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Franz-Xaver Kaufmann (*1932)
- Die Überalterung - Ursachen, Verlauf, wirtschaftliche und soziale Auswirkungen des demographischen Alterungsprozesses (1960) -
- Bevölkerungsbewegung zwischen Quantität und Qualität (Hrsg.; 1975) -
- Makro-soziolologische Überlegungen zu den Folgen eines Bevölkerungsrückgangs in industriellen Gesellschaften (1975) -
- Kirche begreifen - Analysen und Thesen zur gesellschaftlichen Verfassung des Christentums (1979) -
- Kinder als Außenseiter der Gesellschaft (1980) -
- Warum nicht Bevölkerungspolitik? (1983) -
- Studien zum Drei-Generationenvertrag (1984) -
- Familie und Modernität (1988) -
- Religion und Modernität (1989) -
- Zukunft der Familie (1990) -
- Ursachen des Geburtenrückgangs und Möglichkeiten staatlicher Gegenmaßnahmen (1990) -
- Läßt sich Familie als gesellschaftliches Teilsystem begreifen?  (1994) -
- Herausforderungen des Sozialstaates (1997) -
- Wie überlebt das Christentum (2000) -
- Sozialpolitisches Denken (2003) -
- Varianten des Wohlfahrtsstaats. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich (2003) -
- Sozialpolitik und Sozialstaat. Soziologische Analysen (2005) -
- Schrumpfende Gesellschaft (2005) -
- Zwischenräume und Wechselwirkungen (2006) -
- Familien in den Spannungsfeldern gefährdeter Sozialstaatlichkeit (2007) -
Kaufmann-Zitate. Da ich Franz-Xaver Kaufmann für einen seriösen Soziologen halte, möchte ich ihm eine
                                            separate Seite widmen und aus folgenden seiner demographischen Werke zitieren:
- Schrumpfende Gesellschaft (2005) -
- Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann im Gespräch mit Dr. Eberhard Büssem (11.04.2006) -
[Quellen bzw. Sekundärliteratur]

 

 

Schrumpfende Gesellschaft - Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen (2005)

  1) Wachsen ist leichter als Schrumpfen (S.13-37)
  2) Demographische Perspektiven (S. 38-62)
  3) Gefährdet der Bevölkerungsrückgang die Wirtschaftsentwicklung?  (S. 63-94)
  4) Soziale Folgen des Bevölkerungsrückgangs (S. 95-115)
  5) Die Nachwuchsschwäche, ihre Bedingungen und Motive (S. 116-158)
  6) Politische Perspektiven (S. 159-197)
  7) Generationenverhältnisse und Sozialstaat (S. 198-231)
  8) Statt eines Schlußworts: Anmerkungen zu zwei Bestsellern (S. 232-243)

 

1) Wachsen ist leichter als Schrumpfen (S. 13-37)

1.1) Überblick (S. 13-19)
1.2) Zunahme und Rückgang - Wachstum und Schrumpfen (S. 19-23)
1.3) „Bevölkerung“ als politischer Begriff, der einen Solidaritätshorizont voraussetzt (S. 23-28)
1.4) Sozialstaat und Humanvermögen (S. 28-30)
1.5) Die öffentliche Verdrängung des Bevölkerungsrückgangs (S. 30-33)
1.6) Gründe für die Verdrängung (S. 34-37)

1.1) Überblick

Nicht das Altern, sondern der absehbare und sich voraussichtlich beschleunigende Rückgang unserer Bevölkerung ist das zentrale demographische Problem.“ (Ebd., S. 41).

1.3) „Bevölkerung“ als politischer Begriff, der einen Solidaritätshorizont voraussetzt

„Die praktische Bedeutung unseres Themas läßt sich zunächst mit dem mittlerweile populären Begriff der Nachhaltigkeit plausibilisieren. Nachhaltigkeit wurde zuerst im Bereich der Forstwirtschaft als das Prinzip formuliert, es sei in einem Zeitraum nur so viel Holz zu schlagen, wie durch Neupflanzung von Bäumen nachwachsen kann. So zuerst die »Sylvicultura oeconomica« (1713) des Hans Carl von Carlowitz, welcher eine »nachhaltende Nutzung« des Waldes forderte, nämlich nur so viel Holz einzuschlagen, als im gleichen Zeitraum wieder nachwächst. (Vgl. Jörg Tremmel, Generationengerechtigkeit - Versuch einer Definition, 2003, S. 62). Das entspricht der Forderung nach einem stationären Gleichgewicht.“ (Ebd., S. 24-25).

„Solange die Prozesse der Besteuerung und Umverteilung nicht auf die europäische Ebene hochgezont werden - eine für alle absehbare Zukunft sehr unwahrscheinliche Entwicklung -, kommt es für menschliche Wohlfahrt auf den herkömmlichen Raum der Nationalstaaten an (außerdem wäre ja ein europäischer Einheitsstaat auch so etwas wie ein Nationalstaat; Anm. HB), auf die produktiven Kapazitäten ihrer Bevölkerung, und zwar sowohl hinsichtlich der Höhe des Sozialprodukts als auch im Hinblick auf seine Verteilung, Vor allem die Sozialversicherungen machen das politisch konstituierte wechselseitige Aufeinander-angewiesen-Sein deutlich.“ (Ebd., S. 27).

„Kollektive Identität konstituiert sich auf der nationalen Ebene nach wie vor folgenreicher als auf der supra- oder infranationalen Ebene.“ (Ebd., S. 27-28).

„Nach wie vor bildet der Nationalstaat den dominierenden Horizont rechtlichen Schutzes, politischer Solidaritätserwartungen und demokratischer Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bevölkerung.“ (Ebd., S. 28).

1.4) Sozialstaat und Humanvermögen

„»Humanvermögen« bezeichnet die Summe der individuellen Kompetenzen, welche sich in einer »Gesellschaft« zum eigenen und zum Nutzen Dritter entfalten können. Dabei impliziert auch der hier verwendete Gesellschaftsbegriff politische Konnotationen - wie der Begriff »Bevölkerung«. Wir heben in unseren Argumentationen aber nicht auf die schiere Zahl der statistisch erfaßbaren Bevölkerung, sondern auf deren - auch unterschiedliche! - Motive und Fähigkeiten ab. »Humanvermögen« steht dem schon besser ausgearbeiteten Begriff »Humankapital« nahe, beschränkt sich aber nicht auf die wirtschaftlich verwertbaren Fähigkeiten, sondern bezieht auch die übrigen Gesellschaftsbereiche in die Betrachtung ein. Wie zu zeigen sein wird, ist es eine zentrale Aufgabe des Sozialstaats, die Reproduktion der Humanvermögen, d.h. den Nachwuchs oder die Rekrutierungspotentiale für die verschiedenen Gesellschaftsbereiche sicherzustellen.“ (Ebd., S. 29).


2) Demographische Perspektiven (S. 38-62)

2.1) Das Altern der Bevölkerung (S. 38-48)
2.2) Der absehbare Bevölkerungsrückgang und seine Dynamik (S. 48-56)
2.3) Gibt es normative Maßstäbe zur Beurteilung der Bevölkerungsentwicklung ?  (S. 56-61)
2.4) Zur Gewichtung demographischer Argumentationen (S. 61-62)

2.1) Das Altern der Bevölkerung

„In Europa begann mit der Verbesserung der allgemeinen Ernährungsgrundlage im 18. Jahrhundert vor allem die Kindersterblichkeit zu sinken, woraus im 19. Jahrhundert ein starkes Bevölkerungswachstum unde ine tendenzielle Verjüngung der Bevölkerung resultierten. Zunächst in Frankreich verbreitete sich sodann in Rektion auf die wachsende Zahl überlebender Kinder allmählich eine auf die Beschränkung der Geburten zielende Einstellung und Praxis, so daß die französische Bevölkerung bereits ab 1830 deutlich geringer zunahm (bzw. sogar abnahm! Anm. HB) als die übrigen Bevölkerungen Europas. ... Um 1900 betrug der Anteil der 65-und-mehr-Jährigen in Frankreich bereits 8,2%, im Deutschen Reich nur 4,9%; hier begann die demographische Alterung erst um 1910.“ (Ebd., S. 39-40).

„In dem Maße, wie sich die Geburtenkontrolle auch in der Dritten Welt verbreitet, beginnt auch dort die Geburtenhäufigkeit zu sinken und der Anteil der älteren Menschen zuzunehmen. Der sogenannte »demographische Übergang« vollzieht sich heute in groißen Teilen der Weltbevölkerung weit rasanter als seinerzeit in Europa. Bevölkerungsprognosen der Vereinten Nationen lassen erwarten, daß um 2050 die Fertilität der Welt unter das Reproduktionsniveau sink und um 2070 das Bevölkerungsmaximum in einer Größenordnung von 9 Milliarden Menschen erreicht wird. Daß die Weltbevölkerung zwischen 2050 und 2070 noch weiter wächst, obwohl die Fertilität bereits unter dem Reproduktionsniveau angesetzt wird, ist auf die zunächst überproportionale Besetzung der jugendlichen Jahrgänge zurückzuführen, so daß die absoluten Geburtenzahlen erst nach einer Generation sinken. Auch ist der Anteil der alten Menschen zunächst noch niedrig, so daß auch die Sterblichkeit unter den langfristig zu erwartenden Werten bleibt. Dieser Verzögerungseffekt ist typisch und läßt sich auch an der deutschen Bevölkerungsgeschichte nachweisen.“ (Ebd., S. 40).

Die großen Altersgruppen in Deutschland von 1950 bis 2050
 19501960197019801990200020102020203020402050
  0-20 Jahre30,9%28,6%30,0%26,7%21,8%21,1%18,7%17,6%17,1%16,4%16,1%
20-60 Jahre54,5%53,8%50,1%54,0%57,8%55,3%55,7%53,2%48,5%48,4%47,2%
60 Jahre und mehr14,6%17,6%19,9%19,3%20,4%23,6%25,6%29,2%34,4%35,2%36,7%
Quellen: Statistische Jahrbücher, ab 2010: 10. koordinierte bevölkerungsvorausberechnung, Variante 5.

„Wie die Tabelle zeigt, steigt in der Bundesrepublik der Anteil der 60-und-mehr-Jährigen über den ganzen Beobachtungszeitraum mehr oder weniger kontinuierlich an, von 14,6% auf 36,7%. Ebenso reduziert sich der Anteil der Kinder und Jugendlichen über die ganze Periode hinweg von 30,9% auf 16,1%. Wenig Beachtung findet in der regel die Entwicklung des Anteils der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, die hier mit 20-60 Jahren angenommen wird. Beachtlich ist hier zum einen der eine starke Zunahme um 1970 (50,1%) und 1990 (57,8%), gefolgt von einer langfristigen Abnahme bis zum Jahr 2050 (47,2%). Hierin kommt eine oft übersehene regelhaftigkeit zum Ausdruck (dasselbe Phänomen ließ sich als Folge des »ersten Geburtenrückgangs« ... beobachten; vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Die Überalterung - Ursachen, Verlauf, wirtschaftliche und soziale Auswirkungen des demographischen Alterungsprozesses, 1960, S. 126ff.): Nach dem Einsetzen eines säkularen Geburtenrückgangs nimmt der Anteil der mittleren Altersgruppen zunächst während etwa drei Jahrzehnten zu, weil der Jugendquotient sinkt, der Altenquotient jedoch nioch nicht entsprechend steigt. In dem Maße, wie in Zukunft die (noch) geburtenstarken Jahrgänge ins Rentenalter kommen, vergrößert sich der Anteil der alten Menschen und reduziert sich derjenige der mittleren ... überproportional.“ (Ebd., S. 41).

„Im mathematischen Modell handelt es sich bei Wachstums- wie bei Schrumpfungsprozessen um exponentielle und nicht um lineare Funktionen. Wie eine unkontrollierte Fertilität in Entwicklungsländern zu einem sich selbst beschleunigenden Bevölkerungswachstum führen kann, ist im falle eines kontinuierlichen Geburtenrückgangs mit einer Bevölkerungsimplosion zu rechnen. Wenn ... sich eine Frauengeneration über die Generationen hinweg nur noch zu etwa zwei Dritteln ersetzt, so bedeutet dies, daß 1000 Frauen nur noch 667 Töchter und 444 Enkelinnen und 296 Urenkelinnen bekommen. .... Die Wucht des demographischen Faktors ist um so größer, je weiter und je länger sich die Fertilität vom reproduktiven Gleichgewicht entfernt.“  (Ebd., S. 52-53).

2.3) Gibt es normative Maßstäbe zur Beurteilung der Bevölkerungsentwicklung ?

„Schon Platon und Aristoteles machten sich Gedanken über die optimale Größe einer Polis, und die Frage nach der optimalen Bevölkerungsentwicklung war für die entstehende Bevölkerungswissenschaft zentral. Zwie Hauptströmungen standen sich gegenüber: Die »Populationisten«, welche zumeist im Horizont der absolutistischen Staatsauffassung des 17. und 18. Jahrhunderts standen, befürworteten das Bevölkerungswachstum: »Es gibt weder Wohlstand noch Macht außer durch Menschen« (Jean Bodin). Demgegenüber forderte Thomas R. Malthus eine Beschränkung der Geburten, vor allem in den armen Bevölkerungsschichten; demzufolge werden Gegner des Bevölkerungswachstums als »Malthusianisten« bezeichnet.“ (Ebd., S. 57).

„»Je größer die Möglichkeiten eines Landes sind, durch Handel und Investitionen auch außerhalb der politischen Grenzen seinen Wohlstand zu mehren, um so kleiner darf es sein bezogen auf Einwohner und Fläche.« (Rainer Hank, Eine ökonomische Theorie des Staates, Merkur Nr. 662, Bd. 58, S. 519-525). Es besteht auch Einigkeit darüber, daß kurz- und mittelfristige Veränderungen von Größe und Zusammensetzung einer Bevölkerung zwar praktische Probleme heraufbeschwören können, aber kein grundsätzliches wissenschaftlich zu behandelndes Problem darstellen. Die zentrale Frage bezieht sich auf die Beurteilung unterschiedlicher langfristiger Trends der Bevölkerungsentwicklung, wobei grundsätzlich drei Tendenzen zur Auswahl stehen: Wachstum, quasistationäre Entwicklung und Bevölkerungsrückgang.“ (Ebd., S. 57).

„Unter Machtgesichtspunkten ist somit - von Situationen manifester und verelendender Überbevölkerung (und/oder Überfremdung; Anm. HB) abgesehen - ein langfristiges Bevölkerungswachstum grundsätzlich erwünscht. Allerdings kann - ausgehend von einer anderen Prämisse, nämlich der Friedenserhaltung - das Bevölkerungswachstum problematisiert werden: bevölkerungsdruck scheint die wahrscheinlichkeit von kriegen zu erhöhen. Alles in allem ear der Zusammenhang zwischen Bevölkerung und politischer Macht in jüngerer Zeit kein Thema mehr. Alois Wenig (Übervölkerung - eine Kriegsursache?, 1985) vermutet, daß die Reduzierung eines partiellen Bevölkerungsdrucks der Unterschichten bzw. des überschüssigen Adels vor allem zwischen absolutistisch regierten Staaten ein Motiv der Kriegführung gewesen sei. Demokratien haben sich derartigen bevölkrungspolitischen Machtkalkülen gegenüber als bemerkenswert resistent erwiesen. Allerdings ist nicht von der hand zu weisen, daß Länder mit schrumpfenden und stark alternden Bevölkerungen, wie sie für Europa im 21. Jahrhundert charakteristisch zu werden scheinen, in der Auseinandersetzung mit »jüngeren« Ländern und Bevölkerungen unter Herausforderungen geraten, denen sie bestenfalls mittels besonderer Anstrengungen gewachsen sein können. Besondere Spannungen sind zu erwarten, wo junge migrationsbereite Bevölkerungen andere kulturelle und religiöse Orientierungen mitbringen.“ (Ebd., S. 57-58).

„Ohne Zweifel ist für die Umwelt nichts schädlicher als extreme Armut der Bevölkerung, welche nahezu zwangsläufig zu einem Raubbau an der Natur führt. .... Es spricht viel für die These, daß extrem hohe demographische Wachstumsraten (über 2% jährlich) die ökonomische Entwicklung eher beeinträchtigen, während mäßige Wachstumsraten ihr eher förderlich sind. Einerseits ist das Wirtschaftswachstum, soweit es mit steigender Umweltbelastung einhergeht, nicht unproblematisch, andererseits werden umwelt- und ressourcenschonende Technologien eher in wachsnenden als in stagnierenden Wirtschaften entwickelt.“ (Ebd., S. 59-60).

„Der Bevölkerungsrückgang beeinträchtigt das Wirtschaftswachstum, und ein Stagnieren der Wirtschaft verschärft die lohnpolitischen und sozialpolitischen Verteilungskonflikte. Berücksichtigt man ferner, daß der bevölkerungsrückgang auch die strukturelle Anpassungsfähigkeit moderner Gesellschaften tendenziell beeinträchtigt, so ist zum mindetsen zu prüfen, ob nicht auch grundlegende Bedingungen des sozialen Zusammenhaltes durch die demographischen Entwicklungen in Frage gestellt werden.“ (Ebd., S. 61).

2.4) Zur Gewichtung demographischer Argumentationen

„Schließlich ist auch die Frage nach dem relativen Gewicht demographischer entwicklungen im Verhältnis zu anderen ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungen zu diskutieren. .... Schon hier sei darauf hingewiesen, daß nach der hier zu begründenden Auffassung der Einfluß des Bevölkerungsrückgangs als gravierender zu veranschlagen ist, als die Untersuchung einzelner Zusammenhänge nahelegt.“ (Ebd., S. 61-62).


3) Gefährdet der Bevölkerungsrückgang die Wirtschaftsentwicklung ?  (S. 63-94)

3.1) Säkulare Stagnation (S. 63-67)
3.2) Ermöglicht ein Rückgang der Bevölkerung die Steigerung der Pro-Kopf-Einkommen?  (S. 67-71)
3.3) Die zunehmende Relevanz der Humanvermögen für die Produktivitätsentwicklung (S. 72-77)
3.4) Geburtenrückgang als Investitionslücke (S. 77-82)
3.5) Der wirtschaftliche Wert der Zuwanderung (S. 83-86)
3.6) Demographischer Wandel und Produktivitätsentwicklung (S. 86-90)
3.7) Zusammenfassung: Mutmaßliche wirtschaftliche Folgen eines langfristigen Bevölkerungsrückgangs (S. 90-94)

3.2) Ermöglicht ein Rückgang der Bevölkerung die Steigerung der Pro-Kopf-Einkommen?

„Felderer und Sauga (Bevölkerung und Wirtschaftsentwicklung, 1988, S. 210ff.) fassen ihre Überlegungen dahingehen dzusammen, daß in kurzfristiger (d.h. »der Zeitraum von etwa zwei Generationen«) Perspektive die ökonomischen Vorteile eines Geburtenrückgangs überwiegen, während in langfristiger Perspektive eines »säkularen Trends« die negativen Folgen einer Bevölkerungsstagnation oder Bevölkerungsschrämpfung dominieren. Der erste Teil dieser These wurde durch die Empirie bestätigt: bekanntlich hat die Bundesrepublik seit dem Beginn des Geburtenrückgangs um 1965 bis zur Wiedervereinigung (1990) eine historisch einmalige Wohlstandssteigerung erlebt: Das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung hat erheblich zugenommen, während die volkswirtschaftlichen Wachstumsraten im Vergleich zur Nachkriegszeit zurückgingen. Vom Wirtschaftswachstum profitiert haben breite Bevölkerungskreise, und ein erheblicher Teil des Wachstums floß in öffentliche Investitionen, vor allem in den 1970er Jahren. Die außerhäusliche Erwerbsbeteiligung der Frauen nahm stark zu und ermöglichte den Frauen eine bis dahin nie dagewesene Unabhängigkeit, die sich familiensoziologisch in zunehmenden Scheidungsraten und sinkender Heiratsneigung manifestierte. Die starke Zunahme der Kinderlosigkeit, welche für Männer nicht weniger zutrifft als für Frauen, ist ebenfalls Ausdruck der gestiegenen Unabhängigkeit. Mit Felderer und Sauga steht zu befürchten, daß in den kommenden Jahrzehnten dagegen die Nachteile des andauernden Geburtenrückgangs dominieren werden.“ (Ebd., S. 68-69).

Demographie

3.3) Die zunehmende Relevanz der Humanvermögen für die Produktivitätsentwicklung“

„Die ältere Theorie langfristiger Wirtschaftsentwicklung berücksichtigte drei Faktoren: die Bevölkerungsentwicklung, die Kapitalbildung und den technischen Fortschritt. Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität war dabei von der Bevölkerungsentwicklung unabhängig. Sie resultierte aus einer von der zugrunde gelegten Produktionsfunktion abhängigen Kombination von Kapitalbildung und technischem Fortschritt. In empirischen Studien zeigte sich jedoch immer deutlicher, daß gesteigerte Kapitalintensität nur einen Bruchteil des technischen Fortschritts zu erklären vermag, so daß nunmehr »autonomer technischer Fortschritt« als »dritter Produktionsfaktor« neben Kapital und Arbeit eingeführt wurde (vgl. Gottfried Bombach, Wirtschaftswachstum, 1965, S. 790ff.; Günter Clar / Julia Doré, Die Bedeutung von Humankapital, 1997, S. 289ff.). Allerdings blieb dessen Zustandekommen unklar. Erst die Humankapitaltheorie hat hier brauchbare Erklärungen gebracht: »Technischer Fortschritt in Form neuer Güter und Prozesse wird endogenisiert und hängt in entscheidendem Maße von den Investitionen in Humankapital ab.« (Friedhelm Pfeiffer / Martin Falk, Der Faktor Humankapital in der Volkswirtschaft, 1999, S. 24).“ (Ebd., S. 72).

