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Zum Verständnis IMMUNITÄTSPROBLEME Immunität

Anmerkung zu Geburt und Fehlgeburt  Kulturelle Geburtenkontrolle, Fehlgeburten, Brutkästen, Waisenhäuser  Kulturprobleme

Vgl. Tafel ("8 Kulturen")  Glück und Unglück der Kulturen  Zur Theorie

Leben wie Kulturen (aus der Sicht eines Lebensphilosophen*)

Geburtenkontrolle gibt es so lange, wie es „Leben“ gibt. Entweder ist es die Natur (bzw. die Gottheit), die für eine solche Kontrolle sorgt, oder das Sozialsystem der Lebewesen selbst. Warum auch immer so geplant, selektiert, entschieden und gehandelt wird: eine Notwendigkeit oder ein Interesse an Geburtenkontrolle hat es immer gegeben. Der Mensch bildet da keine Ausnahme. Eher im Gegenteil. Der Mensch war und ist als Kultur-Ökowesen (Ökonom, Ökologe, Ökosoph) immer auch ein Anthropotechniker und Menschenkünstler. So bedeutet Haustierzucht nicht nur, wilde Tiere zu zähmen, sondern auch, daß man sich selbst zähmt und züchtet. Für die große und kleine Politik gilt, daß zur Familienplanung immer auch Geburtenkontrolle gehört. Aber nicht nur bewußt vollzogene Kontrollen begleiten alle Politik, sondern auch die, die nicht gewollt und beabsichtigt sind. Nicht alle Eltern können sich während der gesamten Schwangerschaft glücklich schätzen. Nicht alle Staaten können immer nur selbst bestimmen, wieviel Menschen in ihnen leben sollen. Immer schon ist durch Naturkatastrophen, Seuchen und andere Krankheiten die Zahl der Menschen vermindert worden, und immer schon haben Menschen darauf entsprechend mehr oder weniger erfolgreich reagiert. Jeder Existenzphilosoph oder Lebensphilosoph und jeder Anthropologe, der Sprachspiele benutzt, um Kulturen als Lebewesen gelten zu lassen, wird Naturkatastrophen und Geburtenkontrollen auch im Hinblick auf Kulturen untersuchen. Mehr zu diesem Thema
Die magische Kultur (Arabien) ist nur eines der vielen Beispiele für eine „schwere Geburt“. (Arabien). Diese Kultur „erlebte“ eine problematische Geburt, weil sie lange Zeit im Schatten der apollinischen Kultur (Antike) stand. Im Gegenteil zur magischen Kultur hatte die faustische Kultur (Abendland) Glück, weil die Franken Karl Martell (688-741) und Karl der Große (747-814) zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Dazwischen gab es auch noch eine Pippinsche Schenkung (754).
Im Kulturkreißsaal gelang die Geburt des Abendlandes mit Hilfe einer Hebammentechnik, dem Franken-Papst-Bündnis. Das Glück, das dem Abendland beschert war, war der arabischen Kultur zuvor verwehrt, anders gesagt: „Die Seleukiden wollten Hellenen, nicht Aramäer um sich sehen.“ (Spengler). Ähnliches hätte dem Abendland auch passieren können, wenn in der Schlacht von Tours und Poitiers (732) nicht die Franken unter Karl Martell, sondern „die Araber gesiegt und »Frankistan« zu einem Kalifat ... gemacht hätten. Arabische Sprache, Religion und Gesellschaft wären in einer herrschenden Schicht heimisch geworden. Riesenstädte wie Granada und Kairuan wären an Loire und Rhein entstanden, das gotische Gefühl wäre gezwungen worden, sich in den längst erstarrten Formen von Moschee und Arabeske auszudrücken und statt der deutschen Mystik besäßen wir eine Art Sufismus. Daß das Entsprechende in der arabischen Welt geschah (*gemeint ist die Zeit ihrer „Geburt“ und die relativ lange Zeit danach), war die Folge davon, daß die syrisch-persische Bevölkerung keinen Karl Martell hervorgebracht hat.“ (Spengler). Die arabische Kultur wurde also unter ganz merkwürdigen Bedingungen geboren und blieb lange Zeit, unter Aufsicht der apollinischen Kultur, in einem kulturellen Hospital oder Waisenhaus. Ähnliches hätte dem Abendland, nämlich unter Aufsicht der arabischen Kultur, auch passieren können. Doch die Araber hatten schon nach der Eroberung Spaniens (711) Elemente von den Goten übernommen, z.B. auch den Hufeisenbogen, den sie überall in ihre Bauwerke integrierten. (Hufeisenbogen). Und 732 unterlagen sie den Franken: das weitere Vordringen der Araber, also auch ihre dadurch möglich gewordene Aufsicht über eine junge Kultur, wurde von den Franken unter Karl Martell verhindert, und Karl der Große setzte „planmäßig und mit seiner ganzen Energie durch, was Karl Martell durch seinen Sieg verhindert hatte: die Herrschaft des maurisch-byzantinischen Geistes.“ (Spengler). Natürlich ist die Frage, ob auch das Abendland mit seinem Vordringen die Chance einer Aufsicht über eine Kultur, die zur Welt kommen will, ergriffen hat, zu bejahen. Dazu folgendes Beispiel:

Rußland

Vorausgesetzt, es gibt tatsächlich einen „unermeßlichen Unterschied zwischen der russischen ( oder auch slawischen Russentum (Slawentum)) und der faustischen Seele“ (Spengler), so ist davon auszugehen, daß hier eine Kultur von einer anderen auf eine ähnliche Weise überschattet und hospizartig eingesperrt bleiben soll wie die arabisch-magische damals durch die antik-apollinische Kultur. Zu einer solchen Verwaisungsgeschichte gehört übrigens auch und je nach Fall die Art der Überbehütung, die kaum Luft zum selbständigen Atmen läßt - sie ist lediglich die andere Seite einer Behandlung, über die wohl jeder Waise eine Geschichte erzählen kann. Im Kern geht es dabei um Isolierung und um den verzweifelten Versuch der Isolierten, dennoch zum Ganzen zu gehören und sich in ihm doch noch eigenständig zu entwickeln. Aber wie? Laut Spengler war Peter der Große (1672-1725), der von 1689 bis 1725 regierte, „das Verhängnis des Russentums. .... Es bestand die Möglichkeit, die russische Welt nach Art entweder der Karolinger oder der Seleukiden zu behandeln, altrussisch nämlich oder »westlich«, und die Romanows haben sich für das letzte entschieden.“ (Spengler). Dem Russentum erging es also ähnlich wie 2000 Jahre zuvor dem Arabertum. Denn, wir erinnern uns, auch die Seleukiden wollten ja lieber Hellenen als Aramäer um sich sehen. Für Spengler war klar: „Die Gründung von Petersburg (1703) zwang die primitive russische Seele erst in die fremden Formen des hohen Barock, dann der Aufklärung, dann des 19. Jahrhunderts. Der primitive Zarismus von Moskau ist die einzige Form, welche noch heute dem Russentum gemäß ist, aber er ist in Petersburg in die dynastische Form Westeuropas umgefälscht worden. Der Zug nach dem heiligen Süden, nach Byzanz und Jerusalem, der tief in allen rechtgläubigen Seelen lag, wurde in eine weltmännische Diplomatie mit dem Blick nach Westen verwandelt. Auf den Brand von Moskau, die großartig symbolische Tat eines Urvolkes, aus welcher der Makkabäerhaß gegen alles Fremde und Fremdgläubige redet, folgt der Einzug Alexanders in Paris, die heilige Allianz und die Stellung im Konzert der westlichen Großmächte. Ein Volkstum, dessen Bestimmung es war, noch auf Generationen hin geschichtslos zu leben, wurde in eine künstliche und unechte Geschichte gezwängt, deren Geist vom Urrussentum gar nicht begriffen werden konnte. Späte Künste und Wissenschaften wurden hereingetragen, Aufklärung, Sozialethik, weltstädtischer Materialismus, obwohl in dieser Vorzeit Religion die einzige Sprache war, in der man sich und die Welt verstand; in das stadtlose Land mit seinem ursprünglichen Bauerntum nisteten sich Städte fremden Stils wie Geschwüre ein. Sie waren falsch, unnatürlich, unwahrscheinlich bis in ihr Innerstes. »Petersburg ist die abstrakteste und künstlichste Stadt, die es gibt«, bemerkt Dostojewski (1821-1881). Er hatte, obwohl er dort geboren war, ein Gefühl, als ob sie sich eines Morgens mit den Sumpfnebeln zugleich auflösen könnte. So geisterhaft, unglaubwürdig, lagen auch die hellenistischen Prunkstädte überall im aramäischen Bauernland.“ Spengler

Im Falle des Arabertums dauerten diese Verhältnisse noch lange an. Bald sah es nicht mehr nur die rein hellenistischen, sondern auch die von den Römern gigantisierten hellenistisch-römischen Prunkstädte, und darin konnte es nur noch mehr geisterhafte Städte erkennen. „So hat Jesus sie in seinem Galiläa gesehen. So muß Petrus empfunden haben, als er das kaiserliche Rom erblickte.“ (Spengler). Ob es den Russen (oder Slawen) auch weiterhin ähnlich ergehen wird wie damals dem Arabertum, ist heute noch nicht absehbar, aber sehr wahrscheinlich. Auch der Zwitter Sowjetunion folgte ebenso wenig einer typisch russischen Entwicklung, wie es das heutige Rußland tut. Es ist immer eine westliche Herrschaft, die eine typisch russische Entwicklung verhindert, und trotzdem sind es die russischen Herrscher selbst, die mit einer vom Westen übernommenen Idee das russische Volk in diese Lage bringen. Rußland wird also immer noch von dem Zwang beherrscht, westlich (abendländisch) zu werden, und muß sich immer noch mit einer Kopie zufrieden geben. Eine eigenständige Entwicklung ist immer noch nicht gelungen, und die Kopie wird nie echt werden. Rußland wird nie abendländisch, wird nie westlich werden können, sondern höchstens halbabendländisch oder halbwestlich. Es steckt immer noch im selben Dilemma wie zu der Zeit, als Petersburg gegründet wurde (1703). Wer meint, das heutige Rußland sei auf einem guten Weg, der möge sich vorher fragen, warum Rußland weder „westliche Werte“ akzeptiert noch auf die „eigenen Beine“ kommt. Den einen Weg kann es nicht beschreiten, den anderen Weg darf es nicht beschreiten. Und das schon seit Jahrhunderten! (Slawen-Problem). Die Geschichte des Russentums, und dazu gehören die 3 Phasen seiner Vor-/Urkultur und die 1. Phase seiner Frühkultur, denn weiter ist das heutige Rußland noch nicht, verlief jedenfalls auf ganz verblüffende Weise ähnlich wie die des Arabertums in den entsprechenden Phasen. Der Unterschied zwischen ihnen liegt somit hauptsächlich in der Zeit: ca. 2 Jahrtausende! Tafel

Auch Huntington (Huntington) weiß, daß „Rußlands ... vier Phasen“ eine vom Abendland isolierte Entwicklung darstellen. Bis zur Regierungszeit Peters des Großen existierten die „Kiewer Rus und das Moskauer Reich separat vom Westen und hatten wenig Kontakt zu westeuropäischen Gesellschaften.“ Auch für Huntington entwickelte Rußland sich als ein Ableger des Byzantinischen Reiches - also eines Teils der magischen Kultur, um mit Spengler zu reden - und stand danach „zweihundert Jahre lang, von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, unter mongolischer Suzeränität.“ Rußland kam wenig oder gar nicht in Berührung mit den „definierenden historischen Phänomenen“ der abendländischen Kultur: „dem römischen Katholizismus, dem Feudalismus, der Renaissance, der Reformation, der überseeischen Expansion und Kolonialisierung, der Aufklärung und dem Aufkommen des Nationalstaates.“ Sieben von acht typischen Wesensmerkmalen des Abendlandes - Huntington: „Religion, Sprachen, Trennung von Kirche und Staat, Rechtsstaatlichkeit (rule of law), sozialer Pluralismus, Repräsentationskörperschaften, Individualismus“ - waren der russischen Erfahrung völlig fremd. Rußland, Weißrußland, Ukraine u.s.w. sind, das betont auch Hans-Ulrich Wehler immer wieder, „nie Teil Europas gewesen. Sie haben kein europäisches Bürgertum, keine Bürgerstädte, kein europäischen Adel, keine europäischen Bauern gehabt; sie haben keine Reformation erlebt, keine Wissenschaftsrevolution, keine Aufklärung; und seit Peter dem Großen jagt nun Rußland - und die Bolschewiken haben das noch mal 70 Jahre getan - in einer atemlosen Aufholjagd hinter Europa her, um endlich sozusagen europaähnlich zu werden, aber es ist nicht Europa !“ (Wehler). Russen waren und sind, so auch Huntington, „ein Produkt ihrer einheimischen Verwurzelung in der Kiewer Rus und dem Moskauer Reich, des nachhaltigen byzantinischen Impaktes und der langen Mongolenherrschaft. Diese Einflüsse prägten eine Gesellschaft ..., die wenig Ähnlichkeit mit jenen hatte, die sich in Westeuropa unter dem Einfluß ganz anderer Kräfte entwickelten.“ Und 1697 bis 1698 stellte Peter der Große bei seiner Reise durch Europa fest, wie rückständig Rußland im Vergleich zu Europa war. „Er kehrte nach Rußland mit dem Entschluß zurück, sein Land zu ... verwestlichen. Um sein Volk europäisch aussehen zu lassen, nahm Peter, in Moskau angekommen, als erstes seinen Adligen die Bärte ab und verbot ihnen ihre langen Gewänder und Spitzhüte. .... Entschlossen, Rußland nicht nur zu einer europäische Macht, sondern auch zu einer Macht in Europa zu machen, gab er Moskau auf, gründete eine neue Hauptstadt in St. Petersburg und führte den großen Nordischen Krieg gegen Schweden, um Rußland als beherrschende Macht an der Ostsee zu etablieren und eine Präsenz in Europa zu schaffen.“ Peter verstärkte „jedoch auch die asiatischen Charakteristika Rußlands: Er perfektionierte den Despotismus und beseitigte jede potentielle Quelle eines sozialen oder politischen Pluralismus. Der russische Adel war niemals mächtig gewesen. Peter stutzte ihn noch weiter, indem er den Dienstadel einführte und ein Klassement schuf, das auf Verdienst, nicht auf Geburt oder sozialer Stellung basierte.“ Es entstand jene „kriechende Aristokratie“, die später Custine so erzürnen sollte (vgl. Marquis Astolphe de Custine, La Russie en 1839, 1844). Die Leibeigenen wurden sogar noch abhängiger als je zuvor. Die orthodoxe Kirche, die zuvor „stets unter der umfassenden Kontrolle des Staates gestanden hatte, wurde reorganisiert und einem vom Zaren persönlich bestimmten Synod unterstellt. Der Zar erhielt auch die Vollmacht, ohne Rücksicht auf die bisher herrschenden Erbfolgepraktiken seinen Nachfolger zu bestimmen. Mit diesen Veränderungen stiftete und veranschaulichte Peter den engen Zusammenhang in Rußland zwischen ... Verwestlichung einerseits und Despotie andererseits. Im Anschluß an dieses petrinische Modell versuchten auch Lenin, Stalin und in geringerem Maße auch Katharina II. und Alexander II. auf unterscheidliche Weise Rußland zu ... verwestlichen und die autokratische Macht zu stärken. Mindestens bis um 1980 waren die Demokratisierer in Rußland für gewöhnlich Westler, aber die Westler waren keine Demokratisierer. Die Lehre aus der russischen Geschichte lautet, daß Zentralisierung der Macht die unabdingbare Voraussetzung für soziale und wirtschaftliche Reformen ist. Ende der 1980er Jahre bedauerten Weggefährten Gorbatschovs, Diese Tatsache nicht ausreichend gewürdigt zu haben, als sie über die Hindernisse klagten, die Glasnost der wirtschaftlichen Liberalisierung in den Weg legte.“ Es war zuerst Peter der Große, der mit seinen Reformen zwar einige Veränderungen bewirkte, aber dafür sorgte, daß Rußland ein „Zwitter“ blieb: Außer bei einer kleinen Elite überwogen asiatische und byzantinische Methoden, Institutionen und Überzeugungen in der russischen Gesellschaft und wurden sowohl von Europäern als auch von Russen in dieser Weise perzipiert. »Kratze einen Russen, und du lädierst einen Tartaren«, bemerkte de Maistre. Peter schuf ein zerissenes Land (Huntington), und im 19. Jahrhundert beklagten Slawophile (vgl. Panslawismus) wie Westler gemeinsam diesen unglücklichen Zustand und stritten heftig darüber, ob man ihn durch gründliche Europäisierung oder durch Ausschaltung europäischer Einflüsse und Rückkehr zur wahren Seele Rußlands beseitigen solle.“ Slawophile wie Danilewski (Danilewski) verurteilten „die Europäisierungsbemühungen mit Worten, die man auch um 1990 hören konnte: »Sie verrenken das Leben des Volkes und ersetzen seine Formen durch fremde, ausländische Formen«, »sie entlehnen ausländische Einrichtungen und verpflanzen sie in russischen Boden«, »sie betrachten die innen- wie die außenpolitischen Beziehungen und Fragen von einem ausländischen, europäischen Standpunkt aus und sehen sie gleichsam durch eine Brille, die für einen europäischen Brechungswinkel gemacht ist.« In der weiteren russischen Geschichte wurde Peter der Heros der Westler und der Satan ihrer Gegner, deren Extremposition um 1920 die Eurasier vertraten. Diese brandmarkten Peter als Verräter und jubelten den Bolschewisten zu, die die Verwestlichung ablehnten, Europa herausforderten und die Hauptstadt wieder nach Moskau verlegten. Die bolschewistische Revolution ... schuf ein politisch-wirtschaftliches System, das im Westen nicht existieren konnte, im Namen einer Ideologie, die aus dem Westen stammte.“ (Huntington). Und die sollte den Streit zwischen Slawophilen und Westlern dauerhaft entscheiden können? Wohl kaum! Aber der Haß auf Peter den Großen und alles Westliche wuchs ja ständig, und das schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts.

