CFR und TFR

Die für ein bestimmtes Kalenderjahr berechnete Geburtenzahl pro Frau kann mit der für einen Geburtsjahrgang berechneten verglichen werden, obwohl beide auf völlig verschiedenen Zeitskalen gemessen werden. Beim Vergleich von Kalenderjahren bezieht sich die Zahl der Kinder pro Frau auf dasjenige Jahr, in dem die Kinder zur Welt kommen, beim Vergleich von Frauenjahrgängen auf das Geburtsjahr der Mütter. Obwohl die beiden Zeitskalen verschieden sind, lassen sich die beiden Fertilitätsmaße in das gleiche Diagramm eintragen und miteinander vergleichen, wenn man den folgenden Trick anwendet.

Dafür wird die Kinderzahl, die sich bei jedem Jahrgang auf das Altersintervall von 15 bis 45, also auf 30 Lebensjahre bzw. auf 30 Kalenderjahre verteilt, vereinfachend einem einzigen Kalenderjahr zugeordnet. Man wählt dafür dasjenige Kalenderjahr, auf das beim betreffenden Jahrgang die meisten Geburten entfallen. Dadurch kann die Geburtenrate eines Jahrgangs (CFR) im gleichen Diagramm dargestellt werden wie die Geburtenrate eines Kalenderjahres (TFR). Aus dem Vergleich der beiden Kurven im Schaubild erkennt man, daß die jahrgangsspezifische Kinderzahl pro Frau (CFR) schon seit dem Jahrgang 1860 abnimmt. Außerdem fällt deutlich ins Auge, daß die von wichtigen historischen Ereignissen wie den Weltkriegen und der Weltwirtschaftskrise von 1932 beeinflußte zusammengefaßte Geburtenziffer (TFR) einen viel unregelImäßigeren Verlauf hat als die Kurve für die Geburtsjahrgänge, die auf solche Ereignisse reagieren, indem Geburten aufgeschoben und später nachgeholt werden. Beiden Kurven gemeinsam ist der deutliche Abwärtstrend. Er zeigt, daß der Rückgang der Fertilität, also die Änderung des von der variierenden Altersstruktur unabhängigen, reinen Fortpflanzungsverhaltens, in Deutschland schon Ende des 19. Jahrhunderts begann. Das Zusammenspiel des Fortpflanzungsverhaltens mit der jeweiligen Zahl der weiblichen Bevölkerung, insbesondere mit der Zahl in der Altersgruppe 15-45 und deren Verteilung innerhalb dieses Intervalls, ergibt die jährliche Geburtenzahl.“ (Zitat-Ende).
Anzahl der Einwohner* und der Lebendgeborenen in Deutschland** seit 1840 mit Vorausberechnungen bis 2100
Einwohner und Lebendgeborene
* Von 1840 bis 1989: Bevölkerung am 31.12. eines Jahres, von 2000 bis 2100 mittleree Bevölkerung eines Jahres.
** Von 1840 bis 1945 Reichsgebiet; von 1945 bis 1990 Gebiet der 1990 vereinten Bundesrepubik Deutschland.
Quelle: Herwig Birg, Universität Bielefeld, 2005.
Daten: Daten von 1840 bis 1999 Statistisches Bundesamt, Daten von 2000 bis 2100 Herwig Birg / Ernst-Jürgen Flöthmann, Demographische Projektionsberechnungen für die Rentenreform, 2000; Materialien des IBS, Band 47A; Universität Bielefeld, 2001 (Variante 5)

Geburtenziffer und Sterbeziffer in Deutschland* von 1816 bis 2000
Einwohner und Lebendgeborene
* 1816 bis 1840 Preußen, 1841 bis 1945 Reichsgebiet, 1945 bis 2000 Bundesgebiet.

ä Vorausberechnungen der Weltbevölkerung - Zuverlässigkeit und Hauptergebnisse (S. 45-58):

„Die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen führte in ihrem demographischen Forschungsinstitut in New York seit den 50er Jahren des 20.Jahrhunderts insgesamt 19 Runden von Bevölkerungsvorausberechnungen für die Länder der Welt durch; die erste fand 1951 statt, die jüngste im Frühjahr 2005. Das Zieljahr der Vorausberechnungen war für die ersten drei Runden aus den Jahren 1951, 1954 und 1957 jeweils das Jahr 1980. Die Abweichungen zwischen der tatsächlichen Bevölkerungszahl im Jahr 1980 (4,43 Mrd.) und den vorausberechneten waren bei den ersten Runden noch relativ groß, bei der dritten von 1957 betrug der Fehler beispielsweise für einen Prognosezeitraum von 23 Jahren 5,0%.

In den folgenden Runden verringerten sich die Abweichungen mit dem näher rückenden Zieljahr naturgemäß immer weiter, aber der entscheidende Grund für die zunehmende Genauigkeit war, daß die Datenbasis für die zurückliegenden Jahre bis 1950 als Basis für die Vorausberechnungen ständig verbessert wurde. Da nur eine kleine Minderheit der 200 Länder der Welt über zuverlässige Bevölkerungsstatistiken verfügt - in vielen Entwicklungsländern werden auch heute noch bei weitem nicht alle Geburten- und Sterbefälle in der amtlichen Bevölkerungsstatistik registriert, geschweige denn die genaue Bevölkerungszahl -, besteht das Hauptgeschäft der Bevölkerungsvorausberechnungen der UN darin, eine möglichst zuverlässige Datenbasis für die Vergangenheit durch Stichproben und Informationsquellen aller Art bis hin zu Luftaufnahmen über die Dichte der besiedelten Flächen zu erarbeiten, auf der die Vorausberechnungen aufbauen können.

Selbst in Ländern wie Indonesien, in denen es (im Gegensatz zu Deutschland) Volkszählungen gibt, ist die Qualität der Daten meist so gering, daß sie vor jeder Verwendung für wissenschaftliche Analysen und Prognosen von offensichtlichen Fehlern bereinigt werden müssen. So sind die Altersangaben in Indonesien unbrauchbar, weil die Menschen ihrem Alter keine besondere Bedeutung beimessen, was sich u.a. darin äußert, daß sie ihren Geburtstag nicht feiern. Noch vor wenigen Jahrzehnten wußten die Menschen nicht genau, in welchem Jahr sie geboren wurden. Bei der Beantwortung der Fragen nach dem Alter werden dann - den religiösen und kulturellen Vorstellungen entsprechend - Glückszahlen bevorzugt und Unglück verheißende Zahlen vermieden. Das Ergebnis ist eine Bevölkerungspyramide, in der bestimmte Altersgruppen unter- und andere stark überschätzt sind.

In den bisherigen 19 Vorausschätzungsrunden für die einzelnen Länder der Welt wurden neben den Vorausberechnungen auch die Daten für die Vergangenheit sowie für das Ausgangsjahr der Vorausberechnungen jeweils durch immer genauere Schätzungen ersetzt. Hinzu kamen ständige Verbesserungen der Methodik der Vorausberechnungen. Wenn die Zahlen für das Ausgangsjahr einer Revision unterzogen werden, dann ändert sich jedoch - bei gleicher Prognosemethode - auch das Vorausberechnungsergebnis, so daß die Abweichung zwischen der tatsächlichen und der vorausberechneten Bevölkerungszahl nicht im vollen Umfang als Prognosefehler interpretiert werden darf.

Insgesamt läßt sich feststellen, daß sich die Genauigkeit ständig erhöht hat: Die erste Vorausberechnung der Weltbevölkerung für das Jahr 2000 fand 1957 statt, das Ergebnis war 6,28 Mrd.. Die tatsächliche Zahl wird heute von den UN mit 6,07 Mrd. angegeben, die Differenz zwischen Ist und Soll beträgt mithin 3,5%. Der eigentliche Prognosefehler ist jedoch niedriger, denn in den 80er und 90er Jahren hat die Bevölkerungsabteilung der UN die Bevölkerungszahlen zurück bis 1950 für die Entwicklungsländer, die über keine zuverlässigen demographischen Statistiken verfügen, mehrmals revidiert. Dabei wurden die Geburtenraten in vielen Entwicklungsländern nach unten korrigiert, sie waren also niedriger als in der Vorausberechnung von 1957 angenommen. Wäre die Vorausberechnung von 1957 schon auf der Grundlage der später revidierten Datenbasis erarbeitet worden, läge die Vorausberechnung von 1957 noch näher an der tatsächlichen Zahl, der Prognosefehler betrüge dann schätzungsweise 1,5 bis 2 %.

Aus den gleichen Gründen - verbesserte Schätzungen der Daten für die Vergangenheit und für das Ausgangsjahr der Vorausberechnungen sowie Verbesserungen der Methodik - weichen die Ergebnisse der sechs Runden mit dem gleichen Zieljahr 2050 voneinander ab. Das Ergebnis der 14. Runde von 1994 (1990; Anm. HB*) für das Jahr 2050 betrug beispielsweise 9,83 Mrd., das der zur Zeit neuesten 19. Runde von Anfang 2005 9,08 Mrd.. Die jüngste Vorausberechnung liegt also um eine Dreiviertel Milliarde unter der 14., jedoch um über hundert Millionen über der vorangegangenen 18. Runde von 2002 (8,92 Mrd.). Der Hauptgrund für diese Differenzen sind unterschiedliche Berechnungsverfahren für die Auswirkungen der AIDS-Pandemie.

Bevölkerungsprognosen sind zuverlässiger als Prognosen über die wirtschaftliche Entwicklung, weil die künftigen Bevölkerungszahlen in erster Linie von der Größe der verschiedenen Altersgruppen in der bekannten Bevölkerungspyramide abhängen und erst in zweiter Linie vom Verhalten der Menschen, das sich ändern kann. Aber auch die sich ändernden Verhaltensweisen lassen sich analysieren und die dabei festgestellten Richtungen der Verhaltensänderungen bei den Annahmen für die Zukunft berücksichtigen. Der Unterschied zwischen den dominierenden Einfluß der Altersstruktur und dem der Verhaltensweisen läßt sich vergleichen mit dem ziemlich sicher prognostizierbaren Wechsel der Jahreszeiten und den kurzfristigen Wetterprognosen.“ (Zitat-Ende).

ä Implodierende Generationen - Gründe des Geburtenrückgangs (S. 80-93):

„Natürlich hat auch die Demographie ihren eigenen blinden Fleck, aber an welcher Stelle sitzt er?

Die Vermutung eines Zusammenhangs zwischen dem Rückgang der Geburtenrate und der Zunahme der kompensatorischen Zuwanderung ist ein so naheliegender Gedanke, daß man sich fragt, warum er von Zeithistorikern, Soziologen und Politologen bisher vollkommen übersehen wurde. Vielleicht liegt der spezifische blinde Fleck dieser Disziplinen bei ihrer Wahrnehmung und Analyse der demographischen Phänomene in Deutschland.

Eine zweite Gruppe von Faktoren ist in ihrer Wirkung auf bestimmte, wenige Geburtsjahrgänge konzentriert. Beispielsweise hatten sich die in den 1940er und 1950er Jahren Geborenen während ihrer Phase der Familienbildung mit den Auswirkungen der Emanzipationsbewegung und den Leitbildern einer antiautoritären und dezidiert antifamilialen Selbstverwirklichungsideologie auseinanderzusetzen, deren Folgen heute noch wirksam sind. Zu den Faktoren mit einer spezifischen Wirkung auf bestimmte Jahrgänge gehören auch die Auf- und Abschwungphasen der wirtschaftlichen Konjunktur- und Wachstumszyklen. So traf beispielsweise der Jahrgang 1950 bei seinem Eintritt in das Berufsleben im Jahr 1970 auf einen Arbeitsmarkt mit einer extrem niedrigen Arbeitslosenquote von 0,8% (!) und entsprechend günstigen beruflichen Aufstiegschancen, während der nur fünf Jahre später geborene Jahrgang von 1955 infolge der ölpreisbedingten Konjunkturkrise von 1973 eine damals als hoch empfundene Arbeitslosenquote von 5% und wesentlich schlechtere Berufsperspektiven vorfand. Dabei läßt sich empirisch nachweisen, daß sich der Prozentsatz der zeitlebens Kinderlosen bei jenen Jahrgängen überdurchschnittlich stark erhöhte, bei denen die Arbeitsmarktlage in der Phase der Familienbildung (Alter 20 bis 25) besonders günstige berufliche Perspektiven bot. Daraus läßt sich schließen, daß die Verwirklichung beruflicher Ziele bei den meisten Menschen de facto Vorrang vor den familialen Zielen hat.

Weitere Beispiele für Faktoren mit generationsspezifischen Auswirkungen auf die Geburtenrate sind die Maßnahmen und Gesetze auf dem Gebiet des Ehe-, Scheidungs- und Familienrechts sowie die Maßnahmen der Familienpolitik, beispielsweise die Einführung von Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub und die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung der Eltern (1986), der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz sowie die (äußerst bescheidene) Anerkennung der Erziehungsleistungen bei der Höhe des Beitragssatzes für die gesetzliche Pflegeversicherung (2005).

Unter den hier aufgeführten (und nicht aufgeführten) Beispielen kommt der großen Rentenreform von 1957 und dem damals eingeführten Umlageverfahren, auf dem auch die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung beruht, eine herausragende Bedeutung zu. Durch diese Reform wurden die Ansprüche auf Altersversorgung kollektiviert, aber die zur Erfüllung der Ansprüche notwendigen »generativen Leistungen« in der Form der Erziehung künftiger Beitragszahler den Familien aufgebürdet - eine nach meinem Dafürhalten verfassungswidrige Reform, die den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung verletzt, indem sie die Gruppe der Kinderlosen privilegiert, und die darüber hinaus den Artikel 6 des Grundgesetzes - »Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung« - in sein Gegenteil verkehrt, ein Tatbestand, der von Fachleuten als »Transferausbeutung der Familien« bezeichnet wird (Jürgen Borchert).

Der verfassungssrechtliche Skandal hat wahrscheinlich eine subtile, zerstörerische Wirkung auf die kulturelle Substanz unserer Gesellschaft und auf unsere rechtsstaatliche Kultur. Er ist der entscheidende Grund für den schwindenden Wunsch nach Kindern und für die fehlende Bereitschaft der Bürger, durch ihre Wahlentscheidungen eine Politik zu erzwingen, in deren Zentrum die Familie und nicht das abstrakte Interesse des Individuums steht, dessen Existenz ohne Familien nicht vorstellbar ist.

Die familienfeindliche Fehlkonstruktion der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung ist eine einzeln benennbare, wichtige Ursache des Geburtenrückgangs nach dem Zweiten Weltkrieg. Würde man sie jedoch durch eine Reform des sozialen Sicherungssystems beseitigen, wäre das Problem nicht gelöst, weil jeder einzelne Grund seinerseits auf tiefer liegenden Gründen beruht, die mit einer solchen Reform nicht aus der Welt zu schaffen sind. Die hinter diesen Gründen wirkenden Faktoren betreffen nicht nur einzelne Geburtsjahrgänge oder Jahrgangsgruppen, sondern sämtliche Jahrgänge, die den säkularen Geburtenrückgang seit Ende des 19. Jahrhunderts getragen haben. Deshalb ist es sinnvoll, sie in einer eigenen, dritten Gruppe zusammenzufassen.