„Bereits der Vorkämpfer für den deutschen Zollverein und autodidaktische Nationalökonom Friedrich List hatte in seiner Auseinandersetzung mit Adam Smith darauf hingewiesen, daß dieser zwar die Ursachen des Volkswohlstandes zu Recht in der Produktivität der Arbeit sehe, daß er aber die Produktivität der Arbeit selbst nicht zu erklären vermöge. »Die Kraft, Reichtümer zu schaffen, ist .... unendlich wichtiger als der Reichtum selbst.« (Friedrich List, Das nationale System der politischen Ökonomie, 1841, S. 173). Arbeitsproduktivität ist für List keine natürliche Gegebenheit, sondern das Zentralproblem der Entwicklung eines Landes, und er nennt in seiner »Theorie der produktiven Kräfte« hierfür im wesentlichen vier Faktoren, nämlich (1) natürliche Gegebenheiten wie Klima oder Bodenschätze, (2) institutionelle Bedingungen im Sinne der kulturellen, rechtlichen und organisatorischen Bedingungen eines Landes, (3) die Summe aller individuellen Kräfte, welche in Form von Erziehung, Bildung und Erfahrung der Bevölkerung als »Nationalproduktivkraft« ihren Begriff finden, und schließlich (4) die »Agrikulturkraft« und »Manufakturkraft«, worunter er den Entwicklungsstand von Landwirtschaft und Industrie verstand, also moderner gesprochen: den erreichten Stand an Technologie und Wissen.“ (Ebd., S. 72).

„Anscheinend ohne Kenntnis des Werkes von List wurden die zwei letzten Sachverhalte in der neueren Humankapitaltheorie (für den Faktor 3) und in der aktuellen soziologischen Theorie der Wissensgesellschaft (für den Faktor 4) erneut entdeckt.“ (Ebd., S. 73).

„Schon für List gehörte es zu den Einseitigkeiten der ökonomischen Theorie, daß sie sich ausschließlich mit marktvermittelten Prozessen der Produktion auseinandersetzt und den gesamten Bereich der Haushaltsproduktion aus dem ökonomischen Geschehen ausklammert: »Ein Vater, der seine Ersparnisse opfert, um seinen Kindern eine ausgezeichnete Erziehung zu geben, opfert Werte; aber er vermehrt beträchtlich die produktiven Kräfte der nächsten Generation. Dagegen ein Vater, der seine Ersparnisse auf Zinsen legt unter Vernachlässigung der Erziehung seiner Kinder, vermehrt um ebensoviel seine Tauschwerte, aber auf Kosten der produktiven Kräfte der Nation.« (Friedrich List, Das natürliche System der politischen Ökonomie, 1837, S. 193) Hier wird das Dilemma zwischen individueller und volkswirtschaftlicher Rationalität bereits klar angesprochen, das heute den Kern des Problems der Nachwuchssicherung ausmacht.“ (Ebd., S. 73).

„Im vorliegenden Zusammenhang interessiert vor allem die Humankapitaltheorie (»Für den größlen Teil der Diskussion wird ›Humankapital‹ als die eine oder andere Variante der in der Erwerbsbevölkerung ›verkörperten‹ formalen Bildung definiert.« [L. Alex / G. Weißhuhn, Ökonomie der Bildung und des Arbeitsmarktes, 1980, S. 17]. Damit wird »Humankapital« auf einen Begriff der Bildungsökonomie reduziert. Wir gehen demgegenüber mit Friedrich List und Theodore W. Schultz von einem realitätsnäheren Konzept aus, das grundsätzlich die gesamten Kosten für das Aufbringen der nachwachsenden Generation als Investition in das Humankapital begreift. Zur Ausarbeitung des Begriffs vgl. Günter Clar / Julia Doré, Die Bedeutung von Humankapital, 1997.), welche Theodore W. Schultz 1979 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften eingebracht hat (wenigstens erwähnt sei ein längst vergessener Vorläufer der Humankapitaltheorie: Rudolf Goldscheid (1870-1931), vgl. insbesondere Rudolf Goldscheid, Entwicklungswerttheorie, Entwicklungsökonomie, Menschenökonomie [Eine Programmschrift], 1908). Das zusammenfassende Werk von Schultz trägt den sprechenden Titel: »In Menschen investieren. Die Ökonomik der Bevölkerungsqualität« (1981). Versteht man unter Humankapital mit Friedrich List die Gesamtheit der in einer Volkswirtschaft eingesetzten Kompetenzen der Arbeitskräfte, so folgt daraus, daß Humankapital »von endlicher Lebensdauer und an Menschen gebunden« ist, so daß die Zahl der Erwerbstätigen als erster Bestimmungsfaktor für die Größe des Humankapitals einer Volkswirtschaft gelten kann (Stefan Homburg, Humankapital und endogenes Wachstum, 1995, S. 341). Die zweite Bestimmungsgröße betrifft die Qualifikation, Gesundheit und Motivation der Arbeitskräfte, wie sie durch familiale und außerfamiliale Sozialisation, durch Schul-, Berufs- und Weiterbildung, durch Berufserfahrung sowie die zahlreichen Maßnamhen des betrieblichen, privaten und öffentlichen Gesundheitswesen beeinflußt werden.“ (Ebd., S. 73-74).

„Humankapital meint präzise »das in ausgebildeten und lernfähigen Individuen repräsentierte Leistungspotential einer Bevölkerung. Es ist eine personengebundene Größe, deren Wert sich über Zeit verändern kann, auch in Abhängigkeit von Veränderungen im Umfeld des Humankapitaleinsatzes« (Günter Clar, Julia Doré / Hans Mohr, Humankapital und Wissen, 1997, S. VI). Hiervon wird unterschieden das »Sozialkapital« und das »Wissenskapital«, nämlich das »nicht an Personen gebundene, ökonomisch relevante Wissen«, wie es entweder allgemein zugänglich in Bibliotheken, Datenbanken u.ä. oder aber in Organisationen als spezifische Ressource (»Organisationswissen«) vorhanden ist (ebd., S. VIf.). Die Rede vom »Humankapital«, das durch »Investitionen« in die Quantität und Qualität der Bevölkerung, insbesondere des Bevölkerungsnachwuchses, entsteht, ist ein kognitiver Durchbruch im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften, um sowohl den technischen Fortschritt zu entmystifizieren als auch der Bevölkerungsentwicklung den ihr zukommenden Platz in der Theorie zu ermöglichen.“ (Ebd., S. 74).

„Ein entscheidender Grund, weshalb die bisher vorherrschenden wirtschaftspolitischen Auffassungen die Rolle der Familie für die Volkswirtschaft unterschätzen, ist in der Auffassung zu suchen, daß die Aufwendungen für Kinder eine Frage des privaten Konsums seien. Wenn man ... vorschlägt, die Aufwendungen der Eltern für ihrer Kinder wie auch die staatlichen Familienbeihilfen und die Aufwendungen für die Bildungspolitik nicht mehr als Konsumausgaben, sondern als Investitionen, als Bildung von Humankapital begreift, wird die enorme Investitionslücke sichtbar, die sich die Bundesrepublik durch ihre niedrige Fertilität in den letzten ... Jahrzehnten geleistet hat. (Vgl. Abschnitt 3.4)“ (Ebd., S. 75).

„Das Wachstum des Humankapitals ist ... gerade in fortgeschritten modernisierten Gesellschaften der Schlüsselfaktor auch für weiteren technischen Fortschritt. .... Der Zusammenhang zur Bevölkerungsentwicklung ist ... durch die Humankapitalbildung vermittelt.“ (Ebd., S. 75).

„Die Kommission für den Fünften Familienbericht der Bundesregierung hat daher den Begriff des Humanvermögens vorgezogen, um auf die Leistungen der Familien und des Bildungswesens aufmerksam zu machen. Damit sind gegenüber dem Kapitalbegriff drei Umakzentuierungen verbunden. Erstens: In der Sprache wirtschaftlicher Bilanzen fällt »Vermögen« in den Bereich der Aktiva, »Kapital« dagegen in den Bereich der Passiva, also der Verbindlichkeiten eines Unternehmens; die Handlungskompetenzen der Mitarbeiter gehören jedoch wie die Sachinvestitionen auf die Seite der Aktiva, der Ressourcen einer Unternehmung bzw. einer Volkswirtschaft ... Zum zweiten läßt sich statt von Handlungskompetenzen auch im Sinne von »Handlungsvermögen« eines Menschen sprechen, so daß der Vermögensbegriff sich sowohl für die mikrotheoretische Bezeichnung der individuellen Kompetenzen als auch für die makrotheoretische Bezeichnung der Summe aller Kompetenzen eignet. (Vgl. Hans-Günter Krüsselberg, Ökonomische Analyse der werteschaffenden Leistungen von Familie im Kontext von Wirtschaft und Gesellschaft, 2002, S. 95). Schließlich und vor allem soll mit dieser Umbenennung der ökonomische Reduktionismus vermeiden werden, welcher mit der Humankapitaltheorie verbunden ist. Denn der gesellschaftliche Fortschritt braucht nicht nur Arbeitskräfte, sondern ebenso kompetente Konsumenten, verantwortliche Eltern, partizipationsfähige Bürger und aktive Mitglieder einer Zivilgesellschaft. Zu berücksichtigen sind also nicht nur die Fachkompetenzen (Arbeitsvermögen) einer Bevölkerung, sondern ebenso deren Daseinskompetenzen (Vitalvermögen).“ (Ebd., S. 76).

„»Die Bildung von Humankapital umfaßt vor allem die Vermittlung von Befähigungen zur Bewältigung des Alltagslebens, das heißt: den Aufbau von Handlungsorientierungen und Werthaltungen in der Welt zwischenmenschlicher Beziehungen. gefordert ist sowohl der Aufbau sozialer Daseinskompetenz (Vitalvermögen) als auch die Vermittlung von Befähigungen zur Lösung qualifizierter gesellschaftlicher Aufgaben in einer arbeitsteiligen Wirtschaftsgesellschaft, der Aufbau von Fachkompetenz (Arbeitsvermögen im weiten Sinne).« (Bundesministerium für Familie [Hrsg.], Familien und Familienpolitik, 1994, S. 28). Diese Unterscheidung ist breiter als die von Gary S. Becker (Humankapital, 1975) eingeführte zwischen allgemeinem und spezifischem Huamnkapital; Becker unterscheidet nur zwischen transferierbarem und nicht tranferierbarem, d.h. an bestimmte Tätigkeiten oder Firmen gebundenen Wissen.“ (Ebd., S. 76).

„Wissenskapital ist ... nur durch hochqualifizierte Arbeitskräfte zu entwickeln, ja selbst seine Nutzung setzt spezifische Qualifikationen voraus.“ (Ebd., S. 77).

„Neben ihrem wachstumstheoretischen Aspekt ist die Humankapitaltheorie in unserem Zusammenhang in zweierlei Hinsicht von Belang: Sie erklärt zum einen die Tendenz zu einer immer deutlicheren Kinderarmut: Eltern interessieren sich stärker für die Qualität als für die Quantität ihrer Kinder, und zwar um so eher, je höher ihr eigenes Humankapital ist. (Vgl. Marc Nerlove, Towards a New Theory of Population and Economic Growth, 1974). Kulturell läßt sich dies mit der aufkommenden Norm »verantworteter Elternschaft« in Zusammenhang bringen. (Vgl. Abschnitt 5.5). Zugleich steigt mit dem individuellen Humankapital der Wert der eigenen Zeit. Da das Erziehen sehr zeitintensiv ist, steigen die Opportunitätskosten des Kinderhabens, d.h. der Wert des Verzichtes auf andere Möglichkeiten. (Vgl. T. W. Schultz, In Menschen investieren - Die Ökonomik der Bevölkerungsqualität, 1981, S. 69ff.). Ob und inwieweit der gesteigerte Aufwand für Erziehung und Bildung die Reduktion der Geburtenzahlen mit Bezug auf die Humankapitalbildung in Vergangenheit und Zukunft kompensiert, läßt sich mangels einschlägiger Modelle nur für einzelne Zeitpunkte schätzen.“ (Ebd., S. 77).

3.4) Geburtenrückgang als Investitionslücke

„In diesem Sinne sei hier versucht, den wirtschaftlichen Wert der unterlassenen Investitionen in das Humanvermögen der Bundesrepublik durch die Geburtenausfälle zwischen 1972 und 2000 zu schätzen. Die wesentlichen Vorarbeiten hierzu haben Heinz Lampert (vgl. Priorität für die Familie, 1996) für den Anteil der familialen Aufwendungen und Georg Ewerhard (vgl. Humankapital in Deutschland, Bildungsinvestitionen, Bildungsvermögen und Abschreibungen auf Bildung, 2001; Bildungsinvestition, brutto und netto, 2002) für die Bildungsaufwendungen geleistet.“ (Ebd., S. 77-78).

Geburten (1950-2000)

„»Geburtendefizit« oder ... »Geburtenlücke« .... Aufgrund der Überlegungen in Abschnitt 2.3 bietet sich als Standard das demographische Gleichgewicht an, also eine Nettoreproduktionsrate von 1,0. Da für ganz Deutschland (einschließlich DDR) nur die allgemiene Geburtenziffer (TFR) als vollständige Zeitreihe verfügbar ist, sei statt dessen dieser Annäherungsindex mit dem Standardwert 2,0 verwendet. (In der Nettoreproduktionsrate wird im Gegensatz zu TFR die weibliche Sterblichkeit bis zum mittleren Gebäralter mit berücksichtigt. Nach der Sterbetafel von 1997/'99 sterben noch 1,3% aller geborenen Mädchen vor Erreichung des 30. Lebensjahres [entspricht annähernd dem mittleren Gebäralter]. Der genaue Gleichgewichtswert wäre demnach eine TFR von 2,026, soch wird hier auf diese [die Investitionslücke vergrößernde] Korerktur verzichtet.). Auf der Basis dieser Annahme stellt sich die Geburtenlücke zwischen 1972 und 2000 gemäß Abbildung 3.2 dar. Addiert man die Jahreswerte, so gelangt man zu einer Geburtenlücke von insgesamt 9,6 Mio. Geburten. Im Jahresdurchschnitt entspricht dies einer Geburtenlücke von 28,8%; betrachtet man dagegen nur das Jahrzehnt 1991-2000, so beträgt die Geburtenlücke 33,8%, also ein Drittel. Diese 9,6 Mio. nicht geborenen und nicht qualifizierten Menschen fehlen uns in den kommenden Jahren nicht nur als Arbeitskräfte, sondern auch als potentielle Mütter und Väter.“ (Ebd., S. 80-81).

„Legt man die Ergebnisse von Heinz Lampert (Priorität für die Familie, 1996, S. 30ff.) zugrunde, denen zufolge die durchschnittliche Aufbringungskosten eines Kindes bis zum 18. Lebensjahr, soweit sie von den Eltern getragen werden, bei bescheidener Bewertung des unentgeltlichen Zeitaufwands für Pflege und Erziehung ca. 306000 DM betragen, so entspricht dies - auf die konstatierte Geburtenlücke hochgerechnet - einem Betrag von 3 Bio. DM (Wert 1992). Dazu kommen im Anschluß an Ewerhard noch einmal 1,8 Bio. DM an unterlassenen Bildungsaufwendungen, insgesamt als 4,8 Bio. DM. Die »Investitionslücke« in das deutsche Humankapital infolge der unter dem Reproduktionsniveau liegenden Fertilität während der letzten dreieinhalb Jahrzehnte darf also in erster Annäherung auf mindestens 4800 Milliarden DM oder 2500 Milliarden Euro geschätzt werden.“ (Ebd., S. 81-82).

„Da alle verfügbaren Daten darauf hinweisen, daß auch die Investitionsquote mit Bezug auf auf das Sachkapital in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten einem rückläufigen Trend folgt (erstmals war die staatliche Sachvermögensbildung im Jahre 2003 sogar negativ; vgl. FAZ, 23.06.2004), muß die These gewagt werden, daß die deutsche Bevölkerung seit mindestens einer Generation über ihre Verhältnisse lebt. In der deutschen Volkswirtschaft wurde zu viel konsumiert und zu wenig gespart und investiert. Die Arbeitszeiten wurden stärker gekürzt, als für eine nachhaltige Entwicklung tunlich ist. Ebenso wurde von einem erheblichen Anteil der Bevölkerung auf Zeit für das Aufbringen von Kindern verzichtet - vorzugsweise zugunsten von Freizeit. Es liegt nahe, hier philosophische oder kulturkritische Gedanken bezüglich der Neigung der menschlichen Gattung zum Luxurieren und zum Verdrängen anzuschließen, doch sei dies anderen (z.B. Meinhard Miegel, Die deformierte Gesellschaft, 2002) überlassen.“ (Ebd., S. 82).

„Es liegt auf der Hand, daß das Stagnieren der Investitionen auch dem Wirtschaftswachstum und der Beschäftigung abträglich ist.“ (Ebd., S. 82).

3.5) Der wirtschaftliche Wert der Zuwanderung (= negativ! Anm. HB)

„Man könnte gegen die vorangehenden Befunde einwenden, daß die Bevölkerung der Bundesrepublik im gleichen Zeitraum um ca. 4 Millionen Einwohner zu gut 40% kompensiert worden ist. Mag das in Köpfen gerechnet auch stimmen, so stimmt es nicht mehr in der Perspektive des Humankapitalansatzes. Wie Untersuchungen des Ifo-Instituts München zeigen, ist die Bilanz der bisherigen Zuwanderung sehr ambivalent, insbesondere infolge der geringen Durchschnittsqualifikation und der wesentlich höheren Arbeitslosigkeit. Diese beiden Faktoren erklären, weshalb die Bilanz der Zuwanderung für die öffentlichen Haushalte ... negativ ist.“ (Ebd., S. 83).

„Nach allem, was wir über die Wirklichkeit der Zuwanderung nach Deutschland wissen, erscheinen die Sozialisationsbedingungen und Bildungsverläufe bei den Kindern der einheimischen Bevölkerung im Durchschnitt deutlich günstiger als zum mindesten bei der ersten Einwanderungsgeneration und ihren Kindern. Was aus der zweiten Generation wird, hängt essentiell von Integrationsleistungen der ersten Generation und ihrer deutschen Umgebung ab. Hierfür wird in Deutschland zumindest von staatlicher Seite bisher nur wenig getan. Das wird auch durch die Ergebnisse des internationalen Vergleichs von Bildungs- bzw. Schulleistungen (TIMS, PISA) unterstrichen. Man muß deshalb den Beitrag, den die Zuwanderung zur Minderung der skizzierten Investitionslücke in Humankapital bisher geleistet hat, als deutlich unterproportional zur Zahl der Zuwanderer einschätzen. Für eine genaue Gewichtung fehlen allerdings Methoden und verläßliche Daten.“ (Ebd., S. 85-86).

3.6) Demographischer Wandel und Produktivitätsentwicklung

„Es sind vor allem die Jüngeren, welche sich neuere Technologien rasch aneignen und sich für neue Tätigkeitsfelder interessieren.“ (Ebd., S. 87).

„Eine Stagnation und erst recht ein langfristiges Schrumpfen der Bevölkerung beeinträchtigt die Produktivitätsentwicklung jedoch zusätzlich auf mittelbare Weise.“ (Ebd., S. 89).

„Die Nachfrage nach Luxusgütern und erst recht die exportabhängige Nachfrage werden von einem Bevölkerungsrückgang im Inland dagegen unmittelbar weniger betroffen“ (Ebd., S. 89).

„»The most important difference between short-run and long-run comparisions of productivity is that changes in populations size and total demand are not very important influences on prductivity in the short run, though they are overwhelmingly important in the long run.« (Julian L. Simon, Research on Population and Productivity Growth in the Westerrn World, 1984).“ (Ebd., S. 89).

3.7) Zusammenfassung: Mutmaßliche wirtschaftliche Folgen eines langfristigen Bevölkerungsrückgangs

„Nimmt man die Einsicht ernst, daß die zukünftige Wirtschaftsentwicklung in den bereits hoch entwickelten Ländern wesentlich von der Zunahme des Humankapitals und des Wissenskapitals abhängt, so gewinnen der Umfang und die Qualifikation des Nachwuchses ein ökonomisches Gewicht, das ihnen in der herkömmlichen Ökonomie verwehrt wird. Während es auf der Seite der Binnennachfrage eher auf die Veränderung der Gesamtbevölkerung, also die Zahl (und natürlich auch die Kaufkraft) der Konsumenten ankommt, ist auf der Angebotsseite vor allem Quantität und Qualität des Nachwuchses entscheidend für die Innovationsfähigkeit und fortgesetzte Produktiviätssteigerung der Wirtschaft. Es geht hier also nicht um die schlichte Quantität des Nachwuchses, wie die demographische Betrachtungsweise suggeriert. Es kommt vielmehr auf die Entwicklung des Humanvermögens an. Insofern kann grundsätzlich eine Fertilitätslücke durch bessere Qualifikation vorhandener und zuwandernder Kinder (woher denn?  Zuwanderer mit Qualifikation gibt es nicht! Anm. HB) bis zu einem gewissen Grade kompensiert werden. Allerdings ist das Kompensieren ungünstiger Sozialisationsbedingungen keineswegs einfach. (Ein Riesenproblem! Anm. HB). Außerdem ist die behauptete Annahme der Leistungsfähigkeit älterer Menschen keine Naturkonstante. Fähigkeiten, welche gebraucht werden, nehmen mit dem Alter meist nur geringfügig ab. Daß langdauernde Arbeitslosigkeit zu einem Leistungsabfall führt, ist deswegen schwer zu bestreiten. Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, wie sie aufgrund der demographischen Persepektiven dringend zu wünschen wäre, kann nur gelingen, insoweit eine eingermaßen kontinuierliche Beschäftigung gerade älterer Arbeitskräfte ermöglicht wird. Das ist nicht nur eine Aufgabe staatlicher Beschäftigungspolitik. (Der Staat muß sich sowieso viel mehr heraushalten! Anm. HB). Vielmehr geht es hier auch um Mentalitätsänderungen - bei Arbeitgebern und Arnbeitnehmern. Die Perspektive lebenslangen Lernens gewinnt unter den Bedingungen einer alternden Bevölkerung zusätzliche Dringlichkeit.“ (Ebd., S. 90-91).

