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Arnold Gehlen
(1904-1976)
Lebensphilosophie Anthropo-pragmatistisch-institutionalistische Lebensphilosophie

NACH OBEN Arnold Gehlen wuchs als Sohn des Verlegers Dr. iur. Max Gehlen und dessen Frau Margarete, geborene Ege, in großbürgerlichen Verhältnissen heran, denn sein Vater war auch Mitinhaber verschiedener Verlage, seine Mutter die Tochter eines Reichsgerichtsrats und Mitverfassers des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Die Stabilität des eigenen Milieus und der gesellschaftlichen Ordnung des 2. Deutschen Reiches überhaupt „muß den Heranwachsenden beeindruckt haben; erst später,wurde ihm deutlich, daß die »Pochkäfer« (Gehlen) schon ihr Zerstörungswerk verrichtet hatten: »In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg brach in Deutschland der Boden der Tradition in allen Räumen durch, es begannen vehemente Bewegungen. Von der Härte und Konsequenz, mit der die Jahrhunderte vorher die Kernenergien des menschlichen Inneren gebunden hatten, macht man sich erst eine Vorstellung, wenn man erlebt hat, wie sie frei wurden und nun als geistige Explosionen dahinstoben.« (Gehlen).“ (Karlheinz Weißmann, Arnold Gehlen, 2000, S. 9-10).


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1. Stadium („Winter“)2. Stadium („Frühling“)3. Stadium („Sommer“)4. Stadium („Herbst“)
Vor-/Urdenken: Gehlens
„Vor-/Urphilosophie“
Frühdenken: Gehlens
„Frühphilosophie“
Hochdenken: Gehlens
„Hochphilosophie“
Spätdenken: Gehlens
„Spätphilosophie“
(Dauer: 19 Jahre)(Dauer: 17 Jahre)(Dauer: 17 Jahre)(Dauer: 19 Jahre)
1904 bis 19231923 bis 19401940 bis 19571957 bis 1976
Geburt
(29.01.)
„DER MENSCH - SEINE NATUR
UND SEINE STELLUNG IN DER WELT“
Tod  
(30.01.)
Übergang
    Schule / Studium
|„Die Seele im
technischen Zeitalter“
Frühe
Kindheit
Grund-
Schule
Gym-
nasium
1923
- 1927
1927
- 1933
1933
- 1940
1940
- 1945
1945
- 1951
1951
- 1957
1957
- 1961
1961
- 1969
1969
- 1976
ErläuterungErläuterung

„Gehlen erhielt ersten Unterricht durch Privatlehrer und besuchte dann das berühmte Thomas-Gymnasium in seiner Heimatstadt, das er nach dem Abitur, Ostern 1923, verließ. Er nahm ein Studium der Fächer Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Leipzig auf, ging für das Wintersemester 1925/26 nach Köln, vor allem um bei Max Scheler und Nicolai Hartmann zu hören, und kehrte zum Abschluß seiner Hochschulzeit wieder nach Leipzig zurück. Zuletzt hatte sich Gehlen auch intensiver mit Physik und Zoologie beschäftigt. Er beendete sein Studium mit der Promotion zum Dr. phil. am 5. November 1927; das Thema der »Gelegenheitsarbeit« (Gehlen) lautete »Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens« (Gehlen). Zweieinhalb Jahre später, am 17. Juli 1930, folgte die Habilitation gleichfalls für das Fach Philosophie mit einer Untersuchung über »Wirklicher und unwirklicher Geist« (Gehlen). Betreut wurden Promotion und Habilitation vor allem durch den in Leipzig lehrenden Biologen und Philosophen Hans Driesch (Driesch). Lothar Samson hat plausibel gemacht, daß Driesch einen nachhaltigen, allerdings später schwerer erkennbaren Einfluß auf das Denken Gehlens ausübte. Nicht nur in dem allgemeinen Sinn, daß durch Driesch lebensphilosophische Vorstellungen an Gehlen vermittelt wurden, sondern mehr noch im Hinblick auf die Handlungslehre, die bei Driesch bereits in Teilen vorgebildet war und die für Gehlen seit dem Erscheinen von Wirklicher und unwirklicher Geist zur eigenen Schlüsselvorstellung wurde. Wirklicher und unwirklicher Geist war daneben auch eine - wenngleich der idealistischen Tradition verpflichtete - kritische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Philosophie überhaupt, die immer stärker zum Gegenstand rein historischer Betrachtung zu werden drohte.“ (Karlheinz Weißmann, Arnold Gehlen, 2000, S. 10-11).

„Zu den stärksten geistigen Einflüssen auf das Leben und Denken des jungen Gehlen gehörten schon seit seiner Schulzeit die Philosophie Schopenhauers und Nietzsches. Dabei ging das Interesse deutlich über das wissenschaftliche im engeren Sinn hinaus. Das war angesichts der sozialen Herkunft Gehlens durchaus generationstypisch, und ein ähnliches Urteil wird man über die Auffassungen fällen können, die sich in einem ersten veröffentlichten Text erhalten haben, einer 1925 vor dem Literarischen Thomanerbund gehaltenen »Rede über Hofmannsthal«. Gehlen bezeichnete hier die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten, der Wirklichkeit zu begegnen, als die »heroische« - »bereit, das Einzelne zu realisieren, trotzdem es aussichtslos ist, eben darum, weil die Wlt mit so giftigen Waffen widersteht« -und die »nihilistische« - »den großen Verzicht ..., nur geleitet von ...Verzweiflung«. (Gehlen). Schon die Sprache, aber mehr noch die Leitgedanken selbst, zeigen, daß Gehlen mit seinen Vorstellungen in oden Umkreis der »Konservativen Revolution« gehörte. Ein paradoxer Begtiff, der jene geistige und politische Strömung bezeichnet, die seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts in ganz Europa, aber bevorzugt in Deutschland, einen neuen Ansatzpunkt für den Aufbau von Kultur und Staat zu gewinnen suchte. Sie reagierte auf das Zerbrechen aller universalen Gewißheiten in ihrer religiösen wie in ihrer säkularen Gestalt. Die große »Erwartungsenttäuschung« (Gehlen) trug wesentlich bei zum Entstehen einer sehr vielgestaltigen, aber in dem Punkt doch einigen Bewegung: daß die Moderne ihrer Illusion über die Machbarkeit der Dinge und der Menschen beraubt und ihre Energie ins Lebensdienliche umgeleitet werden müsse. Gehlen hat später über den revolutionären Konservatismus arnbi. valent geurteilt: Es habe sich um eine »fast immer literarisch gebliebene Tendenz« gehandelt, aber auch um geistige Bestände »einer Nation, die noch an sich glaubte«. Schließlich sei die Konservative Revolution nein Opfer Hitlers geworden, der sie entweder zerschlug oder in seine Partei eingliederte und sie dann mit in seinen Untergang nahm«. (Gehlen). Zum inneren Kreis der Konservativen Revolution gehörte Gehlen nicht. Es ist keine Mitgliedschaft in einer Organisation oder auch nur in einern Gesprächszirkel bekannt, es gibt keine Veröffentlichungen in Zeitschriften oder Zeitungen, die dem Umfeld der Bewegung zugerechnet werden könnten. Der erste demonstrative politische Akt Gehlens fand in einern anderen politischen Zusammenhang statt, womit auch die biographische Dimension der zuletzt zitierten Äußerung über das Schicksal der Konservativen Revolution irn Dritten Reich deutlich wird: Am 1. Mai 1933, zwei Monate nach der Regierungsübernahme Hitlers, trat Gehlen in die NSDAP ein. Irgendeine bedeutende Funktion in der Politischen Organisation der Partei hat er nicht bekleidet, er tat das, was viele Deutsche damals taten, auch viele Gebildete, darunter so bedeutende wie die Philosophen Martin Heidegger und Alfred Baeumler, der Jurist Carl Schmitt, der Chirurg Ferdinand Sauerbruch und die Physik-Nobelpreisträger Philipp Lenard und Johannes Stark. Am 1. August 1933 wurde Gehlen außerdem Mitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB) und dann des Nationalsozialistischen Dozentenbundes (NSDoB). Auch das waren keine überraschenden Schritte für einen jungen Akademiker, der seine Laufbahn unbeschadet der Ereignisse fortsetzen wollte. Tatsächlich kam Gehlens wissenschaftliche Karriere in den kommenden Jahren zügig voran: Er erhielt noch im Mai 1933 den Vertretungsauftrag für eine Philosophie-Professur in Frankfurt a.M., einen weiteren in Kiel im April 1934 lehnte er ab und übernahm stattdessen die Vertretung seines Lehrers Driesch in Leipzig. Am 1. November wurde Gehlen auf dessen Lehrstuhl als ordentlicher Professor berufen.“  (Karlheinz Weißmann, Arnold Gehlen, 2000, S. 11-13).