„Alles, was rings umher entstand, ist von dem echten Russentum seitdem als Gift und Lüge empfunden worden. Ein wahrhaft apokalyptischer Haß richtet sich gegen Europa auf. Und »Europa« war alles, was nicht russisch war, auch Rom und Athen, ganz wie für den magischen Menschen damals auch das alte Ägypten und Babylon antik, heidnisch, teuflisch war. »Die erste Bedingung der Befreiung des russischen Volksgefühls ist: von ganzem Herzen und aus voller Seele Petersburg zu hassen«, schreibt Aksakow 1863 an Dostojewski. Moskau ist heilig, Petersburg ist der Satan; Peter der Große erscheint in einer verbreiteten Volkslegende als der Antichrist. Genau so redet es aus allen Apokalypsen, vom Buche Daniel und Henoch zur Makkabäerzeit bis auf die Offenbarung Johannis, Baruch und den IV. Esra nach der Zerstörung Jerusalems (70), gegen Antiochus, den Antichrist, gegen Rom, die babylonische Hure, gegen die Städte des Westens mit ihrem Geist und Pomp, gegen die gesamte antike Kultur. Alles, was entsteht, ist unwahr und unrein: diese verwöhnte Gesellschaft, die durchgeistigten Künste, die sozialen Stände, der fremde Staat mit seiner zivilisierten Diplomatie, Rechtsprechung und Verwaltung.“ Spengler

Für Spengler war „Dostojewski ein Bauer und Tolstoi ein Mensch der weltstädtischen Gesellschaft. Der eine konnte sich innerlich vom Lande nie befreien, der andere hat es trotz allen verzweifelten Bemühens niemals gefunden. (Slawen-Problem). Tolstoi ist das vergangene, Dostojewski das kommende Rußland. Tolstoi ist mit seinem ganzen Innern dem Westen verbunden. Er ist der große Wortführer des Petrinismus, auch wenn er ihn verneint. Es ist stets eine westliche Verneinung. ... Sein mächtiger Haß redet gegen das Europa, von dem er selbst sich nicht befreien kann. Er haßt es in sich, er haßt sich. Er wird damit der Vater des Bolschewismus. Die ganze Ohmacht dieses Geistes und »seiner« Revolution von 1917 spricht aus den nachgelassenen Szenen: »Das Licht leuchtet in der Finsternis«. Diesen Haß kennt Dostojewski nicht. Er hat alles Weltliche mit einer ebenso leidenschaftlichen Liebe umfaßt. »Ich habe zwei Vaterländer, Rußland und Europa«. Für ihn hat alles, Petrinismus und Revolution, bereits keine Wirklichkeit mehr. Aus seiner Zukunft blickt er wie aus weiter Ferne darüber hin. Seine Seele ist apokalyptisch, sehnsüchtig, verzweifelt, aber dieser Zukunft gewiß. »Ich werde nach Europa fahren«, sagt Iwan Karamasoff zu seinem Bruder Aljoscha (Dostojewski), »ich weiß es ja, daß ich nur auf einen Friedhof fahre, doch auf den teuersten, allerteuersten Friedhof, das weiß ich auch. Teure Tote liegen dort begraben, jeder Stein über ihnen redet von einem so heißen vergangenen Leben, von so leidenschaftlichem Glauben an die vollbrachten eigenen Taten, an die eigene Wahrheit, an den eigenen Kampf und die eigene Erkenntnis, daß ich, ich weiß es im voraus, zur Erde niederfallen, diese Steine küssen und über ihnen weinen werde.« (Dostojewski). Der echte Russe ist ein Jünger Dostojewskis, obwohl er ihn nicht liest, obwohl und weil er überhaupt nicht lesen kann. Er ist selbst ein Stück Dostojewski. Wären die Bolschewisten, die in Christus ihresgleichen, einen bloßen Sozialrevolutionär erblicken, geistig nicht so eng, sie würden in Dostojewski ihren eigentlichen Feind erkannt haben. Was dieser Revolution ihre Wucht gab, war nicht der Haß der Intelligenz. Es war das Volk, das ohne Haß, nur aus dem Trieb, sich von einer Krankheit zu heilen, die westlerische Welt durch ihren Abhub zerstörte und diesen selbst ihr nachsenden wird; das stadtlose Volk, das sich nach seiner eigenen Lebensform, seiner eigenen Religion, seiner eigenen künftigen Geschichte sehnt. Das Christentum Tolstois war ein Mißverständnis. Er sprach von Christus und meinte Marx. Dem Christentum Dostojewskis gehört das nächste Jahrtausend.“ Spengler

Man muß berücksichtigen, daß Spengler diese Sätze veröffentlichte, als die bolschwistische Revolution gerade vollzogen wurde. Aber das heutige Rußland hat er natürlich nicht erfahren, denn Spengler starb 1936. (Spengler). Was also bedeuten die Umwälzungen durch den letzten Sowjetherrscher Gorbatschov und die seitdem andauernden Reformen seiner Nachfolger in Rußland?  Ist es so, daß die Slawen schon wieder in die Falle des Westens getappt sind? Wenn man den letzten im Ostfrankenreich (also: im Deutschen Reich) regierenden Karolinger Ludwig IV. - „das Kind“ (regierte 900-911) mit Michail Gorbatschov (regierte 1985-1991) und den nach dem Aussterben der ostfränkischen (deutschen) Karolinger von den Großen des Deutschen Reiches in Forchheim gewählten Franken Konrad I. (regierte 911-918) mit dem ersten frei gewählten russischen Präsidenten Boris Jelzin (regierte 1991-2000) vergleichen wollte, dann müßte man den von Franken und Sachsen in Fritzlar zum König gewählten Sachsen, Heinrich I. (regierte 919-936) mit Wladimir Putin (regierte 2000-2008 und 2012-????) vergleichen. Heinrich I. mußte die süddeutschen Stämme durch militärische Drohung und durch Kompromiß zur Akzeptanz seiner Macht zwingen. Die Ungarngefahr bannte Heinrich I. im Jahre 926 durch einen 9jährigen Waffenstillstand, den er für expansive Züge gegen Slawen und Böhmen nutzte; beide gerieten unter Oberhoheit des Deutschen Reiches - 934 auch Teile der Dänen. Nach Aufkündigung des Tributs besiegte Heinrich I. die Ungarn 933 bei Riade mit einem Heer aus allen deutschen Stämmen, wodurch er innenpolitisch das Reich konsolidierte. Außenpolitischer Höhepunkt war 935 der endgültige Verzicht Rudolfs von Frankreich und Rudolfs II. von Hochburgund auf Lothringen. Heinrich I. hat es also geschafft, daß Deutsche Reich zusammzuhalten, aber Putin hat große Probleme, sein Reich zusammenzuhalten. Ob und wie er scheitern oder erfolgreich sein und ob es einen Nachfolger geben wird und mit dem Sachsenkaiser Otto I. („dem Großen“), der von 936 (als König) und von 962 (als Kaiser) bis 973 regierte, zu vergleichen wäre, wird die Zukunft zeigen. Es spricht jedoch vieles dafür, daß der russischen (slawischen) Kultur eher ein ähnliches Schicksal ereilen wird wie der arabischen (magischen) Kultur (Arabertum) und daß dem Russentum, das extrem früh auf die Welt kommen und im „Brutkasten“ aufwachsen sollte, in einem vom Abendland beaufsichtigten „Waisenhaus“ die nächsten Jahrhunderte verbringen wird. Das russische Volk wird seine Herrscher weiterhin als „Fremde“ ansehen, so wie das persisch-aramäisch-arabische Volk die hellenistischen Seleukiden als „Fremde“ angesehen hatte. Zwischen ca. 200 und 168 hatte es vielleicht eine Chance zur Realisierung einer Selbständigkeit gesehen, doch seit der Schlacht bei Pydna (168 v. Chr.) wurde das Volk aus den westlichen Teilen des Seleukidenreiches statt dessen nach und nach von einer noch ferneren Macht im Westen - Rom - dominiert, bevor auch der Rest des Seleukidenreiches endgültig unter dieser Macht zusammenbrach, als Pompeius 64 v. Chr. den Osten neu ordnete. (Seleukiden). Und zwischen 1953 (Tod Stalins) und 1989 haben Teile des sowjetrussischen Volkes sicherlich ebenfalls eine Chance zur Realisierung einer Selbständigkeit gesehen, doch seit dem „Mauerfall“ (1989) wird das Volk aus den westlichen Teilen der Sowjetunion nach und nach von einer noch ferneren Macht im Westen - USA - dominiert, bevor auch der Rest ... (Sowjetische Kurzgeschichte) ... (Unterschied). Doch man soll bekanntlich keine voreiligen Schlüsse ziehen, sondern die Entwicklungen abwarten und sie dann an Spenglers Thesen messen.

 

Russisches Seelenbild - Willenlose Seele und unendliche Ebene (Mangel jeder Vertikaltendenz) - Russisches Ursymbol

„Eine Wahlverwandtschaft zwischen der russischen und magischen Seele ist wohl zu fühlen, aber das Ursymbol des Russentums, die unendliche Ebene, findet wie religiös, so auch architektonisch noch keinen sicheren Ausdruck. Das Kirchendach hebt sich hügelartig kaum von der Landschaft ab, und auf ihm sitzen die Zeltdachspitzen mit den »Koschnicks«, welche das Aufstreben verschleiern und aufheben sollen. Sie steigen nicht auf wie gotische Türme und decken nicht zu wie die Kuppeln der Moschee, sondern sie »sitzen« und betonen damit das Horizontale des Baus, der lediglich von außen aufgefaßt sein will. Als der Synod um 1670 die Zeltdächer verbot und die orthodoxen Zweibelkuppeln vorschrieb, wurden die schweren Kuppeln auf schlanke Zylinder aufgesetzt, die in beliebiger Zahl (auf der Kirche in Kishi sind es 22) auf der Dachebene »sitzen«. Das ist noch kein Stil, aber das Versprechen eines Stils, der erst mit der eigentlich russischen Religion erwachen wird.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 259f.). „Die russische, willenlose Seele, deren Ursymbol die unendliche Ebene ist, sucht in der Brüderwelt, der horizontalen, dienend, namenlos, sich verlierend aufzugeben. .... Etwas davon liegt auch dem magischen Seelenbild zugrunde.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 394f.). Magisches Seelenbild

 

Slawen-Problem - Der verpaßte Geburtstermin -

Der russische Naturforscher und Kulturhistoriker N. J. Danilewski (1822-1885), ein früher Exponent des Panslawismus, sah im Slawentum den Erben der „abtretenden“ germanisch-abendländischen Kultur. Durch sein Werk Rußland und Europa (1869) wurde er zum Wegbereiter des militanten Panslawismus, in dem er Rußland die Aufgabe der politischen Vereinigung aller Slawen und dem „slawischen Kulturtyp“ unter russischer Führung die Aufgabe zuwies, das „alternde“, vom germanisch-romanischen Kulturtyp bestimmte Abendland, also Europa, abzulösen. Doch beide Aufgaben scheiterten und mündeten in Projekte, die nicht von Slawen, sondern von Germanen stammten, also Projekte des Westens waren und dadurch auch unter Aufsicht des Westens blieben, denn aus der westlichen Idee des Überbehütenden, insbesondere dem gut getarnten Kommunismus, entstand eine ebenso westlich gesteuerte „russische Revolution“, die aus dem russischen Lehnswesen einen ersten Lehnsstaat machte: die totalitäre Sowjetunion (). Aber das „russische Dilemma“ („Slawen-Problem“ Slawen-Problem) blieb bestehen. Die Überwindung des Kulturminderwertigkeitslomplexes scheiterte an der ihnen weit überlegenen germanisch-abendländischen Kultur!