„Vor allem in regionaler Hinsicht ist mit einer Ausbreitung schrumpfender Städte zu rechnen .... Das Schrumpfen stellt dabei einen interdependenten Prozeß von sinkender Wirtschaftskraft, Abwanderung und Abbau bzw. Veralten öffentlicher Einrichtungen dar. In ökonomischer Hinsicht dürfte vor allem der Preisverfall von Grundstücken und Immobilien sowie sinkende Kreditwürdigkeit schrumpfender Gebietskörperschaften und der lokalen Wirtschaft ein verschärfendes Moment darstellen.“ (Ebd., S. 91).

Wenn ein Hochlohnland wie Deutschland mit der Produktivitätssteigerung und der Innovativität seiner Produkte nicht mehr mithalten kann, wenn also sein Humanvermögen nicht mindestens ebenso rasch zunimmt wie in Ländern mit einer nachholenden Entwicklung, muß mit Beschäftigungs- und Wohlstandsverlusten und erbitterten Verteilungskämpfen gerechnet werden.“ (Ebd., S. 77).

„Weiteres Produktivitätswachstum setzt ja vor allem weitere technische und organisatorische Innovationen voraus, die mit weiter sinkenden Arbeitskräftenachwuchs sich weniger leicht realisieren lassen als in der Vergangenheit.“ (Ebd., S. 90-91).

„Die meisten Beiträge ... unterscheiden ... nicht, ob das demographische Altern sich bei einer wachsenden, stationären oder schrumpfenden Bevölkerung vollzieht. Eben hierauf kommt es jedoch nach der hier vertretenen Position an: Ein Altern, das mit einem weiteren Zuwachs an Produzenten und Konsumenten einhergeht, bietet neue Investitionsanreize auch in konventionellen Wirtschaftssektoren und damit generell eine günstigere Wirtschaftsperspektive als eine schrumpfende Bevölkerung. Und ein Nachwuchspotential, das das Erwerbspersonenpotential zumindest ersetzt, bildet günstigere Voraussetzungen für die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft wie auch für die Stabilisierung der Beitragsbasis der Sozialversicherungssysteme als eine schrumpfende Nachwuchsbasis. Das zentrale Problem unserer demographischen Entwicklung ist nicht die Zunahme alter, sondern die Abnahme junger Menschen. Wir koexisteiren, um es mit Ursula Lehr (Die Jugend von gestern - und die Senioren von morgen, 2003, S. 3) zu sagen, nicht mit einer »Überalterung«, sondern mit einer »Unterjüngung« der Bevölkerung.“ (Ebd., S. 94).


4) Soziale Folgen des Bevölkerungsrückgangs (S. 95-115)

4.1) Schwierigkeiten der Integration demographischer Sachverhalte in die Soziologie (S. 96-100)
4.2) Die Wechselwirkung von demographischer und sozialer Entwicklung (S. 100-105)
4.3) Mentalität und Konkurrenz (S. 105-109)
4.4) Zwischenbetrachtung (S. 110-115)

4.1) Schwierigkeiten der Integration demographischer Sachverhalte in die Soziologie

„»Bevölkerung« ist kein gesellschaftliches Funktionssystem, sondern lediglich ein statistischer Begriff für die Menge an »natürlichen« (im Unterschied zu »juristischen«) Personen, die mit bestimmten sozialen Einrichtungen (z.B. Nationalstaat, Stadt, Kirche, Unternehmung, Sozialversicherung) durch Mitgliedschaft oder anderer Beziehungen (z.B. als Publikum oder Klientel) verbunden sind.“ (Ebd., S. 97).

„Natürliche Personen sind i.d.R. zugleich Mitglieder in zahlreichen Organisationen; und es gehört zum Ethos der Menschenrechte, daß allen Menschen ein Recht auf Inklusion in alle gesellschaftlichen Teilbereiche zugesprochen wird. Man kann also nicht etwa die Mitglieder unterscheidlicher Organisationen eines Landes addieren und daraus auf die Gesamtbevölkerung schließen. Selbst eine Addition der Einwohner aller politischen Einheiten eines Staates führt nur dann zu in etwa korrekten Ergebnissen, wenn es gelingt, mehrfache Wohnsitze (multiple Mitgliedschaft) und Nichtseßhaftigkeit (Exklusion) zu berücksichtigen. Dennoch ist nicht zu bezweifeln, daß die Zahl der für bestimmte Sozialsysteme relevanten Personen und ihre Veränderung eine wichtige Dimension sozialen Handelns und soziologischer Erklärung darstellt.“ (Ebd., S. 97-98).

„Die meisten modernen Organisationen sehen ein Wachstum ihrer Mitgliederzahlen als Erfolg an. Mitgliederzahlen symbolisieren Macht, und soweit sie sich aktivieren lassen, können sie auch zu einem realen Machtfaktor werden. Auch die Menge an Nichtmitgliedern, die sich für die Leistungen einer Organisation interessiert, ist für dieselbe relevant: beispielsweise als Nachfrager ihrer Leistungen oder als Unterstützer ihrer politischen Ziele. Wie aber hängen diese Größeninteressen mit der Bevölkerungsentwicklung zusammen?“  (Ebd., S. 98).

„Soziologisch relevant sind demographische Veränderungen unmittelbar, insoweit sie Veränderungen der Humanpotentiale mit sich bringen. Nur natürliche Personen verfügen auf elementare Weise über Motive und Fähigkeiten, um sozial relevante Prozesse in Gang zu bringen. Sie werden dazu durch Sozialisation und eigenes Lernen auf der Basis von Zugehörigkeit zu Organisationen in unterschiedlicher Weise befähigt. Es besteht also stets eine Wechselwirkung zwischen dem jeweils erreichten Stand gesellschaftlicher Entwicklungen und den Humanvermögen in einer Gesellschaft. Diese Humanvermögen werden zu Humanpotentialen für bestimmte gesellschaftliche Leistungszusammenhänge, insoweit es auf die Zahl ihrer Träger ankommt.“ (Ebd., S. 98).

„Mit der Unterscheidung von »Humanvermögen« und »Humanpotential« wird auf zwei Differenzen hingewiesen: zum einen auf die System-/Umweltdifferenz: »Humanvermögen« bezieht sich auf die in einem sozialen System abrufbaren menschlichen Fähigkeiten, also auf dessen personelle Ressourcen. »Humanpotential« auf die in der Umwelt eines sozialen Systems kontingent vorhandenen Personen, deren Fähigkeiten nur durch Akte der Selektion seitens eines sozialen Systems in Anspruch genommen werden können. Zum anderen ist der Humanvermögensbegriff primär fähigkeitsbezogen; Humanvermögen als Aggregatbegriff kann entweder durch vermehrte Qualifikation vorhandener Personen oder durch Heranziehung zusätzlicher Personen gesteigert werden. Der Begriff des Humanpotentials dagegen ist ausschließlich auf die Zahl der Personen bezogen und damit unmittelbar an demographische Begrifflichkeiten anschlußfähig. Von Humanpotential wird hier in analogem Sinne zum Erwerbspersonenpotential in der Theorie des Arbeitsmarkts gesprochen. Der Humanvermögensbegriff stellt dagegen eine soziologische Erweiterung des ökonomischen Humankapitalbegriffs dar (vgl. »Sozialstaat und Humanvermögen« und »Die zunehmende Relevanz der Humanvermögen für die Produktivitätsentwicklung«).“ (Ebd., S. 98-99).

„Bezogen auf bestimmte gesellschaftliche Teilsysteme lassen sich folgende Arten von Humanpotentialen unterscheiden:
1. Erwerbspotential: sein demographisches Korrelat ist die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter;
2.Fortpflanzungspotential:sein demographisches Korrelat ist die weibliche Bevölkerung im fortpflanzungsfähigen Alter;
3.Zielgruppenpotentiale:d.h. die Gesamtheit derjenigen, die grundsätzlich für bestimmte öffentliche Leistungen in Frage, kommen, z. B. die Bevölkerung im Rentenalter oder Jugendliche im schulpflichtigen Alter;
4.Politische Potentiale:d.h. insbesondere die Gesamtheit der durch Nationalität und Alter zur Beteiligung an politischen Entscheidungen qualifizierten Bevölkerung, aber auch die Menge an Personen, die aufgrund bestimmter gemeinsamer Merkmale wie regionaler, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit bzw. eines bestimmten sozialen Status ein Mobilisierungspotential für bestimmte Interessen darstellen.
Die unmittelbare Wirkungsweise demographischer Veränderungen auf gesellschaftliche Zusammenhänge besteht somit in der quantitativen Verschiebung bestimmter Humanpotentiale. Dabei können sich Humanpotentiale entweder nach ihrer Größe oder nach ihrer Struktur verändern. Strukturveränderungen sind beispielsweise die Zunahme von Ausländern am Erwerbspotential oder das Altern der politischen Potentiale. Alle Folgewirkungen sind als durch diese Verschiebungen vermittelt anzusehen. Nur insoweit, als die Vermutung begründet werden kann, daß Struktur- und Dimensionsveränderungen von Humanpotentialen nachhaltige Wirkungen für bestimmte Gesellschaftsbereiche zeitigen, kann von einer soziologischen Relevanz demographischer Veränderungen die Rede sein.“ (Ebd., S. 98-99).

„Derartige Beweisführungen leiden unter der Schwierigkeit, daß demographische Veränderungen stets nur ein Moment des Wandels unter anderen sind und sich zudem sehr langsam entwickeln. Für nahezu alle beobachtbaren wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen lassen sich deshalb auch andere Erklärungen plausibel machen; die Effekte demographischer Veränderungen verstecken sich sozusagen hinter kurzfristigeren Wirkungsketten. Das spricht allerdings nicht gegen ihre langfristig um so nachhaltigere Wirksamkeit.“ (Ebd., S. 99-100).

4.2) Die Wechselwirkung von demographischer und sozialer Entwicklung

„»Schrumpfende Städte« .... Für entwickelte Industrieländer erscheinen ... vor allem drei Transformationsprozesse charakteristisch: Deindustrialisierung, Suburbanisierung, demographischer Wandel. In den Krisenregionen Ostdeutschlands treffen diese Tendenzen zusammen. Eine niedrige Fertilität spielt außer in Ostdeutschland vor allem in Japan eine erhebliche Rolle, wo die Insellage und kulturelle Eigenarten zudem eine kompensierende Zuwanderung bisher weitgehend verhindert haben. Selbst in Tokio leben lediglich 2,7% registrierte Ausländer. (Vgl. Yasuyuki Fujii, Schrumpfung in Japan, in: Schrumpfende Städte, Hrsg.: Philipp Oswalt, 2004, S. 96-100). Japan weist jedoch eine intensive Binnenwanderung auf, so daß sich die Bevölkerung vor allem in drei metropolitanen Regionen der Hauptinsel konzentriert und das flache Land sowie marginal gelgene, häufig früh industrialisierte Städte sich entvölkern und überaltern. Im Vergleich zu Deutschland spielt eine kompensierende Regionalpolitik kaum eine Rolle, so daß die Verhältnisse dort schon heute gravierender sind und die Zukunftsperspektiven aus demographischer Sicht ungünstiger. .... Einigen Städten ist es gelungen, den Schrumpfungsprozeß aufzuhalten und zu attraktiven Kulturzentren in einem zersiedelten Umland zu werden (z.B. Liverpool). In anderen Fällen dominiert soziale Desorganisation, die sich im Verfall der Bauten und der sozialen Infrastruktur, teilweiser Verelendung - vor allem von alten Menschen und Kindern -, zunehmenen sozialen Konflikten und wachsender Kriminalität äußert.“ (Ebd., S. 100-101).

„Im Vergleich zu Entwicklungen im Ausland vollziehen sich die regionalen Schrumpfungen in Deutschland bisher noch kleinräumiger und weniger dramatisch.“ (Ebd., S. 101).

4.3) Mentalität und Konkurrenz

„... Mentalität als »malthusianisch«, weil sie entsprechens dem Pessimismus von Malthus hinsichtlich der Folgen des Bevölkerungswachstums stets die größere und dynamischere Größe (z.B. Geburten) der kleineren oder statischeren Größe (z.B. Nahrungsspielraum) anpassen will, und nicht umgekehrt. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Die Überalterung - Ursachen, Verlauf, wirtschaftliche und soziale Auswirkungen des demographischen Alterungsprozesses, 1960, S. 486ff.). Es geht ... also weder um eine Fortschrittsfeindlichkeit noch um bloße Bequemlichkeit oder Egoismus, wie moralisiernede Zeitgenpossen urteilen nmöchten, sondern um eine »Weise der Existenzdeutung, des Fürchtens, Hoffens und denkens, des Rechthabens und noch häufiger des Sich-Täuschens« (Alfred Sauvy, Théorie génerale de la population, vol II: Biologie sociale, 1954, S. 158; meine Übersetzung). In Deutschland würde man von »Bedenkenträgern« oder »Besitzstandswahrern« sprechen ....“ (Ebd., S. 106).

„Inwieweit aber lassen sich aus der französischen Parallelität zwischen demographischer Stagnation und sozialer Erstarrung verallgemeinernde Schlußfolgerungen ziehen?  Schon die französische Revolution hatte die bis dahin herrschenden traditionalistischen Strukturen erst durch Gewalt beseitigt, während in England, Deutschland und anderswo die Modernisierung allmählich und ohne dauerhafte Konflikte in Gang kam. Mentalitätsgeschichtlich müssen wir also tiefer in die Geschichte zurückreichenden Gründen für den französischen Traditionalismus und seinen Einfluß bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ausgehen. Seine Delegitimierung durch das Regime von Vichy hat ebenfalls den Durchbruch Frankreichs zur bis dahin »verschlafenen Modernisierung« gefördert. Ist Frankreich also ein Sonerfall, der uns wenig lehren kann?“  (Ebd., S. 107).

„Auch in Deutschland mehren sich die Stimmen einsichtiger Publizisten, welche ähnliche Diagnosen vorbringen. Neben Meinhard Miegel, einem schon länger engagierten, gelegentlich etwas grobschlächtigen Mahner (z.B. Meinhard Miegel, Die deformierte Gesellschaft, 2002), seien hier zwei Stimmen erwähnt, die vor allem den Zusammenhang zwischen Mentalität und demographischer Entwicklung hervorheben: Friedberg Pflüger (Ein neuer Weltkrieg?  Die islamische Herausforderung des Westens, 2004) erinnert nicht nur an die historische Tradition einer in Aufstiegs- und Niedergangsmetaphern denkenden Kulturtheorie, sondern bringt auch bedenkenswerte Beobachtungen hinsichtlich des gegenwärtigen Zustands Europas und insbesondere Deutschlands angesichts der islamischen Herausforderung vor. Seine Diagnose trifft sich bis in Details mit derjenigen Sauvys vor einem halben Jahrhundert:
»Europa ist meilenweit davon entfernt, die politische, kulturelle und philosophische Bedeutung zu haben, die es in früheren Jahrhunderten besaß. Die demographischen Daten zeigen nach unten, ebenso der Anteil Europas am Welt-Bruttosozialprodukt. Wer es nicht vermag, die ökonomische ›Basis‹ herzustellen, der verliert zunehmend auch den Einfluss auf den ideellen ›Überbau‹ in der Welt. Wissenschaftlich und technisch mag der Westen, vor allem die USA, noch für lange Zeit eine enorm starke Stellung einnehmen. Was Freizeit, Wohlstand und soziale Sicherheit angeht, wird es im Westen noch lange bessere Verhältnisse geben als in den meisten anderen Regionen der Welt. Aber gleichzeitig breitet sich in den älter werdenden Gesellschaften des Westens - vor allem in Westeuropa - Bequemlichkeit aus. Man lebt nicht mehr für die Zukunft, sondern in den Tag hinein.«
In ähnlicher Weise sprach Peter Graf Kielmannsegg kürzlich mit Bezug auf Deutschland von »Zukunftsverweigerung« (Peter Graf Kielmannsegg, Zukunftsverweigerung, in: FAZ, 23.05.2003, S. 11). Er erwähnte die demographische Krise, die Zuwanderung und die genetische Revolution als die drei Problemkreise, an denen sich die Zukunftsverweigerung besonders deutlich manifestiere. Alle drei passen nicht in die traditionellen Fronten deutscher Politik, und dies trägt gewiß zu den Schwierigkeiten bei. Doch erscheint die Haltung allgemeiner: Es fällt auf, daß in Deutschland keine Diskussion darüber stattfindet, was die Aufgaben der kommenden Jahrzehnte sind und was sich ändern müßte, um ihnen gewachsen zu sein. Es gibt kaum Visionen für Deutschland im Jahre 2020, und wenn schon, so sind sie düsterer Art. Vor allem die Osterweiterung der EU stellt keineswegs nur eine Bedrohung, sondern auch eine Chance für den »Standort Deutschland« dar, sofern es gelingt, das gegenwärtige Lohngefälle durch kurz- und mittelfristig wirksame Maßnahmen abzufedern. Die Vorstellung, daß eine Verlängerung der Arbeitszeiten zu einer Verfestigung der Arbeitslosigkeit und nicht zu einer Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft und damit zu längerfristigem Wachstum führe, entspricht der von Sauvy als »malthusianisch« qualifizierten Mentalität.“ (Ebd., S. 107-109).

„Der Einfluß des demographischen Wandels auf fortschrittshemmende Mentalitäten läßt sich nur indirekt plausibel machen, nämlich durch den Wegfall des Bevölkerungswachstums als Stimulans für wirtschaftlichen und sozialen Wandel. Die geringe wirtschaftliche Dynamik und die besitzstandsorientierte Mentalität in Frankreich ließen sich durch das Fehlen »stimulierender Ungleichgewichte« (vgl. Eugène Dupréel, Deux essais sur les progrés, 1928, S. 336ff.) erklären, also durch den geringeren Anpassungsdruck, durch das Fehlen größerer Mengen von mit Arbeitsplätzen unversorgten jungen Menschen, die auf den Arbeitsmarkt drängen und auch bereit sind, größere Risiken einzugehen. Konkurrenz und Wandel werden meist nur von denen begrüßt, die dadurch zu gewinnen hoffen. Das sind in der Regel eher die »Außenseiter« als die »Eingesessenen«. Wenn es an Außenseitern fehlt - und die Beschränkung von Geburten wie diejenige von Zuwanderung sind hochwirksame Formen der Prävention von Außenseitern -, dann dominieren die »Eingesessenen«, welche wenig Interesse an Veränderung haben.“ (Ebd., S. 109).

„Aus soziologischer Sicht lassen sich also öffentlich dominante Mentalitäten eher auf die Opportunitätsstrukturen und ihre Veränderung als auf psychische Einstellungen zurückführen. Unkontrollierte Konkurrenz ist kein natürliches Bedürfnis des Menschen, sondern allenfalls unumgängliche Herausforderung, deren Intensität vom Gewicht der Konkurrenten und den erwartbaren Gewinnen oder Verlusten abhängt. Fehlt es an Konkurrenz, so ist das Überhandnehmen von Gewohnheiten und ihre normative Verfestigung, im Grenzfall also strukturelle Sklerose, ein erwartbares Ergebnis. (Um nicht »neoliberal« mißverstanden zu werden, sei betont, daß Konkurrenz ebenso ambivalent ist wie Sicherheit. Ein Übermaß an Konkurrenz führt nicht nur zum Ausschluß der Schwächsten, sondern vielfach auch zur Anomie. Doch dies ist ein anderes Kapitel.). Die gegenwärtigen Globalisierungstendenzen wirken allerdings einer Sklerotisierung im deutschen Fall entgegen.“ (Ebd., S. 109).

4.4) Zwischenbetrachtung

„Es sei zum Abschluß des ersten Teils unserer Untersuchung versucht, die vielfältigen Indizien, die sich aus den Analysen in Kapitel 3 und Kapitel 4 ergeben, in einen verallgemeinernden Zusammenhang zu stellen.“ (Ebd., S. 110).

„Es liegt im Horizont des die westliche Kultur ... prägenden aufklärerischen Fortschrittsglaubens daher nahe, regressive Entwicklungen negativ zu bewerten. Aber bereits die Beobachtung, das Wachstum stets mit Strukturwandel verbunden ist, der auch regressive Teilprozesse aufweist, zeigt, daß dieses eindimensionale Bewertungsraster nicht weit trägt. Zudem lassen sich aus anderen weltanschaulichen (z.B. traditionalistischen oder ökologischen) Perspektiven andere, z.B. zirkuläre, stationäre oder regressive Entwicklungsverläufe durchaus positiv bewerten.“ (Ebd., S. 110).