„Die Frage, wie Gehlen zu den neuen politischen Verhältnissen stand, erhellt aus dem Inhalt der relativ großen Zahl von Publikationen, die er bis zum Ende der dreißiger Jahre veröffentlichte. Aufschlußreich ist einerseits die Fortsetzung jener Analyse, die schon in der Hofmannsthal-Rede (Gehlen) kurz skizziert worden war, dann aber eine gewisse Zuversicht, die negative Tendenz werde sich unter den gewandelten Umständen korrigieren lassen. Was Gehlen eigentlich als Ursache der großen Krise betrachtete, geht aus einem Aufsatz über die Wirkung von Descartes hervor, in dessen Schlußpassus es heißt: »Die Entwurzelung des Geistes ist eine Loslösung von der geschichtlich gewordenen, von der unmittelbaren Wirklichkeit, in die wir hineingewoben sind, und nur große soziologische und geschichtliche Veränderungen erklären die Auflösung von festgefügten Instinkten und Haltungen, eine schon triebmäßige Freizügigkeit des Menschen, die vollzogen sein muß, wenn die Freizügigkeit der Reflexion sich ausbilden soll. Jetzt konnte der Geist seine weltgeschichtliche Rolle als revolutionäre Macht beginnen, und in einer Welt von kaum beweisbarer Realität ist es leicht, sich den Ordnungen der Familie, des Staates und Vaterlandes zu entziehen.« (Gehlen). Es klingt hier zweierlei an, was zu den Grundlagen von Gehlens Diagnose gehörte: erstens die Behauptung, daß eine völlige Entbindung der Reflexion fatale Folgen haben müsse, und zweitens, daß ein solches Übermaß die Institutionen (Institutionen) zerstöre, die der Mensch dringend brauche, weil sonst seine »triebmäßige Freizügigkeit« hervortrete und ihre zerstörerische Macht entfalte. Daß Gehlens Bekenntnis zum Nationalsozialismus nicht einfach opportunistisch, sondern auf die Annahme zurückzuführen war, daß hier eine politische Kraft entstand, die die »triebmäßige Freizügigkeit« bändigen würde, zeigte sich auch deutlich in seiner Antrittsvorlesung von 1934, die ein Jahr später unter dem Titel »Der Staat und die Philosophie« (Gehlen) veröffentlicht wurde. Da hieß es ausdrücklich, daß die »nationalsozialistische Bewegung ... diesem Volke neue Antriebe des Lebens und neue Ordnungen seines Daseins« (Gehlen) gegeben habe, und weiter, daß das der Philosophie als legitimer Ausgangspunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit dienen müsse. In diesen Zusammenhang gehört auch, was Gehlen an anderer Stelle ausdrücklich festhielt, nämlich, daß die »konkrete Daseinsordnung» keine religiös fundierte mehr sein müsse. Die »natürliche« Begründung des Staates sei durchaus geeignet, die entscheidenden Leistungen, die man von einer politischen Institution erwarten könne, zu erbringen: es sei »... durch Tatbeweis gesichert, daß eine immanente Weltanschauung imstande ist, tragende Grundsätze des Handelns aufzustellen und durchzusetzen ...« (Gehlen), »Weltdeutung« und »Handlungsformierung« (Gehlen) zu gewährleisten. Es wird hier deutlich, daß Gehlen den Nationalsozialismus auf keinen Fall als bloßen Notbehelf betrachtete, der eine Ordnungsforderung erfüllen sollte, vielmehr hoffte er auf eine Kraft, die in der Lage sein würde, jene kollektive Phantasie zu beflügeln, von der er glaubte, daß sie auch innerhalb der Institutionen das »Schwungrad der Handlungen« sei, die »ermutigende Kraft, die den Menschen über das lähmende Bewußtsein seiner Ohnmacht hinausreißt« (Gehlen). Er war damit einer zeitgenössischen Interpretation des Nationalsozialismus verbunden, die diesen in die idealistische als eine spezifisch deutsche Geistestradition einzuordnen suchte. Zahlreiche Arbeiten Gehlens aus den dreißiger Jahren beschäftigten sich ausdrücklich mit der idealistischen Philosophie, vor allem mit der politischen Philosophie Fichtes (Anmerkung), in der er die Erkenntnis vorformuliert fand, daß es »Mythen« sind, von denen sich ein Volk ergreifen lassen muß, zwecks »Erziehung zur Größe der Zeit« (Gehlen).“ (Karlheinz Weißmann, Arnold Gehlen, 2000, S. 13-14).

Gab es keine Möglichkleit mehr, mit Hilfe der Philosophie die Welt vollständig und systematisch zu erfassen und metaphysische Bedürfnisse zu befriedigen, so hoffte Gehlen, daß die Anthropologie einen neuen Weg eröffnete, nämlich »empirische Philosophie« zu treiben, das heißt, die Philosophie als Wirklichkeitswissenschaft zu begründen. Daß die so verstandene unbedingt einen praktischen Zug hat, stellte Gehelen schon in der Einleitung zu Der Mensch klar, wo es heißt, daß das »von denkenden Menschen empfundene Bedürfnis nach einer Deutung des eigenen menschlichen Daseins ... kein bloß theoretisches Bedürfnis« sei: »Je nach den Entscheidungen, die eine solche Deutung enthält, werden Aufgaben sichtbar oder verdeckt. Ob sich der Mensch als Sohn Gottes versteht oder als arrivierten Affen, wird einen deutlichen Unterschied ausmachen; man wird in beiden Fällen auch in sich sehr verschiedene Befehle hören.« (Gehlen). Entscheidend war, daß Gehlen den Menschen weder als »Sohn Gottes« noch als »arrivierten Affen« begreifen wollte.“ (Karlheinz Weißmann, Arnold Gehlen, 2000, S. 25- 26).

Philosophisch-anthropologisch hat Gehlen den Satz aufgestellt, daß der „Mensch“, mit Friedrich Nietzsche gesagt, „das nicht festgestellte Tier“ sei, nämlich ein Tier ohne Instinkte, die ihn in festen Reaktionsbahnen halten könnten. Deswegen fehle ihm die (bei Tieren instinktförmig mitgegebene) Sicherheit des Verhaltens. Er habe aber, und das sei seine menschliche Besonderheit, an Stelle der Instinkte die „Institutionen“ (Institutionen) entwickeln können. Institutionen gäben ihm ebenfalls Sicherheit, aber nicht für alle Menschen einförmig, sondern - je nach der sozialen Ausprägung der Institutionen - von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich. Insofern genüge eine biologische Instinktlehre für ihn nicht. Vertiefend hat später z.B. Dieter Claessens angenommen, daß der Mensch diesseits des Tier-Mensch-Übergangsfeldes seine Instinkte nicht restlos verloren habe, sondern daß noch „Instinktstümpfe“, d.h. Instinkt-Bauprinzipien, erhalten seien. Durch die besondere menschliche Gabe, nicht instinktgepeitscht z.B. fliehen oder angreifen zu müssen, sondern sein eigenes Tun innehaltend (es nach eigenem Urteil verzögernd) ins Auge zu fassen (es, wie in einem Spiegel zu reflektieren), könne er gewisse Wahlen treffen. Aus denen entstehen erste Institutionen (z.B. „das Erzählen“), die sich dann aber biologisch-anthropologisch ihrerseits verfestigen könnten, so daß Instituiertes wieder instinktähnlich funktioniere und vermutlich nicht mehr rückgängig gemacht werden könne (Gleichnis des point of no return). Claessens vermutet (in: Das Konkrete und das Abstrakte, 1980Claessens), daß diese sekundär vom Frühmenschen erworbene Handlungssicherheit nur so weit reiche wie die Herausforderungen des Jäger- und Sammlerlebens. Der überwältigenden Menge von Abstraktionen, die sich seither, d.h. seit der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht, heraus gebildet hätten, stünde der Mensch weitaus handlungsunsicherer gegenüber.

Gehlens Anthropologie, die den Menschen als handelndes Wesen herausstellt, verbindet den Pragmatismus mit einer autoritären Theorie der Institutionen (Institutionen). Sie stellt den Menschen hinsichtlich seiner Organ- und Instinktausstattung als „Mängelwesen“ dar, das seine Umwelt durch ein von Institutionen geleitetes und gesichertes Handeln verändern muß, um überleben zu können (Kulturleistungen als Organersatz). Der Mensch ist das handelnd erkennende Wesen, das jede Umwelt ins Lebensdienliche umarbeitet, von Natur ein Kulturwesen.

Arnold Gehlen betrachtete den Menschen als „das biologische Sonderproblem“ (Gehlen), untersuchte „die morphologische Sonderstellung des Menschen“ (Gehlen) natürlich auch an der „Wahrnehmung, Bewegung, Sprache“ (Gehlen) und im Bezug auf „Antriebsgesetze, Charakter, Geistproblem“ (Gehlen). Er nennt im Kapitel „Tier und Umwelt Herder (1744-1803Herder) als Vorgänger“ (Gehlen) und sagt über Schopenhauer (1788-1860Schopenhauer), den Begründer der abendländischen Lebensphilosophie (Lebensphilosophie): „In der oben erwähnten Abhandlug »Die Resultate Schopenhauers«  (Gehlen) habe ich gesagt, daß Schopenhauer das allgemeine Schema der modernen Harmoniebetrachtung von tierischer Organisation und Umwelt zuerst entworfen hat. Dies geschieht in dem Kapitel »Vergleichende Anatomie« der Schrift »Über den Willen in der Natur« (1835Schopenhauer). Darin zeigt er die vollkommenene Harmonie des Willens, des Charakters - also Trieb- und Instinktsystems - einer jeden Tierart, seiner organischen Spezialisierung und seiner Lebensumstände, indem er von der »augenfälligen, bis ins Einzelne herab sich erstreckenden Angemessenheit jedes Tieres zu seiner Lebensart, zu den äußeren Mitteln seiner Erhaltung« spricht, wie »jeder Teil des Tieres sowohl jedem anderen als einer Lebensweise auf das genaueste entspricht, z.B. die Klauen jedesmal geschickt sind, den Raub zu ergreifen, den die Zähne zu zerfleischen und zu zerbrechen taugen und den der Darmkanal zu verdauen vermag, und die Bewegungsglieder geschickt sind, dahin zu tragen, wo jener Raub sich aufhält, und kein Organ je unbenutzt bleibt.« - ... - Uexküll (Uexküll) ... kam zu einer Ablehnung der naiven Vorstellung, die den Tieren unsere Welt als ihre eigene zuschreibt, während in Wirklichkeit jede Art ihre eigene artspezifische Umwelt hat, zu deren Bewältigung und Erfahrung sie ein System spezialisierter Organe besitzt. Kennen wir die Sinnesorgane eines Tieres, so können wir seine »Umwelt« rekonstruieren.“ (Gehlen). Gehlen geht in seiner empirisch-philosophischen Anthropologie von der menschlichen Antriebsstruktur aus, und weil die Sonderstellung des Menschen für ihn auf morphologischen Primitivismen auf dem Fehlen sicherer Instinkte beruht, bedarf ein so entstehender Antriebsüberschuß der Lenkung. Also auch einer menschenspezifischen Häuslichkeit (Häuslichkeit) !

Der letzte Streit um die Bedeutung der biologischen Anthropologie für Politik und Geschichte ist ja noch gar nicht so lange her: „Nicht von ungefähr hat Jürgen Habermas (*1927Habermas), einer der Hauptvertreter der neomarxistischen »Frankfurter Schule«, vor dem »im Dreieck Carl Schmitt (1888-1985Schmitt), Konrad Lorenz (1903-1989Lorenz), Arnold Gehlen entwickelten Institutionalismus« gewarnt. (Vgl. Institutionen). Die von Konrad Lorenz und seinen Schülern, vor allem von Irenäus Eibl-Eibesfeldt (*1928Eibl-Eibesfeldt), begründete moderne humanbiologische Verhaltensforschung bestätigt nämlich im Kern die Erkenntnisse Arnold Gehlens: Philosophische und biologische Anthropologie führen zu den gleichen Resultaten.“ (Ulrich March, Dauer und Wiederkehr - Historisch-politische Konstanten, 2005, S. 24). Richtig! Denn Gehlen ging ja „davon aus, daß der Mensch im Unterschied zum instinktsicheren Tier ein »Mängelwesen« darstellt und deswegen »aus ernster Not«, um zu überleben, »handelnd« der Umwelt begegnen muß und dabei entsprechende Kulturtechniken entwickelt. Damit der Mensch - so der Gedankengang Gehlens - die jeweils notwendigen Entlastungshandlungen nicht immer wieder neu entwickeln muß, ist er auf dauerhafte Institutionen angewiesen, die zwar einerseits seine individuelle Freiheit einschränken (nicht-biogenetisch gesehen ist der Mensch eh kein Individuum! Sloterdijk), andererseits aber die »Außenstabilisierung« menschlicher Gruppen sichern, ja überhaupt erst ermöglichen. Solche Institutionen - Familien, Kultverbände, soziale Hierarchien, staatliche Ordnungen - sind überlebensnotwendig, grundsätzliche Kritik an ihnen und die damit hervorgerufenen Auflösungstendenzen lebensfeindlich.“ (Ulrich March, ebd.). Wahrscheinlich hat gerade diese Einigkeit von Philosophie und Biologie Habermas noch mehr beunruhigt als die Tatsache, daß Philosophie und Biologie zu gleichen anthropologischen Ergebnissen gekommen sind. Auch Habermas ist (trotz seiner Herrschaft über das angeblich „herrschaftsfreie“, also in Wahrheit nicht-herrschaftsfreie Gespräch) nur ein Mensch, und der Mensch ist ein „Mängelwesen“, so Gehlen, „seine Natur ist seine Kultur“. (Gehlen). Tabelle