Allen seit 1940 geborenen Frauenjahrgängen ist gemeinsam, daß ein immer größerer Anteil des Jahrgangs kinderlos blieb. Das gleiche gilt für die Männer, bei denen die Prozentsätze generell höher sind als bei den Frauen. Beim Frauenjahrgang 1940 waren es 10,6%, beim Jahrgang 1950 15,8% und beim Jahrgang 1965 32,1%. Parallel dazu sank der Anteil der Frauen mit zeitlebens einem Kind von 26,4% beim Jahrgang 1940 auf 17,6% beim Jahrgang 1965. Der Anteil mit zwei Kindern verringerte sich nur leicht von 34,1 auf 31,2%, der Anteil mit drei Kindern fiel stärker von 18,5 auf 11,1 % und der mit vier oder mehr Kindern von 10,4 auf 8,1%. Daß der Anteil der größeren Familien mit vier und mehr Kindern schwächer abnahm als der mit drei, beruht auf den Zuwanderungen aus dem Ausland: Bereits am Anfang der 1990er Jahre hatten 42% der Kinder, die als vierte oder weitere Kinder zur Welt kamen, ausländische Eltern.

Diese Zahlen zeigen mit aller Deutlichkeit, daß sich die einzelnen Jahrgänge immer stärker in zwei Teilgruppen mit und ohne Kinder spalten. Die Behauptung, daß die 1-Kind-Familie in Deutschland dominiere, entbehrt jeder Grundlage, der weitaus häufigste Familientyp ist die 2-Kinder-Familie. Wenn die Menschen überhaupt eine Familie gründen, haben sie beinahe doppelt so häufig zwei Kinder als eines. Daß die Geburtenrate mit 1,3 bis 1,4 Kindern so stark von der 2-Kinder-Familie abweicht, liegt daran, daß ein großer Teil der Menschen gar keine Kinder mehr hat. Hier liegt auch der entscheidende Grund für die höhere Geburtenrate in ländlichen Gebieten oder bei Menschen mit Migrationshintergrund, es ist der wesentlich niedrigere Anteil der zeitlebens Kinderlosen. Aus dem gleichen Grund lag auch die Geburtenrate in der früheren DDR bis zur Wiedervereinigung über der in den alten Bundesländern.

Diese Befunde bieten natürlich noch keine Erklärungen für die tieferen Gründe des Geburtenrückgangs, aber sie zeigen, an welcher Stelle man bohren muß, um fündig zu werden. Die entsprechenden Bretter sind jedoch hart und dick. sind jedoch hart und dick. Viele Gelegenheitsdemographen mit soziologischem oder ökonomischem Hintergrund halten die hier skizzierten demographischen Analysen für einen überflüssigen Umweg, sie glauben, daß die Befragung der Menschen der direkteste und einfachste Weg zu den Informationen über die Ursachen des Geburtenrückgangs ist. Inzwischen gibt es über hundert wissenschaftlich fundierte Untersuchungen über das Fortpflanzungsverhalten auf der Grundlage solcher Umfragen. Was läßt sich aus ihnen lernen ?

Bei einigen Erhebungen werden die Menschen nach einer Reihe von Jahren wiederholt befragt. Dabei geben die Interviewten auf die Frage nach der idealen oder gewünschten Kinderzahl häufig diejenige Zahl an Kindern an, die sie zum Zeitpunkt der Wiederholungsbefragung tatsächlich haben, wobei die meisten die gleiche Frage in der vorangegangenen Befragungsrunde, als sie noch weniger oder gar keine Kinder hatten, anders beantworteten. Der Weg über das Interview führt also nicht direkt zum Ziel, weil die Befragungsergebnisse meist aufwendigen Analysen unterzogen werden müssen, um »richtig« interpretiert zu werden. Wenn die Befragten, was die Regel ist, ihre Antworten nach der sozialen Wünschbarkeit ausrichten, steht man vor einem fast unlösbaren Problem. So wurde beispielsweise in allen Forschungsprojekten eine Scheu festgestellt, ökonomische Faktoren als wichtig für die Geburt von eigenen Kindern anzugeben, für andere Menschen werden dagegen ökonomische Faktoren gleichzeitig als extrem wichtig eingestuft.

Ein weiteres Beispiel für die Interpretierbarkeit der Antworten auf die Frage nach Gründen für wenige oder gar keine Kinder ist der Faktor »fehlender Partner«, den mehr als zwei Drittel der Befragten als wichtigsten Grund für die niedrige Geburtenrate angeben, und zwar noch wesentlich wichtiger als fehlende Betreuungseinrichtungen und staatliche Unterstützungszahlungen. Daß hinter dieser Antwort mehr stecken muß, ist klar, denn bei allen Jahrgängen entfallen auf 100 geborene Mädchen rund 106 Knaben, eine Relation, die sich infolge der in jedem Lebensalter höheren Sterblichkeit des männlichen Geschlechts bis zum Erwachsenenalter immer mehr einer ausgeglichenen Sexualproportion von 100 zu 100 annähert. Wenn aber bei allen Jahrgängen auf jeden Mann im statistischen Mittel eine Frau entfällt, kann die sinkende Geburtenrate nicht auf einem Mangel an Partnern beruhen, sondern sie muß mit der schwindenden Fähigkeit und Bereitschaft zusammenhängen, mit Partnern Bindungen einzugehen.

Dazu kommt die objektive Bindungsfeindlichkeit der Lebensbedingungen dynamischer Wirtschaftsgesellschaften. Die Anforderungen des Arbeitsmarktes an die berufliche Flexibilität und die räumliche Mobilität lassen für die Entwicklung der bindungsabhängigen, partnerschaftlichen Tugenden der unbedingten Verläßlichkeit und Treue wenig Raum - lauter Voraussetzungen für die Bereitschaft und Fähigkeit, in der Biographie das Risiko einer langfristigen, irreversiblen Festlegung durch Kinder oder durch eine seelische Bindung einzugehen. Dabei hat auch die nichteheliche Lebensgemeinschaft die Dauer der Bindungen nicht erhöht. Die Wahrscheinlichkeit einer Ehescheidung nach einer vorangegangenen »Probeehe« ist jedenfalls nicht niedriger als bei Ehen ohne Probephase. Diese Überlegungen stimmen mit der Einsicht überein, daß Partnerschaft nicht als eine moderne Form von Elternschaft oder als ein Ersatz für die Lebensform der Familie verstanden werden kann, weil sie zu einer anderen Lebenssphäre gehört: Im Gegensatz zur Partnerschaft kann die Elternschaft und die Zugehörigkeit zu einer Familie nicht gekündigt werden, Vater oder Mutter zu sein ist eine lebenslange Gunst und Verpflichtung.

Zu dem Risiko einer langfristigen Festlegung in der Biographie des Einzelnen kommt bei der Bindung an einen Partner das organisatorisch-praktische Problem der räumlichen und zeitlichen Abstimmung zweier Biographien hinzu. Wenn beide Partner eine berufliche Karriere anstreben, tritt früher oder später mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Schwierigkeit auf, daß ein aus beruflichen Gründen erforderlicher Arbeits- und Wohnortwechsel des einen Partners nicht im gleichen Zeitpunkt auch in der Biographie des anderen Partners auftritt und beide an den gleichen neuen Wohnort führt. Die dann erforderliche Anpassung des einen Partners an die Biographie des anderen führt zu einer Beeinträchtigung der Karrierechancen, nicht selten auch zur Trennung, wenn die Bereitschaft zur Anpassung fehlt.

Die abnehmende Häufigkeit von Eheschließungen und die zunehmende von Scheidungen hat also oft wenig mit dem Fehlen eines passenden Partners zu tun, sondern mit den objektiv schwieriger gewordenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Leben in einer Partnerschaft oder Familie. Beruflicher Erfolg und die Gründung einer Familie schließen sich in unserer Wirtschafts- und Konkurrenzgesellschaft gegenseitig aus, unser Gesellschaftstyp macht aus Lebensläufen Hindernisläufe.

Die Risiken langfristiger, irreversibler Festlegungen im Lebenslauf nehmen in modernen Wirtschaftsgesellschaften mit den permanenten Strukturveränderungen auch in Zukunft tendenziell weiter zu, so daß sich die Spaltung der Gesellschaft in einen Sektor ohne und mit Kindern vertieft und die Geburtenrate wahrscheinlich weiter abnimmt. Dabei ist offen, wie stark sich die wachsende Population der Zugewanderten mit ihrem immer noch wesentlich geringeren Anteil an Kinderlosen diesem Trend anpaßt oder auf Dauer abweichenden biographischen Lebensentwürfen folgt. Hinter der seit Jahrzehnten annähernd konstanten Geburtenrate von 1,3 bis 1,4 Geburten pro Frau verbirgt sich eine hohe Dynamik: Die deutsche Bevölkerung mit ihrer tendenziell abnehmenden Geburtenrate bewirkt tendenziell eine Senkung der Geburtenrate für Deutschland insgesamt, die zunehmende Zahl der Population mit Migrationshintergrund bewirkt umgekehrt eine Erhöhung, wobei sich beide Wirkungen bisher weitgehend kompensierten, so daß die Geburtenrate insgesamt seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts fast konstant blieb.

Die Risiken langfristiger Festlegungen im Lebenslauf sind am größten, wenn eine Entscheidung über den Schritt zum ersten Kind getroffen werden muß. Die Übergänge vom ersten zum zweiten und vom zweiten zum dritten Kind unterscheiden sich grundlegend von diesem ersten Schritt, denn der Wechsel zur Elternschaft ist irreversibel, er ist wie ein Übergang von einer Welt in eine andere, während der Zuwachs einer Familie durch ein weiteres Kind als ein Ereignis aus der gleichen Welt erfahren wird, nicht als Übergang in eine neue. Deshalb erhöhte sich der Anteil der Kinderlosen vom Frauenjahrgang 1940 bis zum Jahrgang 1965 kontinuierlich von 10,6% auf 32,1 %. Die Familienstrukturen bei den nach 1940 geborenen Jahrgängen sind eindeutig: Ungefähr ein Drittel der Frauen bleibt kinderlos, ein weiteres Drittel hat zwei Kinder, während das letzte Drittel die Frauen mit einem oder mit drei und mehr Kindern umfaßt, wobei der Anteil der Frauen mit drei und mehr höher ist als der Anteil mit einem Kind (Tabelle 12).

Menschen, die bei der Wahl ihres Lebenslaufs langfristige Festlegungen durch Kinder oder Partnerbindungen vermeiden oder aufschieben, um die Größe ihres potentiellen biographischen Universums - den Möglichkeitsraum biographischer Alternativen in der Außenwelt - mit seiner Vielfalt an Optionen nicht einzuschränken, verzichten dafür auf das andersartige, nur durch langfristige Festlegungen erreichbare Universum in der Innenwelt.

In unserer Gesellschaft wird der Lebenslauf nicht mehr als Vollzug einer biographischen Anpassung an ein von der Herkunftsfamilie oder von der Gesellschaft vorgegebenes oder empfohlenes Muster betrachtet, sondern er ist ein Projekt des Einzelnen, dessen Erfolg oder Mißerfolg dem Individuum zugerechnet wird. Statt zu fragen, warum die Menschen so wenig Kinder haben, wäre es eigentlich richtiger zu fragen, wie es viele Menschen bei ihrem biographischen Hindernislauf überhaupt zuwege bringen, noch Kinder zu erziehen.

Bei alledem darf nicht übersehen werden, daß die Fähigkeit zur Empfängnis und Geburt bei den Frauen ab dem 45. Lebensjahr aus biologischen Gründen fast vollkommen erlischt. Die Häufigkeit der Geburten hängt extrem stark vom Alter der Frauen ab. Betrachtet man je 100 Frauen in der Altersgruppe 15-19, so bringt diese Gruppe pro Jahr 4 bis 5 Kinder zur Welt. In der Altersgruppe 20-24 sind es rund 24 und in der Altersgruppe 25-29 sowie in der Gruppe 30-34 je 41. Danach sinken die Zahlen wieder, in der Altersgruppe 35-39 sind es noch 19, in der Gruppe 40-44 drei bis vier und in der Gruppe 45-49 ergibt sich beim Runden auf ganze Zahlen eine Null, genauer: 0,15. Die Summe über alle Altersjahre von 15-49 ergibt 134 Lebendgeborene auf 100 Frauen bzw. 1,34 je Frau (Daten für 2003).

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zwei Verschiebungen dieser glockenfötmigen Altersverteilung, zunächst eine Vorverlagerung des mittleren Gebäralters, später eine Rückverlagerung in höheres Alter. Durch die immer noch anhaltende Rechtsverschiebung der Glockenkurve zu einem höheren Gebäralter hat sich die Zahl der Geburten pro Frau in den Altersjahren über 35 erhöht, aber gleichzeitig die der unter 30jährigen verringert. Die beiden Veränderungen kompensierten sich in ihrer Wirkung fast vollständig, so daß die Geburtenrate über Jahrzehnte nahezu konstant blieb. Seit dem Jahr 2000 werden jedoch die weiter abnehmenden Geburtenraten der jüngeren Altersgruppen durch die zunehmenden bei den über 35jährigen nicht mehr ganz ausgeglichen, seitdem sinkt die Gesamt-Geburtenrate, wenn auch nur leicht (Abnahme von 2000 bis 2003 von 1,38 auf 1,34 Geburten pro Frau).

Von den 134 Lebendgeborenen je 100 Frauen im Alter von 15 bis 49 im Jahr 2003 entfielen 17% auf die Altersgruppe 35-49. Selbst wenn sich die Geburtenrate der 35-49jährigen verdoppelte, würde dies nur einen Anstieg der gesamten Geburtenrate von 134 auf 156 bewirken. Auf die Altersgruppe 40-49 entfallen 2,6% und auf die Gruppe 45-49 rund 0,1% der Lebendgeborenen. Das Gewicht dieser Altersgruppe ist so gering, daß selbst eine Verdreifachung der Geburtenrate der 40-49jährigen nur einen Anstieg der gesamten Geburtenrate von 134 auf 145 bewirken würde. Eine Verzehnfachung der Geburtenrate der 45-49jährigen hätte einen Anstieg der gesamten Geburtenrate von 134,0 auf 135,5 zur Folge, die Geburtenzahl pro Frau würde sich dadurch also nur in der zweiten und dritten Stelle nach dem Komma ändern: 1,355 statt 1,340.