„Die soziologische Betrachtung von Prozessen gesellschaftlichen Wachstums und Schrumpfens hat derartige Wertungen nur als Elemente ihres Erfahrungsobejektes zu berücksichtigen. Aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht sind Pprozesse des Wachstums und des Schrumpfens sachlich und zeitlich stets begrenzt. Das zeigt nicht nur der Aufstieg und Zerfall von Kulturen und politischen Machtzentren, auch für die Weltbevölkerung sind heute bereits Grenzen ihres bis vor kurzem sich beschleunigenden Wachstums erkennbar. So sehr gegenüber einem optimistischen Fortschrittsglauben auf Begrenzungen und Folgeproblemen zu insistieren ist, so muß auch umgekehrt das Konzept des Schrumpfens von kulturkritischen Verfallsdiagnosen deutlich abgesetzt werden. (Dies ist zunächst ein Gebot der wissenschaftlichen Seriosität ...).“ (Ebd., S. 110).

„Der Umstand, daß demographische Veränderungen in der Regel nicht ein einzelnes, sondern mehrere gesellschaftliche Teilsysteme in ihrer raum-zeitlichen Lagerung einigermaßen gleichzeitig betreffen, legt die Frage nach mittelbaren gesellschaftlichen Wirkungen des demographischen Wandels nahe. Es liegen zahlreiche Partialanalysen zu den unmittelbaren Folgen des demographischen Wandels für bestimmte Teilbereiche vor, deren wichtigste hier nur stichwortartig zusammengefaßt seien:
- Der Wegfall des Bevölkerungswachstums und erst recht ein Bevölkerungsrückgang senkt die Investitionschancen innerhalb eines Wirtschaftsraums und vermindert das Wirtschaftswachstum. (Vgl. Kapitel 3).
-Der Mangel an beruflichem Nachwuchs und eine verlangsamte Erneuerungsgeschwindigkeit der erwerbstätigen Bevölkerung beeinträchtigen die Durchsetzung von Innovationen und die Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktivität. (Vgl. Kapitel 3).
-Ein dauerhafter Bevölkerungsrückgang führt zum Rückgang der Binnennachfrage, vor allem hinsichtlich der Deckung von Grundbedürfnissen, und zu Wertverlusten, vor allem auf den Immobilienmärkten; das Altern der Bevölkerung führt zu erhöhter Nachfrage nach personenbezogenen Dienstleistungen, deren steigende Preise die potentielle Nachfrage nach anderen Gütern reduzieren. (Vgl. Kapitel 3).
-Die Verschiebung des Verhältnisses zwischen dem Bevölkerungsanteil der Erwerbstätigen und demjenigen der Nicht-mehr-Erwerbstätigen intensiviert Verteilungskonflikte um Anteile des Volkseinkommens.
- Das Altern der Wählerschaft veranlaßt Politiker, die Bedürfnisse älterer Generationen ernster zu nehmen als diejenigen der nachwachsenden Generationen.
- Der Rückgang der Frauen im gebärfähigen Alter beschleunigt den Geburtenrückgang exponentiell. (Das gilt nur, wenn die Fertilität dauerhaft unter dem Reproduktionsniveau liegt.).
- Die Zunahme der Kinderlosigkeit in einem wachsenden Teil der Bevölkerung dünnt die Verwandtschaftsnetze aus und läßt eine zunehmende Vereinzelung im Alter erwarten.
- Es entsteht massenhaft eine Lebensphase zwischen dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und dem »gebrechlichen Alter«, die bisher institutionell und kulturell kaum strukturiert ist (»drittes Lebensalter«).
Aus jedem dieser Befunde, welche bis auf den letzten unmittelbar an die Häufigkeitsverschiebung von Humanpotentialen anschließen, lassen sich weiterreichende Konsequenzen ableiten, die in der Regel umstritten bleiben. Denn fast in allen Fällen lassen sich mögliche oder tatsächliche Gegentendenzen namhaft machen: Das Wirtschaftswachstum kann durch Innovationen und durch Export stimuliert werden; Produktivitätssteigerungen erscheinen weit stärker von unternehmerischen Maßnahmen als von der Personalwirtschaft abhängig; Nachfrageausfälle im basalen Bereich lassen sich durch Verschiebung der Nachfrage in den Bereich superiorer Güter und Dienstleistungen kompensieren; Geburtenausfälle lassen sich durch Zuwanderung kompensieren u.s.w.. Auch wenn somit die skizzierten Befunde nicht geleugnet werden, so behaupten die verharmlosenden Diskurse, daß die demographischen Effekte im Vergleich zu anderen Wirkungsgrößen bescheiden bleiben und angesichts der Langsamkeit ihrer Entfaltung unschwer durch Anpassungsmaßnahmen kompensiert werden können. Dieser Verharmlosungs-Diskurs mag mit Bezug auf jede einzelne Partialanalyse plausibel klingen, wenngleich die Argumente auch hier jeweils im einzelnen zu prüfen wären. Die hier vertretene Gegenthese hebt aber auf die gleichsinnige Wirkungsrichtung des demographischen Wandels mit Bezug auf nahezu alle Gesellschaftsbereiche ab. Alle genannten Folgen des demographischen Wandels erscheinen als tendenziell problemerzeugend, und es muß damit gerechnet werden, daß sich mehrere dieser Veränderungen gegenseitig verstärken. Beispielsweise wird zur Begründung der demographisch prognostizierten und mittlerweile in Deutschland auch gesetzlich beschlossenen Verschiebungen im Beitrags-/Leistungsverhältnis der Gesetzlichen Rentenversicherung darauf verwiesen, daß die absehbare Steigerung der volkswirtschaftlichen Produktivität ein derartiges Wachstum des Volkseinkommens bewirken werde, daß trotz der Senkung des Rentensatzes im Verhältnis zu den Löhnen die Realeinkommen der Rentner weiter ansteigen können. Unsere Argumentation macht dagegen darauf aufmerksam, daß es unter den Bedingungen einer stagnierenden und alternden Bevölkerung wesentlich schwerer fallen werde, die volkswirtschaftliche Produktivität entsprechend zu erhöhen (vgl. Abschnitt 3.6). Wenn aber die These einer wirtschaftlichen »Wachstumsbremse« zutrifft, dann verschärfen sich auch die Verteilungskonflikte; eine Umwidmung öffentlicher Mittel für die dringend unterstützungsbedürftige Nachwuchssicherung wird zusätzlich erschwert u.s.w.. Der Umstand, daß die Veränderung der Humanpotentiale sich mit Bezug auf unterschiedliche gesellschaftliche Teilbereiche gleichzeitig auswirkt, verstärkt ihre soziale und politische Relevanz.“ (Ebd., S. 111-113).

„Nicht nur die Wirtschaftswissenschaft, auch die Soziologie betont, daß die zunehmende Komplexität moderner Gesellschaften mit einer Erhöhung ihrer Anpassungspotentiale einhergeht. Die tiefgreifenden Transformationsprozesse seit Mitte des 18. J ahrhunderts lassen sich überhaupt nur als Dynamisierung durch fortgesetzte Anpassungszwänge begreifen, und das mit dem Rückgang der Kindersterblichkeit einsetzende säkulare Bevölkerungswachstum spielte hier eine herausragende Rolle. Industrialisierung und Verstädterung waren allerdings oft mit unerwünschten Nebenfolgen verbunden, welche sich häufig zu Lasten der sozial Schwächsten auswirkten. Diese Nebenfolgen wurden in Deutschland und Frankreich als »soziale Frage« thematisiert und und bildeten den Ausgangspunkt für soziale Aktionen und die staatliche Sozialpolitik. Im Kontext der beiden Weltkriege und der zwischenzeitlichen Weltwirtschaftskrise wurden die Folgeprobleme der Dynamik durch nationalistische Abschließung zu bewältigen gesucht. Nach dem Zweiten Weltkrieg versprach das Projekt des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates, die Verlierer des sozioökonomischen Wandels aufzufangen und ihnen entweder eine berufliche Umorientierung oder eine ökonomische Sicherung außerhalb des Arbeitsmarktes zu ermöglichen. Die ziemlich reibungslose Modernisierung wie auch die außenwirtschaftliche Öffnung der europäischen Volkswirtschaften beruhte auf dem Bewußtsein dieser erweiterten Reziprozität ebenso wie der sogenannte Generationenvertrag.“ (Ebd., S. 113-114).

„Das heute in Europa der Vergangenheit angehörende rasche Bevölkerungswachstum in den sich industrialisierenden Ländern hat den Anpassungsdruck erhöht, aber gleichzeitig auch die Anpassungspotentiale. Das Bevölkerungswachstum erscheint als ein relativ unspezifischer Faktor der Schaffung und Verschärfung sozialer Konflikte, es begünstigte aber gleichzeitig sozialen Wandel, d.h. produktive Konfliktlösungen; es handelte sich um »stimulierende Ungleichgewichte«. In wachsenden Bevölkerungen offener Gesellschaften sind Aufstiegschancen unter Wachstumsbedingungen größer, die Gefahr der klassenmäßigen Verfestigung sozialer Unterschiede geringer. Hölderlins hoffnungsvolle Sentenz »Wo die Gefahr wächst - wächst das Rettende auch« trifft hier wie überhaupt für die krisenreichen Modernisierungsprozesse der Neuzeit weitgehend zu. Wie aber steht es mit der drohenden demographischen Schrumpfung und ihren Folgen?  Wo deutet sich hier das Rettende an?“  (Ebd., S. 114).

„Die gegenwärtigen Finanzierungsschwierigkeiten der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland haben noch kaum demographische Ursachen, doch wird die Notwendigkeit von Leistungskürzungen schon heute mit den absehbaren demographischen Risiken begründet. Deren wachsende Wirkung ist unbestreitbar, und zwar ist sie um so wuchtiger, je stärker der Nachwuchs zurückgeht. Diese demographische Herausforderung trifft die deutsche, aber auch vergleichbare Volkswirtschaften in einer Situation wachsenden Anpassungsdruckes unter dem Einfluß der sogenannten Globalisierung. Die grundsätzlich hohen Anpassungspotentiale moderner Gesellschaften sind am Ende der nationalstaatlichen Ära mit einem steigenden Anpassungsdruck konfrontiert, der durch den demographischen Wandel verstärkt wird. Zugleich reduziert jedoch der demographische Wandel die Anpassungspotentiale. Darin liegt ein historisch neues Moment.“ (Ebd., S. 114-115).

„Die zentrale Herausforderung moderner Gesellschaften durch die Bevölkerungsschrumpfung besteht darin, daß Schrumpfungsprozesse in ihnen sozusagen strukturell nicht vorgesehen sind, sondern daß bisher alle Probleme durch Wachstum gelöst wurden. Wachsende Anpassungszwänge stoßen im Falle schrumpfender Bevölkerungen auf sinkende Anpassungsfähigkeit. (In diesem Sinne: Franz-Xaver Kaufmann, Makro-soziologische Überlegungen zu den Folgen eines Bevölkerungsrückgangs in industriellen Gesellschaften, in: Bevölkerungsbewegung zwischen Quantität und Qualität, Hrsg.: Franz-Xaver Kaufmann, 1975, S. 59ff.). Ein Bevölkerungsrückgang, insbesondere ein Rückgang der jüngeren Erwachsenen, wirkt sich als Restriktion für alle gesellschaftlichen Teilsysteme aus. Während das Bevölkerungswachstum zu stimulierenden Ungleichheiten führt, scheint ein Bevölkerungsrückgang in Verbindung mit der Verschärfung sozialstaatlicher Verteilungskonflikte der Verschärfung sozialer Ungleichheit und der Verfestigung sozialer Gegensätze Vorschub zu leisten. Dabei ist weniger an unmittelbare Generationenkonflikte denn an regionale und soziale Ungleichheiten und Konflikte zu denken. Was sich heute erst ansatzweise im Verhältnis von Ost- und Westdeutschland zeigt, kann im Fortgang der demographischen Ausdünnung des Ostens dramatische Formen annehmen. Die Verschärfung sozialer Konflikte dürfte allerdings nur mittelbar durch demographische Entwicklungen stimuliert werden, da hier politische Kräfte und ökonomische Gegebenheiten die Form und Intensität der Konflikte bestimmen.“ (Ebd., S. 115).

„Vielleicht kann eine musikalische Metapher den Einfluß des demographischen Faktors auf die Gesellschaftsentwicklung abschließend verdeutlichen: Im Klang des großen Symphonieorchesters hört man die Kontrabässe kaum. Aber wenn sie fehlen, klingt alles dünn.“ (Ebd., S. 115).


5) Die Nachwuchsschwäche, ihre Bedingungen und Motive (S. 116-158)

5.1) Der säkulare Rückgang der Fertilität im Zuge der Modernisierung (S. 116-122)
5.2) Der „zweite Geburtenrückgang“ seit 1965 (S. 122-127)
5.3) Deutschland im internationalen Vergleich (S. 127-130)
5.4) Soziologische Interpretionen (S. 130-136)
5.5) Warum noch Kinder?  (S. 136-141)
5.6) Pluralisierung oder Polarisierung privater Lebensformen (S. 141-146)
5.7) Paternalismus und Familienpolitik (S. 146-151)
5.8) Strukturelle Rücksichtslosigkeiten (S. 152-158)

„Das Hauptargument gegen eine politische Auseinandersetzung mit der Nachwuchskrise ist die Annahem, dagegen lasse sich nicht viel tun. Demographische Entwicklungen werden wie Naturtatsachen behandelt, an die man sich nur anpassen, die man aber nicht politisch beeinflussen kann (vgl. Abschnitt 6.1). Die Frage nach politischen Handlungsmöglichkeiten der Nachwuchsförderung kann vernünftigerweise erst behandelt werden, nachdem Bedingungen und Motive des Nachwuchsmangels verständlich geworden sind. Das ist das Ziel dieses Kapitels. Zunächst seien die demographischen Sachverhalte skizziert, daran anschließend ihre sozialwissenschaftliche Erklärung.“ (Ebd., S. 116).

5.1) Der säkulare Rückgang der Fertilität im Zuge der Modernisierung

„Unter »generatives Verhalten« versteht die Bevölkerungswissenschaft nicht nur das Fortpflanzungsverhalten im engern Sinne, sondern den von ihr in Form von statistischen Makrogrößen erfaßten Gesamtkomplexes der Verhaltensweisen, welche für die Erklärung beobachtbarer Variationen der Geburtenhäufigkeit von Belang sind: Partnerwahl und Eheschluß, Geburtenkontrolle durch Empfängnisverhütung oder Abtreibung, eheliche und außereheliche Fertilität, Gebäralter und Geburtsabstände, Kinderwünsche und beobachtbare Kinderzahl pro Frau, um nur die wichtigsten Größen zu nennen. Das demographische Erkenntnisinteresse bleibt eng an den statistisch erfaßbaren Tatbeständen und vermag mit den heutigen Analysenmethoden sowohl das Gebärverhalten zu bestimmten Zeitpunkten (Querschnittsnalyse) als auch dasjenigen bestimmter Kohorten von Frauen (Längsschnittanalyse) differenziert darzustellen.“ (Ebd., S. 116).

„Abbildung 5.1. zeigt die Veränderung der jährlichen Geburtenzahlen in Deutschland sowohl im Querschnitt als auch im Längsschnitt. Der allgemienen Geburtenziffer als Querschnittsmaß wird hier das Längsschnittmaß der Completed Fertility Rate (CFR) gegenübergestellt. .... Die CFR ist grundsätzlich der verläßlichste Indikator langfristiger Veränderungen des generativen Verhaltens, weil hier kurzfristige Schwankungen der Fertilität, wie sie durch die unterschiedliche Generationsstärke oder Veränderungen des mittleren Gebäralters der Frauen verursacht werden, keine Rolle spielen.“ (Ebd., S. 118).

„Eine umfassende Erklärung des säkularen Geburtenrückgangs in Europa hat Linde vorgelegt. (Vgl. Hans Linde, Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung 1800-2000, 1984.). In sozioökonomischer Hinsicht betont er drei sukzessiv wirksame Innovationen: Am Anfang steht die Ausgliederung der Erwerbstätigkeit aus dem Familienhaushalt als Voraussetzung der Industrialisierung, wodurch in Verbindung mit dem Verbot der Kinderarbeit der wirtschaftliche Wert der kindlichen Arbeitskraft entfällt. Es folgt die Entstehung und der Ausbau eines staatlich organisierten sozialen Sicherungssystems als Reaktion auf die Industrialisierung, wodurch die Angewiesenheit der Menschen auf familiale Hilfe im Notfall reduziert wird, und es folgt schließlich - als Ergebnis der kapitalintensiven Massenproduktion und des unternehmerischen Gewinninteresses - eine »systemadäquate Überflutung mit neuen Konsumofferten«, welche die Attraktivität alternativer verwendungen von Geld und Zeit stärken, also die »Opportunitätskosten« des Kinderhabens erhöhen. (Vgl. Hans Linde, ebd., 1984, S. 148, 164). Insofern argumentiert auch Linde mit instititionellen Veränderungen der Kosten-Nutzen-Balance des Kinderhabens. Er fügt jedoch noch eine zweite soziokulturelle Erklärung der europäischen Tendenz zu niedriger Fertitlität hinzu, begründet durch die moralische Aufwertung der Konsensualehe und der Familie im Christentum. Im Gefolge von Reformation und Gegenreformation entwickelte sich vor allem im Bürgertum eine Intimisierung des Familienlebens und in diesem Zusammenhang eine wachsende Rücksichtnahme auf die Gesundheit der Mütter und Erziehung der Kinder.
»Bei der europäischen Nachwuchsbeschränkung handelt es sich um die familiale Dimension der glaubensbegründeten Maxime radikaler Personalisierung der jenseitigen Heilserwartung, der diesseitigen Lebensführung und der nach Welterhellung strebenden Wissenschaften im Dienste der Naturbeherrschung - und zwar um ein Phänomen der bereits säkularisierten Spätphase dieses Prozesses in der Epoche aufgeklärter Empfindsamkeit.« Hans Linde, ebd., 1984, S. 183)
Kulturelle und sozioökonomische Faktoren wirkten also zusammen, um einen planvollen Umgang mit dem Nachwuchs zu legitimieren. Dies alles bietet die Bedingungskostellation, in der die Fortschritte von Methoden der Geburtenkontrolle sich rasch verbreiten konnten, denen in dieser Theorie keine eigenständige Bedeutung zu gemessen wird. Für Linde wirken die Bedingungen für eine weitere Nachwuchsbeschränkung bis in die Gegenwart, so daß er die hier als erster und zweiter Geburtenrückgang unterschiedenen Phasen als einheitlichen säkularen Prozeß im Zeitarum zwischen 1800 und 2000 auffaßt.“ (Ebd., S. 120-122).

5.2) Der „zweite Geburtenrückgang“ seit 1965

„In die 1960er Jahre fallen zwei Ereignisse, die gerade in ihrer Wechselwirkung geeignet erscheinen, den Beginn des europaweiten neuen Geburtenrückgangs zu erklären: zum einen die von den Vereinigten Staaten ausgehende und sich in Westeuropa verbreitende emanzipative soziale Bewegung, welche vor allem hinsichtlich der weiblichen Lebensverhältnisse dauerhafte Wirkungen gezeitigt hat. Und zum anderen die Verbreitung der »Pille«, welche erstmals eine vom sexuellen Kontakt völlig unabhängige Empfängnisregelung ermöglichte, und zwar durch die Frau. Beides hat zu einer wesentlichen Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern beigetragen und gleichzeitig eine bis dahin unbekannte Liberalisierung der privaten Lebensformen ermöglicht.“ (Ebd., S. 122).

„Betrachtet man die Entwicklung des generativen Verhaltens in Deutschland seit 1965, so fällt zunächst der Rückgang der kinderreichen Familien ins Gewicht. Ein erneuter Rückgang von geburten höherer Ordnung (über 3 Kinder) setzte mit dem Geburtenjahrgang 1935 ein, gefolgt von einem regelrechten Einbruch bie den zwischen 1940 und 1950 geborenen Frauen. Weil bei zwischen 1940 und 1950 geborenen Frauen auch die Geburten niedriger Ordnung zurückgingen (vgl, Herwig Birg und Ernst-Jürgen Flöthmann, Entwicklung der Familienstrukturen ..., 1996, S. 13ff.), kam es infolge von Überlagerungen zu dem extremen Geburtenrückgang um fast 50% zwischen 1965 und 1970. Hinzu kam eine Verzögerung des heirats- und damit des durchschnittlichen Gebäralters. Das Zusammentreffen dieser Entwicklungen erklärt den brüsken Geburtenrückgang zwischen 1965 und 1970. in der Folge ging jedoch die Geburtenhäufigkeit bei den verheirateten Frauen nur noch unwesentlich zurück und stieg zuletzt sogar wieder etwas an. (Vgl. Tabelle). Die Fortsetzung des Geburtenrückgangs bei den jüngeren Kohorten ist ausschließlich auf die Zunahme der lebenslang kinderlosen Frauen zurückzuführen. (Vgl. Tabelle). Während vom Jahrgang 1940 nur jede zehnte Frau kinderlos blieb, ist es beim Jahrgang 1970 voraussichtlich jede dritte. Diese Verbreitung der Kinderlosigkeit ist die wichtigste Ursache für den Nachwuchsmangel in Deutschland.“ (Ebd., S. 123-124).