 

Alle Kulturen, und zwar ausnahmslos, sind durch den vor-/urkulturen „Uterus“ gegangen, mit mehr oder weniger Immunität, und haben mit abenehmender Tendenz - vor allem frühkulturell, aber auch noch hochkulturell - weiterhin Immunität durch Behütung seitens ihrer Elternkulturen erfahren, besonders durch die jeweilige Mutterkultur, aber auch durch die jeweilige Vaterkultur. Alle Kulturen mußten durch die „Kinderstube“, und sie mußten auch noch in ihrer „Jugend“ die „Eltern“ anrufen und aufsuchen, besonders dann, wenn trotz Selbstversuch die Eltern für die Lösung der Probleme gerade gut genug waren. Zum Beispiel war die apollinische Kultur (Antike) vor ihrem „Erwachsensein“ von den beiden Elternkulturen Sumer und Ägypten (Tafel) zunächst hauptsächlich körperlich, dann hauptsächlich seelisch und schließlich hauptsächlich geistig abhängig. Dies alles aber nur in dem Maß, daß sie zunehmend selbständiger werden konnte. Das mag vielleicht trivial klingen, doch ein solcher Prozeß ist in seiner Wirklichkeit ein schmaler Grat, wenn er als Projekt erfolgreich sein soll. Auch das Abendland war vor seinem „Erwachsensein“ erst mehr und dann weniger abhängig von seinen beiden Elternkulturen Antike und Arabien (Tafel): zunächst hauptsächlich körperlich, nämlich in der „christlichen Welthöhle“ (dem „Uterus der magischen Kultur“), dann hauptsächlich seelisch, nämlich durch das von der magischen Kultur weitergegebene „Christus-Reich“ und die von der nun bereits verstorbenen apollinischen Kultur ererbten „Reichsidee“ (eine Mischung aus griechisch-hellenistischem Idealismus und römisch-kaiserlichem Imperium) und schließlich geistig, nämlich durch die Reformation oder andere Rückbesinnungen auf alte christlich-testamentarische Evangelien und durch die Renaissance oder andere antikisierende Formen (z.B. auch an der Architektur vom 16. bis 18. Jh. erkennbar: Villa, Tempel, Rundtempel, Wandelhalle u.s.w.). Der Prozeß verläuft stets umgekehrt (geistig-seelsich-körperlich), sobald er den Geist erfaßt hat und die Kulturen (d.h. ihre Menschen) plötzlich glauben, den Prozeß endgültig erfaßt zu haben, denn sie definieren sich stets zuerst über den Geist als „Erwachsene“, obwohl gerade der noch nicht erwachsen ist, aber immerhin bemerkt, daß die Seele kurz davor sein muß. Sie zielen auf ihre Seele ab, wenn sie geistig „das Erwachen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) bemerken. Erst nach diesem Erwachen ist ihre Seele erwachsen. (Beispiel). Die erwachsene Seele ist die Seele der Moderne. Und sie ist so, wie sie nun mal ist. Erwachsensein heißt nämlich nicht, komplett, vollständig oder gar fehlerlos zu sein. Erwachsensein ist lediglich erwachsenes Sein, also Erwachsen-Sein (wie Heidegger sagen würde). Jede Kultur hat von Beginn an eine Seele, aber wenn sie erwachsen ist, gibt es kein Zurück mehr. Seelenbild

Aber der kulturelle Geist ist erst dann erwachsen, wenn der erste Herbst in den zweiten Winter übergeht (vgl. kulturelle „Sonnenwende“ und „Schlüpfung“), wenn also das Erwachsene als das Zivilisierte die kulturelle Seele bereits zum Erstarren gebracht hat. Für eine werdende Kultur ist diese Zeit von größter Bedeutung, während eine alte Kultur, wenn sie den Winter „überleben“ und den überall lauernden Tod „überlisten“ will, den Weg zu einer neuen Kultur beschreiten muß - zum Schein (!), weil es um Ur-Sprung als Ur-Geburt geht. Wer die kulturelle Geburtenkontrolle beherrscht, kann zwar verhindern, daß eine neue Kultur entsteht, aber nicht, daß er selbst vergeht. (Zum Verständnis). Die Kultur, die Kulturgeburten verhindern will, muß sich deshalb zu dieser Zeit stets selbst als „Neu-Kultur“ () definieren oder zumindest: sich nach außen (scheinbar) als eine solche präsentieren. Dadurch erhöht sie ihre „Überlebenschancen“ und kann sich deshalb nur noch auf die andere Gefahr konzentrieren, nämlich die, die sie von außen erfährt. Der Antike ist das z.B. nur zum Teil geglückt, denn sie verstarb in ihrem zweiten Winter. (2. Winter der Antike). Indien, China und Arabien sind die bisher einzigen Kulturen, die es geschafft haben, ihren zweiten Winter zu überleben. (Vgl. Tafel ("8 Kulturen")). Im Falle Indiens war es der Hinduismus, im Falle Chinas der aus der indischen Kultur stammende (mit dem chinesischen Taoismus synthetisierte) Buddhismus und im Falle Arabiens der Islam, der das „Überleben“ sicherte. (Hinduismus, Buddhismus, Islam). Wenn man diese Entwicklungen auf die Zukunft des Abendlandes übertragen wollte, müßte man unseren lutherisch-calvinistischen Protestantismus (bzw. Puritanismus) und eventuell auch eine fremdkulturelle Religion in Betracht ziehen. Eine zweite Religiosität! (Zweite Religiosität). Anstelle der Begriffe Protestantismus und Puritanismus könnte man auch die des Humanismus und Rationalismus setzen. Manche sehen die eigentliche Religion der Abendländer auch im puren Kapitalismus und im Konsumismus deren erwachsene „Weltreligion“ (Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, 2002, S. 9 Konsumismus). Jedenfalls versuchen die Abendländer seit einger Zeit, sich neu zu orientieren, und zwar, wie sollte es anders sein, entsprechend dem Seelenbild und dem Ursymbol des Abendlandes: faustisch im räumlichen Unendlichkeitswahn (Seelenbild und Ursymbol), z.B. im Universal-Globalismus. (Zur aktuellen Phase (Globalismus)). Man kann nicht bestreiten, daß Abendländer, entweder als Universal-Weltler oder als Eurozentriker, stets die Anderen vergessen, wenn sie die Welt „verbessern“ wollen. Das wollen die Anderen auch, aber anders. Und wenn sie uns dabei vergessen? Clash

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Anmerkungen:


Kulturen und ihre Träger, die sich Menschen nennen, sind als Immunsysteme „geimpft“ worden - von wem auch immer. Sie entwickeln eigenständige Immunreaktionen, aus denen dann die verschiedenen „kulturellen Temperamente“ hervorgehen. Mehr zu diesem Thema

Vom 43. Jh. v. Chr. bis heute entwickelten sich deshalb nicht mehr als 8 Kulturen (ich definiere sie als Historienkulturen, Spengler definierte sie als „Einzelwelten des Werdens“), weil besonders für Menschen und ihre Kulturen gilt, daß das Verhältnis zwischen Geburten und Fehlgeburten „schief“ ist, und zwar zugunsten der Fehlgeburten! Zum Verständnis

Wie Menschen haben auch viele Kulturen die problematischen Erfahrungen in Brutkästen oder in Waisenhäusern machen müssen. Vielleicht haben Menschen, gearde weil sie in unterschiedlichen Kulturen aufwuchsen, die Institution Waisenhaus erfunden, und die abendländischen Menschen als die größten Techniker aller Zeiten dazu noch den Brutkasten. Aber als ein „Vorgriff“ hierauf oder als eine „kontrollierende Instanz“ gibt es beide schon viel länger. Kein Wunder, sind Kulturen, ja: ist Kultur selbst mit einem Brutkasten vergleichbar: „Das Metawerkzeug Kultur hat in seiner Gesamtheit die Wirkung eines Brutkastens, in dem ein Lebewesen chronisch das Privileg der Unreife genießen darf. Seit Julius Kollmann heißt die biologische Grundlage dieses Effekts Neotenie.“ Dank der Körperausschaltung (Distanz) „ist ein Lebewesen entstanden, „das es sich leisten kann, in seiner biologischen Ausstattung pluripotent, unspezialisiert, langfristig unreif und lebenslang juvenil zu bleiben - und all dies, weil die unvermeidliche Anpassung an den Umweltdruck vom Körper auf die Werkzeuge verschoben wurde.“  (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 368).

Lebensphilosophische Sprachspiele erlauben es, Kulturen als Lebewesen aufzufassen. Mehr zu diesem Thema

Zum Thema „Zur-Welt-Kommen“ vgl. z.B. Peter Sloterdijk (*26.06.1947).

Sloterdijk z.B. möchte Spenglers These, daß es bisher nur 8 Kulturen gab, nietzscheanisch-immunologisch auffassen (Mehr zu diesem Thema). „Nur in dieser kleinen Zahl von Fällen haben sich die hochkulturschöpferischen Immunreaktionen vollzogen, von denen jede einzelne einen unverwechselbaren Charakter besaß. Die acht hohen Kulturen wären demnach die Abwicklung lokaler Immunreaktionen. .... Man darf sich von Spenglers botanischen Metaphern nicht in die Irre führen lassen. Seine Kulturen sind nicht so sehr Pflanzen höchster Ordnung, wie er vorgibt, sondern Generationsprozesse über dem Input einer schöpferischen Immunantwort, die sich immer mehr formalisiert, bis zur Erstarrung. ... Spengler gibt sein Bestes, darüber sind sich auch seine skeptischen Leser einig, wenn er über die faustische und die arabische Kultur spricht.“ (Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 226). „Spenglers zentrale Denkerfahrung liegt in der Beobachtung, daß Formen ein Eigenleben haben - sein ganzes Genie steckt in diesem Motiv. .... Die Form, die Spengler vor allem interessiert, ist das, was er eine Kultur nennt. Nun ist Spenglers Formbegriff, der über Goethes Idee der Urpflanze bis auf die aristotelische Zoologie zurückgeht, durch und durch organologisch geprägt, er gehört zu einem lebensphilosophischen Sprachspiel, in dem das Leben als Substanz betrachtet wird und die Individuen als Akzidentien. Nur darum konnte Spengler die von ihm so genannten Kulturen als »Lebewesen höchsten Ranges« bezeichnen. Er meint damit, daß es ein Gestaltgesetz gibt, ein strukturelles Muß, welches bewirkt, daß in einer Kultur an dieser oder jener Stelle ihres Gestaltbogens nur Ereignisse, Akteure und Institutionen von einer gewissen formal vorherbestimmten Qualität auftreten müssen und keine anderen. Man kann dieser Idee eine gewisse logische Mächtigkeit nicht absprechen ....“ (Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 177-178). - (Vgl. Spenglers Frage: „Gibt es eine Logik der Geschichte? Gibt es jenseits von allen Zufällen und Unberechenbaren der Einzelereignisse eine sozusagen metaphysische Struktur der historischen Menschheit, die von den weithin sichtbaren, populären geistig-politischen Gebilden der Oberfläche wesentlich unabhängig ist?“ Spengler; und vgl. Spenglers Danksagung: „Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen ....“ Spengler). - Sloterdijk rät: „Man sollte Spengler progressiv fruchtbar machen und ihn als einen Experten in Primärraumfragen hören.“ (Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 228). Sloterdijk würdigt Spengler als einen der bedeutendsten Theoretiker des Raums.

Urpflanze ist ein Begriff aus der Naturbetrachtung Goethes für das Urbild (Idee, begriffliche Urgestalt), nach dem alle anderen Pflanzenarten durch Abwandlungen entstanden sein sollen. Goethe suchte die Urpflanze in der Natur als eine noch unbekannte Art, oder auch etwa in der Grundgestalt eines Blattes oder eines Stammes zu finden, während Schiller in einem Gespräch mit ihm darüber auf den platonischen Ideencharakter der Urpflanze hinwies. (Vgl. Urphänomen).

Urphänomen ist nach Goethe das empirische Phänomen, das jeder Mensch in der Natur erkennen kann und das durch Versuche zum wissenschaftlichen Phänomen erhoben wird, indem man es unter anderen Umständen und Bedingungen und in einer mehr oder weniger glücklichen Folge darstellt, so daß zuletzt das reine Phänomen als Resultat aller Erfahrungen und Versuche dasteht. Es ist ideal als das letzte Erkennbare, real als erkannt, symbolisch identisch mit allen Fällen, weil es alle Fälle begreift. (Vgl. Urpflanze).

„Die arabische Kultur bleibt problematisch, weil sie nie einen eigenen Körper ausbilden, sich nie überzeugend territorialisieren konnte und darum nur als höhere Gespenstergeschichte möglich war - Spengler nennt das vornehm eine Pseudomorphose. Vergessen wir nicht, daß nach ihm das Christentum in seinem ersten Zyklus nur eine Metastase der übervölkisch herumspukenden arabischen Seele gewesen sein soll.“ (Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 226-227). Arabien

„Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt.“  (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 784). Auch eine junge Kultur kann so mächtig sein, daß sie eine alte dort, wo sie zu Hause ist, überlagert. Das Beispiel zwischen der (alten) apollinischen Kultur, auch kurz „Antike“ genannt, und der (jungen) magischen Kultur, auch „Persien/Arabien“ genannt, macht es deutlich: „Solange die Antike sich seelisch aufrecht hielt, bestand die Pseudomorphose darin, daß alle östlichen Kirchen zu Kulten westlichen Stils wurden. Dies ist eine wesentliche Seite des Synkretismus. .... Mit dem Hinschwinden der apollinischen und dem Aufblühen der magischen Seele seit dem zweiten Jahrhundert kehrt sich das Verhältnis um. Das Verhängnis der Pseudomorphose bleibt, aber es sind jetzt Kulte des Westens, die zu einer neuen Kirche des Ostens werden. Aus der Summe von Einzelkulten entwickelt sich eine Gemeinschaft derer, welche an diese Gottheiten und Übungen glauben, und nach dem Vorgange des Persertums und Judentums entsteht ein neues Griechentum als magische Nation.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 800-801).

Oswald Spengler (1880-1936), Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 788. Beispiele für die „faustische Seele, deren Ursymbol der reine grenzenlose Raum und deren Leib die abendländische Kultur ist“ (ebd., S. 234), findet man in Spenglers Werk zuhauf. (Seelenbild und Ursymbol). Alle abendländischen Projekte sind laut Spengler Entwürfe „von einem riesenhaften Wollen“ (ebd., S.238), die sich natürlich auch an der Sprache erkennen lassen, denn schon früh begann die faustische Seele, ererbte Formen für sich umzuprägen, d.h. ins Abendländische zu übersetzen, z.B. „grammatische Zeichen verschiedenster Herkunft“, und z.B. durch das Hervorrufen des „»Ich«“, als „Idee der Persönlichkeit“. Auch ersetzte z.B. „»ego habeo factum«, die Einschaltung der Hilfszeitwörter haben und sein zwischen einen Täter und eine Tat an Stelle des feci, eines bewegten Leibes, ... die Welt von Körpern durch eine solche von Funktionen zwischen Kraftmittelpunkten, die Statik des Satzes durch Dynamik.“ (Ebd., S. 335-336). Seelenbild und Ursymbol

„Die faustische, westeuropäische Kultur ist vielleicht nicht die letzte, sicherlich aber die gewaltigste, leidenschaftlichste, durch ihren inneren Gegensatz zwischen umfassender Durchgeistigung und tiefster seelischer Zerissenheit die tragischste von allen. Es ist möglich, daß noch ein matter Nachzügler kommt, etwa irgendwo zwischen Weichsel und Amur und im nächsten Jahrtausend, hier aber ist der Kampf zwischen der Natur und dem Menschen, der sich durch sein historisches Dasein gegen sie aufgelehnt hat, praktisch zu Ende geführt worden.“ (Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik - Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, 1931, S. 63).

Oswald Spengler (1880-1936), Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 789.

Oswald Spengler (1880-1936), Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 789-790.

Oswald Spengler (1880-1936), Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 790.

Oswald Spengler (1880-1936), Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922, S. 791-792 und S. 794.

Diese Krankheit ist in etwa das, was nach Oswald Spengler eine historische „Pseudomorphose“ ist. Es sei hier jedoch darauf hingewiesen, daß meine Definition für Pseudomorphose davon ein wenig abweicht, denn für mich ist sie gleichbedeutend mit „Schwangerschaft, und zwar in zweifacher Hinsicht, nämlich die Bedeutung einer Schwangerschaft für: a) die werdenden Eltern (Eltern-Kulturen bzw. Spätkulturen), b) die werdenden Kinder (Kind-Uterus-Kulturen bzw. Vor-/Urkulturen). Für mich gehören Pseudomorphosen, von denen alle betroffen sein können, also sowohl Vor-/Urkulturen und Spätkulturen als auch Frühkulturen und Hochkulturen, eher in die Kategorie der Krankheit, genauer: der Immunitätsprobleme. Immunität

Nach Heidegger (26.09.1889 - 26.05.1976) entspringt das Sein aus dem „Nichten“ des „Nichts“, indem das Nichts das Seiende versinken läßt und dadurch das Sein enthüllt.

