| | Lehren ohne den neuen
Menschen Konservatismus als Kapitalismuskritik (von Klaus Hornung)Die
beiden Kernkapitel zum Verständnis des zeitgenössischen Konservatismus
behandeln in Müllers Buch "die konservative Sicht auf das kapitalistische
System der Bedürfnisse" und den "Staat im Licht des konservativen
Politikverständnisses". Danach bedeutet Konservatismus Kritik und Ablehnung
des liberalen Individualismus und kapitalistischen Industrialismus und nicht zuletzt
der modernen Fundamental-Ökonomisierung der Welt. Er befindet sich damit
in bester europäischer und auch amerikanischer Gesellschaft, beginnend mit
Burke und Samuel Tayler Coleridge über Tocqueville, Donoso Cortes und Friedrich
Julius Stahl bis zu Clinton Rositter, aber auch zu Othmar Spann, Arthur Moeller
van den Bruck oder Gerd Klaus Kaltenbrunner. Hier gibt es Berührungspunkte
mit Arnold Gehlens Kritik der modernen Industrie und Konsumkultur mit ihrem Masseneudämonismus
und seinen "unbegrenzten Ansprüchen", aber auch zu maßvollen
Sozialdemokraten wie Hermann Heller oder Anthony Giddens. Der Konservatismus
wird zum "Anwalt der Sozialpolitik" und vernünftigen Sozialintervention
des Staates, nicht aus utilitaristischen Motiven, sondern aus christlichem Denken
und aus der Verantwortung für das bonum commune. Und auch hier kann Müller
wieder auf viele Kronzeugen der europäischen konservativen Tradition verweisen,
auf Benjamin Disraelis "compassionate conservatism" ebenso wie auf den
Sozialkonservatismus Victor Aimé Hubers oder Franz von Baaders. Hans-Joachim
Schoeps hat auf diese sozialkonservative Linie selbst in der preußischen
konservativen Partei des 19. Jahrhunderts aufmerksam gemacht, etwa bei Rodbertus
Jagetzow oder Hermann Wagener. Und mit der Unterscheidung zwischen "Markt-
und Sozialkonservativen" verbindet Müller auch die Frage, ob den ersteren
(wie etwa Friedrich August von Hayek oder Ludwig von Mises) überhaupt ein
legitimer Platz unter den konservativen Familien zugewiesen werden könne.
Von seinen grundlegenden theologischen und philosophischen Voraussetzungen
aus unterscheidet sich das konservative Staatsbild jedenfalls vom liberalen, nicht
im Sinne seiner Entscheidung für eine illiberale, unfreiheitliche Staatslehre,
wohl aber durch die dialektische Einsicht, daß es ohne die Zähmung
der gesellschaftlichen Partikularinteressen durch eine zureichend starke Staatsautorität
auch keine gesicherte Bürgerfreiheit geben könne. Für Müller
gewinnt auch hier Edmund Burke die Autorität einer Leitfigur mit seiner Ablehnung
der individualistischen Vertragslehre der Aufklärung und seiner Einbettung
der Autorität und Funktion des Staates in die Kette der Generationen als
Anwalt des überdauernden geschichtlichen Selbstbehauptungswillens der Gesellschaft,
einer Nation. Konservatives Denken und konservative Politik beschreiben
in diesem Sinne einen mittleren Weg zwischen den Extremen der Anarchie und der
Staatsvergottung. Müller widmet daher auch der konservativen Kritik am Autoritätsverfall
des Staates in den westlichen Demokratien der Gegenwart ein eigenes Kapitel und
gibt hier einer Vielzahl von Stimmen Gehör - von Ernst Forsthoff bis zu Samuel
Huntington -, die ihre Kritik an der wachsenden Unregierbarkeit des demokratischen
Staates in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften zum Ausdruck bringen
und zugleich in den Konservativen die zuverlässigsten Verteidiger der freiheitlichen
Demokratie erkennen in ihrer Haltung "jenseits von anarcho-liberalistischer
Staatsfeindschaft und links- und rechtstotalitärer Staatsvergötzung"
(Gerd Klaus Kaltenbrunner). Welches sind die Zukunftsaussichten des Konservatismus?
Ist der wahrlich grenzenlose Progressismus in der Gegenwart dabei, ihm vollends
das Lebenslicht auszublasen? Diese Fragen und die darauf möglichen Antworten
bezeichnen wahrlich ein weites Feld, aber wir scheinen uns doch in einer Situation
zu befinden, in der das progressive Prinzip seinen Höhepunk überschritten
hat und die Aporien des Fortschritts immer deutlicher zutage treten. In einer
solchen weltgeschichtlichen Lage mit ihren immer deutlicher werdenden Kehrseiten
und "Kosten" des Fortschritts, eingeklemmt zwischen geistloser McWorld
und religiös-kulturellem Fundamentalismus, Chaos und Versteinerung, könnte
ein freiheitlicher Konservatismus einen möglichen Weg weisen zwischen Selbstzerstörung
und Traditionen, ein Weg, der im 21. Jahrhundert zu neuen Ufern zu führen
vermöchte. (Johann Baptist Müller: Konservatismus - Konturen
einer Ordnungsvorstellung. Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 146,
Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2007, broschiert, 217 Seiten, 58 Euro.). Junge
Freiheit vom 14. September 2007
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