|  Ibn
Chaldun auf einer tunesischen Briefmarke. Der Philosoph wurde 1332
in Tunis geboren und starb 1406 in Kairo. | Als Ibn
Chaldun 1406 starb, war die einst zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert aufblühende
und zu jener Zeit am höchsten entwickelte Kultur der Welt (diese magische
Kultur war zu diser Zeit bereits eine Zivilisation , um die
Begriffe von Oswald Spengler
zu benutzen) bereits in einem fortgeschrittenen Zustand des Niedergangs. Sie verlor
nicht nur ihre räumliche Einheit, auch ihre Wissenschaftstradition erlosch.
Die auf der Vernunft basierende Deutung der Welt und der Politik der großen
Philosophen des islamischen Rationalismus wurde von der Ulema-Orthodoxie verdrängt.
Ihren Platz nahm die scholastische Fiqh-/Sakraljurisprudenz ein, die ihre Weltsicht
eines schriftgläubigen Islam, der alles mit dem Koran-Text erklärt,
zur Hegemonial-Ideologie machte.Ibn Chalduns Denken widmete sich der
Frage, wie Kulturen entstehen, gedeihen, blühen und dann verwelken und untergehen.
Der sonst zurückhaltende Arnold Toynbee
ließ sich zu Superlativen bewegen, als er Ibn Chaldun mit den Worten ehrte,
er sei, „der brillanteste und scharfsinnigste Geist, den die Menschheit je hervorbrachte“.
Obwohl Ibn Chaldun die Zivilisation des Islam im Sinne hatte, als er seine „Ilm
al-Umram“ („Wissenschaft von der Kultur“) begründete, haben seine Erkenntnisse
auch eine Relevanz für die Deutung des heutigen Zustandes der abendländischen
Kultur. Ibn Chaldun legte ein mehrbändiges Geschichtswerk vor, in
dem er Aufstieg und Niedergang der morgenländischen Kultur erklärt,
war aber als Philosoph mehr an der Deutung als an der Chronik dieser Geschichte
interessiert. Deshalb schrieb er eine Einleitung (Muqaddima) für
seine Geschichte, die auf mehrere hundert Seiten anwuchs, so zum eigentlichen
Werk wurde und das ursprüngliche Geschichtswerk in den Hintergrund drängte.
Seit diesem Werk haben Morgenländer viele Bücher auf Arabisch und in
anderen islamischen Sprachen geschrieben, aber keines davon erreichte die Qualität
von al-Muqaddima. Vor Ibn Chaldun haben Philosophen wie Al-Kundi, Al-Farabi, Avicenna
(Ibn Sina), Averroes (Ibn Ruschd), Ibn Tufayl (Abubacer) und viele andere Werke
ähnlichen Kalibers vorgelegt. Doch Ibn Chaldun war der letzte Morgenländer
dieser Größe.Dem islamischen Bereich zugehörig
ist das Geschichtswerk von Ibn Chaldun, das in seinem Hauptteil die Geschichte
der arabischen und berberischen Stämme des Maghreb mit so vielen Details
schildert, daß es nur für Spezialforscher lesbar ist. (Ernst
Nolte, Historische
Existenz, 1998., 1998, S. 441 **).Gleich
zu Beginn gibt sich Ibn Chaldun als ein kritischer Historiker zu erkennen ....
kritisch scheint auch die Einstellung gegenüber seinem eigenen Volk zu sein,
denn es finden sich sehr negative Urteile über die Araber, ka diese erscheinen
geradezu als die nomadischen und barbarischen Kulturzerstörer schlechthin.