Diese Beispielrechnungen widerlegen die neuerdings vom Max-Planck-lnstitut für demografische Forschung aufgestellte Behauptung, daß das niedrige Niveau der Geburtenrate immer noch auf der Verschiebung des mittleren Gebäralters in ein höheres Alter beruht und nach Abschluß der Verschiebung ansteigt. Der Verschiebungseffekt hat sich in Deutschland zu einem großen Teil längst ausgewirkt, ohne daß es zu einem merklichen Wiederanstieg der Geburtenrate kam. Seit 2000 sinkt die Geburtenrate sogar, obwohl sich die Verschiebung immer noch fortsetzt, weil die Geburtenrate der unter 30jährigen Frauen weiter abnimmt. Stößt die Rechtsverschiebung der Kurve aus biologischen Gründen an ihre Grenzen, was bald zu erwarten ist, wird die Geburtenrate sogar stärker abnehmen, als sie es jetzt schon tut.“ (Zitat-Ende).

 

         

 

ä Demographie, Wohlstand und öffentliche Wohlfahrt (S. 110-119):

„Am Anfang des 20. Jahrhunderts ernährte ein Bauer seine eigene Familie und dazu vielleicht noch ein Dutzend andere, aber in den folgenden Jahrzehnten stieg die Produktivität um das Hundertfache, so daß heute Nahrungsmittel sogar künstlich vernichtet werden. Weil die Produktivität der Wirtschaft auch künftig zunimmt, während die Bevölkerung schrumpft - so die voreilige Schlußfolgerung -, seien ernsthafte wirtschaftlich begründete Sorgen über die demographische Schrumpfung überflüssig.

Das Argument sieht stärker aus als es ist, denn die Produktivitätszuwächse in einem bestimmten Sektor kommen auch den anderen Sektoren zugute und sind dann für die Volkswirtschaft insgesamt viel kleiner, im Prinzip aber trifft das Argument zu: Wenn eine Bevölkerungsschrumpfung möglich wäre, ohne daß sich das Durchschnittsalter automatisch erhöhte, gäbe es viele der wirtschaftlichen Auswirkungen der demographischen Alterung nicht. Die demographische Alterung ist jedoch unvermeidbar, und zwar auch dann, wenn die niedrige Geburtenrate - ihre Hauptursache - ab sofort stark zunähme. So lange wir an dem (inzwischen durch den Nachhaltigkeitsfaktor modifizierten) sozialpolitischen Gebot und dem humanen Grundsatz festhalten, daß das Versorgungsniveau der älteren Bevölkerung prozentual um den gleichen Prozentsatz zunehmen soll wie die Produktivität bzw. das Einkommen der Erwerbstätigen (»dynamische Rente« ), sind mit jeder Produktivitäts- bzw. Einkommenssteigerung gleich hohe prozentuale Rentensteigerungen verbunden. Unter dieser Voraussetzung bewirkt der Anstieg des Altenquotienten um mehr als das Doppelte automatisch einen Anstieg der demographisch bedingten Belastungen der Erwerbstätigen um den gleichen Faktor, und zwar unabhängig davon, ob sich die Produktivität und das Einkommen veri doppeln, verzehnfachen oder verhundertfachen.

Das entscheidende Problem der Bevölkerungsschrumpfung ist also nicht in erster Linie die Abnahme der Bevölkerungszahl, sondern die mit ihr automatisch verbundene demographische Alterung und das damit heraufbeschworene Verteilungsproblem zwischen den Generationen. Hinzu kommt ein weiteres, altersbedingtes Problem: Die hohen Beiträge in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung werden je zur Hälfte von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen. Sie gehen in die Kalkulation der Produktpreise ein, mit der Folge, daß sich die von Deutschland exportierten Güter im Vergleich zu anderen Ländern mit geringerer demographischer Alterung verteuern. Dies führt, dazu, daß der Standort Deutschland an Attraktivität verliert, die Investitionen abnehmen und das Wirtschaftswachstum erlahmt.

Unter den zahllosen Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die Renten-, Kranken-, und Pflegeversicherung, die Arbeits- und Wohnungsmärkte, die Auslastung der kommunalen Infrastruktur und die öffentlichen Finanzen u.s.w. sind in Deutschland die negativen Folgen für das Wirtschaftswachstum besonders nachhaltig und gefährlich: Durch die Bevölkerungsschrumpfung und die demographische Alterung verringert sich die Wachstumsrate des Volkseinkommens, was einen großen Verlust an Einkommen und einen entsprechenden Ausfall an Steuereinnahmen bedeutet. Die negativen wirtschaftlichen Konsequenzen haben ihrerseits einen ungünstigen Einfluß auf die Geburtenrate, so daß sich die Ursache der demographischen Probleme - die niedrige Geburtenrate - durch deren Folgen noch verstärkt.

Deutschland ist immer noch eines der weltoffensten, sichersten und reichsten Länder der Erde. Mit welcher Art von Politik läßt sich das erreichte Lebensniveau sichern und weiter anheben?  Wenn alles in erster Linie auf die Wahl richtiger Ziele ankäme, wäre der wirtschaftliche Erfolg eines Landes zwar als ein besonders wichtiges, aber nicht als Ziel aller Ziele anzusehen. Denn noch erstrebenswerter als eine wirtschaftlich erfolgreiche Gesellschaft ist nach allgemeiner Übereinkunft ein Land, in dem die menschlichen Werte auf der Skala der Prioritäten nicht hinter, sondern vor den wirtschaftlichen rangieren. War also die richtige Positionierung der menschlichen und ökonomischen Werte in der Rangfolge der Ziele die entscheidende Ursache für die bisher gute Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg?

Wie immer man die Frage für die Vergangenheit beantwortet, für die Zukunft werden in Deutschland im Hinblick auf die ökonomische Leistung, wie sie etwa im Bruttoinlandsprodukt gemessen wird, nur noch drittklassige Ziele verfolgt; die erstklassigen, mit persönlichem Wohlstand und öffentlicher Wohlfahrt verbundenen, werden nicht einmal mehr diskutiert. Ein besorgniserregendes Beispiel dafür ist die in der Wissenschaft und Politik ständig wiederholte, beschwörende Feststellung, daß sich durch jeden zugewanderten Einwohner, falls er nicht von der übrigen Bevölkerung unterstützt werden muß, bzw. durch das von ihm erwirtschaftete Einkommen das Bruttoinlandsprodukt des Landes erhöht. Doppelt so viele erwerbstätige Zuwanderer bedeuten dann beispielsweise einen doppelt so hohen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich das Bruttoinlandsprodukt erhöht, wenn zusätzliches Einkommen entsteht, denn das Bruttoinlandsprodukt ist ja definitionsgemäß pie Summe aller Erwerbs- und Vermögenseinkommen. Aber dies bedeutet nicht, daß freie Wanderungen »die bestmögliche Lösung für alle Länder« sind, wie es beispielsweise in einem Fachbuch über Arbeitskräftemigration im Zuge der Diskussion zur Ost-Erweiterung der EU heißt (Hans-Werner Sinn u. a.: EU-Erweiterung und Arbeitskräftemigration -Wege :i in einer schrittweisen Annäherung der Arbeitsmärkte. Ifo-Beiträge zur Wirtschaftsforschung Nr. 21, 2001)und wie es Politik und Öffentlichkeit gerne glauben wollen. Selbst wenn man die Frage der Zuwanderungen unter rein ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet und die bei der Zuwanderungsfrage zu beachtenden, nicht weniger wichtigen gesellschaftlichen und kulturellen Kriterien ganz ausklammert, ist ein hohes Bruttoinlandsprodukt kein lohnendes Ziel der Politik, denn im Wohlstand zu leben bedeutet nicht, daß das Bruttoinlandsprodukt insgesamt, sondern daß das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung hoch ist.

Formel

Formel

Zur Veranschaulichung dieses wichtigen, regelmäßig übergangenen Problems sei folgendes einfaches Zahlenbeispiel gebildet. Das Pro-Kopf-Einkommen ist ein Bruch mit dem Bruttoinlandsprodukt im Zähler und der Bevölkerungszahl im Nenner. Mit einfacher Schulmathematik läßt sich demonstrieren, daß die prozentuale jährliche Wachstumsrate eines Bruchs (bei stetiger Entwicklung) stets gleich der Wachstumsrate des Zählers minus der Wachstumsrate des Nenners ist. Wenn beispielsweise das Bruttoinlandsprodukt mit einer Wachstumsrate von drei und die Einwohnerzahl mit einer Wachstumsrate von einem Prozent zunimmt, wächst das Pro-Kopf-Einkommen um rund zwei Prozent.

Industrieländer wie Deutschland und die Schweiz sind für Zuwanderer aus armen Ländern nicht wegen des hohen Bruttoinlandsprodukts insgesamt attraktiv, sondern wegen des hohen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf, sonst wäre beispielsweise Indien ein Ziel für Migranten aus der Schweiz und nicht die Schweiz ein Ziel für Migranten aus Indien, denn das Bruttoinlandsprodukt Indiens übertrifft wegen seiner hohen Einwohnerzahl naturgemäß das Bruttoinlandsprodukt der Schweiz.

Wählt man für eine an rein ökonomischen Zielen orientierte Zuwanderungspolitik sinnvollerweise das Pro-Kopf-Einkommen, dann läßt sich die Frage, ob niedrige oder hohe Einwanderungen günstiger sind, durch folgendes Zahlenbeispiel illustrieren. Im Fall A sei durch hohe Einwanderungen eine leicht positive Wachstumsrate der Bevölkerung von beispielsweise 0,7 % pro Jahr möglich, im Fall B sei die Wachstumsrate der Bevölkerung bei geringeren Einwanderungen negativ, beispielsweise –0,5%. Das Bruttoinlandsprodukt möge durch hohe Einwanderungen im Fall A jährlich mit 2,5% wachsen, im Fall B nur mit 1,5%. Unter diesen Annahmen erhöht sich das Pro-Kopf-Einkommen im Fall A bei hohen Einwanderungen jährlich um 1,8% (= 2,5 - 0,7), im Fall B wächst das Pro-Kopf-Einkommen bei niedrigeren Einwanderungen jedoch schneller, nämlich um 2,0% ( = 1,5 - (-0,5)). Nach beispielsweise 50 Jahren wäre das Pro-Kopf-Einkommen bei niedrigen Einwanderungen um 170% gestiegen, bei hohen nur um 144%.

Was folgt aus dieser Betrachtung?  Nichts charakterisiert die Einstellung einer Gesellschaft gegenüber ihren existentiellen Zukunftsproblemen treffender als die Ziele, die sie nicht einmal mehr diskutiert, geschweige denn durch politische Anstrengungen aktiv verfolgt. Deutschland konkurriert im internationalen ökonomischen Wettbewerb nur noch um die rangtieferen Plätze. Die für die Sicherung des Wohlstands unabdingbaren, ehrgeizigeren Ziele wurden in der Politik stillschweigend aufgegeben, sie kommen im politischen Diskurs und in den Gutachten, die von Wissenschaftlern für Politiker angefertigt werden, nicht mehr vor. Zuwanderungsfragen können zwar nicht nur nach ökonomischen Maßstäben entschieden werden, aber selbst wenn man alle gesellschaftlichen und kulturellen Zuwanderungsprobleme beiseite läßt und ökonomische Ziele in den Vordergrund stellt, ist eine auf hohe Einwanderungen abzielende Zuwanderungspolitik für Deutschland ökonomisch von Nachteil, weil sie das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens verringert, jedenfalls so lange das Qualifikationsniveau der Zuwanderer mehrheitlich wesentlich niedriger ist als im Landesdurchschnitt.

Noch gravierendere wirtschaftliche Einbußen entstehen, wenn Zuwanderer wegen ihrer unterdurchschnittlichen Qualifikation nicht nur keine hochqualifizierten beruflichen Tätigkeiten, sondern überhaupt keine Erwerbstätigkeit ausüben, was für zahlreiche Einwanderer nach Deutschland zutrifft und treffend als »Einwanderung in die Sozialsysteme« bezeichnet wird.

Deutschland ist ein wichtiges Einwanderungsland. Es wählt die auf Grund von politischer oder geschlechtlicher Verfolgung Zugewanderten nicht nach irgendwelchen Nützlichkeitskriterien aus, dies wäre auch nach dem Grundgesetz - dem eigentlichen Zuwanderungsgesetz - ausgeschlossen, und es sollte sinnvollerweise auch ausgeschlossen bleiben. Die humanitäre Zuwanderung auf Grund von politischer Verfolgung soll hier also keineswegs in Frage gestellt werden. Um so wichtiger ist es dann jedoch, daß die an ökonomischen Zielen ausgerichtete Zuwanderungspolitik für den nicht humanitären Teil der Migration ohne ideologische Scheuklappen analysiert und ihre überwiegend negativen ökonomischen Auswirkungen realistisch beurteilt werden: Die Abwanderung qualifizierter Menschen aus Deutschland und die Zuwanderung mehrheitlich wenig qualifizierter ist keine Quelle des Wohlstands, sondern ein schwerwiegendes, wohlstandsminderndes Risiko des wirtschaftlichen Niedergangs.

Wachstum, Wohlstand und Wohlfahrt einer Volkswirtschaft speisen sich aus drei Quellen, darunter das Wachstum des Arbeitskräftepotentials und des Produktionskapitals. Die erste der beiden Quellen ist in Deutschland demographisch bedingt versiegt; das jüngere sogenannte Erwerbspersonenpotential - die Zahl der 20-40jährigen - schrumpft seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts um mehrere Hunderttausend pro Jahr. Als eine Folge davon wird auch die zweite Wachstumsquelle - der volkswirtschaftliche Kapitalstock - schwächer, weil zu wenig investiert und Produktionskapital ins Ausland verlagert wird. Gäbe es nicht eine dritte Quelle - Volkswirte bezeichnen sie mit dem Begriff »technischer Fortschritt« -, läge die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland, die nur noch zwischen ein und zwei Prozent beträgt, bereits bei Null.

Ein abnehmendes oder wachsendes Bruttoinlandsprodukt kann theoretisch mit einem wachsenden, schrumpfenden oder gleichbleibenden Pro-Kopf-Einkommen verbunden sein. Der Fall eines steigenden Pro-Kopf-Einkommens bei schrumpfender Bevölkerung wird seit Beginn der Bevölkerungsschrumpfung in den 1970er Jahren in den Lehrbüchern der Volkswirte als eine besondere Variante des Wirtschaftswachstums behandelt. Eine solche Volkswirtschaft gleicht einer Armee auf dem Rückzug, die mit kaltem Blut zusieht, wie sich ihre Reihen lichten, ohne daß ihre Soldaten auseinanderlaufen. Ein Betrieb nach dem anderen wird geschlossen oder ins Ausland verlagert. Wenn der letzte Hochofen abgeschaltet ist, macht der letzte Arbeiter das Licht aus. Die schrumpfende Volkswirtschaft stirbt, ohne daß zwischendurch jemand die Nerven verliert und Chaos ausbricht - so die Lehrbücher.

