Das Netz bestimmt uns. Virtuelle Gesellschaft: Bald wird der technisch-digitalen
die politische Revolution folgen (von Bärbel Richter) Das Internet eine
Nachrichten- und Trivialitätenschleuder, ein riesiges virtuelles Warenhaus,
ein Jahrmarkt der Eitelkeiten und Geschwätzigkeiten und, dank der Spuren,
die die meisten Nutzer, freiwillig oder nicht, zurücklassen, ein gewaltiges
Panoptikum, in dem jeder beobachtbar ist und keiner den Beobachter selbst sieht,
größer und effektiver als alles bisher Dagewesene? Ja, auch das,
aber nicht nur. Gegenüber anderen Medien wie Fernsehen, Radio, Zeitungen
und Telefon ist es das Hypermedium schlechthin, das auf der Ausdifferenzierung
eines an sich simplen Begriffs beruht: dem der Verknüpfung beziehungsweise
der Summe potentiell unendlicher Verknüpfungen, dem Netzwerk. Der Begriff
hat seit langem Konjunktur, man mag das gesellschaftliche und politische Umwälzungspotential,
das darin steckt, daher leicht übersehen. Daß es ein Potential
ist, aus dem neue gesellschaftliche Wirklichkeiten entstehen, dafür spricht,
daß das Internet noch immer ein Medium vor allem der Jüngeren ist,
der 14-bis-29-Jährigen. Rund 83 Prozent der 14-bis-19-Jährigen gehen
täglich ins Internet, bei einer durchschnittlichen Nutzungsdauer von mehr
als zweieinhalb Stunden pro Tag. Die meisten verbringen diese Zeit in sozialen
Netzwerken wie Chatrooms, MySpace oder SchülerVZ. Mehr als ein
vorübergehendes Phänomen gesteigerter Eitelkeit Welche Auswirkungen
diese dem Anschein nach banalen Aktivitäten haben mögen, zeigt ein Blick
auf den einstigen Handy-Boom speziell unter Jugendlichen. Was zu Beginn dieses
Booms viele störte, das geradezu exhibitionistische Telefonieren in der Öffentlichkeit,
war im Rückblick vielleicht mehr als ein vorübergehendes Phänomen
gesteigerter Eitelkeit. Dahinter steckte ein anderes Bedürfnis: mitzuteilen,
daß man Teil einer Gruppe, eines Kollektivs war. Eines Kollektivs, das vorläufig
keiner näheren Bestimmung bedurfte. Unübersehbar bekundete sich hier
eine erste Abkehr von jenem Individualismus, der Selbstwertgefühle aus der
ausdrücklichen und kultivierten Differenz zu anderen zieht. Stattdessen
begann man nun, es aus der Tatsache oder Suggestion eines möglichst großen
Kreises an Kontakten abzuleiten. Die Entstehung sozialer Netzwerke
im Internet, die dieses Prinzip noch erweitern, war daher nur folgerichtig. Nicht
alle sind Selbstzweck. Inzwischen gibt es auch Netzwerke für Geschäftsleute
oder Heiratswillige. Doch fast immer sind es Datenkäfige, geschlossene
Gesellschaften, zu denen nur Zutritt erlangt, wer sich selbst darin anmeldet und
mit seinem Profil, also einer Liste persönlicher Daten, Vorlieben
und Meinungen, darstellt. Das Gefühl aktiven Dabeiseins und Mitmachens
Als Entsprechung zum Kontakt ist das Profil klarer, materieller
und konkreter. Auch einfacher. Und leicher sanktionierbar. Mehr ist vom Begriff
der Individualität und, nebenbei, auch der Identität nicht übrig. Sie
ist offenbar auch gar nicht mehr nötig. Was die Nutzer solcher Netzwerke
bei der Stange hält, ist erklärtermaßen das Gefühl aktiven
Dabeiseins und Mitmachens. Theoretisch sind deshalb Formen der Mobilisierung denkbar,
die kein reelles Korrektiv mehr brauchen. Wer sich fragt, warum die soundsovielte
Netzseite gegen Nazis aufgelegt wird, findet in diesem Mechanismus
vielleicht die Antwort: es geht nicht um die Inhalte, sondern lediglich um die
gefühlte Zugehörigkeit. Diesem Trend kommt entgegen, daß
unter den 16-bis-24-Jährigen das Interesse an der Tagespolitik und an umfassenden
Informationen zum besseren Verständnis von Zusammenhängen in den letzten
Jahren deutlich abgenommen hat. Ende nationaler Identitäts- und
Handlungsmuster Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, wann der
Fortschritt in der Entwicklung digitaler Technologien Auswirkungen auf reale gesellschaftliche
Organisationsformen, politische Machtausübung und ökonomische Einflußnahme
haben wird. Thomas Friedman prognostiziert bereits bis 2020 das Ende nationaler
Identitäts- und Handlungsmuster. Mehr als die vielzitierten 68er dürften
sozial-technologische Entwicklungen zudem jene staatspolitischen Strukturen schleifen,
an denen gerade Konservativen soviel liegt. Ob zum besseren durch kleinteiligere
politische Organisationsformen, oder zum schlechteren durch Abhängigkeit
von und Manipulation durch wirtschaftliche Machtgruppen, steht dahin. Wahrscheinlicher
allerdings ist letzteres. Man braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen,
daß in dieser Organisationsform auch politische Sprengkraft liegen kann.
Oder umgekehrt: wer Netzwerke organisiert, steuert und vor allem kontrolliert,
sichert sich Macht und Einfluß. Der kanadische Blogger Cory Doctorow
spricht in diesem Zusammenhang von einer drohendenReputationsökonomie
eine Form der Gesinnungskontrolle, die bereits schleichend Einzug gehalten
hat und die Neigung mancher zum, vorzugsweise anonymen, Bestrafen anderer ausnutzt.
Insbesondere, wenn es um politische Meinungen geht. So lassen in jüngster
Zeit immer mehr Online-Portale auch großer Zeitungen die Kommentare der
Leser ihrerseits von anderen Lesern bewerten. Kontrolle von seiten der
Betreiber Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zu ganzen Schwärmen
korrekt Gesonnener, die mißliebige Kommentatoren mit Abwertung oder Inhaber
anstößiger Profile durch Kontaktentzug bestrafen. Unter
der Voraussetzung, daß das Internet längst ein komplexes Netzwerk von
Zugehörigkeiten ist, käme derlei einer Ausbürgerung aus einer virtuellen
Gemeinschaft gleich, die wirksamer ist, weil sie still daherkommt. Für diese
Art der Interaktion gäbe es keine andere Öffentlichkeit als die des
Mediums selbst. Der Abgestrafte bleibt mit sich allein. Eine Migration des
eigenen Profils in andere Netzwerke ist in nahezu keinem Netzwerk möglich.
Das erhöht die Chance auf ein Monopol und auf ein Höchstmaß an
Kontrolle von seiten der Betreiber. Das führende amerikanische soziale Netzwerk
Facebook macht vor, was das bedeuten kann. An der von einem Hedge-Fond-Manager
betriebenen Plattform mit geschätzten 75 Millionen Mitgliedern und einem
Marktwert von 15 Milliarden Dollar haben längst Firmen aus dem Umfeld der
CIA-eigenen Beteiligungsgesellschaft In-Q-Tel Anteile. Junge
Freiheit vom 11. Juli 2008
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