Elternkulturen der Antike: „Vaterkultur“ Ägypten (konservierende Kultur, Weg [Pyramide, Nil] als Ursymbol) und „Mutterkultur“ Sumer (mesopotamische Kultur, Mauer [Tempel, Kreis, Verwaltung] als Ursymbol). Elternkulturen des Abendlandes: „Vaterkultur“ Antike (apollinische Kultur, Ursymbol Einzelkörper) und „Mutterkultur“ Arabien (magische Kultur mit dem Ursymbol Welthöhle), d.h besonders die Komponente Christentum innerhalb des Monotheismus. Die spannende Frage ist, ob auch das Abendland und mit ihm welche andere Kultur zu Elternkulturen werden oder bereits geworden sind. Man kann das deshalb noch nicht wissen, weil ja Kulturen nicht so direkt beobachtbar und feststelltbar sind wie die Lebewesen, die ihre Träger sind. Jedenfalls wäre für die russisch-slawische (nordasiatische) Kultur, wenn es sie tatsächlich geben sollte, die abendländische (westeuropäisch-nordamerikanische) Kultur - der „Nordwesten“ sozusagen - die Vaterkultur, d.h. eine der beiden Elternkulturen, jedenfalls ein „Elter“. Vgl. Eltern (Gen-Code) und Kontrollgene.

Seelenbild der Antike und Seelenbild des Abendlandes sind gegensätzlich: apollinisch und faustisch; ihre Ursymbole ebenfalls: Einzelkörper und Unendlicher Raum. Wie ein Dogma gegenüber aller Erfahrung, gelten auch Seelenbild und Ursymbol allgemein als unbeweisbar, deshalb sei hier darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen Antike und Abendland sogar am Beispiel „Parallelenaxiom“ deutlich werden kann: Euklid hat in seinen „Elementen“ (um 312 v. Chr.) die mathematische Entsprechung für das antike Beispiel gegeben und Gauß ca. 2112 Jahre später (um 1800) die für das abendländische. Sie stehen - wie unzählige andere Beispiele auch - für einen metaphysischen Mittelpunkt, um den eine Kultur kreist, während sie von Seelenbild und Ursymbol angetrieben und angezogen wird. (Vgl. Oswald Spengler, 1917, S. 155, 227ff., 234, 390). Vgl. dazu auch das Germanentum.

Das Seelenbild der magischen Kultur ist ein dualistisches: Geist und Seele, ihr Ursymbol die Welthöhle. (Vgl. Spengler, 1922, S. 847f.).

Römisch-katholische Interpretationen attestieren dem Abendland zumeist, daß in ihm die Dominanz des Christlichen überwiege. Diese Meinung teilen vor allem kirchliche und vornehmlich christlich orientierte Vertreter. Theodor Heuss (31.01.1884 - 12.12.1963) soll einmal gesagt haben, daß Europa von 3 Hügeln ausgegangen sei: von der Akropolis, von Golgatha und vom Kapitol. Diese Sichtweise würde eher, wenn vielleicht auch nicht beabsichtigt, auf eine Dominanz der Antike verweisen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß aus einem antik-apollinischen Einzelkörperund einer magisch-seelengeistigen Welthöhle ein abendländisch-faustischer Unendlichkeitsraum entstehen kann, dann muß unbedingt ein dritter Faktor hinzukommen, den ich die Kulturpersönlichkeit nenne: das Germanentum. Ohne das Germanentum versteht man die Willensdynamik eines Faust nicht, und ohne das germanische Element ist die Raumtiefe, aber auch die in jeder Hinsicht sowohl ins Mikrokosmische als auch ins Makrokosmische gehende Unendlichkeit nicht als distinktives Merkmal der abendländischen Kultur zu identifizieren. Diese Merkmale treffen auf keinen antiken Menschen zu, aber insbesondere auf die Abendländer, die germanischen Ursprungs sind (Germanen). Scharfe Gegensätze, wie die zwischen Antike und Abendland, sind zwar unbedingt ein Indiz für Verwandtschaft, weil beide Kulturen so auffallend gegensätzlich sind: aktiv und reaktiv. Offenbar hat die Antike auf das Abendland aber nicht persönlichkeitsstiftend gewirkt und konnte auch erzieherisch nicht tätig werden, weil sie so früh verstarb. Die Biogenetik und Sozialisation geraten nicht selten so weit auseinander, wenn ein Elternteil früh verstirbt, d.h. nicht wirklich erlebt wird. Dem Abendland scheint es auch so ergangen zu sein. Die Auseinandersetzungen mit der magischen Mutter hat beim Kind jedoch zu einer enormen, fast schon verdächtigen Erinnerung bis hin zur Vergötterung des antiken Vaters Beitrag geleistet. Aber liegt deshalb immer auch schon ein Vaterkomplex vor? Es bleibt zunächst festzuhalten, daß auch kulturell zwischen Genetik und Sozialisation, zwischen Anlage und Umwelt, zwischen angeboren und anerzogen ganz klar unterschieden werden muß. Dazwischen bewegt sich die Persönlichkeit. Man kann sie nicht isolieren, folglich auch nicht isoliert betrachten, aber man kann sie beschreiben, und ich beschreibe die Kulturpersönlichkeit des Abendlandes als germanisch, weil dieser Raum zwischen Anlage und Umwelt für die Kulturpersönlichkeit zwanghaft unendlich werden muß, wenn sie die verlorene Vaterkultur zurückholen will. Der unendliche Raum und Wille sind auch deshalb Ursymbol und Urwort des Abendlandes. Wenn der Mensch eine Grundlage von etwa 60 Billionen Zellen hat und einer Umwelt von praktisch unendlicher Vielfalt ausgesetzt ist, so gilt für eine Kultur, daß sie Völker, Staaten oder Nationen zur Grundlage hat und einer Umwelt von unendlichen Möglichkeiten, aber auch gähnender Leere gegenübersteht. Mit dem Germanentum fiel eine faustische Entscheidung zugunsten der unendlichen Möglichkeiten. Die Eltern des Abendlandes waren also antik-magisch, ihre gentragenden Chromosomen römisch-christlich, aber die Kontrollgene germanisch.

Zum Vergleich die antike Vor-/Urkultur und die abendländische Vor-/Urkultur:

Zum Vergleich die antike Frühkultur und die abendländische Frühkultur:

Zum Vergleich die antike Hochkultur und die abendländische Hochkultur:

Zum Vergleich die antike Spätkultur und die abendländische Spätkultur:

Zum 1. kulturellen Winter vgl. Vor-/Urkultur. Der 2. kulturelle Winter ist dagegen ein zivil-erwachsener Winter, d.h. ein Zivilisationswinter, wie ihn z.B. die Antike in der Zeit, als z.B. Marc Aurel r(egierte 161-180) oder Diokletian (regierte 284-305) herrschten und der Tod der antiken Kultur bereits an ihre Haustür klopfte. Die Antike starb in ihrem 2. Winter, sie hat dessen Ende also nicht mehr erlebt. Das haben bisher nur drei Kulturen geschafft: Indien, China, Arabien. (Vgl. Tafel ("8 Kulturen")). Dagegen steht das Abendland heute erst am Anfang der letzten Phase ihres kulturellen Herbstes (vgl. Spätkultur). 22-24

Es waren Germanen, die Europa gründeten (Germanen). Germanische Schriftquellen sind uns überliefert seit dem 2. Jahrhundert vor Christus als Runenschriften auf Waffen oder Schmuckstücken und seit dem 4. Jh. n. Chr. auch als literarisch umfassendere Schriftquellen, z.B. die gotische Bibel von Wulfila (ca. 311-383). Germanische Historiographie gibt es etwa seit dem 5. / 6. Jh. n. Chr., die auch die germanischen Anfänge zu schildern versuchte, über Jahrhunderte zurückgriff, aber eher Sagen als Historie hinterließ. Nicht Sage, sondern historische Tatsache ist, daß die Germanen die Gründer Europas sind. Kontrollgene sind, wie „Kybernetiker“, auch Begründer bzw. Gründer. Kontrollgene

Schon sehr alt war die Geschichte der Germanen, als sie mit der Geschichte der Antike in Berührung kam. (Germanen). Doch die Geschichte des Abendlandes wurde erst möglich, nachdem die drei unentbehrlichen Faktoren aufeinander getroffen waren: Germanentum, Römerreich, Christenheit. Hierbei spielte auch die „Mythomotorik“ eine Rolle. Vor allem der Gedanke an ein Reich spielte von Beginn an eine ganz besonders wichtige, weil „kulturgenetisch“ bedingte Rolle, nämlich reichshistorisch (römisch), reichsreligiös (christlich) und reichskybernetisch (germanisch), denn eine „Kultur“ kann nur dann Kultur werden, wenn sie auch sich selbst steuern kann. Ohne die Germanen gäbe es keine Abendland-Kultur, kein Europa. Ohne die Germanen hätte sich das Abendland nicht zu einer selbständigen Kultur entwickeln können. Die Germanen sind die Gründer Europas.

Die Goten in Spanien (also die Westgoten) entwickelten den Hufeisenbogen. Das, was oftmals maurisch genannt wird, ist in Wahrheit gotisch, genauer: westgotisch. Karte

Während des Zerfalls der Karolingermacht im 9. Jh. erstarkten in den Abwehrkämpfen die deutschen Stammesherzogtümer: Sachsen, Bayern, Schwaben, Lothringen, Franken, Thüringen. Allerdings bildeten die Franken und die Thüringer kein geschlossenes Stammesherzogtum.

Als „das Kind“ (Ludwig IV.; *893, †911) regierte (900-911), führte das Versagen der königlichen Zentralgewalt gegenüber den Angriffen der eindringender Feinde (Ungarn, Normannen) zur endgültigen Bildung der 6 deutschen Stammesherzogtümer: Sachsen, Thüringen, Bayern, Schwaben, Franken, Lothringen. (Stammesherzogtümer) Die Franken (das „Reichsvolk“) bildeten allerdings, wie die Thüringer, kein geschlossenes Stammesherzogtum. Ludwig IV. („das Kind“) war der letzte in Deutschland regierende Karolinger. Nach dem Aussterben der deutschen (ostfränkischen) Karolinger wählten die Großen des Deutschen Reiches in Forchheim Konrad I. von Franken (aus dem Geschlecht der Konradiner) zum König. Konrad I. regierte von 911 bis 918 und versuchte, die zentralisierende Politik der deutschen Karolinger weiterzuführen, scheiterte aber an der Opposition der Stammesherzogtümer Sachsen, Schwaben, Bayern. Während der Frankenkönig Konrad I. sich im Kampf gegen die Stämme auf die Bischöfe stützte, lehnte der Sachsenkönig Heinrich I., der von 919 bis 936 regierte, nach der Wahl Salbung und Krönung ab und wollte als Volksherrscher mit den Herzögen zusammenarbeiten. Zuerst nur von Franken und Sachsen anerkannt, beseitigte er allmählich auch die Opposition der oberdeutschen Stämme. Durch seinen Tod wurden ein Romfeldzug und die Gewinnung der Kaiserkrone verhindert. Dies änderte erst sein Sohn, denn Otto I. sicherte als erster sächsischer Kaiser (von 962 bis 973) sich und allen folgenden Sachsenkaisern die Rechtsnachfolge des fränkischen Imperiums, und erst durch Otto I. erhielten die Sachsenkaiser die Oberhoheit über das „Patrimonium Petri“ sowie die Schutzherrschaft über die Kirche, die ihrerseits Verfechterin der Reichseinheit war. (Vgl. Reichskirchenpolitik bzw. Reichskirchensystem). Von 962 an, als Otto I. (deutscher König seit 936) auch König des langobardisch-italienischen Reiches und römisch-deutscher Kaiser wurde, blieb Italien bis 1268 unter deutschen Kaisern: unter deutscher Herrschaft. Vgl. Chronik

Der Puritanismus ging aus der Reformation, insbesondere aus dem Calvinismus hervor. Der Calvinismus, anfangs ein antischolastischer Humanismus, machte die Prädestination zu seinem Inhalt und Mittelpunkt. Diese Prädestination, die man auch Prädetermination nennt, meint die Vorbestimmung des Menschen schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschbaren Willen, und zwar entweder als Gnadenwahl zur Seligkeit ohne Verdienst oder als Prädamnation zur Verdammnis ohne Schuld. Sie wurde schon von Augustinus (354-430) gelehrt und nach ihm von Luther (1483-1546), Zwingli (1484-1531), Calvin (1509-1564) und dem Jansenismus (nach Cornelius Jansen, 1585-1638). Auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Calvinismus, besonders aber dem aus ihm entwickelten Puritanismus, und dem modernen Kapitalismus der abendländischen Kultur hat vor allem Max Weber (1864-1920) hingewiesen. (Max Weber und seine Religionssoziologie). Die Puritaner (die „Reinen“) sind die Vertreter einer Reformbewegung, die besonders in England seit etwa 1570 die Reinigung der englischen Kirche von katholisierenden Elementen in Verfassung, Kultus und Lehre betrieben. Strenger Biblizismus, eine Gewissenstheologie und die konsequente Sonntagsheiligung beeinflußten das englische Geistesleben bis in die Gegenwart. Die Puritaner brachten eine ausgedehnte Erbauungs- und Predigtliteratur hervor. 1604 wurden sie durch die Ablehnung ihrer „Millenary Petition“ enttäuscht, wandten sich der politischen Opposition zu oder emigrierten in großer Zahl nach Nord-Amerika. Mit dem Sieg Oliver Cromwells (1599-1658) 1648 zur Herrschaft gelangt, beseitigten die Puritaner das „Common Prayer Book“ und das Bischofsamt, vertrieben anglikanische Pfarrer, entfernten die Orgeln aus den Kirchen u.a.. Nach der Restauration der Stuarts wurden die Puritaner ihrerseits rigoros aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt - bis zur Toleranzakte von 1689. Die englischen Puritaner waren und sind also Vertreter eines speziellen Puritanismus. Diesen „Insel-Puritanismus“ der Engländer kann man auch „Angelsachsen-Puritanismus“ nennen. Für den Puritaner ist das genaue Gegenteil der „Weltfreude“ charakteristisch. Die „Weltfremdheit“ gehört zu den wichtigsten Charakterzügen des Puritanismus. Max Webers Beispiele „zeigen alle das eine: »der Geist der Arbeit«, des »Fortschritts« oder wie er sonst bezeichnet wird, dessen Weckung man dem Protestantismus zuzuschreiben neigt, darf nicht, wie es heute zu geschehen pflegt, als »Weltfreude« oder irgendwie sonst im »aufklärerischen« Sinn verstanden werden. Der alte Protestantismus der Luther, Calvin, Knox, Voët hatte mit dem, was man heute »Fortschritt« nennt, herzlich wenig zu schaffen. Zu ganzen Seiten des modernen Lebens, die heute der extremste Konfessionelle nicht mehr entbehren möchte, stand er direkt feindlich. Soll also überhaupt eine innere Verwandtschaft bestimmter Ausprägungen des altprotestantischen Geistes und moderner kapitalistischer Kultur gefunden werden, so müssen wir wohl oder übel versuchen, sie ... in seinen rein religiösen Zügen zu suchen.“ (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904, S. 37-38). Laut Weber ist im Abendland nämlich vor allem die Frömmigkeit (der Pietismus) das „rein religiöse“ Glied - als Berufung (Beruf) - zwischen dem alten Protestantismus bzw. Puritanismus und dem modernen Kapitalismus: Abendländischer Kapitalismus ist laut Weber nämlich eigentümlich, hat ein eigentümliches Ethos. Allgemein ist Kapitalismus kein Charakteristikum einzelner (Historien-)Kulturen, sondern der Menschen-Kultur überhaupt: „Aber eben jenes eigentümliche Ethos fehlte ihm .... In der Tat: jener eigentümliche, uns heute so geläufige und in Wahrheit doch so wenig selbstverständliche Gedanke der Berufspflicht: einer Verpflichtung, die der Einzelne empfinden soll und empfindet gegenüber dem Inhalt seiner »beruflichen« Tätigkeit, gleichviel, worin sie besteht, gleichviel insbesondere, ob sie dem unbefangenen Empfinden als reine Verwertung seiner Arbeitskraft oder gar nur seines Sachgüterbesitzes (als »Kapital«) erscheinen muß: - dieser Gedanke ist es, welcher der »Sozialethik« der kapitalistischen Kultur charakteristisch, ja in gewissem Sinne für sie von konstitutiver Bedeutung ist. - .... - Arbeit als Selbstzweck, als »Beruf«, wie sie der Kapitalismus fordert .... Die kapitalistische Wirtschaftsordnung braucht diese Hingabe an den »Beruf« des Geldverdienens: sie ist eine Art des Sichverhaltens zu den äußeren Gütern, welche jener Struktur so sehr ädaquat, so sehr mit den Bedingungen des Sieges im ökonomischen Daseinskampfe verknüpft ist ....“ (Max Weber, ebd., 1904, S. 43, 45, 53, 61). Innerweltliche Askese bedeutet bei Max Weber die Verwendung der durch Ablehnung der religiösen Askese frei gewordenen Energie in der Berufsarbeit, wie eben besonders gefordert und gefördert durch den Puritanismus.  Puritanismus