Unserer Volkswirtschaft blieb die Probe aufs Exempel bisher erspart. Wenn das auf Dauer so bleiben soll, muß gewährleistet sein, daß sich die Bevölkerungsschrumpfung in Grenzen hält und der technische Fortschritt als einzige verbleibende Wohlstandsquelle nicht auch noch versiegt. Er fällt nicht wie das Manna vom Himmel, sondern ist das Endprodukt einer langen Produktionskette, die in den Familien mit der Erziehung lernfähiger Kinder beginnt, sich in den Schulen und Universitäten bei der Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte fortsetzt und sich schließlich in den Betrieben in Form qualitätsvoller, konkurrenzfähiger Produkte manifestiert. Der technische Fortschritt wird jedoch in Deutschland demographisch bedingt nachhaltig gebremst, weil - zusätzlich zu einer weitverbreiteten technikfeindlichen Ideologie - die Gruppe der 20-40jährigen als Träger des neuen Ausbildungskapitals auch in Zukunft um Hunderttausende pro Jahr abnehmen wird, und das trotz (mehr noch: wegen !) der hohen Zahl von 800 Tsd. Zuwanderrn jährlich, von denen die meisten zu dieser Altersgruppe gehören.

Berücksichtigt man das unterdurchschnittliche Ausbildungsniveau der überwiegenden Mehrheit der Zugewanderten und ihrer Nachkommen, dann ist eine permanente Absenkung des Qualifikationsniveaus in Deutschland vorprogrammiert. Die PISA-Studien haben gezeigt, daß der Prozeß schon weit fortgeschritten ist. Da die Kinder der Zugewanderten in den Schulen wesentlich schlechter abschneiden als die Deutschen, während sich ihr quantitativer Anteil und ihre absolute Zahl Jahr für Jahr erhöhen, bedarf es großer Anstrengungen, um die negativen demographischen Auswirkungen auf das Ausbildungsniveau auszugleichen. Das hohe Qualifikationsniveau war bisher ein entscheidender Standortvorteil und der Garant des Wohlstands in Deutschland. In den kommenden Jahrzehnten geht dieser Standortvorteil demographisch bedingt verloren.

Weniger Arbeitskräfte benötigen weniger Arbeitsplätze - die Arbeitslosenzahlen müßten also eigentlich demographisch bedingt zurückgehen. Eine demographische Entlastung des Arbeitsmarktes ist jedoch - wenn überhaupt - erst nach 2010 zu erwarten, weil die Schrumpfung der Gruppe der 20-40jährigen bis dahin noch vom Wachstum der 40-60jährigen ausgeglichen wird, die als schwer vermittelbar gelten. Erst danach schrumpft auch die Gruppe der 40-60jährigen. Aber auch dann ist nicht sicher, daß sich die Massenarbeitslosigkeit deutlich verringert. Zweifel sind angebracht, weil erstens das Pro- Kopf- Einkommen nur noch schwach zunimmt und weil zweitens ein immer größerer Teil des Einkommens für den Aufbau privat finanzierter Zusatzversicherungen zur Schließung der Versorgungslücken bei der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung ausgegeben werden muß. Das hat zur Folge, daß sich das für den Konsum verfügbare Einkommen und mit ihm die volkswirtschaftliche Nachfrage sowie die Produktion und damit auch der Bedarf an Arbeitskräften verringern.

Gegen diese Überlegungen wird die vom technischen Fortschritt ermöglichte wachsende Produktivität der Wirtschaft ins Feld geführt. Es trifft zu: Wenn die Produktivität - die pro Erwerbstätigem erzeugte Menge an Gütern und Dienstleistungen - durch den technischen Fortschritt wie zur Zeit jährlich um 1,5% wächst, verdoppelt sie sich bis 2050, so daß auch die realen Pro-Kopf-Einkommen der Erwerbstätigen bis 2050 auf das Doppelte zunehmen können. Da aber die für die Erwerbspersonenzahl wichtige Altersgruppe der 20-60jährigen (trotz angenommener hoher Einwanderungen) bis 2050 um 16 Mio. abnimmt, steigt das Bruttoinlandsprodukt auch bei doppelter Produktivität bis dahin nicht auf das Doppelte, sondern nur um ein Drittel. Gleichzeitig nimmt die Zahl der über 60jährigen um 10 Mio. zu. Zu deren Versorgung muß von dem nur um ein Drittel höheren Bruttoinlandsprodukt ein wesentlich größerer Prozentsatz verwendet werden als heute. Selbst wenn sich also die Produktivität und das reale Pro-Kopf-Einkommen verdoppeln, nimmt das für den Konsum der Erwerbstätigen verfügbare Einkommen weit weniger als auf das Doppelte zu (Schaubild 20).

Daraus läßt sich folgern: Um den erreichten Wohlstand zu sichern und zu mehren, muß die Wachstumsrate der Produktivität gesteigert werden. Eine Wachstumsrate von drei Prozent - das Doppelte von heute -ist erreichbar, wie ein Blick auf vergangene Jahrzehnte zeigt. Bei einer Verdoppelung des Produktivitätswachstums von 1,5 auf 3 % würde das inflationsbereinigte Pro-Kopf-Einkommen bis 2050 fast auf das Vierfache und das Bruttoinlandsprodukt (wegen der schrumpfenden Zahl der Erwerbstätigen) auf etwa das Zweieinhalbfache zunehmen. Das ändert jedoch nichts daran, daß die Summe der demographischen Belastungen für die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung bei einer Beibehaltung des Umlageverfahrens pro Kopf eines Erwerbstätigen um etwa den gleichen Faktor zunimmt wie der Altenquotient, also mindestens auf das Doppelte. Dieser Zusammenhang gilt unabhängig vom Ausmaß der Produktivitätssteigerung. Über diesen grundlegenden Zusammenhang sollte in der Öffentlichkeit Klarheit herrschen. Ansonsten verwandelt sie sich allmählich von einer Informations- in eine Desinformationsgesellschaft.

Die Bevölkerungsexplosion bei den Älteren und die -implosion bei den Jüngeren spaltet die Volkswirtschaft in wachsende und schrumpfende Märkte, in Gewinner- und Verliererbranchen. Die Volkswirtschaft als Summe aller Branchen hat um so günstigere Entwicklungschancen, je besser es gelingt, ältere Menschen in den Produktionsprozeß zu integrieren, um die Schrumpfung der Erwerbstätigenzahl zu dämpfen. Je mehr Rentner zu beitragszahlenden Erwerbstätigen werden, desto niedriger sind die Lohnnebenkosten - heute schon ein schwerwiegender demographischer Standortnachteil Deutschlands im internationalen Wettbewerb.

Alternde Gesellschaften sind nicht automatisch weniger innovativ und produktiv als junge. So erwirtschaftete die Bevölkerung Indiens mit ihrem jungen Durchschnittsalter von 23 Jahren 2001 ein ProKopf-Einkommen von 460 Dollar, aber die Bevölkerung Deutschlands brachte es trotz ihres hohen Durchschnittsalters von 40 Jahren auf das Fünfzigfache, auf 23 700 Dollar. Deutschland braucht gesellschaftliche Reformen, Innovationen und Ideen, mit denen sich der Schatz an Produktivitätsreserven heben läßt, der ungenutzt im Humankapital der Älteren auf seine Verwandlung wartet. Wenn es gelingt, das bisherige Produktivitätswachstum trotz der Alterung zu beschleunigen, dann - allerdings auch nur dann - wird sich der erreichte Wohlstand bewahren und vermehren lassen.

Optimisten könnten aus dieser Betrachtung schließen, daß die Bevölkerungsschrumpfung keine unüberwindlichen wirtschaftlichen Probleme mit sich bringt, wenn die kleiner werdenden Erwerbstätigenzahlen durch eine höhere Produktivität ausgeglichen werden. Aber eine steigende Produktivität setzt eine Gesellschaft voraus, in der Leistung etwas zählt - in der Schule, in den Universitäten und in allen Bereichen des Lebens. Zu bedenken ist auch, daß schrumpfende Einwohnerzahlen mit steigenden Staatsschulden pro Kopf der Bevölkerung verbunden sind. Wie die zahlenmäßig kleiner werdenden Jahrgänge die pro Kopf ins Schwindelerregende steigenden Schulden abtragen sollen, weiß niemand. Generationengerechtigkeit bei abnehmenden Generationsgrößen ist aus diesem Blickwinkel ein unerreichbares Ziel, dessen permanente Verletzung auf die nachrückenden Leistungsträger demotivierend wirkt.“ (Zitat-Ende).

ä Demographie und soziale Gerechtigkeit (S. 120-133):

„Was ist die letzte Quelle der Sicherheit, beispielsweise im Alter, wenn alle anderen Sicherungen versagen?  Die Antwort hat der us-amerikanische Demograph Julian Sirnon in treffender Weise im Titel eines seiner Bücher zusammengefaßt: »The ultimate resource« - die eigentliche Quelle aller Werte, derer der Mensch bedarf - ist der Mensch. Soziale Sicherheit im Alter kann auch durch Kapitalbesitz nur dann gewährleistet werden, wenn die nachwachsenden Generationen mit Hilfe des Kapitals Erträge erwirtschaften; denn Kapital arbeitet leider überhaupt nicht.

Die 1955 von dem Kölner Privatdozenten Wilfried Schreiber (Volkswirt und Geschäftsführer des Katholischen Unternehmerverbandes) vorgeschlagene und von Konrad Adenauer in der epochemachenden Rentenreform von 1957 verwirklichte Idee einer demographischen Garantie der Alterssicherung durch das Umlageverfahren - die jeweils mittlere Generation finanziert die Renten der gleichzeitig lebenden Ruheständler - ist im Prinzip die beste Lösung, allerdings nur dann, wenn die demographische Basis langfristig trägt, und zwar über einen Zeitraum von Generationen. Ist diese Voraussetzung verletzt - Adenauer glaubte, daß die Menschen sowieso »immer« genügend Kinder haben und lehnte die von Schreiber zusätzlich zur Rentenkasse geforderte »Familienkasse« strikt ab -, treten schwierigste Bewertungsprobleme auf. Dann müssen bei der Bemessung der Rentenhöhe zwei verschiedene Arten von Lebensleistungen gerecht gegeneinander abgewogen werden: Die unbezahlten Arbeits- und Erziehungsleistungen der Eltern, insbesondere der Frauen, und die vom Markt entlohnten Arbeitsleistungen der Erwerbstätigen bzw. die daraus entrichteten monetären Rentenbeiträge.

Schon eine Einteilung der Arbeits- und Erziehungsleistungen der Eltern und der monetären Leistungen der Erwerbstätigen in je drei Klassen - beispielsweise niedrig, mittel, hoch - ergibt bei einer Kombination neun Fallgruppen von Rentenansprüchen, also mehr als Steuerklassen - abgesehen von einer notwendigen zusätzlichen Differenzierung innerhalb jeder der neun Fallgruppen. Soziale Gerechtigkeit erfordert also Differenzierungen, die im deutschen Sozialversicherungssystem erst noch durch tiefgreifende Reformen eingeführt werden müssen.

Was würde geschehen, wenn die Bevölkerung aus der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung austreten und sich unter Beibehaltung des Umlageverfahrens in einem neuen Verein zusammenschließen könnte?  Der Verein würde das Niveau der individuellen Versorgungsansprüche der Rentner, Kranken und Pflegebedürftigen ebenso wie die Höhe der zu entrichtenden Beitragssätze nach der Kinderzahl staffeln, alles andere würde bei einem umlagefinanzierten Versorgungssystem als ungerecht empfunden und abgelehnt werden. Es dürfte eigentlich kein Problem sein, eine politische Mehrheit für diese Regelung zu erreichen, denn wenn ein Drittel der Jahrgänge seit 1965 kinderlos bleibt, dann bedeutet dies auch, daß die übrigen zwei Drittel mit Kindern ihre Interessen mit Mehrheit durchsetzen könnten.

Das Bundesverfassungsgericht kam in seinem Urteil zur Pflegeversicherung (03.04.2001) zum gleichen Ergebnis: Durch unser umlagefinanziertes System werden Menschen ohne Kinder in verfassungswidriger Weise bevorzugt, weil sie, so das Gericht, die gleichen Versorgungsansprüche wie Menschen mit Kindern erwerben, obwohl sie nur den monetären, nicht aber den vom Gericht sogenannten »generativen« Beitrag in Form der Erziehung künftiger Beitragszahler leisten - die entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren der umlagefinanzierten Pflegeversicherung.

Nicht nur die gesetzliche Pflegeversicherung, sondern auch die gesetzliche Renten- und die Krankenversicherung beruhen auf dem Umlageverfahren. Das Gericht hat deshalb in seinem Urteil der Politik zu verstehen gegeben, daß wahrscheinlich auch die Renten- und die Krankenversicherung die Kinderlosen in einer den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung verletzenden Weise bevorzugen und eine diesbezügliche Überprüfung des gesamten umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems verlangt. Wenn eine realistische Überprüfung stattfände, würde das Ergebnis ähnlich wie bei der Pflegeversicherung lauten: Durch die Vervierfachung des Anteils der zeitlebens kinderlos bleibenden Menschen an einem Jahrgang verletzt das Umlageverfahren mit seiner Privilegierung der Kinderlosen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung auch in der gesetzlichen Renten- und sogar in der Krankenversicherung, denn die von den Kinderlosen mitfinanzierten Gesundheitsausgaben für die beitragslos mitversicherten Kinder sind wesentlich niedriger als die Gesundheitsausgaben für ältere Menschen mit oder ohne Kinder. Eine der entscheidenden Auswirkungen der demographischen Entwicklung bzw. der extremen Kinderlosigkeit besteht darin, daß das soziale Sicherungssystem als Ganzes schließlich unsozial, ungerecht und verfassungswidrig wurde. Dieser Sachverhalt wurde auf die Formel gebracht: »An Kindern profitiert, wer keine hat«, so der Titel eines Tagungsbandes des Forums Familie, Rheinland-Pfalz.

In Deutschland bildet die gesetzliche Rentenversicherung die Grundlage für die Versorgung von über 90% der Bevölkerung im Ruhestand. Wenn dieses System seine Funktionsfähigkeit verliert, steht der Staat als Ganzes auf dem Spiel. Im folgenden werden zwei Fragen diskutiert. Erstens: Wie läßt sich das System reformieren, damit es funktionsfähig bleibt?  Zweitens: Wie läßt es sich reformieren, damit es gerecht funktioniert und die Verfassung nicht verletzt?

Die demographische Entwicklung hat eine grundlegende Bedeutung für die Funktionsfähigkeit und für jede Reform des gesamten sozialen Sicherungssystems: Wenn sich im umlagefinanzierten Rentensystem die Zahl der zu Versorgenden zur Zahl der die Versorgungsleistungen erbringenden Menschen in der mittleren Altersgruppe als Folge des Anstiegs des Altenquotienten mehr als verdoppelt - und genau dies ist unvermeidlich -, muß der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung (= Prozentsatz vom Lohn bzw. Gehalt, zur Zeit rund 20%, je zur Hälfte getragen vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer) verdoppelt oder alternativ das sogenannte Rentenniveau gesenkt werden (Rentenniveau = Durchschnittsrente in Prozent des Durchschnittseinkommens, früher 70%, inzwischen durch die Riestersche Rentenreform abgesenkt).