NACH OBEN
*

Das Buch Moral und Hypermoral (1969) von Arnold Gehlens zieht „einen ethischen Pluralismus ans Licht, d.h. es behandelt die Tatsache, daß es mehrere voneinander funktionell wie genetisch unabhängige und letzte sozialregulative Instanzen im Menschen gibt. Eine Ethik »aus einem Guß« ist immer eine kulturelle Stilisierung des Denkens, Fühlens und Verhaltens gewesen, plausibel aus einer kulturellen und politischen lage heraus, eine überspannte Metapher der Wirklichkeit, wie die Kunst. Im gegenwärtigen Zeitpunkz ist, wenigstens in der westlichen Welt, davon keine Rede, der Pluralismus mitsamt den darin mitgeborenen Krisen und Reibungen tritt deutlich ans Licht. Soziologisch gesehen gibt es daher miteinander streitende und moralische Gruppierungen, darunter laute und stumme, mit gedruckten und ungedruckten Katechismen, offiziell akzeptierte und totgeschgwiegene, dennoch lebende, mit allen Alltagskompromissen und den gelegentlichen Zusammenstößen, die die Stimme der wahrheit sind, nämlich des Pluralismus.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 10).

„Normalerweise leben die Menschen in einem Durcheinander »mittlerer Tugendhaftigkeit«, von durchschnittlicher Redlichkeit bei einiger Toleranzbreite; auch mit sehr verschiedenen Graden der Verhärtung, und so werden sie den Situationen teils gerecht, teils gehen sie sie gewohnheitsmäßig durch, teils bleiben sie stumpf. Eine verschärfte Grundsätzlichkeit und Konzentration wird im Leben der Individuen und Völker nur unter seltenen Bedingungen herausgefordert, so etwa angesichts ungewöhnlicher Risiken und Bedrohungen oder dann, wenn in Zeiten des Umbruchs einei ieologie dazu dient, ein Spannungsgefälle aufrecht zu erhalten, so daß der Gegner greifbar bleibt; auch gibt es Zeiten, da plötzliche oder chronische Erschütterungen die Reflexion aufjagen, die sich dann immer bis in die extremsten Positionen entfaltet. .... Es gibt mehrere Fundamente der Moral, mehrere Quellen des Sollens, die durchaus unabhängig, ja sogar miteinander unverträglich sind; dies stellt sich erst dann heraus, wenn Situationen eintreten, die extreme Lösungen erfordern, so daß sich das Ethos radikalisiert. So führte bekanntlich eine verschärfte, radikalisierte Jenseits- und Erlösungsreligion in der Regel zur kategorischen Verwermg bestimmter innerweltlicher Verhaltensweisen, einschließlich des dazugehörigen Ethos, z.B. der Familiengründung oder des Kriegsdienstes. Es gibt somit ethische Impulse, die in Realrepugnanz stehen, in sachlichem Widerstreit, aber diese Intoleranzen treten erst unter bestimmten Bedingungen hervor.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 26).

„Wenn eine Gesellschaft tolerant ist, d.h. in ethischen Grundfragen Diskordanzen als erträglich proklamiert, dann muß sie entweder in sich oder außer sich keine Feinde mehr haben oder ihre Beschwichtigungsformeln für ausreichend halten; sie mag auch von der Verharmlosung benommen sein, oder vielleicht hat sie bereits einen Tempel der Alleinherrschaft errichtet, in dessen Schatten alle anderen Werte bagatellisiert werden, wahrscheinlich dem Gotte Plutos, der übrigens den Alten als unmündig galt und als Kind dargestellt wurde. Der Übergang von der Torleranz in den Nihilismus des Geltenlassens von schlechthin Allem läßt sich schwer abgrenzen, diese friedliche Tugend ist daher im öffentlichen Bereich ungewöhnlich zweideutig, so daß D. H. Lawrence die Toleranz als eine »heimtückische moderne Krankheit« (Die gefiederte Schlange) beschreiben konnte.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 40).

Von der Moral Robespierres sagte Hegel, daß „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend zu machen heiße, die Wirklichkeit zerstören; der Fanatismus der Freiheit, dem Volke in die Hand gegeben, sei fürchterlich geworden (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie der Weltgeschichte, XV, S. 552). Schon aus den Beobachtungen, die man an den Kynikern und Stoikern anstellen kann, folgt das Gesetz der Freisetzung von Aggression durch die Radikalisierung der Moral.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 41).

„Das Kernstück des ethischen Wandels der Neuzeit besteht nun, wie der Soziologe Götz Briefs schon im Jahre 1926 ausführte, in der Ethisierung des Ideals des Wohllebens (Das gewerbliche Proletariat, in: Grundriß der Sozialökonomik, IX, S. 1Briefs). Nicht die bloße Abweisung von Not und Leiden, sondern das Erfüllungsglück selbst, das Wohlhaben werden hier zu Sollforderungen erhoben, und für jede Beeinträchtigung solcher Forderungen finden sich zurechenbare, haltbare Instanzen, die mit Empörung gemißbilligt werden. Der Zustand der Entbehrung oder gar des Leidens an ihr soll nicht sein und darf nicht sein. Da nun alle diese physiologischen und auch die vitalen Zustände von außen her durch die Andienung von Gütern in hohem Grade lenkbar und steigerbar sind, und da ferner die modernen Industriegesellschaften über die entsprechende Kapazität für Produktion und Verteilung verfügen, wird der Staat zum Adressaten der Erfüllungswünsche und die Politik der Idee nach zu einer Technik des Glücks. Damit ist der Sieg der Moral der Aufklärung vollendet, denn sie hatte diesen Weg eingeschlagen.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 61). Kunze

„Die innere Verbindung der Lusterlebnisse mit dem Rationalismus ist von Bentham (1789) nur defibitorisch begriffen worden, wenn er den Nutzen als diejenige Eigenschaft in beliebigen Objekten definierte, wodurch die Lust, Wert oder Glück hervorbringen oder umgekehrt das Einterten von Unglück, Schmerz und Übeln verhindern. Weit tiefer sah Max Scheler (Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik, 1913, S. 349): »Aller praktische Eudaimonismus, jedes ethische Verhalten, in dem Lustgefühle Ziele und Zwecke des Strebens und Wollens darstellen, muß notwendig die Tendenz annehmen, alle in ihm enthaltene Willenstätigkeit auf die bloße Vermehrung der sinnlichen Lust zu richten, d.h. also hedonistisches Verhalten zu werden. Der Grund dafür ist, daß nur die Ursachen der sinnlichen Lust unmittelbar praktisch lenkbar sind.« Wir wollen hier einen Moment verweilen und feststellen, daß der Liberalismus von Anfang an in optimistisch-verharmlosender Form den Individualismus Aller zu einem kollektiven Glück zusammenspielte - eine vorpolitische Gutmütigkeit. Für Morelly ist die Eigenliebe von Natur aus unlösbar mit dem Instinkt des Wohlwollens verknüpft, so spielt sie in der Sphäre der gesellschaftlichen Beziehungen dieselbe Rolle wie Newtons Gravitatiosngesetz in der physischen Welt. Dies entspricht der Idee einer gleichmäßigen Glücksverteilung, und nach Helvetius und Holbach hat es die Natur so eingerichtet, daß der Mensch nicht glücklich sein kann ohne das Glück anderer - zu pädagogisch, um wahr zu sein. Doch ließ sich diese Ideologie politisch umsetzen, und den Übergang zu einem egalitären Glückssozialismus findet man schon bei Babeuf: »Garantiert jedem einzelnen Bürger einen Zustand des beständigen Glücks, die Befriedigung der Bedürfnisse Aller, ein unveränderliches Auskommen, unabhängig von der Unfähigkeit, der Unmoral und dem schlechten Willen der Machthaber!«  In dieser politischen Hinsicht konnte Saint-Just sagen: »Das Glück ist eine neue Idee in Europa«. Wenn die Daseinsnot am schlechten Willen der Regierenden liegt, kann man wie ein Provinzanwalt das große, keinesegs menschenfreundliche Schicksal auf Personen ablenken und diese haftbar machen.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 63-64).

„Der Haß gegen den Luxus der Feudalen ... haben nun gerade bei den logisch konsequentesten, d.h. blutigsten Fortschrittlern den Gedanken an Glücksmaximierung ausgeschlossen: Robespierre, Sain-Just und Babeuf verkündeten einhellig: »le bonheur de médiocrite« - das Kleingärtnerglück. »Wir bieten euch das Glück, das aus der Freude entsteht, wenn man das Notwendige ohne Überfluß genießt; das Glück, frei und geruhsam nur zu leben, sich in Frieden an den Sitten und Erfolgen der Revolution zu erbauen und zur Natur zurückzukehren ..., ein Pflug, ein Feld und ein Häuschen, fern von der Gier des Räubers, dort ist das Glück.« (Jakob L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, 1961, S. 28)). Nach Saint-Just von Robespierre gebilligten Programm sollte es keine Dienstboten mehr geben, keine goldenen oder silbernen Geräte, und Kinder unter 16 Jahren sollten gar kein Fleisch essen, Erwachsene nur alle drei Tage. In Paris verteilte man eine Zeitlang nur eine Brotsorte, das Gleichheitsbrot (Wilhelm Roscher).“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 64). Kunze

„Daß der Humanitarismus oder die zur ethischen Pflicht gemachte unterschiedslose Menschenliebe von dem Masseneudaimonismus zu unterscheiden ist, auch wenn beide sich heute aufs engste verbunden haben, geht schon aus seiner antiken Herkunft hervor. Dagegen kam der Masseneudaimonismus als Idee, noch nicht als lebensfähige Realität, erst in der Aufklärungszeit zutage und fand damals schon die Amalgamierung mit Vorstellungen von allgemeiner Gleichheit. Der Humanitarismus kann mit und ohne Begleitung religiöser Motive auftreten, er ist ... auf Weltverkehr und Großimperien bezogen und durchaus politisch, wenn seine Demut als Herrschaftsmittel kluger Minderheiten brauchbar ist, die vorhanden Exklusivrechte unterlaufen, die Oberklassen moralisch entwaffnen oder den präsumtiven Weltherrn sich andienen wollen. Für großimperiale Ambitionen ist er deshalb bis zu einem gewissen Grade bündnisfähig.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 79-80).