„Beruf“ (NHD; aus MHD: „beruof“, „Leumund“) - die neuhochdeutsche Bedeutung hat Martin Luther (1483-1546) geprägt! In der Bibel benutzte er es zunächst als „Berufung“ durch Gott für klesis (griech.) bzw. vocatio (lat.), dann auch für Stand und Amt des Menschen in der Welt, die schon Meister Eckhart (1250-1327) als göttlichen Auftrag erkannt hatte. Dieser ethische Zusammenhang von Berufung und Beruf ist bis heute wirksam geblieben, wenn das Wort jetzt auch gewöhnlich nur die bloße Erwerbstätigkeit meint. „Nun ist unverkennbar, daß schon in dem deutschen Worte »Beruf«, ebenso wie in vielleicht noch deutlichere Weise in dem englischen »calling«, eine religiöse Vorstellung: - die einer von Gott gestellten Aufgabe - wenigstens mitklingt und, je nachdrücklicher wir auf das Wort im konkreten Fall den Ton legen, desto fühlbarer wird. Und verfolgen wir nun das Wort geschichtlich und durch die Kultursprachen hindurch, so zeigt sich zunächst, daß die vorwiegend katholischen Völker für das, was wir »Beruf« (im Sinne von Lebensstellung, umgrenztes Arbeitsgebiet) nennen, einen Ausdruck ähnlicher Färbung ebenso wenig kennen wie das klassische Altertum, während es bei allen vorwiegend protestantischen Völkern existiert. Es zeigt sich ferner, daß nicht irgendeine ethnisch bedingte Eigenart der betreffenden Sprachen, etwa der Ausdruck eines »germanischen Volksgeistes« dabei beteiligt ist, sondern daß das Wort in seinem heutigen Sinn aus den Bibelübersetzungen stammt, und zwar aus dem Geist der Übersetzer, nicht aus dem Geist des Originals. Es erscheint in der lutherische Bibelübersetzung zuerst an einer Stelle des Jesus Sirach (11,20,21) ganz in unserem heutigen Sinn verwendet zu sein.“ (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904, S. 66). Seit Luther also gibt es das Wort „Beruf“ in der noch heute gültigen Bedeutung: die hauptsächliche Erwerbstätigkeit des Einzelnen, die auf dem Zusammenwirken von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten beruht (also auf Bildung bzw. Ausbildung) und durch die er sich in die Volkswirtschaft eingliedert. Der Beruf dient meist der Existenzbasis. Es war vor allem der Protetestantismus mit seiner Askese (vgl. Puritanismus), der die sittliche Leistung der Arbeit stark betonte und den Beruf zum Gebot der Pflichterfüllung steigerte. Diese Haltung hat sich als Berufsethos, als innere, enge Verbundenheit des abendländischen Menschen mit seinem Beruf erhalten. Moderne Antriebe zur Verweltlichung gingen vom Deutschen Idealismus aus, der im Beruf das Postulat der Persönlichkeitsentfaltung entdeckte.

„Es ist bewunderungswürdig, mit welcher Sicherheit der englische Instinkt aus der ... ganz doktrinären und kahlen Lehre Kalvins sein eignes religiöses Bewußtsein formte. Das Volk als Gemeinschaft der Heiligen, das englische insbesondere als das auserwählte Volk, jede Tat schon dadurch gerechtfertigt, daß man sie überhaupt tun konnte, jede Schuld, jede Brutalität, selbst das Verbrechen auf dem Wege zum Erfolg ein von Gott verhängtes und von ihm zu verantwortendes Schicksal - so nahm sich die Prädestination im Geiste Cromwells und seiner Soldaten aus. Mit dieser unbedingten Selbstsicherheit und Gewissenlosigkeit des Handelns ist das englische Volk emporgestiegen.“ (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 41 Spengler). Wenn in England die Tat oder die Arbeit „für sich“ und daher der persönliche Erfolg als göttliches Zeichen der Erlösung heilig ist, so in Preußen die Tat oder die Arbeit „für andere“. So formuliert es Ehrhardt Bödecker. „Die Bezeichnung Pietismus, ursprünglich ein akademischer Spitzname für Streber und Pedanten, haben die Calvinisten in Halle von den orthodoxen Lutheranern in Leipzig erhalten.“ (Ehrhardt Bödecker, Preußen und die Wurzeln des Erfolgs, 2004, S. 113). Halle fiel 1680 an Brandenburg-Preußen (Preußen), August Hermann Francke (1663-1727) wurde zum Hauptvertreter des Pietismus in Halle und dadurch auch in Brandenburg-Preußen - seit der Königskrönung (1701) hieß es nur Preußen. Nicht der englische Kapitalismus, sondern der preußische Pietismus - der soziale Gemeingeist - führte zur modernen Sozialversicherung. Nicht England mit seinem eigenbrötlerischen Parlamentarismus, sondern Deutschland mit seinem sozialen Gemeingeist hatte die weltweit erste soziale Versicherungsgesetzgebung. Was wir heute als Soziale Marktwirtschaft oder etwas ungenau als Rheinischen Kapitalismus bezeichnen, ist nur sekundär rheinisch und primär preußisch (Preußen), also insgesamt als deutsch zu bezeichnen: Deutscher Kapitalismus ist Deutsche Marktwirtschaft, weil sozial! Gerechtigkeit ohne Gemeingeist gibt es nicht.

Puritanismus und Malthusianismus, Darwinismus bzw. Sozialdarwinismus (bzw. Soziobiologismus) sind durchaus verwandt. Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Johannes Calvin (1509-1564), der von Martin Luther (1483-1546) beeinflußt war, und Charles Darwin (1809-1882), der von Thomas Malthus (1766-1834) beeinflußt war (MalthusMalthus und Darwin), und in den angelsächsischen Ländern, gerade auch seit Herbert Spencer (1820-1903), faßt man ja „die Auslese als einen individuellen Kampf ums Dasein auf (Kampf ums Dasein), der - weil quasi naturrechtlich den Abläufen inhärent - an und für sich nützlich und wünschenswert sei. Insbesondere dürfe er nicht durch staatliches - etwa sozialpolitisches - Eingreifen behindert werden. Die weitreichende Rezeption solcher Ideen wurde wohl auch dadurch gefördert, daß sie mit dem Puritanismus kompatibel waren. Wegbereitend für diese Koexistenz wirkte hier - worauf Max Weber (1864-1920) mit Nachdruck hinwies - im Grunde bereits die Prädestinationslehre des schweizerischen Reformators Johannes Calvin. Calvins Auffassung von der göttlichen Vorsehung unterschied sich scharf von der katholischen Lehre der Werkgerechtigkeit und nahm ethische Grundprinzipien vorweg, wie sie charakteristisch werden sollten für den englischen Puritanismus und den modernen Kapitalismus westlicher Prägung. Das Schicksal eines Menschen galt Calvin als schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschlichen Willen vorherbestimmt: entweder- ohne Verdienst - als Gnadenwahl zur Seligkeit, oder - ohne Schuld - als Prädamnation zur Verdammnis. Ihren irdischen Status quo verdankten die Menschen daher allein Gottes freier Entscheidung. Diese Lehre deckt sich mit Extrempositionen, die sich Spencers Nachfolger zu eigen machen. sollten - beispielsweise wenn das besitzlose Proletariat als ein Rückstandsprodukt der »natürlichen Auslese« erscheint und das Zugrundegehen der Armen als ein Naturgesetz. Insbesondere der (us-)amerikanische Sozialdarwinismus - wie ihn etwa William Graham Sumner (1840-1910) an der Yale-Universität und William James (1842-1910) an der Harvard-Universität propagierten - machte in letzter Konsequenz den gesellschaftlichen Erfolg von Individuen oder den geschichtlichen Erfolg von Gruppen zum Kriterium der Lebensbewährung und biologischen Wertigkeit, baute er doch auf folgende Argumentationsstränge: (A) Struggle tor existence und survival of the fittest sind ein Teil der Gesamtökonomie der Natur. Da die menschliche Gesellschaft ihrerseits Teil der Natur ist, gelten auch für sie eben diese Naturgesetze. (B) Die Menschen sind von Natur aus ungleich, weshalb die soziale Stufenleiter diese Ungleichheit widerspiegelt. (C) Da der soziale Fortschritt sich nach Naturgesetzen vollzieht, soll man ihn ungehindert vonstatten gehen lassen. (D) Hieraus resultiert eine streng deterministische Auffassung der Gesellschaft. Staatliche Interventionen sind in gewissem Sinne gegen die Religion, da das Walten der Naturgesetze mit dem Willen Gottes zusammenfällt (vgl. Wilhelm E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, 1984, S. 110-115). Auch dem Lebenswerk von Darwins Vetter Francis Galton (1822-1911) liegen sozialdarwinistische Ideen zugrunde. Seine auf das Zustandekommen von Hoch- und Höchstbegabungen ausgerichteten Familienstudien überzeugten Galton davon, die Erblichkeit habe für schöpferische Leistungen mehr Bedeutung als die Umwelt. Die Auffassung, nature dominiere über nurture, machte Galton zum Begründer der Eugenik. Der Darwinsismus wurde also in dem Moment zum Steinbruch von Moral und Ideologie, als die Spenceristen und Sozialdarwinisten aus dem survival of the fittest unbedenklich ein survival of the best machten.“ (Volker Sommer, Grundzüge des Sozialdarwinismus, in: Soziobiologie: Wissenschaftliche Innovation oder ideologischer Anachronismus?, in: Eckart Voland, Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel, 1992, S. 54-56 Quelle). Wie schon gesagt: Darwin war Malthusianer oder zumindest doch sehr stark von Malthus beeinflußt; Spencer war Darwinianer bzw. Darwinist in dem Sinne, als daß er Darwins Theorie ausbaute und zum Hauptvertreter des Evolutionismus wurde; der Evolutionismus und der Sozialdarwinismus sind verwandt, doch der Sozialdarwinismus ist wohl eher, jedenfalls wenn man ihn als ein Extrem der Soziobiologie verstehen will, als Soziobiologismus zu bezeichnen. MehrMehrMehr

Die typisch angelsächsische Vorstellung, die „Auslese“ sei nur  (nur!)  ein „individueller Kampf ums Dasein“, ist nicht richtig, also auch wissenschaftlich nicht haltbar. (Mehr). Früher hieß es z.B., daß neue Arten spontan durch Mutation(en) entstünden, also demnach die Artbildung (Speziation) eine spontane Entwicklung sei und von den einzelnen „Individuen“ ausginge; doch wir wissen längst, daß die weitaus häufigste Form der Artbildung auf den allmählichen Wandel ganzer Populationen beruht. Außerdem „ist der temporäre Verzicht auf direkte eigene Reproduktion bei gleichzeitiger Unterstützung der Aufzucht genetisch naher Verwandter mittlerweile von etlichen Tierarten bekannt - beispielsweise bei einigen Vogelarten, wo die älteren Geschwister - anstelle selbst ein Nest zu bauen - ihren Eltern bei der Aufzucht jüngerer Geschwister helfen. Hamiltons Prinzip der kin selection ließ sich ebenfalls bei taxonomisch so verschiedenen Gruppen wie Hautflüglern, Zwergmungos, Nacktmullen, Wildhunden oder Krallenaffen nachweisen, bei denen sich einige Individuen unter Verzicht auf direkte Reproduktion als »Helfer-am-Nest« betätigen.“ (Volker Sommer, Grundzüge des Sozialdarwinismus, in: Soziobiologie: Wissenschaftliche Innovation oder ideologischer Anachronismus?, in: Eckart Voland, Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel, 1992, S. 69 Quelle). Der Fortpflanzungserfolg - quantitativ ausgedrückt: die Anzahl der Nachkommen - ist das Maß für die biologische Fitneß als Währung(seinheit) der Evolution. Manche Biologen formulieren verkürzter: „Die Währung der Evolution sind die Nachkommen, und die Gewinne des Konkurrenzkampfes werden nicht den konkurrierenden Individuen gutgeschrieben, sondern ihren genetischen Programmen. .... Jene genetischen Programme hatten von jeher die besseren Ausbreitungschancen, die ihre individuellen Träger dazu veranlaßten, sich auch ohne Rücksicht auf etwaige eigene Nachteile und Risiken für die optimale Produktion von Nachwuchs einzusetzen: Wen könnte es da wundern, daß der Drang zur Fortpflanzung allen Organismen genetisch seit Jahrmilliarden so unauslöschlich eingepflanzt ist? Und noch etwas ist wichtig, um den auch die Familie betreffenden Selektionsprozeß zu verstehen: Da es in der Evolution letztlich nicht um Individuen geht, sondern um die genetischen Programme, werden sich jene genetischen Programme via natürliche Selektion besonders erfolgreich ausbreiten können, die ihre Träger dazu veranlassen, andere Träger identischer Erbprogramme in ihrer Reproduktion intensiv zu unterstützen. Daraus resultiert der im Organismenreich (wie in allen menschlichen Gesellschaften) so weit verbreitete Nepotismus, die bevorzugte Verwandten-Unterstützung (kin selection), sorgfältig abgestuft nach Maßgabe des genetischen Verwandtschaftsgrades (je näher verwandt, deso höher der Wahrscheinlichkeitsgrad gemeinsamer identischer Gene), jeweils im Dienste der eigenen Gesamtfitneß (inclusive fitness), also letztlich genetisch eigennützig. Es ist daher evolutionsbiologisch geradezu vorhersagbar, daß menschliche Gesellschaften in nepotistische Verwandtschaftssysteme gegliedert sind und daß Muster abgestufter Verwandtschaft eine zentrale Rolle für die Art und Intensität des Miteinanders spielen, kurz, daß sich Familienstrukturen in mehr oder weniger erweiterter Form herausbilden. (Mehr). Die Familie liefert also zugleich das sozio-ökonomische Milieu für die biogenetische Reproduktion und das strukturelle Netz nepotistischer Interaktionen.“ (Christian Vogel, Die Rolle der Familie im biogenetischen Geschehen, in: Eckart Voland, Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel, 1992, S. 145-146 Quelle). Die Familie ist eine kulturelle Institution auf natürlicher Basis: „Biologisch betrachtet, obliegt ihr die Funktion, die Reproduktion sicherzustellen, das heißt Nachwuchs zu zeugen, ihn aufzuziehen und möglichst gut ausgerüstet und vorbereitet in die Selbständigkeit zu entlassen, was in evolutionsbiologischer Perspektive wiederum bedeutet, dem Nachwuchs seinerseits gute Reproduktionschancen mit auf den Weg zu geben. Die Familie soll für diesen Prozeß ein in biologischer, ökonomischer und soziokultureller Hinsicht möglichst optimales Milieu herstellen, und so wird es nicht wundern, daß die Familienstruktur, den jeweiligen Bedingungen angepaßt, durchaus unterschiedliche Formen annehmen kann. Durch ihre biologische Hauptfunktion, Fortpflanzung abzusichern, ist die Familie unmittelbar in den biogenetischen Evolutionsprozeß eingespannt und unterliegt somit den Bedingungen der natürlichen Selektion. Natürliche Selektion arbeitet über differentiellen Reproduktionserfolg, und das ist der Grund, weshalb alle Organismen (Menschen eingeschlossen) via Selektion programmiert sind, mit ihren benachbarten Artgenossen um jeweils höheren Reproduktionserfolg zu konkurrieren. Das steckt zwangsläufig in ihren Erbprogrammen ....“ (Ebd., S. 145). Mehr