Für die Reform stehen mehrere Handlungsoptionen zur Diskussion, die miteinander kombiniert werden können, um die Dosierung der Einzelmaßnahmen in Grenzen zu halten: (1) Erhöhung des Beitragssatzes, (2) Senkung des Rentenniveaus, (3) Erhöhung der Zahl der Beitragszahler, z.B. durch eine Verringerung der Arbeitslosigkeit, eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligung der Frauen und der Eingewanderten, die doppelt so häufig arbeitslos sind wie die übrige Bevölkerung, eine Verkürzung der Ausbildungszeiten und - mit längerfristiger Wirkung - eine Erhöhung der Geburtenrate, (4) Verringerung der Zahl der Rentenbezieher durch eine Anhebung des Ruhestandsalters, (5) Erweiterung der beitragspflichtigen Einkommen um Mieten, Pachten u.s.w., (6) teilweise Finanzierung der Ausgaben der Rentenversicherung aus Steuermitteln.

Da sich die Dosierung dieser Maßnahmen nicht beliebig steigern läßt, ist eine Senkung des Rentenniveaus unvermeidlich. Mit der Einführung des »demographischen Faktors« in der Rentenformel wurde bereits eine automatische Absenkung des Rentenniveaus gesetzlich beschlossen, und zwar in Abhängigkeit von der Zunahme des Altenquotienten. Die dadurch wachsende Versorgungslücke soll von den Bürgern durch höhere Sparleistungen mit privat finanzierten, kapitalgedeckten Zusatzversicherungen geschlossen werden, die vom Staat gefördert werden (»Riester-Rente«).

Rentenformel

Ähnlich wie bei der Alterssicherung sind auch bei der Krankenversicherung rund 90% der Bevölkerung Mitglied in der gesetzlichen (GKV) und rund 10% in der privaten Krankenversicherung (PKV). Die gesetzliche Krankenversicherung ist ebenso wie die gesetzliche Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren organisiert, es werden also keine Rücklagen für die mit der absolut steigenden Zahl der Älteren wachsenden Gesundheitsausgaben gebildet. Im Gegensatz dazu bildet die private Krankenversicherung solche Rücklagen mit dem Ziel, den Beitragssatz konstant zu halten, wenn die Gesundheitsausgaben durch die demographische Alterung steigen und das Wachstum der Einnahmen demographisch bedingt schwächer wird. Dafür werden in jüngeren Jahren höhere Beitragssätze erhoben, als es die altersbedingten Ausgaben für die Gesundheit eigentlich erfordern. Die daraus gebildeten Rücklagen werden verzinst und später zur Dämpfung des sonst nötigen Beitragsanstiegs im höheren Alter verwendet.

Die Pro-Kopf-Ausgaben für die Gesundheit sind im höheren Alter etwa um den Faktor 8 größer als beispielsweise im Alter von 20. Das Profil der Pro-Kopf-Kosten-Kurve wird mit zunehmendem Alter steiler. Die Aufteilung der Bevölkerung auf die verschiedenen Altersklassen verschiebt sich mit jedem Jahr immer mehr zum steileren Teil der Pro-Kopf-Kosten-Kurve, so daß die Gesundheitsausgaben demographisch bedingt zunehmen (Schaubilder 21 und 22).

Die Pro-Kopf-Ausgaben für die Gesundheit sind bei älteren Menschen höher, weil ältere häufiger erkranken als jüngere, zum anderen aber steigen die Kosten auch deshalb, weil die Zahl der Todesfälle durch die demographische Alterung stark zunimmt, wobei sich die Kosten mit der Nähe des Todes sprunghaft erhöhen: Von eintausend 20-25jährigen Männern starb in den 1990er Jahren jährlich nur eine Person, von eintausend 80-85jährigen Männern waren es 111, und von eintausend 90jährigen und älteren 256. Da die Gesellschaft ständig altert, ist ein Anstieg der Zahl der Sterbefälle von 2000 bis 2050 von jährlich rund 800 Tsd. auf 1200 Tsd. und ein entsprechender Anstieg der durch die Hinfälligkeit vor dem Tod bedingten Ausgaben vorprogrammiert.

Die sogenannten Sterbekosten sind zwar bei Menschen mittleren Alters höher als bei älteren, da aber die Sterblichkeit bis zum Alter 60 extrem niedrig ist, sind die Fallzahlen in der mittleren Altersgruppe so gering, daß sie nicht ins Gewicht fallen: Die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten zwölf Monaten zu sterben, ist bei Männern bis zum Alter 49 und bei Frauen bis zum Alter 55 sogar niedriger als die Säuglingssterblichkeit.

Eine weitere Tendenz zur Kostensteigerung entsteht dadurch, daß sich zusätzlich zum Anstieg des Durchschnittsalters auch das Altersprofil der Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben durch den medizinischtechnischen Fortschritt insgesamt ständig nach oben verschiebt. So betrug die Spannweite der Pro-Kopf-Ausgaben zwischen Jung und Alt in den 1990er Jahren noch 1 : 8, sie könnte sich aber durch diese Verschiebungen bis 2040 auf über 1 : 20 erhöhen, wie die Enquete- Kommission »Demographischer Wandel« des Deutschen Bundestages unter Bezugnahme auf Untersuchungen von Forschungsinstituten festgestellt hat.

Die demographische Alterung erhöht aber nicht nur die Ausgaben, sie dämpft auch die Zunahme der Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, weil sich die Zahl der Beitragszahler demographisch bedingt verringert. Die sich öffnende Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen erfordert eine kontinuierliche Erhöhung des Beitragssatzes der gesetzlichen Krankenversicherung in den nächsten Jahrzehnten von rund 14% im Jahr 2005 auf etwa 20 bis 25%, und zwar selbst dann, wenn der medizinisch-technische Fortschritt keine zusätzlichen Kosten verursachen würde, was höchst unwahrscheinlich ist.

Die demographische Alterung hat ähnlich wie in der gesetzlichen Krankenversicherung auch in der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) einnahmensenkende und ausgabenerhöhende Auswirkungen. Auch hier steigen die Pro-Kopf-Ausgaben für die Pflege mit zunehmendem Alter steil an: So waren beispielsweise 1996 in der Altersklasse der 35-39jährigen 4 von 1000 Versicherten Empfänger von Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung, in der Altersgruppe der 65-69jährigen waren es 24 und bei den über 80jährigen 280. Von den über 80jährigen Menschen sind 33% pflegebedürftig, die meisten von ihnen werden in den Familien, nicht in Pflegeheimen versorgt. Da die Zahl der über 80jährigen demographisch bedingt bis 2050 auf rund zehn Mio. ansteigt, ist mit etwa drei Mio. Pflegebedürftigen zu rechnen gegenüber zwei Mio. am Anfang des 21. Jahrhunderts. Nur wenn es künftig besser gelingt, die gesundheitliche Konstitution betagter Menschen zu verbessern, wird die Zahl der Pflegefälle prozentual weniger stark zunehmen als die der über 80jährigen.

Demographische Simulationsrechnungen verschiedener Institute ergaben, daß der Beitragssatz zur gesetzlichen Pflegeversicherung von heute 1,7% bis 2040 auf rund 3 bis 6% erhöht werden müßte. Die kostentreibende Wirkung der demographischen Alterung läßt sich erkennen, wenn man den »demographischen Altenpflegequotienten« berechnet, der die Zahl der Menschen in der für die Zahl der pflegebedürftigen wichtigen Altersgruppe der Hochbetagten angibt, die auf je 100 Menschen in der um 20 bis 40 Jahre jüngeren Altersgruppe entfallen, von denen die meisten Pflegeleistungen erbracht werden. Um dem Trend zu höherer Vitalität und zu einem höheren Lebensalter in Gesundheit Rechnung zu tragen, wird die Zahl der Hochbetagten alternativ als Gruppe der 85jährigen und älteren bzw. als Gruppe der 90jährigen und älteren definiert, die der jüngeren potentiellen Pflegepersonen entsprechend alternativ als 40-60jährige, 45-65jährige u.s.w..

Der weitaus überwiegende Teil der Pflegeleistungen wird von den Familienmitgliedern der Pflegebedürftigen und von deren Kindern erbracht. Die Zahl der Pflegebedürftigen, die außerfamiliale Pflegeleistungen in Anspruch nehmen müssen, weil sie kinderlos bleiben, wird sich besonders stark erhöhen. Dies führt zu dem Problem, daß das Prinzip der Beitragsgerechtigkeit verletzt wird, wenn die Zahl der Nachkommen und deren Pflegeleistungen bei der Tarifgestaltung nicht berücksichtigt werden. Diesem Gesichtspunkt trägt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung vom April 2001 Rechnung. Die Prinzipien des Urteils sind auch für eine gerechte Reform der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung maßgeblich.

Welche Bedingungen sind bei den Reformen zu beachten, wenn sie mit der Verfassung übereinstimmen und das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung nicht verletzen sollen?

Jeder Mensch ist im Verlauf seines Lebens zunächst Empfänger (E), dann Unterstützer (U) und schließlich wieder Empfänger (E) der Leistungen von anderen und an andere Generationen. Ordnet man die drei Phasen des Lebenslaufs von links nach rechts an (E, U, E), dann ergibt sich ein Schema, in dem sich die Leistungen zwischen den verschiedenen Generationen durch senkrechte Pfeile darstellen lassen.

Die steigende Lebenserwartung führt dazu, daß immer mehr Menschen nicht nur mit Mitgliedern der Generation ihrer Eltern und Großeltern, sondern auch mit Urgroßeltern zusammenleben. Alle Leistungen an die älteren Generationen sind in den nach oben gerichteten Pfeilen zusammengefaßt, die nach unten gerichteten Pfeile stellen die Leistungen an die nachfolgenden Generationen dar.

Die Verflechtung der Generationen durch Leistungen und Gegenleistungen wird in Deutschland als Generationenvertrag bezeichnet, wobei dieser Vertrag nicht in Schriftform vorliegt. Selbst wenn es den Generationenvertrag in schriftlicher Form gäbe, wäre dies keine Garantie dafür, daß er eingehalten wird. Die wesentliche Voraussetzung für seine Wirksamkeit ist die Bereitschaft der Menschen zur Anerkennung der wechselseitigen Verpflichtungen durch die beteiligten Generationen. Dabei ist wichtig, daß am Generationenvertrag immer mindestens drei Generationen beteiligt sind, nicht nur zwei. Bezieht man die Unterstützung der Kinder und Enkel durch die Großeltern mit ein, wird der Generationenvertrag aus vier Generationen gebildet. Jeder Mensch empfängt zweimal - am Anfang und am Ende seines Lebens - die Unterstützung durch andere Generationen, diesen empfangenen Leistungen stehen entsprechend zwei Gegenleistungen gegenüber - an die Generationen seiner Vorfahren und seiner Nachkommen.

Der Sachverhalt wird mit dem Begriff »Drei-Generationen-Vertrag« richtig bezeichnet, der Ausdruck »Zwei-Generationen-Vertrag« ist hingegen falsch, und er leistet auch dem Irrtum Vorschub, als ob die mittlere Generation allein durch ihre Einzahlungen beispielsweise in die gesetzliche Rentenversicherung schon die Voraussetzungen für ihre eigene Versorgung im Alter erfüllt hätte. Die mittlere Generation gibt mit diesen Einzahlungen jedoch nur die von ihr in der Kindes- und Jugendphase empfangenen Leistungen an ihre Elterngeneration zurück; ihre eigene Versorgung im Alter muß von der Generation ihrer Nachkommen erwirtschaftet werden. Die Funktionsfähigkeit des Generationenvertrages bzw. die Sicherheit der Versorgung im Alter hängt daher entscheidend vom Größenverhältnis der aufeinander folgenden Generationen ab, die Versorgungsleistungen empfangen und erbringen.

Es ist für jede Gesellschaft von existentieller Bedeutung, daß sie erkennt, daß das Größenverhältnis der Generationen vom Niveau der Geburtenrate bestimmt wird.

Die demographische Gesamtbelastung der mittleren Generation pro Kopf ihrer Mitglieder läßt sich durch den Jugendquotienten (=Zahl der unter 15jährigen auf 100 Menschen von 20 bis 60 Jahren) und den Altenquotienten (= Zahl der 65jährigen und älteren auf 100 Menschen von 15 bis 65 Jahren) angeben. Die Summe aus Jugend- und Altenquotient wird auch mit dem Begriff Unterstützungsquotient bezeichnet. In Deutschland nimmt der Jugendquotient von 1998 bis 2050 von 38,0 auf 31,9 ab, gleichzeitig steigt der Altenquotient von 38,6 auf 91,4, die Summe aus beiden erhöht sich von 76,6 auf 123,3 (Tabelle 14). Diese Ergebnisse beruhen auf der in Kapitel 8 dargestellten Vorausberechnung der Geburtenrate und der Bevölkerungsentwicklung.

Was sollte man einer Gesellschaft empfehlen, wenn sie zwischen einer hohen und niedrigen Geburtenrate wählen könnte, welche Geburtenrate sollte angestrebt werden, um die demographisch bedingten Belastungen der mittleren Generation zu minimieren?  Bei einer niedrigen Geburtenrate ist zwar die Belastung der mittleren Generation durch die Unterstützung an die jüngere Generation gering, aber dafür ist die Belastung durch die Unterstützung an die ältere Generation um so höher. Die Summe aus beiden nimmt mit zunehmender Geburtenrate wie bei einer U-förmigen Kurve zunächst ab und dann wieder zu. Die geringste Belastung am Tiefpunkt der Kurve liegt bei einer Geburtenrate von rund zwei Kindern je Frau. Dies ist das Ergebnis mathematischer Ableitungen. (Siehe: H. Birg, Die demographische Zeitenwende, S. 161).

Die USA kommen mit ihrer Geburtenrate von rund zwei Geburten pro Frau dem mathematisch optimalen Minimum am nächsten, ihre Geburtenrate ist nach dem Belastungskriterium optimal. Deutschlands Belastungsquotienten sind wegen der niedrigen Geburtenrate wesentlich ungünstiger. Die Tabellen 15 und 16 zeigen die Belastungsquotienten für beispielhaft ausgewählte alternative Geburtenraten. Aus technischen Gründen beruhen die Definitionen des Jugend- und Altenquotienten in den Tabellen 15 und 16 auf den Altersschwellen 15/65 und nicht, wie in Tabelle 14, auf den Schwellen 20/60. Bei gleichen Definitionen wären die Ergebnisse jedoch identisch; die optimale Geburtenrate beträgt auch für die Altersschwellen 15/65 rund zwei Geburten je Frau.