Von 1000 Frauen eines Jahrgangs haben im Laufe ihres Lebens ... Geburten
Geburtsjahrgang01234 und mehrSumme
19401062643411851041000
1945130304346140  801000
1950158294343131  741000
1955219249335125  731000
1960260216324124  771000
1965321176312111  811000
1970326154321119  801000

Von 1000 Müttern desselben Jahrgangs haben im Laufe ihres Lebens ... Geburten
Geburtsjahrgang 1234 und mehr*Kinder pro Mutter
1940 2953812071162,203
1945 349398161  922,042
1950 349407155  882,027
1955 319429160  932,073
1960 2914371681042,136
1965 2594591631192,202
1970 2284771771182,245
* Zur Berechnung des Durchschnitts wurde
in dieser Spalte mit 4,5 Kindern gerechnet.

„Bezogen auf unsere einleitenden Überlegungen zur Verbreitung der »Pille« wird aufgrund dieser Zahlen deutlich, daß bei den älteren Geburtsjahrgängen die Empfängnisverhütung vor allem der Reduktion unerwünschter Geburten in der Ehe dientem während in etwa ab dem Jahrgang 1950 die Empfängnisverhütung zunehmend auch einer Liberalisierung der Geschlechtsbeziehungen außerhalb der Ehe Vorschub leistete. Denn bei den Geburtsjahrgängen nach 1950 veränderten sich vor allem die Formen der Partnerschaft.“ (Ebd., S. 124).

„Um 1970 waren in der Bundesrepublik rund 90% aller Männer und 85% aller Frauen zwischen 35 und 45 Jahren verheiratet, und die Zahl der lebenslang unverheiratet Bleibenden lag unter 10% für beide Geschlechter. Zu heiraten gehörte damals zum selbstverständlichen Lebensentwurf jedes gesunden erwachsenen Menschen. Die Heiratswahrscheinlichkeit ging nach 1970 rasant zurück und erreichte um 1997 lediglich noch Werte um 70%für die 49-Jährigen beiderlei Geschlechts. (Vgl. Karl Schwarz, 2003, S. 424f.). Eine starke Zunahme war auch bei den Scheidungen zu beobachten: Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Ehe wieder geschieden wird, hat sich zwischen 1970 (15,9%) und 1985 (30,2%) nahezu verdoppelt und ist bis 2000 weiter auf 38,5% gestiegen. Gleichzeitig sank der Anteil wieder heiratender Geschiedener von 80% (Männer) beziehungsweise 75% (Frauen) auf ca. 67% in 1989, seither ist ein moderater weiterer Rückgang zu verzeichnen. Parallel dazu nahmen nichteheliche Lebensgemeinschaften erheblich zu: von ca. 137.000 (1972) auf 963000 (1990) und 1727000 (2002, nur alte Bundesländer).“ (Ebd., S. 124-126).

5.3) Deutschland im internationalen Vergleich

„Der »zweite Geburtenrückgang« setzte überraschend gleichzeitig in den meisten Ländern Nord- und Westeuropas ein, nämlich zwischen 1965 und 1970. Er setzte sich mit unterschiedlicher Intensität fort und hat bis heute zu von Land zu Land unterschiedlich hohen Fertilitätsniveaus geführt, die jedoch sämtliche unterhalb der für eine vollständige Reproduktion der Bevölkerung notwendigen Fertilität liegen. .... »Vorläufer waren wie beim Geburtenrückgang in aller Regel die Länder Nord- und Westeuropas (bei der Nichtehelichenquote: Nordeuropa; bei der Kinderlosigkeit: Westeuropa), denen Südeuropa (und Osteuropa; Anm HB) folgte.« (Jürgen Dorbritz, Europäische Fertilitätsmuster, 2000, S. 235). Im Vergeich zu anderen europäischen Ländern ist die deutsche Entwicklung wie folgt zu charakterisieren:
1. Bezogen auf die Veränderungen in der Partnerschaftsdimension (Ehealter, Eheschließungen, Ehescheidungen, nichteheliche Lebensgemeinschaften), liegt die Bundesrepublik im Mittelfeld einer Entwicklung zwischen z.T. weit zurückreichender Liberalisierung (Skandinavien) und der Persistenz traditionaler Muster (Italien, Irland).
2.Bezogen auf die Fertilität liegt die Bundesrepublik am unteren Ende, und zwar bereits seit 1950. Die niedrigen Fertilitätswerte kamen also nicht erst durch den »emanzipativen Schub« der 1960er Jahre zustande.
3.Der Geburtenrückgang ist in Deutschland besonders ausgeprägt durch zunehmende Ehe- und Kinderlosigkeit junger Frauen bedingt, während in anderen Ländern eher eine Tendenz zur Einkindfamilie vorherrscht, bei sehr variabler Heiratshäufigkeit. Außereheliche Geburten spielen in der (alten) Bundesrepublik wie in Italien, den Niederlanden und der Schweiz nur eine geringe Rolle und nehmen nur bescheiden zu.
4.Die Erwerbsbeteiligung der Mütter jüngerer Kinder bleibt gering; es dominieren die »Hausfrauen«, ggf. mit geringfügiger oder Teilzeitbeschäftigung.
5. Die Fertilität ausländischer Frauen spielt bereits heute in Deutschland eine größere Rolle als in den anderen EU-Staaten, weil hier der Ausländeranteil besonders hoch ist (vor allem England, Frankreich, Belgien, Luxemburg und Holland haben prozentual viel mehr Ausländer als Deutschland; Anm. HB). Auch wenn die Zuwanderer aus Ländern der Massenemigration sich in ihrem generativen Verhalten vergleichsweise rasch den deutschen Standards anpassen, bleiben charakteristische Unterschiede. Insbesondere ist der Anteil der kinderreichen Familien unter den Ausländern höher und der Anteil der kinderlos Bleibenden niedriger (vgl. Herwig Birg und Ernst-Jürgen Flöthmann, Entwicklung der Familienstrukturen ..., 1996, S. 42f..). Daraus resultiert eine höhere durchschnittliche Kinderzahl von ca. 1,8 Kindern pro Frau, im Vergleich zu ca. 1,2 Kindern bei den Einheimischen. (Bei sehr erheblichen regionalen Schwankungen.). Bezogen auf die einheimische Bevölkerung erscheint also die Fertilität in Deutschland etwa gleich niedrig wie in den südeuropäischen Ländern, obwohl dort die staatlichen Leistungen für die Familie weit geringer sind.
6. Besonders auffallend ist die starke Bildungsabhängigkeit der Kinderlosigkeit in den alten Bundesländern: Über vierzig Prozent der 35-39-jährigen Frauen mit Hochschulabschluß, jedoch nur knapp ein Viertel derjenigen mit oder ohne Lehrabschluß waren laut Mikrozensus 2000 kinderlos; in den neuen Bundesländern besteht ein derartiger Zusammenhang in dieser, noch von den Umständen der DDR geprägten Alterskohorte (noch?) nicht. Die erscheint in der Perspektive der Entwicklung von Humanvermögen als problematisch, weil ein »enge(r) Zusammenhang zwischen der Bildung der Eltern und den Kompetenzen der Kinder« besteht und »die Studierneigung der jungen Menschen nicht unabhängig von den Bildungsinvestitionen ihrer Eltern ist«. (Axel Plünnecke / Susanna Seyda, Bildung, 2004, S. 130.).
Als Gesamttrend läßt sich für Deutschland eine zunehmende Polarisierung der privaten Lebensformen in durch Ehe legitimierte Familien einerseits und in alternative, in der Regel kinderarme oder kinderlose Lebensformen diagnostizieren. Diese Diagnose gilt voll für die alten Bundesländer. In den neuen Bundesländern fallen dagegen die nach wie vor extrem niedrige Fertilität und der skandinavische Größenordnungen erreichende Anteil der außerehelichen Geburten auf. Die Rolle der Ehe ist also in beiden Teilen Deutschlands sehr verschieden und hängt mutmaßlich mit der unterschiedlichen Bedeutung religiöser Bindungen zusammen. Es ist deshalb möglich, daß hier Differenzen hinsichtlich des generativen Verhaltens auch längerfristig bestehenbleiben; allerdings scheint auch eine allmähliche Konvergenz der Familienauffassungen in Ost und West nicht ausgeschlossen. Unsere Analyse orientiert sich am dominierenden westdeutschen Modell. Im Unterschied zu Skandinavien scheint in der Bundesrepublik (West) die soziale Norm ungebrochen, daß Kinder in ehelich legitimierten Beziehungen aufwachsen sollen. Insoweit alternative Lebensformen mit Elternschaft verbunden sind, handelt es sich ganz überwiegend um Kinder aus einer früheren Ehe. Diese Polarisierungstendenz läßt sich nur in wenigen anderen Ländern Westeuropas feststellen. (Vgl. Abschnitt 5.6). Erklärungsversuche dieser Veränderungen haben sowohl die hohe Parallelität der Trends als auch deren unterschiedliche Niveaus zu berücksichtigen, doch zeigt der vielfältige Befund auch, daß nur komplexe, multikausale Erklärungen Plausibilität beanspruchen können. Das spricht sowohl gegen eine rein ökonomische wie auch gegen eine nur biographietheoretische Erklärung ...“ (Ebd., S. 127-130).

5.4) Soziologische Interpretaionen

„Die sozialwissenschaftliche Betrachtungsweise orientiert sich an den Feststellungen der Demographie hinsichtlich des generativen Verhaltens, interpretiert dieses aber nicht behavioristisch, sondern als sinnhaft verstehbares Handeln.“ (Ebd., S. 130).

„Natürlich ist das generative Verhalten von Menschen seit jeher eine kulturell überformte bio-soziale Tatsache. (Vgl. Andreas Miller, Kultur und menschliche Fruchtbarkeit, 1962). Insofern greift ein behavioristischer Ansatz, der vom bloß biologischen Zusammenhang zwischen Sexualität und Fortpflanzung ausgeht, auch für vormoderne Gesellschaften zu kurz. Eine soziale Regulierung der Fortpflanzung durch Kindstötung oder -aussetzung hat es auch in Kulturen gegeben, denen Methoden der Geburtenkontrolle unbekannt waren. Vor allem aber haben die uns bekannten vormodernen Kulturen durch Tabus und Regeln der Partnerwahl die sexuellen Beziehungen in allerdings sehr unterschiedlicher Weise reguliert und angesichts der stets drohenden Übersterblichkeit Motive zur Gewährleistung ausreichender Nachkommenschaft gesetzt.“ (Ebd., S. 131).

Die Erklärung der Nachwuchsschwäche als Mehr-Ebenen-Problem
ErklärungsebeneKulturelle EbeneInstititionelle EbenePaarebene Individualebene
Erklärungsfaktoren

Enttraditionalisierung, »Wertewandel«

Kulturelle Selbstverständlichkeite der Geburtenkontrolle

Familie: Liberalisierung des Ehe- und Scheidungsrechts; Stärkung der Rechte der Kinder

Wirtschaft: Indifferenz gegenüber Elternschaft; wachsende Dynamik

Sozialstaat: Lesitungsansprüche folgen aus der Erwerbsbeteiligung; keine Anerkennung der Erziehungsleistungen

Erschwerung der »Nestbildung«

Veränderung der Machtbalancen

Gefährdete Verläßlichkeit der Beziehungen

Zunehmende Opportunitätskosten von Elternschaft

Zurückhaltung gegenüber langfristigen Festlegungen

Folgen

Ehe und Elternschaft werden biographisch unverbindlich

Pluralisierung der privaten Lebensformen

Verstärkte Verantwortung der Eltern

Ökonomische Benachteiligung der Eltern; familialer Streß

Transferausbeutung der Familien

Unfreiwillige Kinderlosigkeit

Erhöhtes Scheidungsrisiko

Präferenz für ehe- und kinderlose Lebensformen

„Wenn wir den Übergang zu einer dauerhaft unterhalb des Reproduktionsniveaus liegenden Fertilität seit den 1960er Jahren erklären wollen, ist es zweckmäßig, auf zeitgenössische und nicht auf historische Umstände zurückzugreifen. Der Geburtenrückgang ab 1965 erschien besonders dramatisch vor dem Hintergrund der Nachkriegsentwicklung, welche gerade in Deutschland eine Rückbesinnung auf religiöse und familiale Traditionen mit sich brachte und zu einer »Hochzeit der Hochzeiten«, also zu einer extrem hohen Heiratshäufigkeit, führte. Der Umbruch wird vielfach mit einem die zu jener Zeit nachwachsenden Generationen prägenden» Wertewandel« in Verbindung gebracht, welcher eine Ablösung »materialistischer« durch »postmaterialistische« Werte (Ronald lnglehart, Kultureller Umbruch, 1990) odervon »Pflicht- und Akzeptanzwerten« durch »Selbstentfaltungswerte« (Helmut Klages, Wertedynamik, 1988) mit sich bringe. Mit Bezug auf die Familie erscheint der Gegensatz vor allem in der Spannung zwischen einer Orientierung an der hergebrachten Form der durch Ehe begründeten Familie und alternativen Lebensformen mit und ohne Kinder. Je »alternativer« die persönlichen Orientierungen, desto häufiger leben die Befragten in kinderlosen Lebensformen. (Vgl. hierzu zuletzt die umfangreiche Auswertung der European Value Study durch Johan Surkyn und Ron Lesthaeghe [2004], welche für mehrere Länder Europas einen stabilen Zusammenhang zwischen religiösen und traditionalen Orientierungen hinsichtlich der Ehe feststellt.). Die faktische Ausbreitung alternativer Lebensformen macht diese in Verbindung mit dem Aufstieg der Selbstentfaltungswerte auch normativ zunehmend akzeptabel und leistet damit ihrer weiteren Verbreitung Vorschub.“ (Ebd., S. 132-133).

„Diese brüske Umorientierung fällt zeitlich mit der raschen Verbreitung von Ovulationshemmern und anderen »sicheren« Verhütungsmethoden zusammen, und wir neigen dazu, diesem Faktor entgegen der vorherrschenden wissenschaftlicher Meinung eine eigenständige und nachhaltige Wirkung zuzusprechen. Die modernen Methoden der Empfängnisverhütung verändern den generativen Erklärungszusammenhang grundsätzlich, denn erstens wird damit die Trennbarkeit von Sexualität und Fortpflanzung kulturell selbstverständlich. Sie ermöglicht erst den Monopolverlust der Ehe mit Bezug auf die sexuellen Kontakte und die aktuelle Pluralisierung der privaten Lebensformen. Entsprechend dem allgemeinen Differenzierungs- und Entkoppelungstrend in der Moderne folgte der Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung die Entkoppelung von Liebe und Ehe und vielerorts auch von Ehe und Elternschaft; und weitere Fortschritte der Fortpflanzungstechnologie ermöglichen heute bereits die Entkoppelung von biologischer und sozialer Elternschaft. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Zukunft der Familie im vereinten Deutschland, 1990, S. 96ff.). Diese Optionserweiterung fördert in starkem Maße die Pluarlisierung privater Lebensformen. Auf der Basis dieser neuen kulturellen Selbstverständlichkeit ist zweitens die Ankunft von Kindern nicht mehr das erwartbare Ergebnis heterosexueller Kontakte, sondern im Regelfalle das Ergebnis einer mehr oder weniger bewußten Entscheidung der Eltern, zumindest aber der Mutter. Diese Entscheidung wird drittens kulturell überformt durch die Norm »verantworteter Elternschaft«, d.h., es wird heute von Eltern sozial erwartet, daß sie für von ihnen geborene Kinder die Erziehungsverantwortung übernehmen. Als Konsequenz dieser Entwicklungen ist heute nicht mehr die Geburtenbeschränkung (wie in der älteren Forschung), sondern die Entscheidung für die Übernahme von Elternverantwortung der zentrale erklärungsbedürftige Tatbestand. In diesem Sinne halten auch die Herausgeber eines neueren Überblicks über die familiensoziologische Theoriebildung fest:
»Die populäre Verfallsrhetorik, auch wenn sie immer noch eher Randerscheinungen und Variationen des Familienlebens in einer insgesamt wenig veränderten sozialen Welt beschreibt, macht aber eines deutlich: Die Tatsachen, daß Familien mehrheitlich faktisch ihrer Aufgabe gerecht werden und zusammenhalten, daß Frauen und Männer Familienbindungen eingehen, auch unter widrigen Umständen, die ihnen u.U. den Verzicht auf andere Formen der Lebensführung und Selbstverwirklichung abfordern ... sind alles andere als selbstverständlich und müssen erklärt werden. Insofern hat sich in den mehr als vierzig Jahren seit Schelskys ›Wandlungen der Familie in der Gegenwart‹ tatsächlich ein erheblicher sozialer Wandel vollzogen. Familie (einschließlich der nach wie vor unbezweifelt an sie geknüpften Solidaritätserwartungen) ist heute unter Individualisierungsbedingungen zwar immer noch die wahrscheinlichste Option der Lebensführung, aber sie ist keine selbstverständliche Institution mehr.« (Johannes Huinink / Klaus Peter Strohmeier / Michael Wagner, Solidarität in Partnerschaft und Familie, 2001, S. 12).
Die kulturellen Faktoren wirken in die Richtung einer normativen Erweiterung des Möglichkeitsraums individueller Biographien in der familialen Dimension. Aber sie ermöglichen gleichermaßen die Entscheidung für oder gegen Kinder. In dieselbe Richtung wirkt grundsätzlich die Entwicklung des Familienrechts, allerdings mit einer die Kinderlosigkeit eher fördernden Nebenwirkung: Der Liberalisierung des Rechts in der Dimension von Ehe und Partnerschaft steht nämlich aufgrund der Aufwertung der Rechte des Kindes im Horizont der Selbstentfaltungswerte eine verstärkte Inanspruchnahme der Eltern für die Erziehung der Kinder gegenüber. Vor allem posttraditionalistische Paare entscheiden sich deshalb bewußt für oder gegen Kinder und scheinen gegebenenfalls bereit zu sein, für die angestrebte Elternrolle einen »biographischen Preis« zu zahlen. (Vgl. Johann August Schülein, Die Geburt der Eltern, 1990, S. 219).“ (Ebd., S. 133-135).

„Neben diesen grundsätzlichen Orientierungen spielen für die Entscheidung für oder gegen Kinder die absehbaren Folgen der Geburt eines (zusätzlichen) Kindes eine erhebliche Rolle. Zunehmende Bedeutung dürfte dabei die Einschätzung der Folgen für die Partnerschaft der potentiellen Eltern spielen, und vieles spricht dafür, daß Kinder Partnerschaften nicht nur stabilisieren, sondern auch labilisieren können: Partnerschaft und Elternschaft scheinen unter den Bedingungen entfalteter Modernität sich tendenziell zu verselbständigen und oft in Spannung zueinander zu geraten (vgl. Alois Herlth u.a., 1994). Zentral sind die wirtschaftlichen Folgen des Kinderhabens, und sie sind vom Zusammenspiel zwischen marktwirtschaftlichen und sozialstaatlichen Bedingungen abhängig. Hierauf wird im folgenden ausführlicher einzugehen sein (vgl. Abschnitte 5.6 und 5.7).“ (Ebd., S. 135).

„Die Folgen der bisher skizzierten Einflüsse der kulturellen und institutionellen Veränderungen auf die Paarebene äußern sich vor allem in drei Dimensionen: Die mangelnde Anerkennung von Elternverpflichtungen durch Unternehmungen und Sozialstaat erschwert die Familiengründung. Unter den vorherrschenden Bedingungen der Freiwilligkeit kommen Kinder nur im Zuge der Verfestigung partnerschaftlicher Beziehungen zur Welt. Erst wenn eine ausreichende Wohnung in Sicht und berufliche Aspirationen in etwa befriedigt sind, tritt die Erfüllung von Kinderwünschen ins Zentrum einer Paarbeziehung. Zuerst muß also das »Nest gebaut« sein, bevor Kinder angestrebt werden; das ist zum mindesten die vorherrschende Einstellung. Nicht weniger wichtig erscheint allerdings die Verläßlichkeit der Beziehung unter den Partnern als Gegengewicht gegen die Ambivalenz, welche durch die Vielfalt der Alternativen und den Streß beruflicher Beanspruchungen beider Partner oftmals entsteht. (Vgl. Kurt Lüscher, Soziologische Annäherungen an die Familie, 2001). Und schließlich werden viele junge Menschen mit den sich wandelnden Geschlechtsrollenmustern schwer fertig: Offensichtlich hat sich in der Praxis die Machtbalance häufig bereits zugunsten der Frauen verschoben, während die Männer noch weiterhin an hergebrachten Rollenvorstellungen festhalten.“ (Ebd., S. 135-136).

„Alles in allem bietet sich heute das Bild einer »widersprüchlichen Vielfalt« der privaten Lebensformen, und die Widersprüche äußern sich gleichermaßen auf der Ebene individueller Erfahrungen, der Ebene institutioneller Gegebenheiten und in der öffentlichen Rhetorik über Familie (Kurt Lüscher, ebd., 2001). Daß dies zu Orientierungsschwierigkeiten der jungen Menschen und zu einer Zurückhaltung gegenüber langfristigen Festlegungen führt, ist leicht verständlich. Birg begründet demzufolge in seiner biographietheoretischen Erklärung den Geburtenrückgang mit der »These, daß der säkulare Abnahmetrend der Fertilität auf einer Zunahme des Risikos langfristiger biographischer Festlegungen beruht« (Herwig Birg / Helmut Koch, Der Bevölkerungsrückgang in der Bundesrepublik Deutschland, 1988, S. 44).“ (Ebd., S. 136).

5.5) Warum noch Kinder?