„Das Aufkommen des Humanitarismus läßt sich in der Spätantike gut beobachten. Nach endlosen, mit äußerster Grausamkeit geführten Kämpfen und Ausrottungen, nach dem Aufstieg und Niederbruch immer neuer Reiche und Herrschaften, nach wechselseitigen Abschlachtungen, bei denen Staaten- und Bürgerkriege ununterscheidbar wurden, hatte sich im 4. Jahrhundert (v. Chr.; Anm. HB) die Friedenssehnsucht ausgebreitet, den großen Handelsräumen folgend. Das Alexanderreich setzte die An- und Ausgleichung von Hellenen und Barbaren im Lösungsmittel der griechischen Kultur ins Werk, den neuen Gottkönigen und Weltherrschern konnte eine zugleich apolitische, pazifistische und überall kursfähige Ideologie nur genehm sein; derselbe Vorgang wiederholte sich später noch einmal, als es darum ging, das römische Imperium mit dem gleichen Geist zu imprägnieren. Arnold A. T. Ehrhardt (Politische Metaphysik von Solon bis Augustin, 1959) sagt deshalb, die mittlere Stoa zur römischen Zeit habe den politischen Fühern der damaligen zivilisierten Welt die Aufgabe zugewiesen, das Licht der hellenischen Zivilisation über die ganze Erde zu verbreiten. Licht der ellenischen Zivilisation bedeutet natürlich: die Ethik und Ideologie ihrer Wortführer. Diese aber hätten sich kaum so durchdringend zur Geltung gebracht, wäre ihnen nimt die Mentalität großer Teile der Bevölkerung ntgegengekommen. Das brachte die Realität in die Theorie. Schon im eigentlich griechischen Raum wurde im 4. Jahrhundert (v. Chr.; Anm. HB) die Kriegführung humaner, Städtezerstörungen und Massakers seltener, man ließ Gefangene auch ohne Lösegeld frei. Parallel mit dieser Änderung stieg der Einfluß der Frauen, in Athen konnten sie ohne Anwalt vor Gericht plädieren, die Schuldhaft wurde abgebaut. Das Alexanderreich sah wachsenden Reichtum, Banken, Mietshäuser, Theater breiteten sich bis in die kleinsten Städte aus, der Hafenzoll zu Rhodos warf eine Million Drachmen ab. Der nach Alexandrien geflüchtete Kleomenes von Sparta erhielt eine Pension von 144000 Drachmen - zweihundertfünfzig Jahre vorher hatte man den Pausanias noch im Tempel eingemauert und verhungern lassen. Alle denkbaren Wissenschaften wurden betrieben, die Emanzipation begann: Damen ließen ihre Wagen in Olympia laufen, in Ägypten wie in Sparta waren sie Grundbesitzerinnen, sie schrieben Bücher und gründeten Clubs. So hält sich im Umkreis erst der hellenistischen Kultur, dann des römischen Reimes das Ideal der Menschenfreundlichkeit als öffentliche Meinung, zur Zeit Domitians ist Dio Chrysostomos »ganz durmdrungen von dem Humanitätsgedanken, wie die Kyniker und Stoiker hält er die Unterschiede der Menschen mit Ausnahme der sittlimen für nimtig: das ganze Menschengeschlemt ist achtenswert und gleich vornehm« (v. Arnim). Unter dem Einfluß der stoischen Ethik drangen philanthropische Tendenzen vor, das Leben des Sklaven, die Ehre der sklavin wurden durm immer neue Gesetze geschützt; der Staat begann sich sozial zu betätigen, indem er arme Kinder verpflegte, bei Bankrotten und Konfiskationen schonte man das Existenzminimum der Angehörigen, ein ungemeiner Fortschritt im Vergleich zu der eisernen Härte des alten Schuldrechts. Trajan wünschte, daß man den Christen nicht besonders nachspüren solle, so verdächtig sie seien, und keinen unterschriftslosen Anzeigen nachgehen. Ulrich Kahrstedt (Geschichte des griechisch-römischen Altertums, 1948) beschreibt uns, wie vom Philosophenkaiser Marc Aurel abwärts aus allen Schichten derselbe Ton klingt: Milde, Mäßigung und Frömmigkeit tun not, niemand ist frei von Sünde, niemand werfe einen Stein auf den Nächsten. Die Eroberer und Feldherren waren Verirrungen auf dem Wege zum wahrhaft Guten - hundert Jahre später allerdings mußte Aurelian gegen die Barbaren schon die Hauptstadt selber ummauern, und von geordneten Finanzen war keine Rede mehr, der einfache Zugriff auf Sachwerte ersetzte sie. Aber die Liebe zur stummen Kreatur klang auf, die Tempelverwaltungen verlegten Prozessionsstraßen, deren Steilheit für die Zugtiere eine Qual war. Im Jahre 1961 wurde ein Taxifahrer in Köln wegen Tierquälerei zu 70 DM Geldstrafe verurteilt, weil er mit seinem Wagen in einen Taubenschwarm geraten war und drei getötet hatte. Auf ihr Verhalten hätte er sich einstellen müssen, sagte der Richter (vgl. Der Spiegel, 7 / 1961).“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 80-81).

Ist die moderne Moral nur noch Konsumentenmoral?  Jedenfalls ist das humanitäre Ethos ist „unter die Merkmale der Dekadenz zu zählen, wobei das schwer definierbare, aber unentbehrliche Wort Dekadenz etwas wie den inneren und äußeren Kontaktverlust mit der Geschichte bezeichnen würde, wobei sich biologische Kategorien, meist incognito, im Bewußtsein durchsetzen. Die ideologischen Autoren wie Arnold Toynbee strahlen dann einen Optimismus aus, den sie im Grunde gar nicht aus geistigen Quellen beziehen: »Ich glaube immer noch, daß nicht allein bei uns (!) sich der moralische Standard während der letzten zweihundert Jahre gewaltig verbessert hat ..., tatsächlich glaube ich, ganz entgegen der Mode, an moralischen Fortschritt, das ist eine zunehmende und aktive Anerkennung der Tatsache, daß andere menschliche Wesen genauso menschlich sind wie man selbst« (FAZ, 28. 12.1962). Diese Anerkennung vollzieht sich jenseits von Phrasen und allein überzeugend im biologischen Bereich. Wenn Toynbee übrigens seine Oberzeugungen als gegen die Mode gerichtet empfand, dann täuschte er sich, sie blieb ganz auf seiner Seite, denn diese Ethik ächtet im Herrschaftsbereich der Massenmedien, zumal in der Bundesrepublik, und im Zusammenhang mit dem Sozialeudaimonismus so erfolgreich jede andere Auffassung menschlicher Beziehungen, daß man mit Don Quijote rivalisieren muß, um auch nur Einschränkungen anzumelden. »Es gibt heute, sagte Pareto, eine humanitäre Religion, die den Gedankenausdruck der Menschen reguliert, und wenn sich zufällig einer dem entzieht, dann erscheint er als Ungeheuer, wie jemand im Mittelalter als Ungeheuer erschienen wäre, der die Göttlichkeit Jesu geleugnet hätte« (dazu Cours de Soc. Gén., § 1172, I). Es ist allerdings auch diesem großen Geist nicht gelungen, den Humanitarismus abzuleiten, so daß er in den Interpretationen wemseite. Im § 1139 des Hauptwerks begriff er ihn als entstanden aus dem sozialen Ressentiment, in § 2471 aus der Abschwächung haltender Instinkte, dann § 2474 als eine Krankheit der Energielosen, in § 1143 aus der instinktiven Abwehr des Leidens, die sich als Symptom bei den Eliten in Dekadenz finde. Aber das alles ist zu psychologisch gedacht, es handelt sich im Grunde um eine »Erweiterung«, wie wir sie schon am Anfang des Kapitel 5 (Gehlen) feststellten, als von der Erweiterung ursprünglich instinktnaher Regulationen die Rede war. Jetzt haben wir einen neuen Fall dieses anthropologisch sehr bedeutenden Prozesses der Elargierung von Instinktresiduen, die sich wie Gummi ausdehnen können und dann sehr große Bereiche einbeziehen. Hier handelt es sich nämlich um die Ausdehnung und Entdifferenzierung des ursprüngliche Sippen-Ethos oder von Verhaltensregulationen innerhalb der Großfamilie. Dies sind von Grund aus antistaatliche, pazifistische und generative Einstellungen. Im Bunde mit dem Masseneudaimonismus wird die Unwiderstehlichkeit dieses Ethos verständlich, das mit der Hebung des Lebensstandards aller Menschen und mit ihrer gegenseitigen friedlichen Anerkennung zugleich auf eine globale Endogamie zusteuert, so daß man zu der Überzeugung kommt, wir hätten hier den Ausdruck oder die Ideologie der steilen Zunahme der Weltbevölkerung vor uns - die rasende Multiplikation des Vermehrungsprozesses gibt sich damit moralisch selbst grünes Licht. »Eine Menschheit«, sagt Friedrich Jonas (Die Institutionslehre Arnold Gehlens, 1966, S. 104) »die sich nicht mehr steigern kann, weil sie sich selbst zum Thema gemacht hat und entschlossen ist, nur noch auf ihre eigene Bedürftigkeit loszugehen, eine solche Menschheit hat sich in das Fatum verwandelt, das zu übersteigen bislang ihr Thema war.«“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 82-83).

„Der Falke mit schlechtem Gewissen findet sich in der politischen Zoologie in der Nähe der mörderischen Taube. In diesen Siutuationen können sich die Verantwortlichen, denen die Sicherheit des Gemeinwesens anvertraut ist, von außen wie von innen gefährdet fühlen. Manche Unterdrückungsmaßnahmen der spätrömsichen Kaiser erklären sich so, die von der Ausbreitung des Christentums und der stoischen Intellektuellenmoral sich in ihrer Hauptaufgabe bedroht fühlen mußten, wie die Feuerwehr von einem Brandherd an der Grenze des Riesenreichs zum anderen zu eilen.Denn schon immer muß eine greifbare Konsequenz des Humanitarismus, war er religiös oder nicht, fühlbar gewesen sein: Wer jeden Menschen schlechthin in seiner bloßen Menschlichkeit akzeptiert und ihm schon in dieser Daseinsqualität den höchsten Wertrang zuspricht, kann die Ausbreitung diese Akzeptierens nicht mehr begrenzen, denn auf dieser Bahn gibt es keinen Halt. Die Handlungen und Gedanken der Menschen, ihre Bosheiten, Tugenden und Laster, Künste und Spiele, Klugheiten und Narrheiten - nichts wird von der Geltung ausgenommen, außer allein die Behauptung und Haltung, die erkennen läßt, daß irgendetwas nicht gelten soll - wer das sagt, hat »Vorurteile« und kommt nicht in Betracht. Der politische Nutzen dieses Ethos ist eklatant, er besteht in der Chance, vom künftigen Sieger verschont zu werden, wenn man es ihm Beibringen kann; über den unmittelbaren Kassennutzen braucht man kein Wort zu verlieren.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 143-144).