Die mit den Mitteln der Mathematik errechnete optimale Geburtenrate von rund zwei Kindern pro Frau ist ein Ergebnis, das mit dem subjektiven Empfinden der Menschen übereinstimmt, die bei Befragungen (bisher) stets zwei Kinder als die ideale Familiengröße nannten. Für die Politik ist das Resultat ermutigend, denn wenn die subjektiven Wertvorstellungen der Menschen und die mathematischen Berechnungen übereinstimmen, besteht um so mehr Grund, die Lebensbedingungen so zu gestalten, daß die von der großen Mehrheit der Bevölkerung als ideal betrachtete Familiengröße von rund zwei Kindern pro Frau auch tatsächlich erreicht wird. Bei rund zwei Kindern ist aber noch ein weiteres erstrebenswertes Ziel erfüllt: Die Bevölkerungszahl und die Altersstruktur sind dann ohne Ein- und Auswanderungen stabil.

Häufig wird gegen diese Überlegungen eingewandt, daß eine Erhöhung der Geburtenrate sinnlos sei, wenn die Kinder nach erfolgreicher Berufsausbildung arbeitslos bleiben. Macht man die Rechnung für die Jahrzehnte bis 2030 oder 2040 auf, mag es für die in dieser Zeitspanne Lebenden günstiger sein, weniger oder überhaupt keine Kinder zu haben, aber für die Menschen, die danach leben, wären weniger oder keine Kinder eine Katastrophe. Wenn die Geburtenrate zunähme, würden zwar vorübergehend auch die demographischen Belastungen zunehmen, aber langfristig wären sie günstiger, vorausgesetzt, daß die Geborenen nicht zeitlebens arbeitslos sind.

Es ist allerdings zuzugeben, daß das Abwägen von kurz- und langfristigen Vor- und Nachteilen den Planungshorizont der an vierjährigen Wahlperioden orientierten Politik weit überschreitet. Wenn es die Politik nicht einmal zuwege bringt, ihre kurzfristigen Ziele zu erreichen und die Arbeitslosigkeit zu verringern, wie kann dann erwartet werden, daß sie die längerfristigen erreicht?  Man sollte besser eine andere Rechnung aufmachen: Wer keine Kinder hat, macht sich in der Regel weniger Gedanken um die Zukunft; Kinder sind und bleiben aber eine notwendige Bedingung dafür, daß es überhaupt eine Zukunft gibt.“ (Zitat-Ende).

ä Bevölkerung als Standortfaktor (S. 134-136):

„Die demographischen Entwicklungsbedingungen eines Landes werden zu einem wichtigen internationalen Standortfaktor. In Ländern wie Deutschland, das die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung je zur Hälfte aus Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert, erhöhen die demographisch bedingt steigenden Kosten für das soziale Sicherungssystem die Produktionskosten und die Produktpreise auf den internationalen Gütermärkten. Die Folgen sind sichtbar: Arbeitsplätze werden ins Ausland verlagert, Auslandsinvestitionen in Deutschland sind nur noch in wenigen Branchen lohnend. Der Wirtschaftsstandort Deutschland hat wegen seiner niedrigen Geburtenrate ungünstige Zukunftsaussichten. Hinzu kommt der zunehmende Mangel an jungen, gut ausgebildeten Arbeitskräften.

Das internationale Gefälle der demographischen Standortfaktoren setzt sich innerhalb Deutschlands auf regionaler Ebene fort. Auf regionaler Ebene müssen neben den beiden bevölkerungsvermehrenden Faktoren - den Geburten und den Zuwanderungen aus dem Ausland - noch die Zuwanderungen aus anderen Gemeinden Deutschlands berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite der Bevölkerungsbilanz kommen zu den Sterbefällen und den Abwanderungen ins Ausland die Fortzüge in andere Gemeinden Deutschlands hinzu.

Die Migrationsbewegungen beeinflussen die Bevölkerungsentwicklung einer Gemeinde etwa drei- bis fünfmal stärker als die sogenannten natürlichen Komponenten der Geburten und Sterbefälle: In einem Stadt- oder Landkreis kommen heute im Durchschnitt pro Geburt im gleichen Jahr drei bis fünf Zuwanderungen vor, ebenso auf jeden Sterbefall eine vielfache Zahl an Abwanderungen. Daß sich in Deutschland überhaupt Städte bilden konnten, beruht auf den Zuwanderungen aus ländlichen Gebieten mit Geburtenüberschüssen. Im 18. Jahrhundert wurden die Städte wegen der bevölkerungsdezimierenden Wirkung ihrer niedrigen Geburtenrate und ihrer Sterbeüberschüsse mit der Pest verglichen.

Die seit über einem Jahrhundert andauernde »säkulare Nachwuchsbeschränkung« hat zwar das Niveau der Geburtenrate sowohl in den Städten als auch auf dem Lande stark verringert, aber die relativen Unterschiede der Geburtenraten blieben weitgehend erhalten. Dabei sind die zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen Jahrgang beobachteten regionalen Unterschiede der Geburtenrate noch größer als die zeitlichen Unterschiede zwischen den Jahrgängen in einer bestimmten Region.

Auch die Lebenserwartung differiert regional - bei den 440 Stadt- und Landkreisen Deutschlands ergibt sich für Männer ein Intervall von 70,1 bis 78,2 Jahren, für Frauen von 77,1 bis 83,1. Dabei darf eine hohe Lebenserwartung nicht einfach als Wirkung gesundheitsfördernder regionaler Lebens- und Umweltbedingungen interpretiert werden. Der größte Teil der Unterschiede wird vielmehr durch die starken Selektionswirkungen der Wanderungsbewegungen in- bzw. exportiert. Die überdurchschnittliche Lebenserwartung der Männer im Voralpengebiet, z. B. in Starnberg (78,2), und die unterdurchschnittliche in Ruhrgebietsstädten wie Gelsenkirchen (72,6) beruht mehr auf der Zuwanderung von Menschen mit überdurchschnittlicher Ausbildung und dem damit zusammenhängenden gesundheitsbewußteren Verhalten nach Bayern bzw. auf der Abwanderung dieser Menschen z. B. aus Nordrhein-Westfalen als auf den regionalen Lebensbedingungen der Herkunfts- und Zielregionen.

Jedes Jahr wechseln vier Millionen Menschen den Wohnsitz zwischen den 440 Stadt- und Landkreisen. Da jeder Zuzug irgendwo ein Wegzug ist, teilen die Binnenwanderungen das Land in Gewinner und Verlierer. Die Hauptbewegungsrichtung dieser permanenten »Abstimmung mit den Füßen« sind der jahrzehntelange Wanderungstrend von den nördlichen in die südlichen Bundesländer und seit 1990 von Ost nach West. Besonders mobil sind jüngere Menschen mit überdurchschnittlicher Ausbildung. Sie bilden eine Art innerdeutschen brain drain, von dem die westlichen Bundesländer, vor allem Baden-Württemberg und Bayern, sowohl demographisch als auch wirtschaftlich profitieren.

Dem Land Mecklenburg-Vorpommern gingen beispielsweise ein Fünftel der Frauen in der Altersgruppe 20-35 durch Abwanderungen verloren. Dies wirkt sich negativ auf das wirtschaftliche Entwicklungspotential aus, wodurch die Abwanderung zusätzlich stimuliert wird. Da die meisten Geburten auf diese Altersgruppe entfallen, entwickelt sich eine demographisch-ökonomische Schrumpfungsspirale, der mit den Mitteln der Raumordnungs- und Regionalpolitik nicht beizukommen ist. Je negativer die Auswirkungen auf das Herkunftsland sind, desto positiver sind sie für die Zielregion.

Unter den Bedingungen der langfristigen demographischen Schrumpfung wird die Konkurrenz um das gut ausgebildete, junge Humankapital schärfer. Der demographische Standortwettbewerb der Gemeinden und Regionen läßt sich nicht durch gesetzliche Maßnahmen beschränken, denn das im Grundgesetz garantierte Recht auf Freizügigkeit schließt Maßnahmen zur Steuerung der Wanderungen beispielsweise durch Zuzugsbeschränkungen aus. Denkbar wäre jedoch eine Differenzierung der Einkommensteuersätze durch die Gemeinden nach dem Beispiel der Gewerbesteuer, eine Art Anreizpolitik zur Beeinflussung der Wohnortentscheidungen, die betriebliche Standortentscheidungen nach sich ziehen könnten.

Anders als im 18. und 19. Jahrhundert ist die durchschnittliche Geburtenrate heute so niedrig, daß die Sterbeüberschüsse der städtischen Siedlungsgebiete nicht mehr durch die Geburtenüberschüsse der ländlichen ausgeglichen werden können. In allen 440 Stadt- und Landkreisen wird die bestandserhaltende Zahl von 2,1 Kindern je Frau unterschritten. Das Maximum wurde 2000 in Cloppenburg (1,91) registriert, das Minimum (auch bedingt durch den hohen Anteil an Studentinnen an der Bevölkerung) in Heidelberg (0,88).

Trotz der hohen Einwandererzahlen bleiben die Binnenwanderungen der entscheidende Faktor, der die dreizehntausend Gemeinden in demographische Gewinner und Verlierer teilt. Schrumpfende und wachsende Siedlungen heben sich immer kontrastreicher voneinander ab. Verödende Ortskerne in Dörfern und Kleinstädten und Ghettobildungen in Großstädten, Rückbau, Abriß und Wohnungsleerstände auf der einen Seite wechseln mit prosperierenden Siedlungen und Regionen ab, wobei heute niemand sagen kann, ob die Wachstumspole in zwanzig oder dreißig Jahren immer noch auf Kosten der Abwanderungsgebiete profitieren können oder ob die Schrumpfung schließlich auch die noch blühenden Regionen einholen und das ganze Land mit einer lähmenden Tristesse überziehen wird.“ (Zitat-Ende).

ä Nationale und internationale demographische Konflikte (S. 137-143):

„Der Ausgleich des sozialen und wirtschaftlichen Gefälles zwischen den Bevölkerungsgruppen, Regionen und Generationen war in Deutschland eines der Hauptziele bei der Entwicklung des sozialen Rechtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg. Die im Grundgesetz verankerte Gleichwertigkeit (nicht Gleichartigkeit) der regionalen Lebensbedingungen und die Gleichstellung der Geschlechter sind Beispiele für solche Etappenziele auf dem Weg zu größerer rechtlicher Gleichheit. Durch das geplante gesetzliche Verbot jeglicher Art von Diskriminierung sollen diese Beispiele verallgemeinert und auf nahezu alle Lebensbereiche ausgedehnt werden. Der Weg zu größerer sozialer Gerechtigkeit schien bis zum Ende des 20. Jahrhunderts eine Art Einbahnstraße zu sein.

Paradoxerweise vollzog sich parallel zu der ideellen Annäherung an das Ziel der sozialen und rechtlichen Gleichheit ein entgegengesetzter Prozeß zu immer größerer realer Verschiedenheit, beispielsweise bei der Einkommens- und Vermögensverteilung. Daß diese Kontraste jedoch durch die demographische Entwicklung bis ins Unerträgliche gesteigert werden könnten, ist in der Sozial- und Gesellschaftspolitik bisher noch kein Thema. Ganz gegen alle bisherigen Erwartungen werden die demographischen Veränderungen unsere Gesellschaft zu einer Bewegung zurück zu größerer materieller Ungleichheit zwingen. Die Gesellschaft kommt nicht daran vorbei, sich auf eine Reihe ungewohnter, demographisch bedingter Interessengegensätze einzustellen. Dabei können die Demographen zwar vorausberechnen, wie stark die Ungleichheit und die materiellen Ursachen der sozialen Spannungen zunehmen werden, aber wie die Gesellschaft damit umgeht, ob sie sie erträgt und durch ein wesentlich höheres Maß an Solidarität entschärft oder ob sich die Spannungen konfliktreich entladen - das läßt sich mit den mathematischen Modellen nicht vorausberechnen.

Die Zumutungen und Schwierigkeiten lassen sich besser ertragen, wenn man versteht, wie sie entstanden sind. Deshalb sollte alles getan werden, um die Bürger darüber aufzuklären, daß die demographisch bedingten Konflikte nicht das Ergebnis politischer Verschwörungen, sondern die Konsequenz der demographisch relevanten Verhaltensweisen der Mitglieder dieser Gesellschaft und ihrer persönlichen Entscheidungen für oder gegen Kinder sind. Die Folgen dieser Entscheidungen sind zu respektieren, aber dazu gehört auch, daß man ihre Konsequenzen erkennt, verantwortungsvoll mit ihnen umgeht und die Einbußen an individueller Wohlfahrt erträgt. Verantwortung setzt Wissen voraus. Unwissenheit läßt sich durch nichts kompensieren, am wenigsten durch gute Absichten oder eine gute Gesinnung. Niemand weiß, ob und wie unsere Gesellschaft den demographischen Härtetest ökonomisch und moralisch übersteht.

Die Hauptwirkung der demographischen Veränderungen besteht darin, daß sich die Gesellschaft spaltet. Soll sie nicht auseinanderfallen, müssen ihre Teile durch ein Mehr an Solidarität zusammengehalten werden. Es ist möglich, daß dies gelingt, aber dazu bedarf es größerer Anstrengungen und Opfer als bisher. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich vier nationale und eine internationale demographisch verursachte Konfliktlinie unterscheiden.

Auf nationaler Ebene geht es erstens um den wachsenden Verteilungsstreß zwischen den Generationen, zweitens um die demographische Spaltung des Landes in wachsende und schrumpfende Kommunen, Regionen und Bundesländer, drittens um das Auseinanderdriften der zugewanderten Populationen und der autochthonen Bevölkerung sowie viertens um die Spaltung der Gesellschaft in zwei Teilgesellschaften mit und ohne Nachkommen.

(1) Das Verhältnis zwischen den Generationen ist unter den Bedingungen unserer toleranter gewordenen Gesellschaft heute wahrscheinlich besser als jemals zuvor. Aber hier geht es nicht um die emotionale Seite des Generationenverhältnisses, sondern um den objektiven Interessengegensatz zwischen der mittleren Generationsgruppe, die sowohl die Versorgungsleistungen für die Kinder und Jugendlichen als auch für die ältere Generation erwirtschaften und dabei noch in Kauf nehmen muß, daß die Sicherheit ihrer eigenen Versorgung im Ruhestand mit jedem Jahr aus zwingenden demographischen Gründen schwindet. Entsolidarisierungstendenzen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zeigen sich in allen Zweigen des Sozialen Sicherungssystems, vor allem in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Die in den verschiedenen Wirtschaftssektoren unterschiedlich hohe Arbeitslosigkeit hat auch in der Arbeitslosenversicherung Bestrebungen wachgerufen, die bisher einheitlichen Beitragssätze nach der in den verschiedenen Branchen unterschiedlichen Arbeitslosenquote zu differenzieren. Neue Entsolidarisierungstendenzen könnten sich auch in der Rentenversicherung entwickeln, weil sich die demographische Alterung bei den autochthonen Bevölkerungsgruppen und bei den Zugewanderten stark unterscheidet: Der Altenquotient der Zugewanderten ist wesentlich niedriger als der bei den Deutschen.