„Von seiten der Wirtschaftswissenschaften wird die Übernahme von Elternverantwortung als rationaler Entscheidungsprozeß zwischen »Kosten« und »Nutzen« des Kinderhabens konstruiert, wobei ursprünglich Kinder vor allem in Konkurrenz zu anderen Konsumgütern gesehen wurden. Hier stehen also die direkten Kosten des Kinderhabens in Konkurrenz zu anderen Ausgaben des Haushaltsbudgets. Zunehmend rücken außerdem die indirekten Kosten oder Opportunitätskosten des Kinderhabens in den Vordergrund der Erklärungen, die sich am ehesten als Verzicht auf andere Zeitverwendungen operationalisieren lassen.“ (Ebd., S. 136).

„Geht man von einem im engeren Sinne ökonomischen Kalkül aus, so ist aus der Sicht eines »rationalen Wirtschaftssubjektes« nicht zu erklären, warum überhaupt noch Kinder in die Welt gesetzt werden. Denn im Regelfalle ist das Aufbringen von Kindern seit dem Verbot der Kinderarbeit und angesichts einer weitreichenden Kollektivierung der sozialen Sicherung ohne jeden materiellen Ertrag. Und es bringt um so größere Kosten mit sich, je höhere Ansprüche an deren Ausbildung und Lebensführung gestellt werden, und beide Anspruchsarten nehmen mit der Entfaltung des Wohlstandes und der »systemadäquaten Überflutung mit Konsumofferten« (Hans Linde) offensichtlich zu. Unter dem Gesichtspunkt der Opportunitätskosten ergibt sich vor allem für Frauen eine negative Bilanz, beispielsweise durch Verzicht auf Erwerbsarbeit oder auf eine berufliche Karriere.“ (Ebd., S. 136-137).

„Wie bereits Samuelson (1958) gezeigt hat, wird das Aufziehen eigener Kinder in dem Maße ökonomisch irrational, als die Kosten für den Unterhalt der Nicht-mehr-Erwerbstätigen kollektiviert, diejenigen der Noch-nicht-Erwerbstätigen dagegen privatisiert werden. Ebendas ist in den meisten europäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ausbau kollektiver Alterssicherungssysteme geschehen, während die Aufbringungskosten der nachwachsenden Generation überwiegend den Eltern überlassen blieben. Auch empirisch zeigt sich im internationalen Vergleich ein zeitlich robuster positiver statistischer Zusammenhang zwischen der Höhe der Geburtenraten eines Landes einerseits und dem Anteil der öffentlichen Aufwendungen für die nachwachsende Generation am gesamten Sozialaufwand andererseits sowie eine negative Korrelation zum Anteil der Aufwendungen zugunsten der alten Generation.“ (Ebd., S. 137).

„Es müssen also Motive und Interessen nichtökonomischer Art namhaft gemacht werden, um die Vernünftigkeit des Kinderhabens zu begründen. Die »Nutzen« von Kindern sind heute nahezu ausschließlich immaterieller Art. Die internationale Forschung hat diese Zusammenhänge vor allem mit dem Konzept des »Value of Children« zu operationalisieren versucht (zusammenfassend F. Höpflinger, 1997, S. 80ff.). Aber offensichtlich sind die individuellen Motivationen in der Regel sehr komplex, so daß sich gerade für hochindividualisierte Gesellschaften nur schwer eindeutige Regelhaftigkeiten herauskristallisieren lassen. Als wichtige erfaßbare Momente eines immateriellen Wertes von Kindern sind zu nennen:
- die Anerkennung, welche Vaterschaft und Mutterschaft in relevanten Sozialzusammenhängen zuteil wird;
-kollektive, insbesondere religiöse oder verwandtschaftliche Traditionen;
-persönliche Konstruktionen von Lebenssinn durch die Übernahme von Verantwortung für Kinder;
-positive emotionale Erfahrungen im Kontext von Partnerschaft und Elternschaft
- Hoffnung auf reziproke Anerkennung und Unterstützung seitens eigener Kinder in späteren Lebensjahren.
Neuere empirische Untersuchungen lassen erkennen, daß traditionale Motive der Familienbildung weiterhin an Einfluß verlieren, während ein »intrinsischer Wert« von Kindern, also ihre Eigenwertigkeit, an Bedeutung gewinnt. Das ist insofern bemerkenswert, als hierin ein mutmaßlich »modernisierungsresistentes« Motiv zu sehen ist.“ (Ebd., S. 137-138).

„Zwar läßt sich der »Wert von Kindern« im Rahmen eines ökonomischen Kalküls als »Nutzen« interpretieren, der den mutmaßlichen »Kosten« gegenübergestellt wird. Aber damit wird man der realen Entscheidungssituation junger Menschen nur wenig gerecht,. Die Übernahme von Elternverantwortung wird vor allem als langfristige biographische Festlegung verstanden: »Elternschaft und Ehe in der moderenen Gesellschaft sind ... als Strategien zur Reduktion von Planungs- und Gestaltungsunsicherheiten in bezug auf den weiteren Lebenslauf anzusehen« (Johannes Huinink, Elternschaft in der moderen Gesellschaft, 1997, S. 85). Diese Festlegung erfolgt zudem im Regelfalle nicht individuell, sondern paarweise ....“ (Ebd., S. 138-139).

„Huinink (1997, S. 86ff.) systematisiert die Bedingungen für die »Realisierung von Kinderwünschen« als die Lösung von drei Probelemen: 1. Die Koordination der Lebenspläne beider Partner (»Persepektivenproblem«); 2. die Sicherung ausreichender Ressourcen für eine Elternschaft ohne das Risiko sozialen Abstiegs (»Ressourcenproblem«); 3. die Gwährleistung der Vereinbarkeit von familialer Verantwortung und außerfamilialem Engagement auf der Basis prinzipiell gleicher Rechte beider Partner (»Vereinbarkeitsproblem«).“ (Ebd., S. 139).

„Betrachtet man die Kinderhäufigkeit verheirateter Paare in Deutschland unter dem Gesichtspunkt ihrer Bildungs- und Einkommensverhältnisse (vgl. Karl Schwarz, 1999), so fällt auf, daß Familien mit drei oder mehr Kindern vor allem bei Paaren häufig sind, bei denen beide Partner keinen Ausbildungsabschluß besitzen; das dürfte für Zugewanderte besonders charakteristisch sein. Zum zweiten finden sich kinderreiche Familien häufig bei Paaren, wo der Mann einen Hochschulabschluß, die Frau aber einen anderen oder keinen Abschluß besitzt; hier dürften traditionale Rollenverhältnisse recht verbreitet sein. Den höchsten Anteil der Kinderlosen findet man bei Paaren, wo beide Partner über einen Hochschulabschluß und ein monatliches Haushaltseinkommen von über 7000 DM (Stand: 1997) verfügen; hier dürfte die Berufsorientierung beider Partner den Ausschalg für den Verzicht auf Kinder geben. Generell zeigt sich eine häufigere Kinderlosigkeit in den oberen Einkommensgruppen, was auf die stärkere Erwerbstätigkeit beider Partner zurückzuführen sein dürfte.“ (Ebd., S. 141).

5.6) Pluralisierung oder Polarisierung privater Lebensformen

„Entscheidend ist jedoch die Legitimität und Akzeptanz dieser Entwicklungen im Horizont einer individualistischen und überwiegend liberalen Kultur, der zufolge Individualisierung als Möglichkeit der Selbstverwirklichung positiv beurteilt wird“ (Ebd., S. 142).

„Hier entwickelt sich eine Polarisierung zwischen einem eher traditionell verfaßten »Familiensektor« und einem neuen pluralen Bereich überwiegend kinderloser privater Lebensformen, die sich zunehmend auch in einer sozialräumlichen Segregation niederschlägt (vgl. Klaus Peter Strohmeier, Die Polarisierung der Lebensfromen in der Bundesrepublik Deutschland, 1991, S. 64): Posttraditionale Lebensformen finden sich vor allem in Großstädten und städtischen Zentren, während Familien vorzugsweise im Stadtumland wohnen, soweit sie nicht ohnehin in einem eher traditionalen ländlichen Umfeld siedeln. Und es ist ebendiese Polarisierungstendenz, welche das besondere Ausmaß des Geburtenrückgangs in Deutschland mit erklärt. Es bilden sich hier zunehmend »kinderlose Milieus«, in denen das Fehlen von Kindern auch nicht mehr wahrgenommen wird. Kinderlose finden hier also Bestätigung unter ihresgleichen. Sie haben sich den Umgang mit Kindern buchstäblich abgewöhnt.“ (Ebd., S. 143).

„Das Junktim »Kinder und Ehe« ist hier weitgehdn intakt. Dementsprechend polarisieren sich auch traditionelle und »alternative« Orientierungen stärker und hängen enger mit der Entscheidung für oder gegen Kinder zusammen.“ (Ebd., S. 143-144).

„Die Polarisierung auf der Bewußtseinsebene wird auch durch eine aktuelle Studie im Auftrage der baden-württernbergischen Landesregierung bestätigt. Ihr zufolge ist ein Teil der deutschen Bevölkerung dabei, sich von Kindern zu entfremden. »Der Anteil der Bevölkerung, der kaum Kontakte zu Kindern und Jugendlichen hat, wächst kontinuierlich und damit die Gefahr, daß die Interessen der nächsten Generation bei der gesellschaftlichen Meinungsbildung und den Entscheidungen in Politik und Gesellschaft zu wenig berücksichtigt werden.« (Institut für Demoskopie, Einflußfaktoren auf die Geburtenrate, 2004, S. 1). »Eine Folge der Entfremdung vieler Kinderloser von Kindern ist, daß die Nachteile, die mit Kindern verbunden sind oder sein können, Kinderlosen besonders plastisch vor Augen stehen, während die Gratifikationen der Elternschaft wesentlich weniger gesehen werden als von Eltern.« (Ebda., S. 83) Zweitens erscheint das »subjektive Zeitfenster« für die Geburt von Kindern bei den Befragten wesentlich enger als die biologischen Möglichkeiten. »lm Durchschnitt beziffern die Frauen das optimale Alter, um Kinder zu bekommen, in der engen Spanne zwischen dem 24. und 31. Lebensjah.r« (Ebd., S. 18). Berücksichtigt man den gleichzeitigen Wunsch, zunächst eine Ausbildung abzuschließen und berufstätig zu sein, so zeigt sich, daß insbesondere für die qualifizierteren Frauen ein Konflikt zwischen Kinderwunsch und Berufsperspektive entsteht, zumal die Mehrheit der Frauen keine kontinuierliche Berufstätigkeit, sondern das »Dreiphasen-Modell« - Beruf, Mutterschaft, Beruf - bevorzugt.“ (Ebd., S. 145).

„Alles in allem dürfte die zunehmende Polarisierung der privaten Lebensformen in Deutschland, das Auseinanderdriften zwischen Eltern und Kinderlosen in ideeller, räumlicher und praktischer Hinsicht und die tendenzielle Verfestigung eines »kinderfreien Lebensraums« in erheblichem Maße auf die Spannung zwischen den vorherrschenden Familienvorstellungen einerseits und den praktischen Möglichkeiten der Lebensgestaltung vor allem junger Frauen zurückzuführen sein. Kinderlosigkeit erscheint nicht mehr als Makel, sondern als freie Lebensentscheidung, der im Falle von »Karrierefrauen« zunehmend Leitbildcharakter zukommt. Das Fernsehen, in dessen meistgesehenen Sendungen Kinder kaum vorkommen, trägt das Seine dazu bei.“ (Ebd., S. 144-145).

5.7) Paternalismus und Familienpolitik

„Anscheinend werden in Deutschland vor allem Frauen vor eine härtere Wahl zwischen Beruf und Familie gestellt. Wie läßt sich das erklären?  Auch wenn die nationalen Fertilitätsniveaus in Europa im Weltvergleich ähnlich sind - sie liegen heute überall unterhalb des Reproduktionsniveaus von 2,1 Kindern pro Frau -, so lassen sich doch auch nationale Unterschiede feststellen und erklären, und zwar sowohl in kultureller wie in struktureller Hinsicht. Im Rahmen einer internationalen Kooperation haben wir in der kulturellen Dimension die Bedeutung des Paternalismus und in der strukturellen Dimension den differentiellen Einfluß sozialpolitischer Maßnahmen zugunsten von Kindern untersucht. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann u.a., 1997).“ (Ebd., S. 146).

„Skandinavien ... weist - bei kurzfristigen Schwankungen - über die Zeit ein deutlich höheres Fertilitätsniveau auf als Deutschland und neuerdings erst recht als die südeuropäischen Staaten Griechenland, Italien und Spanien. Unter den außereueropäischen OECD-Staaten fällt vor allem Japan durch seine niedrige Fertilität auf. Gemeinsam ist diesen geburtenarmen Ländern ein ausgeprägter Traditionalismus in den Geschlechterbeziehungen, d.h. eine starke Betonung der Geschlechter-Ungleichheit zugunsten des Mannes, sie sei als Paternalismus bezeichnet.“ (Ebd., S. 146).

„ Mir scheint die (auch in den Geschichtswissenschaften eingeführte) Bezeichnung »Paternalismus« am präzisetsen, da sie auf die Verknüpfung von familialen, ökonomoschen und politischen Leitbildern männlicher Dominanz verweist, welche in Europa vor allem seit der Barockzeit kulturell kodiert wurden.“ (Ebd., S. 146).

„Man mag angesichts der deutlichen Artikulation feministischer Anliegen in der Bundesrepublik Deutschland und einer offiziellen Gleichstellungspolitik bezweifeln, ob hier noch ein ausgeprägter Paternalismus zu finden sei. Aber die Virulenz des Themas wie auch überdurchschnittlich häufige Verurteilungen der Bundesrepublik durch den Europäischen Gerichtshof wegen Verstößen gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz deuten eher auf ein Fortbestehen der grundlegenden Problematik hin. Mit Bezug auf die zentrale Frage, ob Frauen grundsätzlich ihre Erwerbstätigkeit neben ihren Familienaufgaben fortsetzen (»Kontinuitätsmodell«) oder aber die Erwerbstätigkeit zugunsten der Kindererziehung unterbrechen (»Dreiphasenmodell«) oder ganz aufgeben sollten (»Traditionales Modell«), zeigen international vergleichende Umfragen:
»In neun der elf untersuchten Länder vertreten mehr als die Hälfte der Befragten das Kontinuitätsmodell. .... Nur in zwei Ländern, in den alten Bundesländern (sc. Deutschlands) und in Großbritannien findet das Dreiphasenmodell größere Zustimmung; ... Frauen vertreten das Kontinuitätsmodell häufiger und traditionale Modelle seltener als Männer .... In allen Ländern ist die Zustimmung zu traditionalen Modellen in der jüngsten Altersgruppe am geringsten und in der ältesten Altersgruppe am stärksten ..., deutlich tritt auf der anderen Seite der restaurative Sonderweg Westdeutschlands zutage.« (Hans-Joachim Schulze / Jan Künzler, Familie und Modernisierung: kein Widerspruch, 1997, S. 96-99).
Deutschland ist in dieser Frage zwischen Ost und West grundsätzlich gespalten: Die Befürwortung der Frauenerwerbstätigkeit übertrifft in den neuen Bundesländern skandinavische Dimensionen, während in den alten Bundesländern die Mehrheit auch der Frauen noch für das Dreiphasenmodell votiert. Als Hinterlassenschaft aus DDR-Zeiten finden sich in Ostdeutschland auch wesentlich mehr Ganztagseinrichtungen für Kinder und Kinderkrippen.“ (Ebd., S. 147).

„Daß sich bis heute im Deutschen keine der angelsächsischen Unterscheidung zwischen »Sex« und »Gender« vergleichbare Terminologie entwikkelt hat, zeigt, wie schwer es hierzulande ist, den nach wie vor vorhandenen Paternalismus - insbesondere bei Unternehmern, Gewerkschaftern und Kinderärzten! -  zur Rechenschaft zu ziehen.

„Die gründlichsten international vergleichenden Untersuchungen zum Zusammenhang von »Gender-Verhältnissen« und generativem Verhalten hat Künzler (2002) für die Staaten der OECD vorgelegt. Das Ausmaß an geschlechtsspezifischen Ungleichheiten wird in dieser Studie insbesondere durch folgende Indikatoren gemessen:
- geschlechtsspezifische Rollenorientierungen;
-geschlechtsspezifische Beteiligung an bezahlter Arbeit;
-persönliche Konstruktionen von Lebenssinn durch die Übernahme von Verantwortung für Kinder;
-geschlechtsspezifische Beteiligung an unbezahlter Haus- und Erziehungsarbeit;
- geschlechtsspezifische Beteiligung an höherer Bildung.
Angaben zu diesen vier Dimensionen wurden von Künzler zu einem Indikator »Modernität der Geschlechterverhältnisse« zusammengefaßt und die Werte am Median geteilt (vgl. Tabelle, letzte Spalte).“ (Ebd., S. 147-148).

„Seinen politischen Ausdruck findet der Paternalismus auch in der Form sozialstaatlicher Politik, insbesondere mit Bezug auf Frauen und Kinder. Die Maßnahmen können der Vereinbarkeit von Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit von Frauen förderlich oder hinderlich sein. In der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung wurden in diesem Zusammenhang verschiedene Typologien entwickelt. Die Typologie von Künzler unterscheidet »ökonomische« (direkte Geldleistungen) und »ökologische« (die Umwelt von Familien gestaltende) staatliche Interventionen (Künzler bezieht sich dabei auf Schulze (1993); ich übersetze die auf englisch formulierte Typologie in Anlehnung an Kaufmann / Herlth / Strohmeier, 1980, S. 118ff.) und gewinnt durch Kombination dieser Dimensionen vier Typen sozialstaatlicher Politikmuster mit Bezug auf Familien. Dabei wird angenommen, daß die Dominanz von Geldleistungen für Familien eher das Dreiphasenmodell oder das traditionale Modell, die Dominanz sozialer Dienstleistungen für Kinder eher das Kontinuitätsmodell fördert.
1. Politische Vernachlässigung der Familie (indolence): Hier sind weder die öffentlichen Geldleistungen noch die Dienstleistungen für Familien entwickelt. Dieses Politikmuster findet sich in Kanada, Griechenland, Irland, Italien, Niederlande, Portugal, Schweiz und Spanien
2.Behinderung weiblicher Erwerbstätigkeit (inhibition): Hier finden sich erhebliche Geldleistungen für Mütter und/oder Kinder, aber kein ausgebautes System ganztägiger Kinderbetreuung. Dieser Politiktypus findet sich in Österreich, (West-)Deutschland, Luxemburg und Großbritannien.
3.Förderung weiblicher Erwerbstätigkeit (intensification): In diesen Ländern sind die Einrichtungen zur Kinderbetreuung stark ausgebaut, während nur wenige Geldleistungen an Familien gezahlt werden. Dieser Politiktypus findet sich in Japan, Neuseeland und den Vereinigten Staaten.
4.Erwerbsbeteiligungsneutrale Familienunterstützung (neutrality): In diesen Ländern sind sowohl die Geldleistungen wie die Dienstleistungen für Mütter und Kinder gut ausgebaut. Dieser Politiktypus findet sich in Australien, Belgien, Dänemark, (Ost-)Deutschland, Finnland, Frankreich, Norwegen und Schweden.
(Vgl. Jan Künzler, 2002, Tabelle 8.8, S. 280).“ (Ebd., S. 148-149).

Fertilität in den OECD-Staaten (1994), Muster der Familienpolitik und Modernität der Geschlechterverhältnisse
Land Zusammengefaßte Geburtenziffer „Politikmuster“ (nach Schulze) „Modernität der Geschlechterverhältnisse“ 
Neuseeland2,10fördernd (3)+
 Vereinigte Staaten 2,08fördernd (3)+
Kanada1,93vernachlässigend (1)+
Schweden1,88neutral unterstützend (4)+
Australien1,87neutral unterstützend (4)+
Norwegen1,86neutral unterstützend (4)+
Finnland1,85neutral unterstützend +
Irland1,85vernachlässigend (1)
Dänemark1,80neutral unterstützend (4)+
Großbritannien1,74behindernd (2)+
Luxemburg1,72behindernd (2)
Frankreich1,65neutral unterstützend (4)+
Niederlande1,57vernachlässigend (1)
Belgien1,55neutral unterstützend (4)
Japan1,50fördernd (3)
Schweiz1,49vernachlässigend (1)
Portugal1,44vernachlässigend (1)+
Österreich1,44behindernd (2)
Deutschland1,36behindernd (2) in West-D. und
neutral unterstützend (4) in Ost-D.
Griechenland1,35vernachlässigend (1)
Italien1,21vernachlässigend (1)
Spanien1,21vernachlässigend (1)
Bezogen auf die „Politikmuster“ seien die Auswirkungen auf die Fertilität: sehr negativ (1), negativ (2), positiv (3), sehr positiv (4).
Bezogen auf die „Modernität der Geschlechterverhältnisse“ seien die Auswirkungen auf die Fertilität: negativ (–), positiv (+).