„Jetzt gilt es, eine soziologische Lokalisierung der Moralhypertrophie mit der Frage vorzunehmen, wo eigentlich die in dieser Hinsicht produkttiven Gruppen zu suchen sind. Da hatte zuerst Nietzsche im Zusammenhang mit seinem Kampf gegen das Christentum die pazifistischen Tugenden mit soziologischen Kategorien zu begreifen gesucht, wenn er in »Jenseits von Gut und Böse« (1885/6) den Begriff der »Sklaven-Moral« für Eigenschaften entwarf, die den Leidenden das Dasein erleichtern und insofern für sie zweckmäßig sind. »Hier kommt das Mitleiden, die gefällige hilfsbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiß, die Demut, die Freundlichkeit zu Ehren. ... hier ist der Herd für die Entstehung jenes berühmten Gegensatzes gut und böse« - wobei gedacht ist, die von jenen Tugenden unterschiedene Herren-Moral werde von unten her und aus Lebensneid als böse qualifiziert. Das waren grobe Vereinfachungen, und vor allem bemerkte Nietzschie nicht, daß seine sogenannten Sklaven-Tugenden ganz allgemein die im Umkreis der Familie entwickelten sind. Er kam überhaupt mit dem Pluralismus der ethischen Instanzen nicht zurecht, denn nebenher gingen Versuche, die Moral überhaupt und als solche zu biologisieren, zuerst mit einer Interpretation von Schuld und schlechtem Gewissen als nach innen gewendeter Aggression, es handele sich um einen »eingekerkerten und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladenden und auslassenden Instinkt der Freiheit« (Zur Genealogie der Moral, 1887, S. 17); und dann noch drastischer mit der Behauptung, alle Tugenden seien physiologische Zustände: »Mitleid und Liebe zur Menschheit als Entwicklung des Geschlechtstriebes. Gerechtigkeit als Entwicklung des Rachetriebes, Tugend als Lust am Widerstande« u.s.w. (Der Wille zur Macht, S. 255). Seine Radikalisierung zu einer bloßen biologischen Instinkttheorie hin endete folgerichtig mit dem Satz: »Es gibt keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Interpretation derselben« (S. 258), betrieben von den »Schlechtweggekommenen«, den vital Gebrochenen oder, um mit Benn zu sprechen, den Hustern und Henkelohren.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 147).

„So war Nietzsche von einer soziologischen Auslegung zu einer abstrakt biologischen, ja medizinischen gekommen und hatte dabei das Phänomen, um das es ging, nämlich die Humanitärtugenden, überhaupt preisgegeben. Wir ergreifen hier die Gelegenheit, um in wenigen Worten die eigene Theorie in Erinnerung zu bringen: Das Humanitärethos ist das erweiterte Ethos der Großfamilie, es enthält also von vornherein sowohl biologische, sogar feminine, als auch institutionelle Einschüsse, und in dieser letzten Hinsicht hängt es ins Leere, wenn es nicht durch weiträumige Institutionen wie Kirchen oder Logen gehalten wird. Zu hypertrophem Anspruch kommt es in der Verbindung mit dem Ethos des Massenlebenswertes und vor allem dann, wenn die entgegenhaltenden eigentlich politischen Staatstugenden wegfallen, weil der Staat ruiniert oder selbst zum Wohlstandsapparat geworden ist. Damit ist aber die oben aufgeworfene Frage nach dem soziologischen Nährboden noch nicht beantwortet, die nun Max Weber und Hannah Arendt in der Richtung von Nietzsches Sklavenmoral aufnahmen. Arendt nahm ebenfalls an, daß Güte, Menschlichkeit und Vorurteilslosigkeit Privilegien der Parias, also negativ privilegierter schichten seien (Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, 1938, S. 109).“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 148-149).

„Hiermit sind wir im Bereich der »Gesinnungsethik« angekommen, d.h. der Lehre einer unbedingten Vorranggeltung eines bestimmten Ethos mit Ablehnung der Alltagskompromisse auch zwischen verschiedenen ethischen Instanzen. Der gesinnungsethische Humanitäre verwirft z.B. den Wehrdienst und dessen Tugenden, der gesinnungsethische Patriot umgekehrt den Humanitarismus. Auch das Gesinnungsethos entstand in der Antike; als Plinius Statthalter in Bithynien war, etwa im Jahre 112, wurde das Bekenntnis zu Christus mit dem Tode bestraft auch ohne Nachweis des Kultes, und umgekehrt behauptete der gleichzeitig lebende Justinus, ein Diener Christi sei schon seiner ganzen Natur nach frei von aller Schuld - die Gesinnung kompromittierte oder qualifizierte also unabhängig vom Verhalten, mithin absolut.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 149).

„Nun aber zurück zu der soziologischen Frage. Die Beziehung einer humanitär-masseneudaimonistischen Gesinnungsmoral auf den Paria scheint uns nur gewisse Fälle zu treffen, die These war im 19. Jahrhundert, im Zeitalter des »Proletariats« sicher zutreffender als heute. Es gilt auch, den unübersehbar femininen Einschlag richtig zu verstehen. Der Pazifismus, der Hang zur Sicherheit und zum Komfort, das unmittelbare Interesse am mitfühlbaren menschlichen Detail, die Staatswurstigkeit, die Bereitschaft zur Hinnahme und Akzeptanz der Dinge und Menschen wie es so kommt - das sind doch Qualitäten, die ihren ursprünglichen und legitimen Ort im Schoße der Familie haben, und in denen folglich der Feminismus seine starke Farbe dazutut, denn die Frau trägt instinktiv in alle Wertungen die Interessen der Kinder hinein, die Sorge für Nestwärme, für verringertes Risiko und Wohlstand. Hier liegen die Vorbedingungen zu einer endlosen Erweiterung des Humanitarismus und Eudaimonismus, wenn die Gegengewichte, die im Staatsethos liegen, kompromittiert, verboten oder verfault sind.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 149).

„Unsere soziologische Verortung der Moralhypertrophie, die Frage nach den Trägerschichten, zielt keineswegs auf den Ersatz der Paria-Theorie durch den Feminismus hin, der vielmehr nur eine Zutat zu dem ganzen Komplex ist. Es bietet sich vielmehr eine einfache und plausible Lösung der Frage an, welche Kreise am der Propagierung dieses Ethos und an der Detaildurchführung ein Interesse haben und darüber hinaus in der Lage sind, es auch in voller Verve und Ausschließlichkeit auszuben, einschließlich der Aggressivität, die jedesmal von der »Reindarstellung« einer einzelnen Ethosform enthemmt wird. Und das sind gerade nicht die ... Parias, sondern privilegierte Klassen, nämlich solche, die faktisch oder gar rechtlich von den unlösbaren ethischen Konflikten freigestellt sind, die auf jedem denkenden Menschen liegen, der in aktive, dauernde Kämpfe verwickelt ist, seien sie politischer oder wirtschaftlicher Art. Privilegierte Kreise sind auch solche, die die Folgen ihrer Agitation nicht zu verantworten haben, wiel sie diese mangels Realkontakt gar nicht ermessen oder sich alles erlauben können. .... Mit einem Wort, es handelt sich um die »Intellektuellen« und hier insbesondere um die Kernbestände derer, die nicht in der Wirtschafts- und Verwaltungspraxis tätig sind, wie Richter, Anwälte, Politiker, Volkswirtschaftler u.s.w.. »Intellektuelle«, sagt Schumpeter (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1942, S. 237), »sind in der Tat Leute, die die Macht des gesprochenen und des geschriebenen Wortes handhaben; und eine Eigentümlichkeit, die sie von anderen Leuten, die das gleiche tun, unterscheidet, ist das Fehlen einer direkten Verantwortung für die praktischen Dinge.«“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 150-151).

„Das Wort Verantwortung hat nur da einen deutlichen Sinn, wo jemand die Folgens eines Handelns öffentlich abgerechnet bekommt, und das weiß .... Wo eine solche Instanz nicht zu sehen ist oder ausdrücklich verpönt, wie im Artikel 5 (»Meinungs- und Pressefreiheit, Freiheit der Kunst und der Wissenschaft«) des Grundgesetzes die Zensur, dort ist man von der Verantwortung entlastet und kann sich mit vollem Herzen der Moral der Anderen annehmen (und also das Grundgesetz untergraben und also auch durch Zensur herrschen! Anm. HB).“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 151).

„Dieser Individualismus des Menschen, der in die Vereinzelung geschoben wird, ist nicht mit dem früherer Jahrhunderte zu verwechseln, wie er unter Bedingungen von Feudalgesellschaften ausgeformt und stilisiert wurde. Jacob Burckhardt beschrieb bekanntlich den Früh-Individualismus der Renaissance-Zeit, den man soziologisch als ein Oberklassenphänomen des Spätfeudalismus und des aufsteigenden Bürgertums interpretieren muß, die sich zuerst in Italien vermischten. Persönlichkeit zu sein, mit einem Normanspruch der Eigenrichtigkeit, mit einer letzten Kompetenz-Arrogation, das erwies sich als eine Formel, die nach beiden Seiten hin wirksam werden konnte - in Richtung einer aristokratischen Unabhängigkeit oder in Richtung des schnell sich ausdehnenden Unternehmer-Kapitalismus. Den sozialen Zusammenhang sicherten noch für lange Zeit die engen Horizonte, die gleichmäßigen Lebensbedingungen und die in den Volksmassen unverbrauchte Kirchlichkeit, schließlich auch das Disziplintraining durch die allgegenwärtige Verwaltung absolutistischer Fürsten. Indem Persönlichkeit zu sein selbst eine Rolle wurde, erwies diese sich als erstaunlich sozialisierbar, der Individualismus wurde im 19. Jahrhundert populär, ist es noch. »Die Wirtschaft«, so sagt das Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes vom November 1963, »hat der freien und selbstverantwortlimen Entfaltung der Persönlichkeit innerhalb der menschlimen Gemeinsschaft zu dienen« - ein interessanter Satz, auch in Hinsicht des unvermittelten Nebeneinanders von Individuum und Menschheit, man vermißt die Zwischeninstanzen, offenbar ist bei uns die Persönlimkeit schon plausibler als die Nation.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 156-157).