Wenn sich bestimmte zugewanderte Bevölkerungsgruppen in politischen Parteien organisieren, könnte der Gegensatz zwischen der demographisch alten autochthonen und den demographisch jüngeren allochthonen Populationen zur Entsolidarisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung führen, indem die Forderung erhoben wird, die Beitragssätze nach dem Altenquotienten zu differenzieren, ähnlich wie bereits heute die Höhe der Renten in der Riesterschen Rentenreform durch den demographischen Faktor an den Anstieg des Altenquotienten gekoppelt wurde. Wenn sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen kulturell auseinanderentwickeln, fehlt der entscheidende Grund für das solidarische Miteinander der Teilbevölkerungen mit günstiger und ungünstiger Altersstruktur. Kultur läßt sich nicht zuletzt als die Bereitschaft definieren, für andere Menschen freiwillig Opfer zu bringen, zu denen man durch nichts - außer durch kulturelle Gründe - verpflichtet ist.

(2) Ebenso schwer wie der Generationenkonflikt wiegt der demographisch bedingte Gegensatz zwischen den neuen und alten Bundesländern. Die Ost-West-Wanderungen von den neuen in die alten Bundesländer wirken wie alle Wanderungen selektiv: Junge, gut ausgebildete Menschen sind mobiler als der Durchschnitt der Bevölkerung. Die alten Bundesländer, vor allem Baden- Württemberg, Bayern und Südhessen, sind die Gewinner des großen Null-Summen-Spiels der innerdeutschen Wanderungen. Ihre Bevölkerungszahl wird auf Kosten der neuen Länder noch etwa zwei Jahrzehnte zunehmen, gleichzeitig profitieren sie durch die Selektionswirkungen der Wanderungen vom Humankapital der neuen Länder - von den Investitionen in die Erziehung und Ausbildung junger Menschen. Die für die wirtschaftliche Entwicklung entscheidende Altersgruppe der 20-60jährigen wird sich in den neuen Bundesländern bis 2050 halbieren. Der wirtschaftliche Aufholprozeß ist unter diesen Bedingungen chancenlos, die Spaltung des Landes und ein ständiger Verteilungsstreß zur Überbrückung der Gegensätze sind die Folgen. Analoge Kontraste bestehen zwischen den Kommunen und Regionen innerhalb der verschiedenen Bundesländer, und zwar auch im Westen. Das nördliche Ruhrgebiet ist durch ähnliche Erosionsprozesse geprägt wie die neuen Bundesländer, das gleiche gilt für einige Regionen Niedersachsens, Hessens und für Teile des Saarlandes.

(3) Die Interessenkonflikte zwischen den Zugewanderten und der autochthonen Bevölkerung betreffen vor allem die jüngeren Altersgruppen. Die zugewanderte Population wächst durch Geburtenüberschüsse und weitere Zuwanderungen, gleichzeitig schrumpft die autochthone Population. Bedingt durch wesentlich ungünstigere Bildungsvoraussetzungen, bilden die Zugewanderten gleichzeitig eine ethnisch geprägte Unterschicht, ein neues Proletariat, das einen wachsenden Anteil des staatlichen Sozialbudgets beansprucht. Laut amtlicher Statistik verlassen 60% der in Deutschland geborenen Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund das Schulsystem mit Hauptschulabschluß oder ohne Abschluß. Von der Altersgruppe 20-25 besuchen bei den Ausländern nur 4% Hochschulen, bei den Deutschen sind es 17%. Die Unterschiede gelten für die Gesamtheit der Zugewanderten. Daß einzelne Ethnien, beispielsweise aus Asien, bessere schulische Abschlüsse haben als Deutsche, bedeutet, daß für andere Ethnien noch schlechtere Zahlen als die dargestellten gelten.

(4) Bei einem Anteil der Kinderlosen von einem Drittel bei den Jahrgängen ab 1965 erodieren nicht nur die sozialen Sicherungssysteme, sondern es entsteht zugleich auch ein neuer Typ von sozialer Ungerechtigkeit - »die Transferausbeutung der Familien« (Jürgen Borchert). Die verfassungswidrige Bevorzugung von Menschen ohne Nachkommen in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung verletzt den obersten Grundsatz unserer demokratischen Verfassung, das Gleichheitsprinzip (Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 03.04. 2001).

(5) Die Versorgungslücken des staatlichen sozialen Sicherungssystems erweitem sich; sie sollen durch private Ersparnis und Kapitalexport in Niedriglohnländer wie China geschlossen werden. Da auch die Geburtenraten der Entwicklungsländer stark abnahmen und weiter zurückgehen, ist die demographische Alterung ein weltweites Phänomen. Der demographisch bedingte Lastenanstieg läßt sich durch Kapitalexport international nur anders verteilen, aber nicht aus der Welt schaffen, denn die Weltbevölkerung altert als Ganzes. In China wird der Altenquotient ab den 2030er Jahren sogar höher sein als in den USA. Wie sollen dann die mittleren Generationen in China durch ihre wirtschaftlichen Leistungen die älteren Generationen in den Industrieländern - die Eigentümer der in China investierten Kapitalgüter- mitversorgen, wenn in China selbst bis dahin Hunderte von Millionen ältere Menschen hinzugekommen sein werden, für die es in China keine ausreichende Alterssicherung gibt?  Dann müßte Kapital aus China in die Industrieländer exportiert werden, statt umgekehrt.

Der Fortschritt des Entwicklungs- und Zivilisationsprozesses war im 20. Jahrhundert in den hoch entwickelten Ländern mit einer Abnahme der Geburtenrate bis unter das Bestandserhaltungsniveau und mit einer Zunahme der alterungsbedingten Stabilitätsrisiken in Wirtschaft und Gesellschaft verbunden. Bedeutet dieser Zusammenhang, daß die Rückkehr zu demographischer und gesellschaftlicher Stabilität nicht möglich sein wird, bevor die negativen Auswirkungen dieser Entwicklung ein solches Ausmaß angenommen haben, daß sich eine demographische Revolution Bahn bricht, in deren Verlauf sich die demographisch relevanten Verhaltensweisen grundlegend ändern ?

Wie hätte man sich den Weg zurück zu einer höheren Geburtenrate in Deutschland vorzustellen, falls er wirklich den Durchgang durch Phasen der sozialen Unsicherheit und der gesellschaftlichen Instabilität voraussetzen würde, die die Jüngeren in diesem Land nie erlebt haben und die sie sich wahrscheinlich nicht einmal vorzustellen vermögen?  Deutschland ist im 20. Jahrhundert durch zwei Weltkriege und zwei Diktaturen gegangen. Den davon betroffenen älteren Generationen könnte man die Bewältigung der demographischen Krise im 21. Jahrhundert durchaus zutrauen, aber gilt das auch für ihre Nachkommen in der »Spaßgesellschaft«?

Die westeuropäischen Länder haben in den letzten 50 Jahren in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gewaltige Fortschritte erzielt. War es unvermeidlich, daß dieser Erfolg mit einem Verlust ihrer demographischen Stabilität und eines großen Teils ihres Humanvermögens bezahlt wurde?  Es ist in Deutschland üblich geworden, eine Gesellschaft mit einem wirtschaftlichen Großbetrieb, einer Aktiengesellschaft, zu vergleichen, wie dies etwa der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt tat, der sich gerne als »Aufsichtsratsvorsitzenden der Aktiengesellschaft Bundesrepublik Deutschland« bezeichnete. Die tiefere Wahrheit dieses Vergleichs wird nun allmählich deutlich: Es kommt darauf an, den drohenden, demographisch bedingten Konkurs der Deutschland AG abzuwenden. Diese Art von Herausforderung ist für eine erfolgsgewohnte Volkswirtschaft neu: Nach Carl von Clausewitz ist der geordnete Rückzug bei einer militärischen Niederlage eine viel schwierigere Operation als ein Erfolg durch das Erringen eines Sieges.

Läßt sich die mangelnde demographische Stabilität eines Landes durch ökonomische Stärke - durch Produktivitätszuwächse im Inland oder durch Kapitalexport in wachstumsstarke Niedriglohnländer überhaupt dauerhaft substituieren?  Diese Frage ist von größter Bedeutung, denn eine schnelle Rückkehr zu einer demographisch stabilen Situation ist unmöglich. Durch den Kapitalexport aus den Industrieländern in Niedriglohnländer profitieren in der Regel beide Ländergruppen. Da jedoch beide Ländergruppen und die Welt als Ganzes altern, entsteht durch den Kapitalexport sowohl ein geographisches Verteilungsproblem in Bezug auf die internationale Verteilung der Kapitaleinkommen als auch ein soziales Verteilungsproblem in Bezug auf die sozialen Gruppen als Empfänger der Renditen und als Eigentümer des Kapitals. Bei diesem Prozeß wird es Gewinner und Verlierer geben, auch wenn es sich nicht um ein Nullsummenspiel handelt und beide Ländergruppen Vorteile daraus ziehen.

Dabei zeichnet sich für Deutschland ein neuer internationaler Konflikt ab. Da das deutsche Sozialversicherungssystem umlagefinanziert ist, während beispielsweise das britische und amerikanische auf Kapitaldeckung beruht, konnten sich in Deutschland keine international konkurrenzfähigen Kapitalfonds und keine international bedeutsamen Banken entwickeln. Die ausländischen Alterssicherungsfonds sind zum Erfolg verurteilt, denn die Existenz der ausländischen Anteilseigner im Ruhestand hängt davon ab, daß die gewaltigen Fondsvermögen international renditeträchtig angelegt werden.

Die interessantesten deutschen Unternehmen werden von ausländischen Fonds übernommen, ohne daß Deutschland bei den Übernahmeschlachten als gleichwertiger Gegner auftreten kann: »Die deutschen Unternehmen werden zunehmend zu Institutionen zur Finanzierung der Altersvorsorge, angefangen bei der Rente der kalifornischen Lehrer und der Feuerwehrleute in Wisconsin bis hin zur Rente der Bergarbeiter von Mittelengland.« (Uwe H. Schneider, Sonderrecht für institutionelle Anleger?  In: Börsenzeitung, 15.06.2005). Da Deutschland über keine nennenswerte kapitalstockfinanzierte Altersvorsorge und keine entsprechende Finanzmacht verfügt, kommen die Dividenden seiner Unternehmen und die Zinsen seiner Staatsanleihen, die von den nachrückenden Generationen erwirtschaftet werden müssen, ausländischen Pensionären zugute. Die Demographie ist wie ein siamesischer Zwilling mit der Wirtschaft verwachsen: Geht es dem einen schlecht, leidet auch der andere.“ (Zitat-Ende).

ä Was tun?  - Soziale Politik statt Sozialpolitik (S. 144-148):

„In einem manifestartigen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung begründete ein Professor für Medizinsoziologie sein Plädoyer für die Freigabe des Klonens von Menschen zur Behandlung von Unfruchtbaren mit einem merkwürdigen Argument: Die geistigen Wurzeln unseres Embryonenschutzgesetzes, das das Klonen von Menschen strikt verbietet, reichen angeblich zurück in den Nationalsozialismus. Die Nationalsozialisten lehnten die künstliche Befruchtung als etwas Unnatürliches ab, und sie hätten - so das Argument - auch das Klonen abgelehnt, wenn diese Technik damals schon bekannt gewesen wäre. Daraus sei zu folgern: Da nur das Gegenteil der von den Nationalsozialisten abgelehnten Ansicht richtig sein könne, sollte man das Klonen von Menschen erlauben und das Embryonenschutzgesetz entsprechend ändern.

Auf einer ähnlich verqueren Logik beruht der breite Konsens bei der Ablehnung der Bevölkerungspolitik in Deutschland: Da bevölkerungspolitische Ziele in den vordemokratischen Gesellschaften meist eine wesentliche Komponente der Politik bildeten, insbesondere in der nationalsozialistischen Diktatur und in der DDR, läßt sich Bevölkerungspolitik mit den Prinzipien einer Demokratie angeblich nicht vereinbaren. Diese Ansicht hat etwas für sich - sie ist bequem -, aber dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der von den Nationalsozialisten gebrauchte Begriff Bevölkerungspolitik kritiklos hingenommen wird, statt ihn mit neuern Inhalt zu füllen. Viele halten sich auf diese Einstellung noch etwas zugute, obwohl sie auf eine Art selbstgewählter - Kant würde sagen »selbstverschuldeter« - Unmündigkeit hinausläuft.

Jede Art politischen Handelns (und Unterlassens) hat Auswirkungen, auch auf die Zahl und Struktur der Bevölkerung. Sind diese Auswirkungen beabsichtigt, spricht man von Bevölkerungspolitik. Da die Wirkungen unabhängig davon eintreten, ob sie beabsichtigt sind oder nicht, können die demographisch bedeutsamen Auswirkungen der Politik nicht vermieden, sondern nur auf unterschiedliche Weise benannt werden. Als Ersatzbezeichnungen für die demographisch bzw. bevölkerungspolitisch bedeutsamen Wirkungen der Politik auf die Geburtenzahl sind in Deutschland die Begriffe Familienpolitik, familienorientierte Sozialpolitik oder gesellschaftliche Nachwuchssicherung üblich. Die Politik zur Verringerung der Sterblichkeit bzw. zur Erhöhung der Lebenserwartung firmiert unter »Gesundheitspolitik«. Nur die Migrationspolitik wird nicht mit einem Ersatzbegriff bezeichnet; dafür werden die demographischen Auswirkungen dieses für Deutschland besonders wichtigen Gebiets der Bevölkerungspolitik um so konsequenter verdrängt.

Selten wird thematisiert, daß die Nebenwirkungen der Wirtschaftspolitik auf die Geburtenzahl die Wirkungen des eigentlich zuständigen Familienministeriums bei weitem übertreffen. Je besser die Wirtschaftspolitik beispielsweise das Ziel eines hohen Pro-Kopf-Einkommens erreicht, desto unerschwinglicher werden Kinder, falls Erwerbsarbeit und Familienarbeit nicht oder nur schwer vereinbar sind. So kam es zu dem demographisch-ökonomischen Paradoxon, daß in Deutschland und anderen Ländern die Pro-Kopf-Kinderzahl mit dem wachsenden Pro-Kopf-Einkommen abnahm, statt zuzunehmen. In Deutschland etwa ist die Kinderzahl pro Frau heute nur noch etwa halb so hoch (1,3) wie in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts (2,5), obwohl sich das Pro-Kopf-Einkommen seitdem mehr als verdoppelte.

Die Dimension des demographischen Problems ist für unsere Gesellschaft möglicherweise zu groß, es läßt sich nicht durch das Nadelöhr der politischen Interessen zwängen: »Die Bevölkerung hat keine Lobby« (Josef Schmid). Wer den Gedanken von sich weist, zur Sicherung seines eigenen Alters Kinder zu erziehen, wird für die Alterssicherung anderer erst recht keine in die Welt setzen. Die demographischen Nebenwirkungen der ressortspezifischen Interessenpolitik - die Auswirkungen der Wirtschaftspolitik, der Bildungspolitik, der Arbeitsmarktpolitik und anderer Politikbereiche auf die demographischen Strukturen und Prozesse - sind in ihrer Summe von so hohem Gewicht, daß man folgenden Grundsatz formulieren kann: Eine an demographischen Zielen orientierte Politik kann ihre Ziele nur dann erreichen, wenn sie die demographischen Nebenwirkungen der anderen Ressorts kontrolliert, die die größten demographischen Wirkungen ausüben, ohne selbst demographische Ziele zu verfolgen, d. h., wenn sie als Querschnittspolitik praktiziert wird.