„Unter Berücksichtigung multivariater Analysen läßt sich das Ergebnis dieser Untersuchung wie folgt zusammenfassen:
1. Je geringer die Differenz in der Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen, desto höher die Fertilität.
2.Je »moderner« die Geschlechterverhältnisse, desto höher die Fertilität.
3.Je besser ausgebaut die öffentlichen Dienstleistungen für Kinder (Krippen, Kindergärten Ganztagsschulen), desto höher die Fertilität.
4.Der Anteil der Geldleistungen für Familien am Volkseinkommen korreliert dagegen kaum mit der Fertilität.
(Vgl. Jan Künzler, 2002, S. 284). Einen ähnlichen Befund stellt Karl Schwarz (1999, S. 368f.) auf der Indi.vidualebene fest: »Im übrigen hat sich eine erstaunliche, fast alle BevÖlkerungsgruppen übergreifende Einheitlichk~it der Kinderzahl und der Struktur der Familien nach der Kinderzahl durchgesetzt, die von der Einkommenslage fast ganz unabhängig ist.«“ (Ebd., S. 150).

Man kann daraus schließen, daß unter den gegenwärtigen Umständen die Schwierigkeiten einer Vereinbarkeit von Elternverantwortung und Erwerbstätigkeit besonders wirksame Ursachen niedriger Fertilität darstellen, zumindest für die Frauen der Mittelschicht. Die niedrige Fertilität in der Bundesrepublik kommt bei im OECD-Vergleich nur wenig über dem Durchschnitt liegenden Geldleistungen für Familien (die Aufwendungen werden von der OECD mit 1,31% des Bruttosozialprodukts für Deutschland und mit 1,28% für den OECD-Durchschnitt ausgewiesen; vgl. Jan Künzler, 2002, S. 280) und einer eklatanten Unterversorgung mit Krippenplätzen in den alten Bundesländern sowie dem allein für die deutschsprachigen Länder charakteristischen Halbtagsschulsystem zustande. Man wird also von einer wenig großzügigen Unterstützung der Familie sprechen dürfen. Für den hohen Anteil kinderloser Frauen scheint jedoch der normative Konflikt von nicht geringerer Bedeutung: Junge Frauen, die eine kontinuierliche Berufstätigkeit und Kinder verbinden wollen, sind in Deutschland eine Minderheit, die gegen Vorurteile über »berufstätige Mütter« anzukämpfen hat und in den alten Bundesländern zudem auf erhebliche Schwierigkeiten der Kinderbetreuung stoßen. (Nach mehreren Untersuchungen zu schließen, sind die Großmütter immer noch das verläßlichste Betreuuungsarrangement!). In den neuen Bundesländern dürften Mütter angesichts der allgemeinen Arbeitslosigkeit ohnehin schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. In dieser Konstellation wird der Konflikt von einem zunehmenden Anteil der Frauen durch Verschiebung an sich gewünschter Geburten - bis es zu spät scheint - oder aber durch entschlossene Kinderlosigkeit gelöst.“ (Ebd., S. 150-151).

„Daß Kinder und Karriere in Deutschland nicht zu verbinden sind, scheint sich unter qualifizierten jungen Frauen zunehmend auch als Vorurteil zu verfestigen. Während bis in die jüngste Vergangenheit Meinungsumfragen zum sogenannten »Kinderwunsch« mit schöner Regelmäßigkeit einen die Reproduktion theoretisch gewährleistenden Durchschnittswert von 2,1 Kindern pro Frau zutage förderten, zeigt eine neue Studie des Allensbacher Instituts für Demoskopie (2004, S. 7ff.) nunmehr ein deutlich ambivalenteres Bild, vor allem bei den Kinderlosen, bei Männern noch stärker als bei Frauen. Dieselbe Tendenz ist aus der Umfrage 1999/2000 des »Eurobarometers« zu entnehmen: Österreich und Deutschland erscheinen dabei als die Länder, in denen sowohl die gewünschte Kinderzahl als auch die ideale Kinderzahl unter den 18-bis-39-Jährigen besonders niedrig sind. »In Westdeutschland wünschen sich mit 57,6% der Befragten, noch etwas mehr als die Hälfte, 2 und mehr Kinder. In Ostdeutschland sind es mit 46,5% schon weniger als die Hälfte«; der durchschnittliche Kinderwunsch beträgt nach dieser Befragung in Deutschland noch 1,52 Kinder. Zum Vergleich: In ... Dänemark 2,14 und in Schweden 1,96. Vgl. Kinderwünsche in Europa: Keine Kinder mehr gewünscht, BiB-Mitteilungen 03/2004, S. 10-17. - Einschränkend muß hinzugefügt werden, daß die ausländische Wohnbevölkerung in die Studie des Instituts für Demoskopie ausdrücklich nicht einbezogen wurde und möglicherweise auch beim »Eurobarometer« ausgeschlossen blieb. »Nur 59 Prozent der 18-bis-44-jährigen Bevölkerung sind überzeugt, daß Lebensglück das Zusammenleben in einer Familie voraussetzt. .... Nur 42 Prozent der Kinderlosen wollen »bestimmt« Kinder haben, 35 Prozent eventuell. 23 Prozent schließen die Elternschaft für sich persönlich kategorisch aus.« (Institut für Demoskopie in Allensbach, Einflußfaktoren auf die Geburtenrate - Ergebnisse einer Repräsentativumfrage der 18-bis-44-jährigen Bevölkerung, 2004, S. 7ff.). Und je entschiedener die Übernahme von Elternverantwortung abgelehnt wird, desto stärker wird auch die kollektive Bedeutung generativer Entscheidungen verneint.“ (Ebd., S. 151).

5.8) Strukturelle Rücksichtslosigkeiten

„Solchen Polarisierungen ist mit Plakataktionen und sonstigen »Aufklärungsschriften«, wie sie von Zeit zu Zeit von Familienministerien verbreitet werden, kaum beizukommen. Selbst wo Rechtsansprüche bestehen, beispielsweise auf Elternurlaub oder Teilzeitarbeit, sind die Verhältnisse außerhalb des öffentlichen Dienstes oft so beschaffen, daß sie sich praktisch nicht durchsetzen lassen - von Männern noch weniger als von Frauen! Es sind ja nicht so sehr die Vorurteile und Willkürlichkeiten einzelner Personen dem hinderlich, sondern strukturelle Eigenarten unseres Wirtschaftssystems, welche keine Rücksicht darauf nehmen, ob Erwerbstätige Elternverantwortung übernehmen oder nicht.“ (Ebd., S. 152).

„Wir müssen tief in die Selbstverständlichkeiten unseres gesellschaftlichen Lebens blicken, um die strukturelle Benachteiligung von Menschen zu verstehen, die heute Elternverantwortung übernehmen. Moderne, funktional ausdifferenzierte Gesellschaften entwickeln Teilsysteme mit eigensinnigen »Funktionslogiken«, die sich indifferent gegenüber Umständen und Entwicklungen verhalten, die für ihr eigenes Funktionieren nicht unmittelbar relevant sind. Diese zuerst von Georg Simmel (»Sociale Differenzierung«, 1890) und Emile Durkheim (»Gesellschaftliche Teilung der Arbeit«, 1893) in ihrer Bedeutung erkannten Transformationen der Modernisierung sind die eigentliche Ursache der allgemeinen Leistungssteigerung, welche wir nicht nur in der Wirtschaft, sondern ebenso in Wissenschaft, Staat und nicht zuletzt Familie beobachten können. Während nämlich die familialen Beziehungen in vormoderner Zeit in den Lebenszusammenhang von Produktion und Herrschaft »eingebettet« waren, haben sie sich heute ebenso verselbständigt wie diejenigen von Produktion und Herrschaft und sind aufgrund verstärkter kultureller Codierung zu einem gesellschaftlichen Teilsystem eigener Art geworden. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Läßt sich Familie als gesellschaftliches Teilsystem begreifen?,  1994).“ (Ebd., S. 152).

„Auch die Anforderungen an Familie sind gestiegen. Familien sind aus gesellschaftlicher Sicht auf Reproduktion und Regeneration von Humanvermögen sowie auf Stabilisierung Cier Solidarität zwischen Generationen spezialisierten Funktionseinheiten geworden. Das entspricht natürlich nicht dem Selbstverständnis der Beteiligten, die eher von Kindererziehung, wechselseitiger Hilfe, Freizeitgestaltung und Haushaltstätigkeiten sprechen. Zum Verhältnis von Aufgaben und Leistungen von Familie einerseits und von gesellschaftlichen Funktionen andererseits. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Zukunft der Familie, 1990, S. 34-81). Aber Familien können sich nicht der typischen Methoden der Leistungssteigerung bedienen, welche andere gesellschaftliche Teilsysteme kennzeichnen: Organisation, Größenwachstum und Arbeitsteilung. Wenn Modernisierung »Entbettung« bedeutet, nämlich »das »Herausheben« sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Ineraktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum-Zeit-Spannen übergreifende Umstrukturierung« (Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, 1995, S. 33), so bleiben Familien, zumindest die haushaltzentrierten des westeuropäischen Typus, zwangsläufig unvollständig modernisierbare Gebilde. (Bemerkenswerterweise entwickeln sich im Zuge zeitgenössischer Migration transnationale Verwandtennetzwerke von z. T. beachtlicher Leistungsfähigkeit; vgl. Matthias Bös, Migration als Problem offener Gesellschaften, 1997). In Westeuropa kam jedoch schon im Mittelalter feudalen Bindungen größere Bedeutung als verwandtschaftlichen Bindungen zu.). Auch in ökonomischer Hinsicht sind Familien »unmodern«, denn in ihnen gelten nach wie vor naturalwirtschaftliche Prinzipien der Sorge und Reziprozität unter Angehörigen. Sieht man vom Taschengeld ab, endet der Geldverkehr an der Haustüre. Allerdings ist Familien heute im Regelfall die Selbstversorgung unmöglich geworden; sie sind für nahezu alle Güter auf Marktversorgung und damit auch auf Gelderwerb angewiesen. Dafür sind heute allein die Eltern da, und sie müssen auf dem Arbeitsmarkt mit den disponibleren Kinderlosen konkurrieren.“ (Ebd., S. 152-153).

„Wir können deshalb von einer strukturellen gesellschaftlichen Rücksichtslosigkeit gegenüber Familien sprechen. (Hierzu ausführlicher Franz-Xaver Kaufmann, Zukunft der Familie im vereinten Deutschland, 1990, S. 169ff. sowie Bundesministerium für Familie und Senioren, Familien und Familienpolitik ..., 1994, S. 21 ff.). Sie resultiert aus dem Sachverhalt, daß jedes Funktionssystem nur die für es relevanten Gesichtspunkte seiner Umwelt in Rechnung stellt und deshalb die Erfüllung familialer Aufgaben wie Elternschaft oder Pflege kranker oder behinderter Angehöriger in der Regel keine Anerkennung außerhalb der Familien selbst findet. Der moderne Individualismus im Wirtschaftsleben wie in der Rechtsordnung bleibt nicht ohne Folgen für die Bildung und Stabilität familialer Lebenszusammenhänge. Auch die kulturellen Leitvorstellungen orientieren sich am erwachsenen Individuum; Kinder sind nur als Privatsache vorgesehen, deren Lebensraum in Familien, Bildungseinrichtungen und Zentren der Jugendkultur insular isoliert wird und die Kinder zu »Außenseitern der Gesellschaft« macht. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Kinder als Außenseiter der Gesellschaft, 1980).“ (Ebd., S. 153-154).

„Ein zentrales Moment der strukturellen Benachteiligung von Familien läßt sich nicht ohne Schaden für Wirtschaft und Gesellschaft beseitigen, nämlich die individuelle Entlohnung nach Leistungskriterien, wobei als Leistung ausschließlich die Erwerbsarbeit gilt. (Mit dieser Einschätzung bleibe ich auf dem Boden »kapitalistischer Tatsachen«. Daß die noch zu besprechende »Transferausbeutung« ihren konstitutiven Grund in der am Kapitalzins orientierten Wirtschaftsordnung hat, zeigt Dieter Suhr: Transferrechtliche Ausbeutung und verfassungsrechtlicher Schutz von Familien, Müttern und Kindern, 1990, S. 81.ff.). Nicht mehr der produzierende Familienhaushalt, sondern der erwerbstätige einzelne stellt die für die Lebensführung relevante Wirtschaftseinheit dar. Für ein Unternehmen und erst recht für die Funktionsprinzipien der Marktwirtschaft ist es grundsätzlich irrelevant, ob jemand Elternverantwortung übernimmt oder nicht. Und dasselbe gilt für das liberale Staatsverständnis. (Vgl. John O’Neill, The Missing Child in Liberal Theory, 1994). Zwar entwickeln alle gesellschaftlichen Teilsysteme wechselseitige strukturelle Rücksichtslosigkeiten, aber wo organisierte Arbeitsteilung herrscht, ist mit solchen komplexen Herausforderungen leichter umzugehen als in dem Kleingebilde Familie. Es ist deshalb eine zentrale Aufgabe von familienbezogener Politik, derartige Rücksichtslosigkeiten abzubauen oder zu kompensieren. Allerdings ist dies weniger einfach, als es auf den ersten Blick scheint: Da die meisten sozialrechtlichen Regelungen dem individualistischen Paradigma des Wirtschaftslebens folgen, ist es strukturell erschwert, durch Familienpolitik eine nachhaltige Verbesserung familialer Lebenslagen zu erzeugen.“ (Ebd., S. 154).

„Wird die individualistische Orientierung von Wirtschaft und Politik nicht korrigiert, so führt dies in der Konsequenz zu verschiedenen Formen der Benachteiligung von Familien, welche ihrerseits unentgeltlich Vorteile (»positive Externalitäten«) für die übrigen gesellschaftlichen Teilbereiche produzieren: Sie bestehen in erster Linie in der grundsätzlich unentgeltlichen Reproduktion und Regeneration der Humanvermögen, auf deren Nutzung die übrigen Gesellschaftsbereiche angewiesen sind. Man kann diesen Sachverhalt polemisch als » Transferausbeutung der Familie« bezeichnen. (Grundlegend Dieter Suhr: Transferrechtliche Ausbeutung und verfassungsrechtlicher Schutz von Familien, Müttern und Kindern, 1990; ferner mit besonderem Nachdruck Jürgen Borchert, Innenweltzerstörung - Sozialreform in die Katastrophe, 1989; ders., Renten vor dem Absturz - Ist der Sozialstaat am Ende?,  1993). Unabhängig von diesem rhetorischen Kunstgriff bleibt der Tatbestand schwerwiegender Asymmetrien zwischen Leistungen des Familiensystems und Gegenleistungen von Wirtschaft und Staat bestehen. Diese Asymmetrien führen zu einer Begünstigung der Kinderlosen im Vergleich zu den Eltern.“ (Ebd., S. 154-155).

„Eine erste Asymmetrie ergibt sich aus der Abhängigkelt des Familienhaushalts von den Bedingungen des Arbeitsmarktes. Personen, welche Elternverantwortung übernehmen, stehen nicht in gleichem Umfange dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, es sei denn, es gelingt ihnen dank besonderer Arrangements, das Problem der Vereinbarkeit von Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit befriedigend zu lösen. Das Vereinbarkeitsproblem ist jedoch nur ein Teilaspekt der strukturellen Benachteiligung von Familien; seine Lösung reduziert nur die Opportunitätskosten des Kinderhabens.“ (Ebd., S. 155).

„Daneben schlagen auch die direkten Kosten des Aufbringens von Kindern zu Buche. Hierbei handelt es sich um zwangsläufig anfallende konsumtive Aufwendungen. Diese sind in jedem Falle von den Eltern zu tragen, werden aber zusätzlich auch noch vielfach mit Steuern belastet. Das gilt für die Einkommenssteuer, insoweit die dort anerkannten Freibeträge unterhalb der tatsächlichen Aufwendungen der Eltern bleiben. Erst auf Druck des Bundesverfassungsgerichts werden seit 2002 diese Aufwendungen in realistischer Höhe anerkannt. (Das anerkannte steuerliche Existenzminimum eines Kindes [einschließlich Freibetrag für Betreuung, Erziehung und Ausbildung] beträgt seit dem Jahre 2002 5808 EUR pro Jahr. In Anlehnung an die Sozialhilfesätze beträgt das anerkannte Existenzminimum je nach Alter des Kindes zwischen 2834 und 4474 EUR im Jahr 2002. [Vgl. Rüdiger Parsche u.a., Steuerlich induzierte Kinderlasten: Empirische Entwicklung in Deutschland, 2003, S. 38.]. Die tatsächlichen Aufwendungen der Eltern sind i.d.R. höher, sofern das Einkommen der Eltern dies gestattet.). Ferner: Auch wenn sich das Familieneinkommen durch die Erwerbsbeteiligung beider Eltern unter sonst gleichen Bedingungen auf das Niveau eines kinderlosen Paares erhöht, bleibt die Fähigkeit, Ersparnisse zu bilden, hinter derjenigen der Kinderlosen erheblich zurück. Dies schränkt nicht nur die Möglichkeiten der Eigenvorsorge ein. Vielmehr werden wegen der unterschiedlichen Besteuerung von Konsumausgaben und Ersparnissen die Familienhaushalte auch steuerlich stärker belastet. (Das Ausmaß dieser zusätzlichen Belastungen, hier als »Kinderstrafsteuer« apostrophiert, wurde vom ifo-Institut für die Zeit von 1990 bis 2002 auf 33 Mrd. EUR im Bereich der Einkommenssteuer und für 1998-2002 auf 7.5 Mrd. im Bereich der Verbrauchssteuern geschätzt. Vgl. Rüdiger Parsche u.a., ebd., 2003, S. 85). Unter dem Gesichtspunkt der verfügbaren Einkommen fallen schließlich neben den Steuern auch die Sozialversicherungsbeiträge stark ins Gewicht, welche die Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen ungeschoren lassen. All diese staatlichen Abgaben führen in ihrer kumulierten Wirkung trotz eines progressiven Einkommenssteuertarifs zu einer deutlich degressiven Belastung der höheren Einkommen, welche eine Hauptursache für die relative Verarmung der Familien darstellt. (Vgl. Hessische Staatskanzlei [Hg.], Die Familienpolitik muß neue Wege gehen! Der »Wiesbadener Entwurf« zur Familienpolitik, 2003, S. 60ff.).“ (Ebd., S. 155-156).

„Eine besonders gravierende Ungerechtigkeit entsteht im Bereich der Gesetzlichen Rentenversicherung. Alleinstehende und Ehepaare mit nur einem Verdiener erhalten trotz offenkundig ungleicher Bedürfnisse grundsätzlich dieselbe Rente, berechnet auf der Basis der bezahlten Beiträge. Dementsprechend steht einem kinderlosen Doppelverdienerehepaar bei gleicher Einkommensbiographie die doppelte Rente eines Einverdienerehepaares zu. Diese Betonung des sogenannten Äquivalenzprinzips bedeutet eine im internationalen Vergleich der gesetzlichen Alterssicherungen ziemlich einmalige Vernachlässigung des Bedarfsaspektes, die auch durch die jüngst verbesserte Anerkennung von Erziehungszeiten nicht aus der Welt geschafft wird. (Vgl. Hessische Staatskanzlei [Hg.], ebd., 2003, S. 79ff.) Auch im Hinterbliebenenrecht stellen sich Doppelverdienerpaare günstiger.“ (Ebd., S. 156).

„Die gravierendste »Ausbeutung« - oder weniger polemisch: ein parasitäres Verhältnis - ergibt sich aus dem Umstand, daß an Kindern mit guten Gründen keine Eigentumsrechte bestehen können. Das Umlageverfahren in der Gesetzlichen Renten- und Pflegeversicherung finanziert den Unterhalt nur der vorangehenden, nicht der nachwachsenden Generation (hierzu ausführlicher Abschnitt 7.6). Der Unterhalt der gegenwärtigen Erwachsenen- oder Elterngenerationen wird einst von den Kindern dieser Generation gesichert werden müssen. Zum Aufbringen der nachwachsenden Generation tragen aber kinderlos Bleibende nur wenig bei, da selbst der Familienlastenausgleich zu einem hohen Maße von den Eltern mitfinanziert wird. (Vgl. Bundesministerium für Familie und Senioren, Familien und Familienpolitik ..., 1994, ebd., S. 294f.).“ (Ebd., S. 156-157).

„Die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse der Familien entsprechen weitgehend den Erwartungen, die sich aus der Analyse ihrer institutionellen Benachteiligungen ergeben. So zeigen wiederholte Untersuchungen der Familienwissenschaftlichen Forschungsstelle des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg, daß der Lebensstandard eines kinderlosen Ehepaares zumindest in der Familienaufbauphase nahezu doppelt so hoch ist wie derjenige eines Ehepaares mit zwei Kindern. Gravierend ist der hohe Anteil von Familien an den Sozialhilfeempfängern, wobei hier vor allem Alleinerziehende und kinderreiche Familien überproportional vertreten sind. Jedes zehnte Kleinkind unter drei Jahren erhielt im Jahre 2001 Hilfe zum Lebensunterhalt, und der Anteil hat im letzten Jahrzehnt überproportional zugenommen. (Vgl. Statistisches Bundesamt, Kinder in der Sozialhilfe 2001, 2003, S. 6). Im Jahre 2003 erhielten 1,08 Millionen Kinder und Jugendliche Hilfe zum Lebensunterhalt, eine Zunahme um 6,2% gegenüber dem Vorjahr (Pressemitteilung 01.08.2004). Dazu kommen 184000 Jugendliche, welche »erzieherische Hilfen« erhalten.“ (Ebd., S. 157).