„Der selbstreflektierte, überreizte Individualismus heißt Subjektivismus, in ihm rast der Zerstörungsvorgang der geistigen Halte und Inhalte zu Ende, sie werden aus der unbewußten Verbindlichkeit in die Erlebnisverarbeitung, Reflexion und »Aussage« heraufgepumpt und dann ausgekaut. Es liegt in der Natur der Dinge, daß sich in den künstlerischen, literarischen und redaktionellen Bereichen dieser Sachverhalt greifbarer darstellt als anderswo, aber er läßt sich verallgemeinern. .... Heutzutage ist die Haut wichtig, sie hält die vielen Seelen zusammen, und folglich trägt man sie nicht gern zu Markte. R. Hinton Thomas (The Commitment of German Studies, 1965) hat in wenigen Worten diesen Wahrheiten Ausdruck gegeben: Man muß, sagt er, den Glauben aufgeben, daß das Individuum in irgendeinem beachtlichen Grade in seiner Erfahrung eine Ganzheit und Einheit erfassen kann, die früheren, geschichtlich ausgefüllteren Generationen noch gegeben waren. Und wenn die Erfahrungen ihrerseits den Menschen nicht mehr vereinheitlichen, wenn eine pluralistische Gesellschaft das Individuum gleichzeitig mit widersprechenden Forderungen und auseinanderlaufenden Chancen bestürmt, dann folgt als Tatsache die »pluralistische Persönlichkeit«.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 157-158).

„Dem in krisenhaften Zeiten ohnehin halsbrecherischen Ideal der autonomen Persönlichkeit stellt die industrielle Epoche nicht mehr die geeignete Umwelt zur Verfügung, denn die Unübersehbarkeit der Superstrukturen macht es sinnlos, die im kleinen Individualbereich gemachten Erfahrungen auf die großen Verhältnisse zu übertragen, man muß sich da mit Meinungen und Gefühlsstößen begnügen, auf die man von den Massenmedien eingeübt wird, deren langfristig gesehen enorme Indoktrinationskraft nur von ihnen selbst bestritten wird. Die Fiktion, frei zu sein, läßt sich leichter als jede andere durchhalten, weil man adoptierte Meinungen und Gesinnungen als eigene erlebt und in die Tagesgeschäfte des Privatalltags einbaut, wobei Politisches nur insoweit wahrgenommen wird, als es in Erlebnisbegriffe des Alltags und Berufs übersetzbar ist. Eben deshalb wird es von vornherein moralisierend dargeboten, und es ist gar nicht leicht zu durchschauen, daß die heutzutage geübte Allgegenwart der Politik dieser Art auf eine Entpolitisierung von innen her herauskommt. So ergibt sich ein neuer Typus des Individualismus oder Subjektivismus: Leistungswille geht mit Ichbetonung und Empfindlichkeit gegenüber Geltungsansprüchen Anderer zusammen, und die Forderung auf Akzeptanz so, wie man ist, mit einer sozusagen provisorischen Einstellung zur Umwelt. Im Grunde ist das eine ganz vernünftige Einpassungs-Mischung der vielen Atome in die großen unübersehbaren und unlenkbaren Aufund Abmärsche der Ereignisse. So entfaltet sich das Persönliche in dieser Aufbereitung gerade deswegen ungehindert, weil es nichts Wirkliches mehr verändern kann, denn das »Umfunktionieren« ist ja doch nur eine Umschreibung für Zerstörungsakte.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 158).

Das Selbstgefühl, das in der von Gehlen beschriebenen Privatisierung erreichbar ist, kann „nur prekär ausfallen, denn Familienvater zu sein ist zwar ehrenwert, aber kaum besonders ruhmvoll, zumal die neuen Lebensbedingungen mit ihren nervösen und moralischen Belastungen der stärkeren Vitalität der Frau und ihren ebenso guten, aber problemloseren Gehirnen ein merkbares Übergewicht zuteilen. Hier liegt wohl eine der Wurzeln des modernen Feminismus.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 161-162).

„»Die Präponderanz der Moralhaftigkeit«, sagt Herbert Krüger (Die öffentliche Massenmedien als notwendige Ergänzung der privaten Massenmedien, 1965, S. 15), »wird von den Publizisten selber als die Notwendigkeit erkannt, Meinungen und Vorgänge so zu transformeiren, daß sie Jedermann zugänglich und eingänglich werden.« Da wird deutlich, wie die Transformation ins Moralisieren als Erkenntnisersatz nützlich ist. Als zur allgemeinen Überraschung, die unter den Informierten wie Nichtinformierten gleichgroß war, im Frühsommer 1967 der kurze Nahostkrieg ausbrach, konnte man die letzte Möglichkeit der Reaktion, die noch blieb, die moralisierende, gut beobachten, denn durchschaut und verstanden hatte man nichts, und so komplizierte Völkerrechtsfragen wie diei den Golf von Akaba betreffenden gab sich niemand Mühe zu erlären. So wurde wieder einmal wahr, was David Hume im Jahre 1739 schrieb: »Das Äußerste, was Politiker zustande bringen können, besteht in einer Erweiterung der natürlichen Gefühle über ihre natürlichen Grenzen hinaus« (Abhandlung über die menschliche Natur, III/II/2).“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 163).

„Dieses vielleicht etwas ermüdende Hin und Her sollte das Janusgesicht der Tugenden aufzeigen und etwas von dem spüren lassen, was wir wirklich um uns herum wahrnehmen. Nietzsche beschrieb zuerst den »Gesamt-Anblick des zukünftigen Europäers - ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos« (aus: Der Wille zur Macht). Die Schilderung der wechselnden psychomoralischen Stand- und Fluchtpunkte geht fast über die Möglichkeiten der Formulierung hinaus, und hierüber soll noch einiges gesagt werden. Wir leben aus objektiven Gründen in einem Zustand der Sprachverarmung, der differenzierte Gedankengänge seltener macht und sie an den Rand des Tagesbewußtseins schiebt. Damit steigt die Neigung zu moralisierenden Argumenten, um den Verständigungsprozeß abzukürzen. Diese Verarmung der Sprache erfolgt aus mehreren Gründen: Die Massenbildung bewirkt selbst schon eine Simplifizierung des Denkens, die Massenmedien arbeiten in dieselbe Richtung, und: die Politik setzt oft ganze Bedeutungsfelder unter Druck.. In dieser Hinsicht gibt es heute Beutebegriffe wie »Diskussion«, «Demokratisierung« oder »autoritär«, die sofort jeden Sachwiderspruch zum Schweigen bringen. Sehr merkwürdig ist dabei, daß die zweifellos zunehmende und in die Breite wachsende Zahl von Unterrichteten, bei hektischem Ausbau der Hochschulen, die Sprachverarmung nicht verhindert. George Steiner erwähnt in seinem Aufsatz »Der Rückzug vom Wort« (in: Merkur, 172, 1962) eine Schätzung McKnights, dahingehend, daß 50% der modernen Umgangssprache in England und Nordamerika auf 34 Grundwörter zurückgingen. »Der heutige Autor«, sagt Steiner, »neigt dazu, viel weniger und einfachere Wörter zu verwenden, sowohl weil die Massenkultur die Fähigkeit des Lesens und Schreibens verwässert hat, als auch weil die Anzahl der Realitäten, über die Wörter in notwendiger und genügender Weise Rechenschaft ablegen können, sich drastisch verringert hat« (S. 513f.). Heute stehe dem Halbgebildeten der Zugang zur wirtschaftlichen und politischen Macht offen, das habe eine drastische Minderung des Reichtums und der Würde des sprachlichen Ausdrucks mit sich gebracht.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 177-178).

„Nietzsche hat versucht, zwei große Gegensätz zu konstruieren und sie auf geradezu medizinisch definierte Gruppen zu verteilen, die Starken und Gesunden gegen die Schwachen und Angekränkelten. Bergosn trennt offene und geschlossene Gesellschaften und die zugeordneten Moralen der Autorotät und des Fortschritts. Wir dagegen nehmen einen pluralistischen Ansatz und stellen in Rechnung, daß Staat und Gesellschaft sich ineinanderschieben, freidliche und latent explosive Zustände in Mischformen eingehen. Dadurch wird der problemlose Alltag durchzogen von halbartikulierten, chronischen Konflikten, und die moralisierende Aggression ist eine der Reaktionen auf diesen bedrückend-extremen Zustand. Andere Reaktionen, wie der Zynismus, die stagnierende Zerstreutheit, der alberne Unernst oder die Rebarbarisierung in Kriminalität oder Pornokratie blieben hier unerörtert.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 181).

„In der Bundesrepublik dieser Tage gilt der öffentlichen Meinung der abstrakte Humanitarismus als selbstverständliche Leitmoral. Die anthropologische Ableitung dieses Ethos ist uns im Kapitel 6 (Gehlen) gelungen, es handelt sich um eine »Erweiterung« des primären Ethos der Großfamilie und ihrer Brüderlichkeit, wobei »Erweiterung« eine Kategorie darstellt, wir fanden noch andere Anwendungsfälle des Begriffs. Wie wir ebenfalls im Kapitel 6 (Gehlen) sahen, ist diese Ethos von dem Humanismus der kommunistischen Gesellschaften zu unterscheiden, die nicht bereit sind, vom Klassenkampf zu abstrahieren. Ebenso steht auch der Humanismus im klassischen Sinne für sich, und zwar als eine sehr spezielle kulturelle Differenzierung.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 181).

„Der Humanitarismus liefert nun nicht nur eine solche (Aggressivität der guten Sache; Anm. HB), sondern er verlangt auch nichts, weder Steuern noch Wehrdienst, und er geht dazu noch mit allen wünschbaren Dingen zusammen, mit dem Vorrang der privaten Interessen des Familienlebens (oder sogar des Singlelebens; Anm. HB), mit der ethischen Auszeichnung des Wohlstandes, der endlich nach langer Einsppruchszeit des askesegeneigten Christentums sein gutes Gewissen bekommen hat, und mit dem gerade bei uns verbreiteteten abstrakt egalitäten Sozialismus .... Aber damit nicht genug. Das humanitaristische Ethos, zur Alleinherrschaft oder letzten Instanz erhoben, vermag von den Widersprüchen zu entlasten, die wir im vorigen Kapitel (Gehlen) skizziert haben, und es befreit wirklich das Gewissen, nämlich dadurm, daß es die Gegenposition politischstaatlicher Wamsamkeit bagatellisiert. Je mehr der Staat sich auf eine Rolle als Exekutive von Verbandskompromissen und Auszahlungskasse beschränkt, desto mehr kommt er diesen Tendenzen entgegen. Diese Entlastungsleistung ethischer Art, wie sie eben angedeutet wurde, hat aber eine sehr große soziologische Bedeutung. In früheren Zeiten des Absolutismus und noch der konstitutionell begrenzten, aber tätigen Königsmacht haben sehr kleine Kreise die Entscheidungen erwogen und getroffen, und zwar in erster Linie solche, die traditionell dazu berufen waren. Die Gewissensprobleme der Machtausübung, wie sie z.B. noch den alten Kaiser angesichts des Rückversicherungsvertrages beunruhigten, die stets verwendeten unsagbaren Mittel, die Listen und Gewalttaten bewegten nur eine hauchdünne Schicht, die an solche Probleme seit Generationen gewöhnt war. Mit der Demokratie wird jedermann zur Politik herangezogen, und er wird von Großereignissen im Gewissen betroffen, zu denen er nur mit einem Zettel beitrug - man denke an die (us-)amerikanische Vietnam-Opposition. Francis Osborn, ein Freund von Hobbes, glaubte daher, »that the common man was made to feel guilty«, daß der gewöhnliche Bürger dazu da war, sich schuldig zu fühlen (Irene Coltman, a.a.O., S. 227), während der Dichter Thomas Flatman ihm den Rat gab, »silently to creep away«, sich stillschweigend zu verdrücken (ebd., S. 231). Vor der Konfrontation mit solchen Fragen schützt die Moralhypertrophie, weil sie erlaubt, so gut wie jedes Ansinnen konkreter Politik an Idealen auflaufen zu lassen, indem man noch mehr Gleichheit, noch mehr Freiheit und noch weniger Autorität fordert, als irgendein praktischer Zustand hergibt. Als Deutscher kann man dazu noch der Frage nach dem verlorenen Vaterland aus dem Wege gehen, wenn man die Zwischeninstanzen zwischen Familie und Menschheit moralisch preisgibt. Da die Moralhypertrophie sich gegenüber den noch funktionierenden Autoritäten kritisch verhält, gibt sie die Aufstiegsleiter für die neue Gegenaristokratie (gemeint sind die Intellektuellen; Anm. HB) der von Verantwortung nicht betroffenen Idealisten her, deren Wirkungschance ja im Angriff liegt.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 182-183).