So wie sich jede Sozialpolitik erübrigte, wenn quer über die Ressorts eine soziale Politik betrieben würde, so bedürfte es keiner an demographischen Zielen orientierten Politik, wenn es die Politik zuwege brächte, daß die Bevölkerungszahl nicht wie in Deutschland schon seit den l970er Jahren ohne Aussicht auf ein Ende der Talfahrt ständig schrumpft und als Folge davon stark altert. Da die Bevölkerungsschrumpfung automatisch mit einer Alterung der Gesellschaft gekoppelt ist, muß, wer beispielsweise die Alterung dämpfen will, die Bevölkerungsschrumpfung verringern - er muß also eine an demographischen Zielen orientierte Politik betreiben, ganz gleich, ob er sie als Bevölkerungspolitik bezeichnet oder nicht.

In Deutschland wird seit drei Jahrzehnten eine Bevölkerungspolitik der kompensatorischen Einwanderungen praktiziert. Diese Politik überflüssig zu machen und wieder eine Politik für die Bevölkerung zu betreiben, die die Geburtenrate auf das bestandserhaltende Niveau von zwei Kindern pro Frau anhebt, ist langfristig auch deshalb ohne Alternative, weil sich die Einwanderer der niedrigen Geburtenrate in Deutschland erfahrungsgemäß anpassen. Zur Kompensation der ständig schrumpfenden Geburtenzahl bzw. zur Dämpfung der Alterung würden in Zukunft dementsprechend immer mehr Einwanderer gebraucht. Heute reicht noch ein Einwanderungssaldo von rund 200 Tsd. aus, um die Schrumpfung auszugleichen, aber wegen des steigenden Geburtendefizits müßte der Saldo künftig auf 500 Tsd. und schließlich auf 700 Tsd. pro Jahr zunehmen.

Die in Deutschland seit drei Jahrzehnten praktizierte Bevölkerungspolitik durch kompensatorische Einwanderungen ließe sich nicht einmal dann rechtfertigen, wenn mit ihr mehr Probleme gelöst als geschaffen würden. Denn Einwanderer, die in Deutschland Probleme lösen, können dies nicht in ihren Herkunftsländern tun. Die deutsche Bevölkerungspolitik durch Einwanderungen ist den Herkunftsländern der Einwanderer auf Dauer nicht zuzumuten, und sie wird auch der Verantwortung nicht gerecht, die wir nicht nur gegenüber anderen Ländern haben, sondern auch »gegen uns selbst«, wie Immanuel Kant es formulierte. Die Verantwortung »gegen uns selbst« schließt jene gegenüber den kommenden Generationen ein - unseren Kindern und Enkeln, denen wir nicht nur eine intakte natürliche Umwelt, sondern auch eine soziale Mitwelt hinterlassen sollten, die sie nicht belastet.

In einer Demokratie besteht das oberste Ziel allen staatlichen Handelns in einer Politik für die Bevölkerung. Deren Erfolg oder Mißerfolg läßt sich nicht zuletzt daran messen, ob die Lebensbedingungen zu einer ständigen Abnahme der Bevölkerung oder zu einem demographisch stabilen Fundament der Gesellschaft führen. Wenn das Ziel einer Demokratie darin besteht, »das größte Glück der größten Zahl« zu erreichen, wird es bei einer schrumpfenden Zahl von Demokraten verfehlt.

Die Beseitigung der ökonomischen Ausbeutung der Familien ist eine notwendige Bedingung dafür, daß der Wunsch nach Kindern wieder zu einem selbstverständlichen Leitbild der Persönlichkeitsentwicklung wird. Um ihn auch praktisch erfüllbar zu machen, dürfen die Lebensläufe der Menschen mit Kindern nicht länger zu Hindernisläufen denaturieren, bei denen sich die Ziele der beruflichen Entwicklung und der Familienentwicklung in die Quere kommen. Die skandinavischen Länder und besonders Frankreich zeigen, daß sich dieses Ziel durch eine fachlich gute Betreuung von Kindern in staatlichen, kirchlichen oder privaten Einrichtungen erreichen läßt.

Es fehlen in Deutschland nicht die Erkenntnisse und auch nicht die finanziellen Mittel, um mit Frankreich gleichzuziehen, das zwar 25 Millionen Einwohner weniger aber mittlerweile mehr Geburten als Deutschland hat. Es fehlt schlicht der politische Wille, sonst hätten die Wähler, die ja mehrheitlich Eltern sind oder es werden wollen, schon längst folgende Neuerungen durchgesetzt, von denen eine nachhaltige Erhöhung der Geburtenrate zu erwarten ist:

  1. Familien- und zukunftsgerechtere Reformen der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung durch Berücksichtigung der Arbeits- und Erziehungsleistungen der Familien mit Kindern.
  2. Einführung hochwertiger Betreuungseinrichtungen ab dem Vorschulalter sowie Ganztagsschulen (nicht Gesamtschulen) zur Unterstützung der Erziehungsleistungen der Eltern.
  3. Erhöhung von Kinderfreibetrag, Kindergeld und Erziehungsgeld.
  4. Änderung des Grundgesetzes zur Einführung eines Eltern- bzw. Familienwahlrechts.
  5. Priorität für Mütter bei Stellenbesetzungen durch Frauen.

Vielleicht liegen die Versäumnisse auf diesen Gebieten an der grassierenden Gedankenlosigkeit und an der üblichen Überbewertung kurzfristiger Ziele, gepaart mit Unkenntnis über deren langfristige Konsequenzen. Es könnte aber auch mehr dahinterstecken - eine Art historisch verwurzeltes, stilles Einverständnis mit dem Abwärtstrend auf der schiefen Bahn, erkennbar an den unterschiedlichen Gesichtern einer trotzigen oder ins Elegische entrückten, in jedem Fall aber bekennenden, aggressiven und geradezu intoleranten Gleichgültigkeit, eine Art Selbstbestrafung als Folge von Selbsthaß. Deutschland gibt Rätsel auf. Heinrich Heine kommt einem in den Sinn: »Denk ich an Deutschland in der Nacht ....« Und Karl Kraus: Die Deutschen werden dereinst Kyffhäuser mit Kaufhäuser verwechseln. Diese Gefahr ist vorbei, die meisten scheinen sich nur noch für Kaufhäuser zu interessieren.“ (Zitat-Ende).

ä Resümee: Es ist dreißig Jahre nach zwölf (S. 149-151):

„Die meisten Menschen sind einfach schon zu klug, um noch die Bedeutung der simplen Wahrheit erfassen zu können: Für Menschen gibt es keinen Ersatz. Auch die Einwanderer Deutschlands müssen zuerst irgendwo geboren worden sein, bevor sie zuwandern und hier Probleme lösen können. Daß unser Land glaubt, seine Zukunft darauf bauen zu können, daß es die von anderen Ländern mit Kosten und Mühen gewonnenen Früchte erntet - darüber gibt es hierzulande nicht den geringsten Ansatz einer öffentlichen Reflexion. Wir sehen uns im Wettbewerb um »die Besten« der anderen Länder und verstehen nicht, daß wir mit unseren Ansprüchen eine neue Art des Kolonialismus betreiben.

Wie ehrlich muß, darf und soll über die demographischen Probleme Deutschlands nachgedacht werden?  Sind die demographischen Veränderungen vielleicht gar nicht so wichtig, wie Ralf Dahrendorf uns wissen läßt?  Oder hat Claude Levi-Strauss recht, der feststellte: »Im Vergleich zur demographischen Katastrophe ist der Zusammenbruch des Kommunismus unwichtig«?

Über kaum ein anderes Thema gehen die Meinungen so extrem auseinander. Ist es möglicherweise pure Klugheit, wenn nicht sogar Weisheit, daß die Politik das Thema Demographie jahrzehntelang unter ihrem dröhnenden Schweigen begrub, als wollte sie damit verhindern, daß es sich wie eine ansteckende Krankheit ausbreitet?

Die politische Quarantäne der Demographie endete mit Anbruch des neuen Jahrhunderts. Um 2001 explodierte plötzlich das öffentliche Interesse an demographischen Fragen. Es ist das Jahr, in dem das Bundesverfassungsgericht den Stab über die Pflegeversicherung und über die anderen Zweige des irreführenderweise als sozial bezeichneten, in Wahrheit familienfeindlichen sozialen Sicherungssystems brach. Udo Steiner, Richter am Bundesverfassungsgericht, bezeichnete die politischen Bemühungen um die Reform der Renten-, Kranken- und pflegeversicherung als einen Reparaturversuch »bei laufendem Motor«. Der Verfassungsrichter Udo di Fabio stellte klar: »Mit dem Urteil zur Pflegeversicherung hat das Bundesverfassungsgericht die Notbremse gezogern«. Mit welcher Wirkung?  Der Zug fährt weiter in die falsche Richtung. Die vom Gericht festgesetzte Frist für die Änderung der verfassungswidrigen Bevorzugung der Kinderlosen auf Kosten der Familien mit Kindern in der Pflegeversicherung (31.12.2004) ist verstrichen, aber die Ungerechtigkeit blieb. Die durchgeführten gesetzlichen Änderungen werden dem Urteil nicht gerecht, sie haben den Charakter einer Alibihandlung.

Die Funktionsfähigkeit jedes Zweigs des sozialen Sicherungssystems - auch die der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung - geht verloren, wenn weniger Beitragszahler nachwachsen als Menschen in die Gruppe der Versorgungsberechtigten nachrücken. Die Zahl (nicht nur der Anteil) der versorgungsberechtigten Älteren nimmt bis zur Jahrhundertmitte explosionsartig zu, was ziemlich sicher ist, denn die 60jährigen und älteren im Jahr 2050 rekrutieren sich aus den über 15jährigen von 2005. Gleichzeitig nimmt die Gruppe der Jüngeren implosionsartig ab.

Der wichtigste und schwerwiegendste Irrtum über die Natur der demographischen Veränderungen ist der Glaube, daß uns ein rascher Wiederanstieg der Geburtenrate auf 1,6, 1,8 oder zwei Kinder pro Frau vor dem Schlimmsten bewahren könnte. Aber es ist dreißig Jahre nach zwölf, heute kann selbst ein Anstieg der Geburtenrate auf die ideale Zahl von zwei Kindern je Frau die Alterung für Jahrzehnte nicht mehr abwenden. Der Anteil der über 60jährigen an den 20-60jährigen würde sich bei der deutschen Bevölkerung selbst dann verdoppeln, wenn die Lebenserwartung nicht mehr zunähme. Daß es ein demographisches Momentum mit irreversiblen Folgen gibt, ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis der Demographie. Wenn ein demographischer Prozeß ein Vierteljahrhundert in die falsche Richtung läuft, dauert es ein Dreivierteljahrhundert, um ihn zu stoppen. So viel Zeit hat unsere schnellebige Gesellschaft nicht, ihr scheint jetzt schon die Geduld auszugehen. Deshalb ist es konsequent, daß sich die Gesellschaft Politiker wählte, die ihre existentiellen Probleme ignorierten und sich nach der Logik verhielten: Wo keine Lösung ist, ist auch kein Problem (Paul Demeny).

Die langen Bremswege in der Demographie sind bekannt, seit die Demographie im 18. Jahrhundert als Wissenschaft begründet wurde.

Was Deutschland erwartet, haben Wissenschaftler in unzähligen Artikeln, Büchern und Kongressen seit Jahrzehnten einer desinteressierten Öffentlichkeit mitzuteilen versucht. Die vielzitierte Bringschuld der Wissenschaft wurde von der Politik nicht angenommen, auch die Medien brachten das vorhandene Wissen nicht unter die Leute. Deutschland hat von seinem Recht auf Nichtwissen in extensiver Weise Gebrauch gemacht und wird dafür teuer bezahlen. Volkszählungen wurden schon unter der Regierung Kohl ohne viel Federlesen abgeschafft. Keine Gemeinde in Deutschland weiß heute genau, wieviel Einwohner sie hat; die amtlichen Einwohnerzahlen beruhen allesamt auf den Daten der letzten Volkszählung von 1987.

Im Informationsblatt des Landtages von Nordrhein-Westfalen vom April 2005 stand zu lesen: »Fast die Hälfte aller Gotteshäuser, so schätzte jüngst die evangelische Kirche, ist in Zukunft entbehrlich und soll verkauft werden.« Sind das die vielbeschworenen »Chancen der Schrumpfung«, von denen landauf, landab in den Demographie-Kongressen der Gelegenheitsdemographen die Rede ist?  Die in neue Nutzungen überführten Kirchen werfen Renditen ab, die Gottesdienste verursachen Verluste - was fühlen die Abgeordneten und die Superintendenten der Evangelischen Kirche bei diesen Aussichten?

Wir wissen es nicht, denn die Veranstalter der Tagungen über die Chancen der Schrumpfung fühlen sich verpflichtet, Chancen zu entdecken, statt über Risiken nachzudenken. Aber welche Chancen sollen damit verbunden sein, daß die Beiträge zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung erhöht, die Löhne gekürzt, die Versorgungsniveaus alter und kranker Menschen gesenkt und Schulen, Bibliotheken und Kirchen geschlossen werden?  Welche Chancen bieten die Rückkehr der Armut, die Ausbreitung der Dritten Welt in den großen Städten inmitten Deutschlands?  Was ist das für eine Chance, wenn Kinder nicht mit ihren Eltern kommunizieren, weil sie nicht geboren werden?  Diese Chance der Schrumpfung birgt nicht einmal jene Tröstung, von der Arthur Schopenhauer sagte, daß sie sogar dem Tod zukäme, der »wie das Winken der Augen ist, welches das Sehen nicht unterbricht«.“ (Zitat-Ende).

 

Zitate: Hubert Brune, 2005 (zuletzt aktualisiert: 2009).

Von Herwig Birg benutzte Quellen bzw. Literatur (Sekundärliteratur) u.a.:
- Borchert, Jürgen: Arme Kinderreiche - Nur eine Reform des Steuer- und Beitragssystems kann die Familienarmut beseitigen, in: FAZ, 19.10.1999.
- Brentano, Ludwig Josef: Die Malthussche Lehre und die Bevölkerungsbewegung der letzten Dezennien, 1909.
- Cavalli-Sforza, Luigi Luca: Verschieden und doch gleich, 1994.
- Darwin, Charles: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, 1859.
- Darwin, Charles: The Descent of Man and Selection in Relation to Sex (2 Bände), 1871.
- Darwin, Charles: Autobiographie, postum.
- Dorbritz, J. und Gärtner, K.: Bericht über die demographische Lage in Deutschland, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 4, 1998. S. 377f.
- Hume, David: Untersuchung über den menschlichen Verstand, 1748.
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