„In jüngster Zeit setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß - obwohl die natürliche Selektion an der Variabilität der Phänotypen ansetzt - die Ebene biologischer Anpassungsvorgänge die der Gene ist und nicht etwa die der Individuen (Kampf ums Dasein) .... Beim Studium der Evolution und gerade auch beim Studium biologischer Verhaltensanpassungen ist deshalb deutlich zu unterscheiden zwischen den Replikationen (Genen), in denen die stammesgeschichtlich akkumulierte Information gespeichert ist und deren potentielle Unsterblichkeit die Kontinuität der biologischen Evolution begründet, einerseits und den vergänglichen Individuen (Phänotypen) andererseits, die als kurzlebige Vehikel den evolutiv einzigen Zweck verfolgen, ein optimales Medium für maximale Genreplikation zu liefern. .... Interessant erscheint mir, daß bei aller intrapersonalen Komplexität von Fruchtbarkeitsentscheidungen sozioökonomische Gesichtspunkte als die letztlich wohl doch bedeutsamsten Einzelfaktoren zu wirken. Die Entscheidung für oder gegen (weitere) Kinder ist auf diese Weise eingebunden in die Szenerie gesellschaftlicher Konkurrenz, in eine Szenerie also, deren Funktionslogik vom fitneßmaximierenden Darwinischen Prinzip geprägt wurde. Die Entscheidung für Kinder oder sozialen Erfolg ist deshalb keine Entscheidung für oder gegen den biogentischen Imperativ, sondern lediglich eine taktische Entscheidung für oder gegen eine bestimmnte Strategie, ihm zu gehorchen! .... Es erscheint nicht abwegig, daß während des Pleistozäns, also während jener 99,7% unserer Geschichte, in der Menschen als Wildbeuter den formenden Einflüssen der natürlichen Selektion ausgesetzt waren, die individuellen Reproduktionserfolge nicht durch die Anzahl der Konzeptionen beschränkt waren, sondern von der Verfügbarkeit der immer irgendwie knappen Ressourcen. Nicht Maximierung der Fertilität, sondern Maximierung der Aufzuchtleistung wurde genetisch belohnt .... Vielleicht zéigt sich in der bevorzugten Wahrnehmung ökonomischer Opportunitäten, die für Frauen zu Lasten reproduktiver Erfolge geht, eine im Pleistozän erworbene und evolutiv fixierte, an Bedingungen latenter Ressourcenknappheit angepaßte Präferenz, die unter modernen Bedingungen im Durchschnitt nicht mehr zu fitneßmaximierenden Resultaten führt. Wie dem auch sei, eine mögliche Diskrepanz zwischen einem theoretisch maximal möglichen und dem tatsächlichen Reproduktionserfolg ändert nichts an der Tatsache, daß die Mechanismen der Verhaltnessteuerung aus der Stammesgeschichte resultieren und Bestandteil unserer adaptiven bilogischen Ausstattung sind. Das ökologische und soziokulturelle Milieu, in dem sich die Hominisation mit den sie kennzeichnenden Anpassungsvorgängen abgespielt hat, ist nicht identisch mit den zeitgenössischen oder historisch noch halbwegs überschaubaren Lebensbedingungen, also mit jenem überaus kurzen Ausschnitt aus der menschlichen Geschichtlichkeit .... Zu den frühesten Ergebnissen verhaltensökologischer Theoriebildung gehört die Einsicht, daß Organismen in ihrem Leben entweder viele Nachkommen zeugen, in die sie dann allerdings vergleichsweise wenig investieren, oder aber im reproduktionsgeschäft auf weniger, dafür aber gut ausgestattetet Nachkommen setzen. Dieser Quantität/Qualität-Abgleich ist zwangsläufig notwendig, weil elterliche Investmentmöglichkeiten immer irgendwie begrenzt sind. Je nach Art der Selektionsfaktoren favorisiert die natürliche Selektion eher die eine oder die andere Strategie. .... Im Verlauf ihrer Stammesgeschichte haben Menschen generell eher die zweite Option verfolgt und damit einen Evolutionstrend innerhalb der Primatenreihe fortgesetzt. (Menschliche Vor- / Urgeschichte) .... Aber auch innerhalb der Kollektive kommt es je nach sozialer Schichtzugehörigkeit der Eltern zu unterschiedlichen Justierungen in der Quantität/Qualität-Koordinate. Dabei zeigt sich interessanterweise, daß genau die Gruppen, die aufgrund ihrer sozialen Potenz besser als andere das zukünftige Schicksal ihrer Kinder beeinflussen konnten, auch tatsächlich diejenigen waren, die historisch damit begonnen haben, auf Kosten der Kinderzahl vermehrt in die soziale Konkurrenzfähigkeit ihrer Nachkommen zu investieren. (Demographisch-ökonomisches Paradoxon: Je mehr Kinder die Menschen sich leisten könnten, desto weniger haben sie!). Der mit dem demographischen Übergang (Theorie des demographischen Übergangs) verbundene Rückgang der durchschnittlichen Kinderzahl pro Familie ist aus biologischer Sicht eine durchaus angepaßte reproduktionsstrategische Antwort auf veränderte Investitionsmöglichkeiten .... Die auf Kosten/Nutzen-Abwägungen beruhende »Quasi-Rationalität« menschlicher Reproduktion manifestiert sich freilich nicht allein in Fruchtbarkeitsentscheidungen, sondern umfaßt auch das postnatale Fürsorgeverhalten. .... Das menschliche Brutpflegesystem ist von der natürlichen Selektion so modelliert worden, daß es - unter gegebenen Umständen - je nach Geschlecht der Kinder, ihrem Geburtstag und der genetischen Verwandtschaft zu ihnen (um nur einige der wichtigsten Merkmale zu nennen) zu unterschiedlichen Fürsorgeverhalten motiviert.“ (Eckart Voland, Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel, 1992, S. 347-348, 354-359 Quelle). Mehr

Daß die Konkurrenz zwischen Gruppen und nicht zwischen Individuen stattfindet - dies behaupteten schon früh einige Gegner von Darwins Survival of the Fittest. (Mehr). Einer dieser Gegner war z.B. der Staatssoziologe Ludwig Gumplowicz (1838-1909), der auch das Konzept vom Resultat der „Höherentwicklung“ ablehnte. Es sind auch nicht ihr innewohnende natürliche Anlagen, die den Erfolg einer Gruppe bewirken, sondern ihre überlegene soziale Organisation. Eine darüber hinausgehende Qualität ist mit einer höheren gesellschaftlichen Positionierung nicht verbunden, diese ist zudem beständig durch die Beherrschten in Frage gestellt. Der „Sozialdarwinismus“ ist somit laut Gumplowicz eine Rechtfertigungsideologie für Klassenherrschaft und nicht eine wissenschaftliche Begründung. (Mehr). Die „Rassen“ - soziologisch verstanden als „soziale Gruppen“ - mit ihrem Kampf seien die treibende Kraft der Geschichte. Zu sozialen Vorgängen und somit auch zum Staat komme es nicht durch freie Individuen, sondern durch die Unterwerfung einer Gruppe durch eine andere. Dies sei der „ereignisgeschichtliche“ Grund dafür, daß Recht ohne Ungleichheit nicht vorstellbar ist. Außerdem gibt es kein überzeitliches Recht, sondern nur ein situativ gebundenes. Die Abschaffung der Klassen und ihres Gegensatzes sei gleichbedeutend mit der Abschaffung des Staates und der Begründung von Anarchie, und dies könne, so Gumplowicz, keinesfalls als „moralischer Fortschritt“ angesehen werden, sondern im Gegenteil: als Rückschritt, weil der Staat, unbeschadet der in ihm zum Ausdruck kommenden Herrschaftsverhältnisse eine „Kulturleistung“ ist - nicht zuletzt verdankt ihm ja auch das Recht seine Entstehung. Die Theorie des Rechtsstaats, deren mustergültige und abschließende Formulierung laut Gumplowicz Robert Mohl (1799-1875) zu verdanken sei, sei ein Kompromiß zwischen den beiden antagonistischen Prinzipien der (absolutistischen) Herrschersouveränität und der (demokratischen) Volkssouveränität. Ihr zufolge gründe die Herrschaft nicht im Herrscher, sondern im Staat, der das Recht als ihren Zweck bestimmt und ihr damit die Grenzen setzt. Das Recht, das den Herrschenden zur Durchsetzung aufgegeben ist, steht auch über ihnen selbst. Ihnen die Befugnis einzuräumen, nach Belieben mit ihm zu verfahren, wäre somit paradox. Und die Gleichheit vor dem Gesetz ist allenfalls im Privatrecht möglich, denn nur hier trete der Staat nicht als Partei auf, sondern sei bestrebt, durch sein Machtwort anders nicht zu findende Entscheidungen herbeizuführen, um den inneren Frieden zu wahren. Die Verpflichtung auf politische Freiheits-, Gleichheits- und gar Mitwirkungsrechte muß jeden realen Staat überfordern. Politische Freiheit und rechtliche Gleichheit mögen konstitutionell verbürgt und sogar demokratische Partizipation unter Anwendung des Mehrheitsprinzips zugelassen sein: es herrsche dennoch weiterhin eine Minderheit, und dies könne auch gar nicht anders sein. Die systematische Diskreditierung der beschworenen Prinzipien durch die Realität läßt sich nicht verbergen. Allen theoretischen Bemühungen, einen einmal erreichten staatlichen Zustand als den Rechtsstaat und damit die 1789 begonnene „Revolution“ für beendet zu erklären, mangelt es an Glaubwürdigkeit, Die sozialistische Kritik hat leichtes Spiel, und sie kann vor allem eine plausible „Ursache“ dafür identifizieren, daß politische Freiheit und rechtliche Gleichheit bislang noch nicht mit „Leben“ erfüllt wurden: die materielle Ungleichverteilung. (Vgl. Peter Boßdorf, Ludwig Gumpowicz als materialistischer Staatssoziologe, 2003). - Ludwig Gumplowicz, der eine Übertragung von Erklärungsmustern aus der Biologie auf die Soziologie ablehnte und auch die „organische Staatsauffassung“ seines Zeitgenossen Albert Schäffle (1831-1903) scharf kritisierte (vgl. Organismustheorie), wurde schon zu seinen Lebzeiten als Einzelgänger bzw. Außenseiter angesehen, doch trotz (oder wegen?) seines Einzelgängertums war er ein Soziologist.

So forderte z.B. der Sozialdarwinist Sumner, daß der Wettbewerb - darwinistisch gesagt: Auslesprozeß - nicht durch humanitär gestimmte Reformen und staatliche Sozialgesetzgebung beeinträchtigt werden dürfe, damit sich die Tüchtigsten durchsetzen können. Laut Darwin heißt das Lebensprinzip Kampf ums Dasein (und der Fitteste überlebt); laut Sumner heißt das Gesellschaftsprinzip Kampf um Lebenschancen (und der Tüchtigste gewinnt). In der Evolution führt laut Darwin der Kampf ums Dasein zur Differenzierung bzw. Vielfalt der Arten; in der Geschichte führt laut Sumner der Kampf um Lebenschancen zur Vielfalt bzw. Differenzierung der Talente.

Die Organismustheorie ist ein theoretischer Ansatz in Geschichtsphilosophie, Kulturphilosophie (vgl. auch: Lebensphilosophie) und Soziologie, der von der Vorstellung der Ganzheit und Einheit der Gesellschaft (Gemeinschaft) ausgeht - im Gegensatz also zur „individualistischen“ Interpretation, die von der Ganzheitslehre (auch Holismus genannt) allenfalls als bloße Summation oder Aggregation von handelnden „Individuen“ angesehen wird. Die Hervorhebung der gesellschaftlichen Ganzheit ist verbunden mit der Betonung ihrer Gliedhaftigkeit, d.h. der Unselbständigkeit ihrer Teile und der prinzipiellen Abhängigkeit aller Teile von einem umschließenden Gemeinsamen. Der Gedanke dieser Gliedhaftigkeit der Teile zum Ganzen leitet über zum Gliederbau, d.h. zur harmonischen, proportionierten, ausgelichenen und im „gesunden“ Zustand konfliktfreien Struktur, innerhalb derer jedes Teil seine Aufgabe, seinen Zweck zur Erhaltung und Förderung des Ganzen erfüllt. Auf diese Weise wird die Gesellschaft zum organismus umgedeutet. im dem alles nach immanenten Gesetzen verläuft und mechanistische Kausalität ebenso ausgeschlossen ist wie die subjektive Willkür irgendeines Teiles. Gesellschaftliche Prozesse erhalten dadurch die Weihe des „Natürlichen“, Unabänderlichen. In einer für die deutsche Soziologie richtungweisenden Differenzierung trat die Organismustheorie z.B. bei Ferdinand Tönnies (1855-1936) in der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft auf, denn diese zwei Grundbegriffe bringen die prinzipielle Verschiedenheit von organischer und mechanischer Auffassung zum Ausdruck. Gegenüber der willkürlichen, künstlich aus den Interessen „autonomer Individuen“ kontraktuell entstandenen Gesellschaft ist die Gemeinschaft ein gewachsenes, „lebendiges“, in ihrem eigenen Zweck beschlossenes soziales Gebilde. Auch z.B. die universalistische Gesellschaftslehre von Othmar Spann (1878-1950) behauptet, daß die Gesellschaft nicht als die Summe oder das Produkt „autonomer Individuen“, sondern selbst als gliedhafte, funktional interdependente Ganzheit sui generis zu betrachten ist. Andere, wie z.B. Herbert Spencer (1820-1903), erkannten in der natürlichen und sozialen Welt ein allgemeines Entwicklungsgesetz, wonach für organische Lebewesen wie für soziale Gebilde nach den gleichen Prinzipien Wachsen und Vergehen sowie die Prinzipien des inneren Aufbaus und Funktionierens der Teile erklärt werden können (vgl. Biosoziologie; vgl auch die von Goethe benutzte Analogie aus der Botanik: Spiraltendenz). - Den natürlichen Organismen vergleichbar bilden die in einer gegenseitigen Abhängigkeit aufgebauten (Positionen) und ablaufenden (Rollen) Handlungen einen Zusammenhang, der für die Existenz des Handlungssystems (= Gemeinschaft/Gesellschaft) notwendig ist und der wiederum die Handlungseinheiten einer Tendenz zur Anpassung an die Systemnotwendigkeiten unterwirft.