„Worin besteht eigentlich das Böse?  In seinem berühmten Buche »Das sogenannte Böse« (1963) sagt Konrad Lorenz, für die modernen Kulturverhältnisse mit ihrem technischen Vernichtungspotential sei der Mensch, in seiner Instinktausstattung gesehen, nicht »gut genug«, d.h. die Hemmungsmechanismen seiner Aggressivität, die gegenüber persönlich Bekannten in der Regel ganz zuverlässig sind, funktionieren nicht mehr, wenn es um Ferntötung geht. Der Ausdruck das »sogenannte« Böse weist also auf eine Disharmonie in der Antriebsstruktur hin, sofern mit der Auftürmung der Technik die Aggressivität keineswegs umgekehrt reduziert wurde. Man kann dieser Interpretation beitreten, allerdings mit dem Vorbehalt, daß Menschen einander auch Schlimmeres zufügen können als den Tod. Ein Kampf auf Leben und Tod zwischen Einzelnen, etwa im Kriege, ist ja moralisch keineswegs verwerflich, wenn die Chancen ungefähr gleich sind, aber was wir ohne weiteres verwerfen, ist die Tötung von Wehrlosen, und sie ist ja in dem Beispiel der technischen Ferntötung gemeint.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 183-184).

„Von der Lüge bis zur Diffamierung geht die Kunst, jemanden geistig wehrlos zu machen. Die internationale Konvention über die Verhinderung und Unterdrückung des Verbrechens des Völkermordes vom 09.12.1948 hat daher einen geistigen Völkermord anerkannt und in Artikel II den Begriff »Genozid« unter b) wie folgt definiert: ... schwerer Angriff auf die physische oder geistige Integrität einer Gruppe. Dieser Begriff umfaßt natürlich die Traditionen und Überlieferungen eines Verbandes ebenso wie seine Ehre, und ein Volk gewaltsam von seiner Geschichte abzutrennen oder zu entehren bedeutet dasselbe, wie es zu töten.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 185).

„Und zuletzt: teuflisch ist, wer das Reich der Lüge aufrichtet und andere Menschen zwingt, in ihm zu leben. Das geht über die Demütigung der geistigen Abtrennung noch hinaus, dann wird das Reich der verkehrten Welt aufgerichtet, und der Antichrist trägt die Maske des Erlösers, wie auf Signorellis Fresco in Orvieto. Der Teufel ist nicht der Töter, er ist Diabolos, der Verleumder, ist der Gott, in dem die Lüge nicht Feigheit ist, wie im Menschen, sondern Herrschaft. Er verschüttet den letzten Ausweg der Verzweiflung, die Erkenntnis, er stiftet das Reich der Verrücktheit, denn es ist Wahnsinn, sich in der Lüge einzurichten.“ (Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 185).

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„In einer gewissen Anspannung zu der Annahme, daß die Überraschungslosigkeit der kristalliiserten Gesellschaft zu ihrer Stabilität beitrage ..., stand von Anfang an die Befürchtung Gehlens, daß das, was er die »Entlastung vom Negativen« nannte ..., in der entwickelten Zivilisation zu einem »Luxurieren« des Trieblebens führen könne, zu einem Zustand der Dekadenz also, immer vorausgesetzt, daß Dekadenz sowieso der wahrscheinlichste Weg der historischen Entwicklung war: »wieder ein Schritt vorwärts auf dem Wege der Enthemmung einer fürchterlichen Natürlichkeit« (Gehlen). Gehlen glaubte, daß der Prophet dieser »fürchterlichen Natürlichkeit« Rousseau gewesen sei, und ohne einen »Gegen-Rousseau«, der an Stelle der seichten Lehre des »Zurück-zur-Natur« eine »Philosophie des Pessimismus und des Lebensernstes« (Gehlen) setze, sah er schwerwiegende negative Auswirkungen auf die bestehenden Verhältnisse ab. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man behauptet, daß Gehlen sich selbst gern als diesen »Gegen-Rousseau« gesehen hätte, aber im Vergleich zu jenem fehlte ihm doch die Breitenwirkung, ein Mangel an Popularität, der angesichts der gebotenen Lehre nicht verwundern kann. Es war dieser Sachverhalt besonders deutlich an dem letzten Buch Gehlens zu bemerken, das noch am ehesten als Aufruf zu einer Gegenbewegung geeignet gewesen wäre und das 1969 unter dem Titel Moral und Hypermoral (Gehlen) erschien. Moral und Hypermoral zeigte ein glänzendes polemisches Talent, aber es war mehr als eine Kampfschrift, Gehlen betrachtete es in mancher Hinsicht als dritten Teil von Der Mensch (Gehlen[Gehlen]). Der Band trug den Untertitel Eine pluralistische Ethik, und es ging dem Verfasser um den Nachweis, »... daß es mehrere voneinander funktionell wie genetisch unabhängige und letzte sozialregulative Instanzen im Menschen gibt. Eine Ethik ›aus einem Guß‹ ist immer eine kulturelle Stilisierung des Denkens, Fühlens und Verhaltens gewesen, ... eine überspannte Metapher der Wirklichkeit« (GehlenGehlen).“ (Karlheinz Weißmann, Arnold Gehlen, 2000, S. 79-80).

„Gehlen hat sich für seine Forderung nach einer »pluralistischen Ethik« auf das Vorbild aller differenzierten Gesellschaften berufen, die immer verschiedene Tugenden für verschiedene Lebensbereiche kannten, etwa die Weisheit für den Lehrstand, die Tapferkeit für den Wehrstand, den Fleiß für den Nährstand. Gehlen seinerseits identifizierte vier Quellen der Moral: das Prinzip des do ut des - »gib, dann wird dir gegeben«, das im ökonomischen und juristischen Bereich eine gewisse Geltung bis in die Gegenwart beansprucht, die biologische Ethik, etwa die selbstverständliche Zuwendung zu allem, was durch das Kindchen-Schema ausgezeichnet ist, dann die Familienmoral und schließlich die Ethik der Institutionen, vor allem des Staates. Unter aktuellen Gesichtspunkten ging es Gehlen aber vor allem um das Widerspiel zweier Moralen: der Familienmoral und der politischen Moral. Gehlen erkannte der Ethik der intimen Kleingruppe durchaus ihr Recht zu, den Grundsätzen der Liebe und gegenseitigen Achtung, der Ehrlichkeit und der Fürsorge, aber er bestritt ganz entschieden das moralische Recht, diese Prinzipien auf die Welt im großen zu überragen. Dort, wo Staaten sich gegenübertreten und Parteien ihre Interessen durchzusetzen suchen, sei es unsittlich, nach dem Gebot der Nächstenliebe oder auch nur der Goldenen Regel zu handeln.“ (Karlheinz Weißmann, Arnold Gehlen, 2000, S. 80-81).

„Gehlen wandte erheblichen Scharfsinn auf, um den ganzen Unsinn des »Humanitarismus« nachzuweisen, jener Utopie, die sich seit dem Anfang der 1960er Jahre nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in der ganzen westlichen Welt ausgebreitet hatte und jede auf Erhaltung der staatlichen Ordnung, ja der Institutionen überhaupt, gerichtete Bemühung unterlief. (Vgl. Institutionen). Individualismus und Universalismus wurden in einen direkten Zusammenhang gebracht, die »überdehnte Hausmoral« (Gehlen) zum Maßstab jeder Handlung und eben auch der staatlichen gemacht. Demgegenüber hielt Gehlen fest: »Man muß Macht haben, um überhaupt handeln zu können, zumal in der moralischen Sphäre. Man hat gewaltig zu sein, um Gutes zu tun, und stark, um Schutz zu bieten. Das Gute zu suchen und dabei die Macht zu verwerfen kommt auf die seichte und eigensinnige Vorstellung heraus, daß das Leben keine Bedingungen haben sollte.« (Gehlen). Vieles erinnert hier an ältere und klassisch-moderne Staatsanschauungen, angefangen mit der Unterscheidung von civitas dei und civitas terrena bei Augustinus über Martin Luthers Lehre von den beiden Reichen bis hin zu Max Webers Differenzierung von »Gesinnungsethik« und »Verantworrungsethik«. Aber Gehlens Lage war mit derjenigen dieser Autoren kaum vergleichbar. Jeder Staat der Vergangenheit hat sofort oder doch in absehbarer Frist einen hohen Preis gezahlt, wenn er die Gefahr der Selbstzerstörung durch Aufgabe des politischen Ethos verkannte. Im 20. Jahrhundert schien es so, als ob zumindest die europäische und die nordamerikanische Menschheit in einem Ausnahmezustand lebten, in dem so etwas wie der »Ernstfall« nicht mehr vorkam. In einer Welt, in der Krieg und Knappheit unwahrscheinlich wurden, waren »quiritische Tugenden« - um einen Begriff Sorels zu gebrauchen - kaum noch plausibel zu machen. Daß die »Treuepflicht zu außerrationalen Werten« (Gehlen) vollständig zu verschwinden schien, erfüllte Gehlen mit Verzweiflung. Das erklärt wohl auch, warum er zwei bis dahin strikt verteidigte Positionen aufgab oder doch an entscheidender Stelle korrigierte: die Annahme, daß es im Grunde keine »Natur« des Menschen gebe und die Aversion gegen die Kulturkritik der deutschen Tradition, vor allem soweit sie durch Nietzsche und Spengler verkörpert war. Im Hinblick auf den ersten Punkt ist aufschlußreich, daß Gehlen jetzt bestimmte Vorstellungen von Instinktgebundenheit – Territorialität, Aggression, Sexualität - und gleichzeitig die damit verbundene Degenerationsbereitschaft - das, was Konrad Lorenz die »Verhausschweinung« des Menschen nannte – als Interpretament für die von ihm konstatierten Verfallsmomente akzeptierte. Was den zweiten Zusammenhang angeht, so muß man feststellen, daß Gehlen nicht nur die »große Parallele« zwischen dem Untergang Roms und der eigenen Gegenwart beschwor, sich scharf gegen die Aufklärung wandte (»Die Aufklärung ist, kurz gesagt, die Emanzipation des Geistes von den Institutionen.« [Gehlen]), sondern auch Nietzsches Kritik des »Ressentiments« aufnahm und als Argumentationshilfe verwandte.“ (Karlheinz Weißmann, Arnold Gehlen, 2000, S. 81-82).