Sie sind wegen ihrer wilden Natur Räuber und Zerstörer, und sie haben
die wenigsten Anlagen zur Kunstfertigkeit. (Ibn Chaldun, Ausgewählte Abschnitte
aus der Muqaddima. Aus dem Arabischen von Annemarie Schimmel, 1951, S. 65,
214). (Ernst Nolte,
Historische Existenz, 1998., 1998, S. 441 **).Aber
Ibn Chaldun ist alles andere als ein bedingungsloser Lobredner der Kultur. Sein
Zentralbegriff ist vielmehr »aschabija«, und der ist am ehesten durch
»Gemeinschaftsgeist« wiederzugeben. Diese »aschabija«
ist auf dem Land, d.h. bei den Beduinen der Steppen und Wüsten, am stärksten,
und ihre feste Basis ist die Blutsverwandtschaft, also die Sippe. Nur aus der
»aschabija« erwachsen Staatlichkeit, Stadtleben und Kultur, aber eben
dadurch wird sie auch geschwächt und schließlich zerstört. Der
Luxus und das Wohlleben des Stadtlebens gewinnen die Oberhand über die Rauheit
und den Gemeinschaftsgeist des Landlebens, d.h. des Beduinenlebens, und so zerstört
die kultur ihren eigenen Ursprung.(Ernst Nolte,
Historische Existenz, 1998., 1998, S. 441 **).Die
letzte Stufe der Kultur vor ihrem Untergang läßt sich als bloße
»Zivilisation« charakterisieren, und Ibn Chaldun nimmt sich so als
Vorläufer Spenglers
aus. Aber er ist doch nicht ein bloßer Dekadenztheoretiker, der sein eigenes
Volk lobt, indem er es scheinbar herabsetzt. (Daß »barbarische«
oder zurückgebliebene Völker »junge« und damit zukunftsvolle
Völker seien, wird später beknanntlich zumal in der russischen Literatur
des 19. Jahrhunderts zum Topos.). Die vielen Zitate aus dem Koran sind sicherlich
nicht bloße Verzierungen, und Ibn Chaldun schreibt dem Islam offenbar eine
Verwandlungskraft zu, die aus den wilden Stämmen der zeit vor Muhammad (auch:
Mohammed; HB) Welteroberer kulturschaffende Dynastien gemacht hat.
Ebensooft wie an Spengler mag man sich an Giambattista Vico
erinnert fühlen, genauer gesagt: Ibn Chaldun kann als ein Vorläufer
gerade dieser beiden Geschichtsdenker erscheinen. (Ernst Nolte,
Historische Existenz, 1998., 1998, S. 441-442 **).Eine
Vorstellung vom Niedergang, der indessen nicht unaufhebbar ist, liegt auch den
Predigten der Propheten des Alten Testaments zugrunde .... Und der große
islamische Historiker und Geschichtsphilosoph Ibn Chaldun alle Geschichte von
der »aschabija«, dem Gemeinschaftsempfinden der ursprünglichen
Sippen und Stämme ausgehen, einem Empfinden, das sich auch noch einige Zeit
hält, wenn ReichsgrÜndungen und Luxus die Glanzlichter der Kultur erzeugen,
das sich aber immer mehr abschwächt und schließlich eine letzte Stufe
hervorbringt, die Stufe einer bloßen Zivilisation, die dem Untergang vorausgeht.
Selbstzerstörung ist also der Grundcharakter jeder Kultur, und damit nimmt
Ibn Chaldun wesentliche Gedankengänge von Giambattista Vico
und Oswald Spengler
vorweg. Die unumgängliche Konsequenz wäre, daß sich alle diejenigen
täuschen, welche die negativen Phänome der Gegenwart als spezifische
Eigentümlichkeit der europäischen Kultur und Geschichte charakterisieren;
es würde sich vielmehr um allgemeine Phänomene handeln, deren Analogien
sich in weit entfernten Zeiten aufweisen lassen. Naturwissenschaftler machen sogar
darauf aufmerksam, daß Prozesse der Selbstzerstörung schon unter Tieren,
ja sogar letzten Endes als kosmische Prozesse zu beobachten sind: Seefahrer setzten
einst auf der Insel Fernando P6o einige Ziegen an Land, für die sie keine
Verwendung hatten, und als sie nach vielen Jahren wieder an der Insel vorbeikamen,
stellten sie fest, daß die Tiere, da sie auf der Insel keine Feinde vorfanden,
sich sehr rasch vermehrt hatten, deshalb alle Pflanzen auffraßen und schließlich
allesamt zugrunde gegangen waren; gewisse Ameisenarten halten sich Blattläuse
als eine Art Sklaven und werden dadurch allmählich so träge, daß
sie bald den Angriffen anderer Ameisenarten zum Opfer fallen; der Weltprozeß
im ganzen ist ein Prozeß der Entropie,
in dem schließlich alle Energiedifferenzen ausgeglichen werden, so daß,
wenngleich nach dem Verlauf gigantischer Zeitspannen, die Erstarrung im »Kältetod«
die unvermeidliche Folge ist. (Ernst Nolte,
Der kausale Nexus, 2002, S. 279 **).

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