Das Abendland (Alt-Europa / West-Europa) hat seit seinem Ursprung, seit seinem von Kontrollgenen (Germanen) gesteuerten Keim, einen „Kern“, ein „Herz“ (Deutschland), aber auch Grenzen! „Die Grenze der abendländischen Kultur lag immer dort, wo die deutsche Kolonisation zum Stillstand gekommen war.“ (Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, 1933, S. 17). Das Abendland bzw. „Europa“ muß auch heute (als „EU“ !) zu seinen Grenzen stehen, denn es kommt nicht einseitig darauf an, unsere „Nachbarn“ zu verstehen; noch mehr kommt es nämlich darauf an, daß wir wieder lernen, uns selbst zu definieren, z.B. auch um zu verhindern, daß wir uns gar nicht mehr begreifen - wie sie uns (!). „Nur ein Dummkopf kann sich heute schämen, ein »alter Europäer« zu sein.“ (Peter Scholl-Latour, Rumsfeld gegen das »Alte Europa«, in: Weltmacht im Treibsand, 2004, S. 14 Rumsfeld). „In meinen Augen sind die russischen Gebiete nie Teil Europas gewesen. Sie haben kein europäisches Bürgertum, keine Bürgerstädte, keinen europäischen Adel, keine europäischen Bauern gehabt; sie haben keine Reformation erlebt, keine Wissenschaftsrevolution, keine Aufklärung; und seit Peter dem Großen jagt nun Rußland - und die Bolschewiken haben das noch mal 70 Jahre getan - in einer atemlosen Aufholjagd hinter Europa her, um endlich sozusagen europaähnlich zu werden, aber es ist nicht Europa! (Rußland). Und dasselbe gilt seit Kemal Atatürk, also seit den 1920er Jahren, für die Türkei in noch viel strengerem Maße.“ (Hans-Ulrich Wehler, im Fernsehsender ZDF: Wo endet Europa?, in: Im Glashaus - Das Philosophische Quartett, 02.05.2004). Ähnlich wie Wehler argumentiert auch Huntington (Huntington).

Die „EU“ hat nicht einmal „riskiert ..., ihre Grenzen im Osten, im Südosten und im Mittelmeerraum zu definieren. (HuntingtonAbbildung). Freundschaftliche Nachbarschaft darf nicht quai-automatisch auf Vollmitgliedschaft in der EU hinauslaufen. Sie muß ein Privileg bleiben, Dutzende von anderen Möglichkeiten erlauben auch noch enge Beziehungen. Weißrußland, die Ukraine, Rußland selber haben nie zu Europa gehört.“ Wehler betont immer wieder, daß dort das Europäische immer schon fehlte, fehlt und wohl auch in Zukunft fehlen wird, denn es gab dort z.B. keine Reformation, keine Renaissance, keine Wissenschaftsrevolution, keine Aufklärung u.s.w.; es gab dort „kein Bürgertum, keine autonomen Städte, keinen Adel und keine Bauernschaft wie in Europa.“ (Hans-Ulrich Wehler, Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2003, S. 65). Rußland

Das Wort „Europa“ war im Abendland anfangs selten zu hören, danach lediglich ein gelehrter Ausdruck der geographischen Wissenschaft, die sich seit der Entdeckung Amerikas (1492) „am Entwerfen von Landkarten entwickelt hatte“, bevor es später allmählich immer mehr und „unvermerkt auch in das praktische politische Denken und die geschichtliche Tendenz“ eindrang. (Vgl. Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, 1933, S. 17; vgl. auch meine Definition für „Europäismus“). Abendland oder Europa

Je häufiger „Europa“ zu hören war (ist), desto moderner wurde (wird) die Moderne. Der Begriff „Europäismus“, für mich ein Synonym für die abendländische Moderne, betrifft alles, was die abendländische Kultur aus einem Selbstverständnis heraus in Verbindung mit Europa brachte, bringt und bringen wird. Eines der frühen Beispiele hierfür ist Karl der Große (747-814; 754 Königssalbung, 768 König, 800 Kaiser), der „Vater Europas“ genannt wurde. Der Begriff „Europa“ war im Abendland zwar von Beginn an präsent, wurde aber erst später häufiger (vor allem auch im geographischen Sinne) verwendet, z.B. seit der „Neuzeit“ und besonders seit der „Industriellen Revolution“ (bzw. seit der „Bürgerlich-Napoleonischen-Revolution“ Napoleonismus). Abendland oder Europa

Russische Kultur (im engeren Sinne) ist auch slawische Kultur (im weiteren Sinne), und damit sind in erster Linie die von der griechischen „Christen-Orthodoxie“ (griechisch-orthodoxe Christenheit) bekehrten Menschen gemeint: Russen, Weißrussen, Ukrainer, Moldawier, Rumänen, Bulgaren, Serben u.a. - und als deren Bekehrer auch die Griechen. Es handelt sich hierbei also nicht nur um Slawen. Erst an zweiter Stelle geht es hier also um die Völker slawischer Sprachen, zu denen bekanntlich auch Polen, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Kroaten u.a. zu zählen sind. Diese Slawen sind jedoch (wie auch die Ungarn und Skandinavier) von Deutschen bekehrt worden und deshalb zumeist katholische Christen. Während also die westlichen Slawen von den Deutschen abendländisiert (verwestlicht) worden sind, sind die östlichen Slawen von den Griechen morgenländisiert worden. (Abendland). So kann man alle Christ-Orthodoxen, ob z.B. griechisch-orthodox, serbisch-orthodox oder russisch-orthodox, als eine mögliche Kultur ansehen - ansonsten bliebe sie Aufgabe der Russen allein, nur: die Russen sind dazu nicht fähig ! (Danilewski). Spengler nannte das „Ursymbol des Russentums die unendliche Ebene“ (ebd., S. 259) und die russische Seele die „willenlose Seele“; sie „sucht in der Brüderwelt, der horizontalen, dienend, namenlos, sich verlierend aufzugeben.“ (Ebd., S. 394 Spengler).

Der Panslawismus ging hervor aus dem Slawophilentum: einer geistigen Bewegung der Slawen unter Berufung auf die Geschichtsphilosophie von Hegel (1770-1831) und auf das besonders von Herder (1744-1803) geweckte Interesse für die slawischen Völker sowie aus dem Bedürfnis einer Überwindung des Kulturminderwertigkeitslomplexes angesichts der ihnen weit überlegenen westlichen Kultur. Der Terminus Panslawismus wurde zunächst für die slawische Sprachverwandtschaft (z.B. „allslawisch“) eingeführt, bekam in den 1830er Jahren politische Stoßkraft und erhielt bereits in dieser Zeit auch Wünsche nach nationaler Staatswerdung der slawischen Stämme. Panslawismus ist somit auch die Bestrebung nach einem politischen und kulturellen Zusammenschluß aller Slawen. (Slawen). In Rußland entwickelte M. P. Pogodin (1800-1875) Ideen über eine russische Hegemonie über die anderen slawischen Völker. Diese Ideen wurden von N. J. Danilewski (1822-1885) erweitert und verstärkt. (Danilewski). Deswegen wurde der Panslawismus allmählich militant. Die Panslawisten gerieten in eine intolerante Haltung gegenüber der westeuropäischen Denkweise (dem „Westlertum“) und dem nicht-orthodoxen Christentum. Der russische Panslawismus (Panrussismus) wandelte sich immer mehr zu einer Bewegung gegen das angeblich die Slawen unterdrückende Deutschland, in Wirklichkeit aber sollte dieser Panrusismus Rußland dazu dienen, die Hegemonie über alle Slawen übernehmen zu können. Diese politische Richtung beherrschte auch den Prager Slawenkongress von 1908, doch wollte der dort formulierte Neoslawismus nicht mehr russische Hegemonie, sondern Rußland und Österreich-Ungarn als Verbündete. Die Haltlosigkeit dieser Idee besiegelten die bosnische Krise von 1908, die Balkankriege von 1912 und 1913 und die Julikrise von 1914 (Auslöser des 1. Weltkriegs). Die heutige Balkankrise, die schon seit 1989 andauert, und der 1998 begonnene Jugoslawien-Krieg, an dem sich auch die deutsche Rot-Grün-Regierung (bei Verstoß gegen das Grundgesetz! Kriege der "Rotgrünen") beteiligte, beweisen, daß heute die meisten „Westler“ völlig verlernt haben, die tatsächlichen Ursachen für Krisen und Kriege wirklich zu verstehen. Das beste Beispiel hierfür lieferten unsere verwöhnten „Interpreten“ durch ihre Überreaktion im Jahre 1998.

Vgl. Samuel Phillips Huntington (*18.04.1927), Kampf der Kulturen, 1996, S. 218ff.. Mehr zu Rußland von Huntington: Huntington

Ein zerissenes Land ist laut Huntington zwar Teil einer einzigen, herrschenden Kultur, doch die Führer des Landes haben den Wunsch, es einer anderen Kultur zuzuordnen: „Sie sagen praktisch: »Wir sind ein Volk und gehören gemeinsam an einen Ort, aber wir wollen diesen Ort ändern«. Etwas ganz anderes sei, so Huntington, ein gespaltenes Land, das große Gruppen aus zwei oder mehr Kulturen umfasse, „die praktisch sagen: »Wir sind verschiedene Völker und gehören zu verscheidenen Orten«. Die Kräfte der Abstoßung sprengen sie auseinander ...“ Laut Huntington gravitieren sie zu kulturalistischen Magneten in anderen Gesellschaften. Anders als die Menschen in einem gespaltenen Land seien „die Menschen eines zerrissenen Landes sich darüber einig, wer sie sind“, aber „uneinig darüber, welche Kultur eigentlich ihre Kultur ist.“ (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1996, S. 216-217).

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) wurde wegen Teilnahme an Treffen des utopisch-sozialistischen Petraschewski-Kreises zum Tode verurteilt, kurz vor der Hinrichtung zu 4jähriger Verbannung nach Sibirien „begnadigt“. Vgl. Dostojewskis Werke Werke

Das Reich der Seleukiden, einer hellenistischen Herrscher-Dynastie, entstand (aus der ehemaligen Satrapie Babylon) in der Zeit der Diadochenkämpfe (323-281) und umfaßte um 312-284 ein Territorium vom Ägäischen Meer bis nach Ost-Gedrosien (etwa Belutschistan im östlichen Iran) und Arachosien (östlicher Iran und Süd-Afghanistan, um Kandahar), vom Kaukasus bis zum Persischen Golf. Es zerfiel zunächst durch Selbständigwerden einzelner (z.T. nie ganz unterworfener) Gebiete wie z.B.: Bythinien (endgültig 297), Pergamon (280 / 262), Partherreich (ab 250 / 247), Baktrien (endgültig wohl 239 / 238), Judäa (ab 167). Dazu kamen die Kriege an die Ptolemäer (bzw. Ptolemaier in Ägypten) in den Syrischen Kriegen (ab 274); 188 ging West-Kleinasien an Pergamon und Rhodos, 129 Mesopotamien an die Parther verloren. Den Reststaat wandelte Pompeius in die römische Provinz Syria um (64-63).

Gnaeus Pompeius (29.09.106 - 28.09.48) machte während seiner Neuordnung des Ostens (64-63) Syria, Pontus und Cilicia zu römischen Provinzem und Armenia, Cappadocia, Galatia, Colchis und Judaea zu Klientelstaaten.

Das Reich der Sowjets, einer europäistischen „Herrscher-Dynastie“, entstand, weil in Rußland ganz bestimmte europäische Autoritäten, z.B. vor allem Hegel, und deren Botschaften wie eben der Hegelianismus, von den geistigen Hintergründen der (slawisch-russischen) revolutionären Bewegung, und zwar beginnend mit dem Panslawismus (Danilewski) , nicht zu trennen sind und folglich die radikale Variante des Linkshegelianismus, der Marxismus, nach der 1917 erfolgten „Revolution“ hier und nur hier zur Basis werden konnte. (). Die europäische Vorherrschaft (für Russen immer schon fern liegend) wird sich nach und nach verwandeln in eine amerikanische Vorherrschaft (für Russen noch ferner liegend). Die früheren sowjetischen Gebiete wie Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Aserbaidschan und Armenien sind schon heute mehr oder weniger („Öl“-) Klientelstaaten der USA. Sie haben hier längst auch militärische Stützpunkte errichtet. (Karte). Rußland ist immer noch ein Entwicklungsland, wie auch Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt betont und hinzügt: „Das im Laufe seiner Geschichte leidgeprüfte russische Volk erträgt seine Situation mit einem für Westeuropäer erstaunlichen Gleichmut.“ (Helmut Schmidt, Die Mächte der Zukunft, 2004, S.178-179).

Rußland schwankt immer zwischen großer und nicht ganz so großer Orientierungskrise. Es scheint immer nur die 'Wahl zwischen Pest und Cholera' zu haben. In der russischen Geschichte ist bisher jede 'West-Orientierung' früher oder später gescheitert, und das erste slawische „Zur-Welt-Kommen“, der „Selbstversuch“ (Panslawismus), mißglückte angesichts der weitaus überlegenen westlichen (= germanisch-abendländischen) Kultur. Und auch der Bolschewismus war und ist ja eine Orientierung am Westen: am Kommunismus bzw. Sozialismus der Deutschen Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895). Fast alle russischen Herrscher waren 'Deutschland-Schwärmer'. Ihre Vorliebe galt meistens Deutschland oder Holland, manchmal auch England, aber genützt hat es in Rußland immer nur wenigen 'Feudalisten'. Rußland schaffte es nie wirklich, das zu werden, was es nach Meinung der Herrscher werden sollte: westlich; denn Rußland war nie Teil der abendländischen Kultur, und konnte es deshalb auch mit bestem Willen nie werden. Russen wurden ja auch nicht von Deutschen christianisiert wie andere Slawen, z.B. Polen, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Kroaten u.a. (Abendland) , doch auch die blieben eher 'abendländische Sklaven' (wie ihr Name verrät: Slawen = Sklaven) und beklagen noch heute lieber ihre Opferrolle als sich selbst aktiv zu beteiligen. Diebstahl und andere Verbrechen sind für Slawen keine Delikte, sondern Alltag. Auch Rußlands Präsident Putin schwärmt für Deutschland, wie schon vor ihm Zar Peter I., seine Nachfolger und die Sowjet-Kommunisten. Doch genau wie sie versucht auch Putin, Rußland mit aller Gewalt zu verwestlichen, während der Westen (vor allem Westeuropa mit seiner 'Schwäche-Strategie'!) Rußland integrieren will (?), obwohl Rußland ständig gegen die Menschenrechte verstößt, die Mafia nicht kontrollieren kann (will?), das Volk auf den Müllhalden verhungern läßt, die Straße der Kriminalität und dem extremistischen und terroristischen Mob überläßt sowie überhaupt einen Staatsterrorismus pflegt, der dem israelischen Staatsterrorismus ähnelt und deshalb nicht besser, sondern nur staatlicher ist als der islamistische Terrorismus. (Vgl. Islamismus und Primitivismus).