„Arnold Gehlen bezeichnete den Übergang, in dem wir leben, als »objektive Unbestimmtheit«. Er meinte, daß gerade repräsentative Erscheinungen oszillieren können, sie quer durch gewachsene, geschichtlich gewordene und legitimierte, tief im Herzen verwurzelte Gebilde tragen. Das Resultat sei dann ein gegenstandsundeutliches Gebilde von objektiver Unbestimmtheit. »Haben wir Krieg oder Frieden? Haben wir Vaterland oder nicht? Leben wir im Zeitalter des Sozialismus oder des Kapitalismus? Diese Fragen kann man nach Belieben beantworten, nicht weil die Antwort »Ansichtssache« wäre, sondern weil sachlich jede gleich richtig ist ....«“ (Werner Mäder, Staat Europa?,  in: Sezession, Oktober 2008, S. 17).

 

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Anmerkungen:


Erläuterung der Gehlen-Tabelle () - Denk-Biographie von Arnold Gehlen (1904-1976 ):
1. „Stadium“ („Winter“ - 1904-1923) und seine 3 „Stufen“: Gehlens frühe Kindheit (1. Stufe); Grund-Schulzeit (2. Stufe); Gymnasialzeit (3. Stufe), also bis zum Übergang von der Schule zur Universität (1923).
2. „Stadium“ („Frühling“ - 1923-1940) und seine 3 „Stufen“: Gehlens Studienzeit von 1923 bis 1927 (4. Stufe); die Zeit von der Promotion bis zum Eintritt in die NSDAP, also die Zeit von 1927 bis 1933 (5. Stufe); die folgenden 7 Jahre bis zur Veröffentlichung des Hauptwerkes Der Mensch ..., also die Zeit von 1933 bis 1940 (6. Stufe).
3. „Stadium“ („Sommer“ - 1940-1957) und seine 3 „Stufen“: Gehlens Hauptwerk Der Mensch ... bis zum Ende des 2. Weltkrieges, also die Zeit von 1940 bis 1945 (7. Stufe); die folgenden 6 Jahre, also die Zeit von 1945 bis 1951 (8. Stufe); die folgenden 6 Jahre, also die Zeit von 1951 bis 1957 (9. Stufe).
4. „Stadium“ („Herbst“ - 1957-1976) und seine 3 „Stufen“: Gehlens Veröffentlichung des Buches Die Seele im technischen Zeitalter bis zum Ruf an die neu gegründete Technische Hochschule Aachen, also die Zeit von 1957 bis 1961 (10. Stufe); vom Ruf an die neu gegründete Technische Hochschule Aachen bis zur Emeritierung, also die Zeit von 1961 bis 1969 (11. Stufe); die Zeit nach der Emeritierung, also die Zeit von 1969 bis 1976 (12. Stufe).

Institutionen bezeichnen gemäß allgemeinem Sprachgebrauch Organisationen, Betriebe oder Einrichtungen, die nach bestimmten Regeln des Arbeitsablaufes und der Verteilung von Funktionen auf kooperierende Mitarbeiter (im Rahmen eines größeren Organisationssystems) eine bestimmte Aufgabe erfüllen. In einem weiteren Sinne sind Institutionen jegliche Formen stabiler, dauerhafter Muster menschlicher Beziehungen, die in einer Gesellschaft durch die allseits als legitim geltenden Ordnungsvorstellungen getragen und „gelebt“, aber gelegentlich auch erzwungen werden. Der Begriff Institution bringt insbesondere zum Ausdruck, daß wiederkehrende Regelmäßigkeiten und abgrenzbare Gleichförmigkeiten gegenseitigen Sichverhaltens von Menschen, Gruppen, Organisationen nicht nur zufällig oder biologisch determiniert ablaufen, sondern auch und in erster Linie Produkte menschlicher Kultur und Sinngebung sind. Mit dem von Herbert Spencer (1820-1903) ab etwa 1877 entwickelten soziologischen Ansatz, der die Gesellschaft als ein „natürliches“ kooperatives System („Organismus“) betrachtete, hat dieser Begriff bis heute seine Bedeutung immer dann erwiesen, wenn das Problem zu klären war, wie eine Gesellschaft durch das Zusammenspiel ihrer Institutionen als Ganzes und darin die einzelnen Institutionen sich selbst erhalten und - ohne systemsprengenden Zusammenbruch - verändern und entwickeln können. Eine soziologisch orientierte Anthropologie, wie v.a. von Arnold Gehlen (1904-1976) und Helmuth Plessner (1892-1985) entwickelt wurde, verweist im Zusammenhang mit der Klärung der Beziehungen zwischen Kultur und Gesellschaft auf die Unentbehrlichkeit der Institutionen für menschliches Leben überhaupt und auf die Bedeutung der Institutionen als Instrumente der Entlastung der Menschen von Entscheidungsdruck, während die v.a. an Karl Marx (1818-1883) und Simund Freud (1856-1939) orientierten Vertreter mehr die Bedeutung der Institutionen als Quelle der Unterdrückung betonen. In der strukturell-fünktionale Theorie, die v.a. von Talcott Parsons (1902-1979) und Ralf Dahrendorf (1929-2009) entwickelt und von Niklas Luhmann (1927-1998) zur Systemtheorie wieterentwickelt wurde (Mehr), geht es um den Aufweis der Gesellschaft als Komplex von Normen, Rollen, Status-Beziehungen, der durch allgemeine Ordnungs- Herrschafts- und Sanktionsmechanismen zusammengehalten wird und für das Funktionieren und den Zusammenhalt des gesamten Systems von strategisch struktureller Bedeutung ist. Die allgemeine, d.h. öffentlich anerkannte und garantierte „Institutionalisierung“ von Ordnung macht hiernach erst eine wechselseitige Abstimmung des Verhaltens möglich, eröffnet Chancen für Konsenus, stiftet Leitlinien für Verständigung, Systematisierung und Differenzierung, so Niklas Luhmann.

Arnold Gehlen, Was ist Glück?,  postum, S. 33. Gehlen

Arnold Gehlen, Zeit-Bilder,  1960, S. 133. Gehlen

Zitiert nach : Karl-Siegbert Rehberg, Metaphern des Standhaltens - In memoriam Arnold Gehlen, in : Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 28 / 1976, S. 389.

Arnold Gehlen, Rede über Hofmannsthal, 1925, in : Gesamtausgabe, Band 1, postum, S. 3-17, hier : S. 9. Gehlen

Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 1986, S. 19.

Arnold Gehlen, Rechts zwischen den Kriegen, in : Die Welt, 01.02.1973. Gehlen

Vgl. Arnold Gehlen, Rede über Hofmannsthal, 1925, in : Gesamtausgabe, Band 1, postum, S. 3-17. Gehlen

Arnold Gehlen, Die Bedeutung Descartes' für eine Geschichte des Bewußtseins, 1937, in : Gesamtausgabe, Band 2, postum, S. 363-376, hier : S. 376. Gehlen

Arnold Gehlen, Der Staat und die Philosophie, 1935, in : Gesamtausgabe, Band 2, postum, S. 295-310, hier : S. 309. Gehlen

Arnold Gehlen, Die Resultate Schopenhauers, 1938, in : Gesamtausgabe, Band 4, postum, S. 25-49, hier : S. 44. Gehlen

Arnold Gehlen, Die Resultate Schopenhauers, 1938, in : Gesamtausgabe, Band 4, postum, S. 25-49, hier : S. 45. Gehlen

Arnold Gehlen, Die Resultate Schopenhauers, 1938, in : Gesamtausgabe, Band 4, postum, S. 25-39, hier : S. 46. Gehlen

„Aufschlußreich, daß Gehlen Hegel - trotz seiner »im ganzen unbeschreiblich großartigen Philosophie« - nicht vorbehaltlos in diese Werschätzung einbezog, weil diesem vorzuwerfen sei, daß er »die ursprüngliche Wirklichkeit des völkischen Lebens nur in Ansätzen,a ber nicht im Grundsätzlichen« begriffen habe, so Arnold Gehlen, Der Irrweg eines großen Denkers - Zum 165. Geburtstag G. W. F. Hegels am 27. August (Gehlen), in: Völkischer Beobachter vom 27. August 1935.“ (Karlheinz Weißmann, Arnold Gehlen, 2004, Anmerkung 19, S. 95).

Arnold Gehlen, Rede über Fichte, 1938, in : Gesamtausgabe, Band 2, postum, S. 385-395, hier : S. 388. Gehlen

Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940.Gehlen

Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940, S. 9. Gehlen

Arnold Gehlen, Der Mensch - Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940, S. 9ff.. Gehlen

Arnold Gehlen, Der Mensch - Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940, S. 86ff.. Gehlen

Arnold Gehlen, Der Mensch - Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940, S. 327ff.. Gehlen

Arnold Gehlen, Der Mensch - Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940, S. 73ff.. Gehlen

Arnold Gehlen, Der Mensch - Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940, S. 73-74. Gehlen

Mit diesen drei Teilen sind übrigens folgende Bücher von Arnold Gehlen gemeint: Der Mensch. Seine Natur und seine Sellung in der Welt, 1940 (als 1. Teil); Urmensch und Spätkultur, 1956 (als 2. Teil); Moral und Hypermoral, 1969 (als 3. Teil).

Arnold Gehlen, Ein Bild vom Menschen, 1941, in: Gesamtausgabe, postum, Band 4, S. 132f..

Arnold Gehlen, Ein Bild vom Menschen, 1941, in: Gesamtausgabe, postum, Band 4, S. 138.

Arnold Gehlen, Die gesellschaftliche Situation in unserer Zeit, Vortrag vom 14. Januar 1961, abgedruckt in: Arnold Gehlen, Anthropologische Forschung (rde 138), 1961.

Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969. Gehlen

Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 10. Die Textstelle ist auch weiter oben zitiert (Gehlen).

Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, Kapiel 5 (Physiologische Tugenden), S. 47-77.

Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, Kapiel 6 (Humanitarismus), S. 79-93.

Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 92.

Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 102.

Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 102. Gehlen zitiert hier Friedrich Jonas (in: Der Staat, 1965, S. 280), der wiederum Anne-Louise-Germaine de Staël (1766-1817) zitiert.

Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 118.

Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, Kapiel 11 (Die gute Sache und das Gewissen), S. 165-176.


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