„Nimmt man Marx (ähnlich: Engels; Anm HB) beim Wort, war auch ihm das Motiv einer Kehre des Kapitalismus gegen sich selbst nicht fremd (Mehr). Er hat, im Gegenteil, nie aufhören wollen zu glauben, daß erst die »Vollendung« der kapitalistischen Umwälzung aller Dinge, und nur sie, imstande wäre, eine neue Wirrtschaftsweise aus sich herauszutreiben. Die Möglichkeit der Kehre, die Revolution heißt, wird im Bogen der Evolution selbst erzeugt. Die ganze Fatalität des Marxismus liegt in seiner Unentschiedenheit hinsichtlich der Frage, wieviel Zeit der kapitalistische Prozeß im ganzen braucht, um die Voraussetzungen für die postkapitalistische Umlenkung des Reichtums zu produzieren. Aus heutiger Perspektive ist evident, daß das große Match des Kapitals um 1914 allenfalls bis zur Halbzeit gespielt war. Ihm stand noch eine lange Serie von Steigerungen, Auseinandersetzungen und Sturmläufen bevor, weswegen es weit davon entfernt war, sich selbst zugunsten einer nachfolgenden Formation transzendieren zu können. Die Führer der russischen wie der chinesischen Revolutionen waren völlig im Unrecht, wenn sie sich auf Marxsche Theorien beriefen. Beide politische Unternehmen stellten Amalgame aus politischem Fundamentalismus und kriegerischem Opportunismus dar, durch die jeder Sinn für Wirtschaftserfolg, Evolution und Reihenfolge verlorenging. Während den Basistexten von Marx zufolge die postkapitalistische Situation nur als die reife Frucht des »zu Ende« entwickelten Kapitalismus vorgestellt werden durfte, haben Lenin und Mao aus dem Prinzip der terroristischen Ausnutzung unreifer Verhältnisse den Schlüssel zum Erfolg gemacht. Nach ihren Darbietungen ist evident geworden, was das Diktum vom »Primat der Politik« in radikaler Interpretation besagt. Man muß zugeben, daß das Konzept des »vollendeten Kapitalismus« für seine Interpreten voller Zumutungen steckt, heute nicht weniger als zu Marx' und Lenins Zeiten. Es verlangt von seinen Benutzern einen Grad an Einsicht in die noch unrealisierten Potentiale der ökonomischen, technischen und kulturellen Evolution, den sie aus begreiflichen Gründen nicht erreicht haben können. Zudem fordert es von den Benachteiligten des Spiels ein Maß an Geduld, das aufzubringen ihnen unmöglich zuzumuten wäre, wenn sie wüßten, wohin für sie die Reise führt und wie lange sie dauert. So verwundert es nicht, wenn die Denkfigur »reife Verhältnisse« den Kommunisten über den Kopf wuchs, indem sie gerade dort die Revolution erzwangen, wo die Evolution ihre Arbeit kaum begonnen hatte und fruchtbare eigentumswirtschaftliche Verhältnisse noch auf ganzer Linie fehlten. Als Evolutionsbetrüger ohne Vorgänger versuchten sie sich an dem Kunststück, über den Kapitalismus hinauszugehen, ohne ihn gekannt zu haben. Die Flirts der Sowjets unter Stalin und der Chinesen in der Maozeit mit der beschleunigten Industrialisierung waren kaum mehr als ohnmächtige Bemühungen, den evolution ären Schein zu wahren. In Wahrheit war die Leninsche Wahl des revolutionären Moments von Anfang an rein opportunistisch motiviert - der Machiavellischen Lehre von der günstigen Gelegenheit gemäß -, und Mao Zedongs analoge Angriffe waren in noch höherem Maß voluntaristisch verzerrt. Übereilung blieb das Kennzeichen aller Initiativen, die von Revolutionären dieses Schlages im Namen einer nachkapitalistischen Zukunft ausgingen. Wo aus sachlogischen Gründen mit Jahrhunderten zu rechnen gewesen wäre, wurden ohne jedes zureichende Motiv - da Ungeduld und Ambition nie genügen - nur wenige Jahrzehnte in die historischen Rechnungen eingesetzt, bei den Ultras sogar nur wenige Jahre. Die verzerrte Optik, mit welcher der revolutionäre Wille seine Pläne rechtfertigte, ließen das kriegerische Chaos, das postzaristische in Rußland, das nachkaiserliche in China, wie eine jeweils »reife Situation« erscheinen. Tatsächlich produzierte der Kommunismus nicht eine postkapitalistische, sondern eine postmonetäre Gesellschaft, die, wie Boris Groys gezeigt hat, das Leitmedium Geld aufgab, um es durch die reine Sprache des Kommandos zu ersetzen, hierin einer orientalischen Despotie (und einem verkrüppelten Philosophenkönigtum) nicht unähnlich. (Vgl. Boris Groys, Das kommunistische Postskriptum, 2006). Der Geburtsfehler der kommunistischen Wirtschaftsidee lag jedoch nicht allein in der magischen Manipulation des evolutionären Kalenders. Es ist ja nie ausgeschlossen, daß eine Revolution der Evolution zu Hilfe kommt. Ihr unheilbares Gebrechen war das glühende Ressentiment gegen das Eigentum - das man gern mit der bitter gefärbten Bezeichnung »Privateigentum« belegte (auch bekannt als »Privateigentum an Produktionsmitteln«) -, als ob man alles Private per se zum Geraubten erklären wollte. Dieser Affekt mag sich auf hohe moralische Prinzipien berufen - er ist jedenfalls außerstande, dem Wesen der modernen Ökonomie, die von Grund auf Eigentumswirtschaft ist, gerecht zu werden. Nach einem von Gunnar Heinsohn geprägten Vergleich kommt die kommunistische Absage an das Prinzip Eigentum dem Kunststück gleich, ein Fahrzeug zu beschleunigen, indem man den Motor aus ihm entfernt. (Zur diskursiven Begründung des Bildes vgl. Gunnar Heinsohn / Otto Steiger, Eigentumsökonomik, 2006). Mehr noch: Die sich von Marx herleitenden Bewegungen der Linken (wie auch manche ihrer rechtsfaschistischen Rivalen) konnten ihr Mißtrauen gegen den Reichtum als solchen zu keiner Zeit ablegen, selbst dann, wenn sie, an die Staatsmacht gelangt, laut verkündeten, ihn intelligenter erzeugen und gerechter verteilen zu wollen. Ihre ökonomischen Fehler waren stets zugleich psychopolitische Geständnisse. Dem Kommunismus an der Staatsmacht war die Befriedigung des philisterhaften Enteignungsrauschs und des Verlangens nach Rache an den Privatvermögen im ganzen stets viel wichtiger als die Freisetzung der Wertströme. Daher blieb von dem großen Elan der egalitaristischen Menschheitswende schließlich nicht viel mehr übrig als die unverhohlene Selbstprivilegierung der Funktionäre - um von dem Erbe an Paralyse, Resignation und Zynismus nicht zu reden. .... Wer heute die Erinnerung an den sowjetischen Kult um die »Helden der Arbeit« bloß für ein wirtschaftsgeschichtliches Kuriosum hält, sollte bedenken, daß der linke Produktivismus den Versuch bedeutete, einen Hauch von Größe in ein System zu tragen, das unter seinen eigenen vulgären Prämissen litt. - Die in Nietzsches Moralkritik latent enthaltene thymotische Ökonomie stimuliert eine alternative Geldwirtschaft, in der Reichtum in Verbindung mit dem Stolz auftritt. Sie will dem modernen Wohlstand die klagende Maske vom Gesicht reißen, hinter der sich die Selbstverachtung von kleinlichen Besitzern großer und sehr großer Vermögen verbirgt - eine Verachtung, die im Sinn der platonischen thymós-Lehre völlig legitim ist, da die Seele der Vermögenden sich zu Recht selbst angreift, wenn sie nicht aus dem Zirkel der Unersättlichkeit herausfindet. Dagegen hilft auch das milieuübliche Kulturgetue nicht - das Interesse an Kunst ist in der Regel nur das Sonntagsgesicht der Gier. Die Heilung von der Selbstverachtung fände die Seele der Vermögenden allein in den schönen Handlungen, die den inneren Beifall des vornehmen Seelenteils zurückgewinnen. - Die Thymotisierung des Kapitalismus ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts; sie mußte nicht auf Nietzsche und Bataille warten, um ihren modus operandi zu entdecken. Sie ist von sich her immer dann am Werk, wenn der Unternehmermut Neuland betritt, um die Voraussetzungen für neue Wertschöpfungen und deren distributive Ausstrahlungen zu schaffen. Was schöpferische Aggression angeht, brauchte der Kapitalismus zu keiner Zeit Nachhilfeunterricht seitens philosophischer Mentoren in Anspruch zu nehmen. Daß er dabei allzusehr unter moralischen Hemmungen gelitten habe, wird man nicht sagen können. Doch auch nach seiner generösen Seite hin hat er sich eher eigensinnig und abseits der Philosophie entwickelt, allenfalls von christlichen Motiven inspiriert ... Einer der bekanntesten Fälle von generösem Geben aus Kapitalgewinnen ist mit dem Namen Friedrich Engels verknüpft, der über dreißig Jahre hin die nicht allzu üppigen Überschüsse aus seiner Fabrik verwendete, um die Familie Marx über Wasser zu halten, indessen deren Vorstand die Zuwendungen benutzte, um die Ordnung der Dinge zu verwerfen, in der ein Engels möglich und nötig war. Wie dem auch sei, die Großzügigkeit der Geber läßt sich nicht auf den Liberalismus der »kleinen Taten« reduzieren, wie er für bürgerliche Reformansätze bezeichnend war. Es wäre gleichfalls unangebracht, solche Gesten als Paternalismus abzufertigen. In ihnen wird eher der metakapitalistische Horizont erkennbar, der sich abzeichnet, sobald sich das Kapital gegen sich selber kehrt. - »Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das.« (Friedrich Nietzsche, Sprüche und Pfeile [12.], in: Götzen-Dämmerung, 1889). Als Nietzsche dieses Bonmot notierte, ließ er sich wohl zu sehr von den antiliberalen Klischees seiner Zeit bestimmen. Was den Aphorismus trotzdem bedeutend macht, ist der Umstand, daß er an eine Zeit erinnert, in der der Widerstand gegen die Propaganda der Erotisierung und Vulgarisierung sich auf die heute fast vergessenen Regungen des Stolzes und des Ehrgefühls berufen konnte. Sie brachten eine Kultur der Generosität mit bürgerlichem Antlitz hervor - ein Phänomen, das in den Zeiten der anonymen Fonds zunehmend verschwindet. Beschränken wir uns auf die Feststellung, wonach der thymotische Gebrauch des Reichtums in der angelsächsischen Welt, vor allem in den USA, zu einer gesicherten zivilisatorischen Tatsache hat werden können, während er auf dem europäischen Festland, aufgrund von staatsgläubigen, subventionalistischen und miserabilistischen Traditionen, bis heute nie wirklich heimisch werden wollte.“ (Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 55-61). Mehr

Marx (Engels), Lenin und Stalin waren und sind noch heute für viele Kommunisten so etwas wie 'Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist'. (Mehr). Stalin (21.12.1879 - 05.03.1953) wurde von vielen Sowjetbürgern ganz sicher als Gott angesehen, obwohl er mehr als 40 Millionen Menschen in seinen Todeslagern töten ließ, indem er z.B. willkürlich Namen auf seiner Liste durchstrich - das reichte, denn den Rest besorgten die Funktionäre. Viele Russen bekunden noch heute, daß sie damals an Stalin glaubten und ihn (Gott) 'Vater' nannten. Sie waren festen Glaubens, wenn Stalin sie nicht in die Todeslager bringen würde, dann seien sie von ihm als 'Gute' auserwählt. Eine Frau z.B., die nichts verbrochen hatte, behauptet noch heute, daß es damals absolut legal und legitim gewesen wäre, wenn Stalin sie als Todeskandidatin hätte abholen lassen. Denn wenn sie ins Todeslager gekommen wäre, dann hätte Stalin richtig entschieden. Auch wenn sie unschuldig sei, hätte sie kein Recht, über Schuld und Unschuld zu spekulieren, denn das sei ausschließlich Stalins Recht gewesen. Davon sei sie überzeugt und daran glaube sie auch heute noch. Solche unterwürfigen Opferhaltungen und solche grausamen Täterverhaltensweisen sind, wie alle sadomasochistischen Beziehungen, kaum erklärbar, weil sie Teil russisch-orthodoxer Religion sind. Verstehen kann man die russische oder sowjetische Herrscher-Volk-Beziehung nur, wenn man Analogien heranzieht, z.B. Jesus und seine Jünger - dieses Motiv hat es übrigens auch im stalinistischen Rußland häufig gegeben: 'Stalin und seine Jünger'! Aus der Überlieferung kennt man die Bereitschaft von Jesus und den meisten seiner Jünger, ganz konsequent auch das eigene Leben zu opfern; aber der 'göttliche' Stalin und seine 'Jünger' opferten in wenigen Jahren nicht sich, sondern mehr als 40 Millionen Menschen. Und tatsächlich: so wie seine Jünger Jesus' Wiederkehr erwarteten, so erwarten heute nicht wenige Russen die 'Wiederkehr' ihres 'Gottes' Stalin - trotz seines überdimensionalen Terrors, trotz des Bolschewismus, des sowjetischen Kommunismus, dieser slawischen Abart eines vom Abendland ('kulturgenetisch') weitergegebenen Erbes, das der 'Erblasser' Hegel (1770-1831) 'testamentarisch' so sicherlich nicht beabsichtigt hatte, aber dennoch aus dem 'Hegelianismus' hervorging, nämlich als 'Links-Hegelianismus', genauer als 'Marxismus', und 1917 vom völlig rückständigen, 'agrarischen' Rußland mit 'Feudalfreude' als 'Erbgut' angenommen und später in 'Marxixmus-Leninismus' umbenannt wurde. Vielleicht wird ja darum noch heute (nicht nur) in Rußland immer noch verdrängt, daß Stalin und seine Funktionäre mindestens 40 Millionen Menschen ermordeten. In den 1990er Jahren gab es in Rußland jedoch auch einen offeneren, fast sogar schon wissenschaftlichen Umgang mit diesem Tabuthema. „In der heutigen russischen Presse werden die Opfer des Bolschewismus in der UdSSR von der Oktoberrevolution bis 1989 auf zwischen 40 Mio. und 100 Mio. Menschen beziffert [vgl. auch: Robert Conquest, Der große Terror, 1992; Anton Antonov-Owssejenko, Stalin - Porträt eines Tyrannen, 1986], eine historisch singuläre Größenordnung.“ (Klaus Kunze, Der totale Parteienstaat, 1994, S. 92). Und die in China „herrschende Sprachregelung, das Erbe Maos sei zu 70% gut, zu 30% schlecht, läßt die 60 bis 70 Millionen Menschenleben, die auf das Konto des Maoismus nach 1949 gehen, als eine Last erscheinen, die nur durch die landeseigene Kunst des Bilanzenziehens zu bewältigen ist.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 268). Faßt man diese nach 1949 gemachten Menschenopfer des Maoismus (60 Mio. bis 70 Mio.) und Menschenopfer des Bolschewismus (40 Mio. bis 100 Mio.) zusammen, so ergeben sich sogar mindestens 100 Mio. bis 170. Mio. Menschenopfer!

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© Hubert Brune, 2001 ff. (zuletzt aktualisiert: 2014).