„Im vorangehenden ist nur von allgemein wirksamen Faktoren die Rede gewesen, welche die Nachwuchsschwäche erklären können. (Hinzu kommen die spezifischen Umstände einzelner BevÖlkerungsgruppen, welche diese allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen als mehr oder weniger beeinträchtigend erfahren lassen.). Kurz gesagt, tendieren moderne okzidentale Gesellschaften zur Kinderarmut, weil sie kulturell die individuelle Entscheidung im Rahmen der vom Recht gezogenen Grenzen an die Spitze aller Maximen gesetzt haben und strukturell Personen ökonomische Vorteile nach dem Maße zukommen lassen, als sie ihre Kompetenzen in den Dienst von direkten oder indirekten Kapitalinteressen stellen. »Wer Schweine erzieht, ist ihr ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft.« (Friedrich List, Das nationale System der politischen Ökonomie, 1841, S. 231.). Das Aufziehen von Kindern gilt als ökonomisch irrelevant, als konsumtive Tätigkeit, als »Privatvergnügen«. (Johannes Huinink [Elternschaft in der modernen Gesellschaft, 1997, S. 88f.] vermutet angesichts der ökonomischen Schwierigkeiten von Elternschaft, daß sich Kinder zu einem »Luxusgut« entwickeln.). Die marktwirtschaftliche Ökonomie verhält sich parasitär mit Bezug auf die Erziehungsleistungen der Eltern.“ (Ebd., S. 157).

„Dieses »Privatvergnügen« ist jedoch von größter öffentlicher Bedeutung, und wenn es allzusehr durch andere Vergnügungen verdrängt wird, wozu die mit der Wohlstandssteigerung einhergehende Optionserweiterung reiche Angebote enthält, so gefährdet sich dieser Wohlstand selbst. Auf andere Weise, als Karl Marx vermutet hat, könnte der Kapitalismus an seinen Erfolgen zugrunde gehen, wenn ihm der Nachwuchs ausgeht. Im Sinne der ökonomischen Theorie sind Kinder zu einem »öffentlichen Gut« geworden, an dessen Produktion alle ein Interesse haben, die einzelnen jedoch keine oder ungenügende Anreize erhalten, sich an der Produktion zu beteiligen.“ (Ebd., S. 158).

„In der Theorie öffentlicher Güter formuliert, bedeutet der Verzicht auf die Übernahme von Elternverantwortung »Free-Riding«. Kinderlose als »Trittbrettfahrer«, das klingt häßlich. Es ist auch ungerecht aus der Sicht der Betroffenen. Der Vorwurf ist nicht an die zu richten, die ihre knappen Ressourcen nach ihren Präferenzen verwenden, sondern an eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die die Kinderlosigkeit prämiiert und die übernahme von Elternverantwortung mit ungebührlichen Nachteilen verbindet. So bemerkt zu Recht Norbert F. Schneider (Bewußt kinderlose Ehepaare, 1996, S. 136): »Die zunehmende Verbreitung bewußter Kinderlosigkeit ... spiegelt einen modernen Lebensstil wider, der von immer mehr jungen Menschen angestrebt wird und nicht zuletzt Folge der skizzierten Eltem- und Kinderunfreundlichkeit unserer Gesellschaft ist. Hier, und nicht an einer spaltenden Stigmatisierung, sind die Hebel zur Veränderung anzusetzen.«“ (Ebd., S. 158).


6) Politische Perspektiven (S. 159-197)

6.1) Zwischen „Bevölkerungspolitik“ und „demographischem Fatalismus“ (S. 161-167)
6.2) Sozialstaat und Wohlfahrtsproduktion (S. 167-173)
6.3) Nachwuchssicherung als prioritäre Aufgabe des Sozialstaats (S. 173-176)
6.4) Zuwanderung ist nur ein bescheidener Beitrag zur Problemlösung (S. 177-179)
6.5) Bildungspolitik: Kompensation statt Selektion (S. 179-182)
6.6) Familienpolitik: Politik für Eltern und Kinder (S. 182-192)
6.7) Eltern und Kinderlose - Zukunftsvorsorge durch Kinder oder Sparen (S. 193-197)

„In den beiden folgenden Kapiteln stehen politikbezogene überlegungen im Vordergrund. Was läßt sich seitens der Politik aus den vorangehenden Analysen lernen ?  Was kann aus sozialwissenschaftlicher Sicht angesichts der Problemlage empfohlen werden?  Nach Einschätzung des Verfassers ist der diskursive Weg von sozialwissenschaftlichen Einsichten zu praktisch brauchbaren politischen Schlußfolgerungen recht weit, und er setzt auf jeder Stufe der Argumentation Zusatzannahmen voraus, die für die ursprüngliche Problembeschreibung entbehrlich sind. Es gibt somit gute Gründe, das Geschäft der Politikberatung von der wissenschaftlichen Analyse institutionell zu trennen.“ (Ebd., S. 159).

„Der praktische Nutzen sozialwissenschaftlicher Überlegungen bezieht sich vor allem auf die Art und Weise der Problembestimmung und auf die grundsätzlichen Perspektiven möglicher Problemlösungen. Eine für die praktische Wirksamkeit der Sozialwissenschaften grundlegende Einsicht stammt von dem us-amerikanischen Sozialpsychologen William I. Thomas: »If men define situations as real, they are real in their consequences.« In eine ähnliche Richtung weist ein bekanntes Diktum von Karl Marx: »Man muß diesen versteinerten Verhältnissen ihre Melodie vorsingen, dann fangen sie an, zu tanzen.« Es ist uns Menschen nicht vergönnt, die Welt in kollektiv eindeutiger Weise zu erkennen. Was wir als Wirklichkeit bezeichnen, ist zum einen das Ergebnis unserer eigenen, durch gedeutete Erfahrungen zustande gekommenen Vorstellungen, und zum anderen ein Vorrat von in unseren sozialen Bezugkreisen geteilten, in der Regel öffentlich verbreitete Deutungen, mit denen wir uns mit Bezug auf das sich Ereignende vor allem dann verhalten, wenn es sich nicht in unserem unmittelbaren Erfahrungsraum ereignet, wenn es sich also nur um »Erfahrungen zweiter Hand« handelt, die uns heute vorzugsweise durch Massenmedien, aber natürlich auch durch Gespräche oder individuelle Lektüre nahegebracht werden. Inwieweit es sich hierbei um »richtiges« oder »falsches Bewußtsein« handelt, ist oft nicht eindeutig zu entscheiden. Die Sozialwissenschaften sind das fortgesetzte bemühen, unsere öffentlich geteilten Vorstellungen mit auf systematischem Wege gewonnenem Wissen zu konfrontieren und diese in, wie Sozialwissenschaftler hoffen, erfahrungstauglicher und lebensdienlicher Weise zu verändern.“ (Ebd., S. 159-160).

„Diese Schrift ist der bescheidenen Versuch eines Sozialwissenschaftlers, andere Menschen durch individuelle Lektüre davon zu überzeugen, daß ein Bevölkerungsrückgang, wie er sich aufgrund der in Deutschland seit 1970 bzw. 1971/'72 herrschenden Fertilität für das 21. Jahrhundert abzeichnet, zu schwerwiegenden ökonomischen, sozialen und politischen Problemen für ein Gemeinwesen führen würde. Wer so argumentiert, stellt sich in den Horizont praktischer Solidarzusammenhänge, deren Existenz vorausgesetzt wird. (Vgl. Abschnitt 1.3).“ (Ebd., S. 160).

„Die skizzierten demographischen Regressionstendenzen sind real - in Deutschland, in Europa, in absehbarer Zukunft auch global -, und es sind keine spontan entgegenwirkenden faktoren erkennbar.“ (Ebd., S. 160).

6.1) Zwischen „Bevölkerungspolitik“ und „demographischem Fatalismus“

„Bevölkerungsfragen erwecken bei vielen Menschen ein schwer zu formulierendes Unbehagen. Und dies Unbehagen steigert sich, sobald von »Bevölkerungspolitik« die Rede ist. Die Bevölkerungswissenschaft oder Demographie hat das Ihre dazu beigetragen, solchem Unbehagen Nahrung zu geben.“ (Ebd., S. 161).

„Geburt und Sterben erscheinen nur als nüchterne Statistiken biologisch, und Menschen werden auf zählbare Einheiten reduziert. Die Bevölkerungsstatistik hat sich aus der »Politischen Arithmetik« des 17. und 18. jahrhunderts entwickelt, welche sich selbst als Handlungswissenschaft für die regierenden Fürsten verstand, denen die Vermehrung ihres Volkes einen Zuwachs an Macht versprach. Erkenntnis - Voraussicht - Handeln, diese Trias des rationalen Politikentwurfs prägt bis heut das Konzept einer Bevölkerungspolitik.“ (Ebd., S. 161-162).

„Wingen (= Max Wingen; Anm. HB) ... befürwortet eine »bevölkerungsbewußte Familienpolitik«.“ (Ebd., S. 163).

„Die Begründung familienpolitischer Maßnahmen mit bevölkerungspolitischen Intentionen stößt auf der symbolisch-kulturellen Ebene in Deutschland und der Schweiz bisher mehrheitlich auf Ablehnung, während z.B. in Frankreich in einem Haut Conceil de la Population et de la Famille kein Geringerer als der Präsident der Republik den Vorsitz führt. Auf der pragmaitsch-instrumentellen Ebene dagegen ist von einer hochgradigen Kontingenz zwischen politischen und individuellen Motiven auszugehen.“ (Ebd., S. 164-165).

„In dieser Schrift wurde ... der Begriff des Humanvermögens stark gemacht. (Vgl. Kapitel 3). In politischer Hinsicht entspricht ihm die im folgenden zu begründende politische Zielsetzung der Nachwuchssicherung.“ (Ebd., S. 165).

„Aber es ist auch vor dem umgekehrten Fehlschluß zu warnen, nämlich einem demographischen Fatalismus. Die unter konstant bleibenden Bedingungen prognostizierte niedrige Fertilität und regressive Bevölkerungsentwicklung werden hier als vorgegebene Tatsachen verstanden, die man nicht wesentlich beeinflussen könne. Die demographischen Perspektiven werden allerdings auch nicht als besonders gravierend eingeschätzt, wahrscheinlich um kognitive Dissonanzen zu reduzieren. Von Fatalismus mit Bezug auf die Bevölkerungsentwicklung hat zuerst Mayer (vgl. Tilman Mayer, Die demographische Krise - Eine integrative Theorie der Bevölkerungsentwicklung, 1999, S. 412) gesprochen. Mayers grundsätzliche Kritik an „Bevölkerungspolitik“, bei gleichzeitig positiver Einschätzung der Steuerungspotentiale moderner Gemeinwesen hinsichtlich demographischer Prozesse, trifft sich weitgehend mit der hier vertretenen Position.“ (Ebd., S. 165).

„Der demographische Fatalismus ist eine kollektive Situationsdefinition, die erkennbar nicht aus der demographischen Sackgasse hinausführt, sondern Konsequenzen zeitigt, die man mit Alfred Sauvy als »malthusianisch« bezeichnen kann (vgl. Abschnitt 4.3): Man sieht sich dann gezwungen, die übrigen Gesellschaftsbereiche an die regressive Bevölkerungsentwicklung anzupassen, was allerdings in Konflikt mit wirtschafts- wie mit sozialpolitischen Zielen gerät.“ (Ebd., S. 165-166).

„Der demographische Fatalismus faßt die Bevölkerungsentwicklung wie ein Naturereignis auf, das man nicht ändern, dem man sich politisch nur anpassen kann. .... Gegen eine Biologisierung der Bevölkerungsfrage wird hier für ihre Ökonomisierung und Soziologisierung plädiert. Die Bevölkerungsentwicklung ist kein unaufhaltsames Schicksal (und wenn doch?  Anm. HB), sondern durch institutionelle Reformen grundsätzlich in zukunftstauglicher Weise zu beeinflussen. Hierfür müßten allerdings andere Prioritäten als bisher gesetzt werden.“ (Ebd., S. 167).

6.2) Sozialstaat und Wohlfahrtsproduktion

„Um hier weiter zu denken, müssen wir eine übergreifende Zwischenüberlegung einschalten. Wie bereits in Abschnitt 1.3 angedeutet, bildet der Nationalstaat, hier also konkret die Bundesrepublik Deutschland, nach wie vor den wichtigsten politischen Solidaritätshorizont. Neben kulturellen Identitätsmustern bestimmen vor allem die politischen Institutionen der Rechts- und Sozialstaatlichkeit die Realität eines gemeinsamen Schicksalsraums.“ (Ebd., S. 167-168).

„Neben kulturellen (Legitimation) und politischen (Pazifizierung sozialer Gegensätze) Funktionen lassen sich dem Sozialstaat auch wirtschaftliche und soziale Funktionen zuschreiben, die in unmittelbarem Zusammenhang mit unserem Thema stehen, nämlich die Stützung der Humankapitalbildung und die Stabilisierung privater Lebensformen, in denen die von den übrigen Gesellschaftsbereichen beanspruchten Humanvermögen regeneriert und reproduziert werden. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaats, 1997, S. 34ff.).“ (Ebd., S. 170).

„Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und im Horizont der internationalen Menschenrechtsdoktrin haben sozialstaatliche Legitimationen die älteren machtstaatlichen Legitimationen nationaler Vergesellschaftung überlagert. Das kulturelle Leitbild des Sozialstaates beinhaltet ein politisches Gemeinwesen, das auf Freiheit, rechtlicher Gleichheit, Marktwirtschaft und zugleich demokratisch und sozialstaatlich vermittelter Solidarität seiner Bürger beruht. Politisch verwirklicht wird es in dem Maße, wie es einem Staate gelingt, Freiheitsrechte, politische Mitbestimmungsrechte und soziale Teilhaberechte gleichgewichtig zu entfalten und zu gewährleisten. Je stärker im Zuge von Globalisierung und Europäisierung die nationalen Grenzen an Bedeutung verlieren, desto wichtiger wird die Synergie (d.h. das gelingende Zusammenwirken) von Wirtschafts- und Sozialpolitik für den Erfolg nationaler Politik.“ (Ebd., S. 170).

„Die Vorstellung einer »Standortkonkurrenz« zwischen ganzen Volkswirtschaften bezieht sich nicht etwa nur auf Löhne und Abgaben, sondern auf den Zusammenhang zwischen politischen (z.B. Rechtssicherheit, sozialer Friede), ökonomischen und soziokulturellen Standortfaktoren; zu letzteren zählen insbesondere die Arbeitskräfte mit ihren Motivationen und Fähigkeiten, also das sogenannte Humanvermögen, aber auch die infrastrukturellen Voraussetzungen der Produktivität wie Forschung, Kommunikation oder Lebensqualität. Wie ernst in den Vereinigten Staaten diese Standortschwächen Deutschlands genommen werden, zeigt Christian Schwägerl: Das Exodus-Dossier - Wohin es die akademische Elite-zieht. Kinderarmut wird durch falsche Forschungspolitik gesteigert, FAZ, 16.02.2005, S. 44.“ (Ebd., S. 170).

„Angesichts der disziplinären Spezialisierung der Sozialwissenschaften fehlt es noch weithin an einer Begrifflichkeit, um diese komplexen Zusammenhänge zur Sprache zu bringen. Nach wie vor dominiert ein öffentliches Bewußtsein, das die wohlfahrtsbedingungen moderner Gemeinwesen auf die Dichotomie »Markt« versus »Staat« reduziert. Diese Dichotomie wird durch die disziplinäre Spezialisierung auf eine marktzentrierte Wirtschaftswissenschaft und eine staatszentrierte Politikwissenschaft sowie durch den herkömmlichen politischen Gegensatz zwischen »Links« und »Rechts« stabilisiert. Es sei nachdrücklich darauf hingewiesen, daß diese politisch polarisierende Sichtweise der Komplexität unserer gegenwärtigen wohlfahrtspolitischen Probleme nicht mehr angemessen ist und selbst eine kognitive Schranke für zukunftstaugliche Perspektiven darstellt. Um über diese oft sogar als antagonistisch verstandene Dichotomie hinauszukommen, muß nach gemeinsamen Bezugspunkten beider Begriffe gefragt werden. Ein solcher Bezugspunkt ist beispielsweise »Steuerung«, also die Frage nach unterschiedlichen Prinzipien institutionalisierter Handlungskoordination. Wenn Steuerung als ein übergeordneter Bezugspunkt akzeptiert ist, fällt es nicht mehr schwer zu zeigen, daß »Markt« und »Staat« allein keine zureichende Explikation gesellschaftlicher Steuerungsprozesse darstellen.“ (Ebd., S. 171).

„In wohlfahrtstheoretischer Perspektive bietet sich als übergreifender Bezugspunkt der Begriff der Wohlfahrtsproduktion an. Hierunter sei die Gesamtheit der Nutzen für Dritte stiftenden Transaktionen verstanden, seien sie öffentlicher oder privater Artentgeltlich oder unentgeltlich, formell oder informell. Der Begriff wird jedoch nur durch seine Spezifizierung analytisch fruchtbar. Neuere »wohlfahrtspluralistische« Ansätze arbeiten meist mit einer vierfachen Unterscheidung, nämlich zwischen marktlicher, staatlicher, assoziativer und familialer Wohlfahrtsproduktion. Marktliche Wohlfahrtsproduktion orientiert sich primär an Kosten und Preisen, staatliche Wohlfahrtsproduktion an Rechtsnormen, familiale Wohlfahrtsproduktion an Solidarität und assoziative Wohlfahrtsproduktion, bald an korporativen, bald an professionellen, bald an Solidaritätsnormen. Der Typus assoziativer Wohlfahrtsproduktion bezieht sich zentral auf den sogenannten »Dritten« oder »Non-profit«-Sektor-von kollektiver Selbsthilfe bis zu den Wohlfahrtsverbänden und ihren Einrichtungen.“ (Ebd., S. 171-172).

„Will der Staat die familiale Wohlfahrtsproduktion unterstützen, so kann er dies erfolgreich nur durch die Beeinflussung der Lebenslage von Familien und ihren Mitgliedern tun. »Lebenslage« ist ein Zentralbegriff der Theorie der Sozialpolitik, dessen ursprüngliche Definition durch Gerhard Weisser unübertroffen ist: »Als Lebenslage gilt der Spielraum, den die äußeren Umstände dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die er bei unbehinderter und gründlicher Selbstbesinnung für den Sinn seines Lebens ansieht.« (Gerhard Weisser, Distribution II - Politik, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Band 2, 1956, S. 635). Daß Kinder gerade unter säkularisierten, modernen Verhältnissen als sinnstiftend erfahren werden, wurde bereits dargelegt. (Vgl. Abschnitt 5.5). Die neuere Diskussion betont das relationale Moment von Person und Umwelt am Begriff der Lebenslage und spricht auch von »sozialer Teilhabe«. Vier zentrale analytische Dimensionen der Lebenslage lassen sich unterscheiden, nämlich Status, Ressourcen, Gelegenheiten und erworbene Kompetenzen. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sozialpolitik zwischen Gemeinwohl und Solidarität, in: Herfried Münkler und Karsten Fischer [Hg.], Gemeinwohl und Gemeinsinn, 2002, S. 87ff.). Sie werden typischerweise durch unterschiedliche politische Maßnahmen gefördert: Der Status ist vor allem von der Zuweisung von Rechten abhängig. Unter den Ressourcen dominiert in sozialpolitischer Perspektive das Einkommen, das staatlicherseits vorzugsweise durch Steuern und Sozialleistungen beeinflußt wird. Unter »Gelegenheiten« ist hier vor allem die Chance der Inanspruchnahme von Infrastruktur und sozialen Diensten zu verstehen, deren ortsnahe Bereitstellung eine öffentliche, oftmals regionale oder kommunale Aufgabe darstellt; aber natürlich gehören auch Arbeitsplätze zu den zentralen »Gelegenheiten«. Erworbene Kompetenzen resultieren vor allem aus formellen und informellen Lernprozessen, deren politische Förderung vor allem mittels des allgemeinen oder beruflichen Bildungswesens erfolgt. Politische Familienförderung kann nur erfolgreich sein, wenn sie diese vier Dimensionen gemeinsam berücksichtigt.“ (Ebd., S. 172-173).

6.3) Nachwuchssicherung als prioritäre Aufgabe des Sozialstaats

„Der langfristige Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung und der potentiellen Eltern ist die Konsequenz vielfältiger individueller Entscheidungen unter bestimmten kulturellen Voraussetzungen sowie politisch und ökonomisch gesetzten Bedingungen. Er ist vor allem die Konsequenz der Kinderlosigkeit eines in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten (also ungefähr seit 1970; Anm. HB) stark zunehmenden Teiles der Bevölkerung. Offensichtlich wirkt ein Leben ohne Kinder per saldo auf wachsende Bevölkerungsgruppen attraktiver als ein Leben mit Kindern. Und hierfür lassen sich plausible Gründe anführen. (Vgl. Abschnitte 5.4 und 5.8).“ (Ebd., S. 173-174).

„Daß die sich ankündigenden Schwierigkeiten kollektiv verdrängt werden, hat auch mit dem Umstand zu tun, daß die ... Öffentlichkeit bisher keine Begriffe gefunden hat, um die »Problematik« - d.h. das Problem und seine Lösungsperspektiven - in für »Links« und »Rechts« bzw. für »Frau« und »Mann« akzeptabler Weise zu formulieren. In der Bundesrepublik fehlt es an einer akzeptablen Sprache, um die Probleme demographischer Nachhaltigkeit politisch zu artikulieren. Denn die herkömmlichen Begriffe wie Bevölkerungs- oder Familienpolitik beinhalten tiefliegende Ambivalenzen. In der Bundesrepublik fehlt es an einer akzeptablen Sprache, um die Probleme demographischer Nachhaltigkeit politisch zu artikulieren. Denn die herkömmlichen Begriffe wie Bevölkerungs- oder Familienpolitik beinhalten tiefliegende Ambivalenzen.“ (Ebd., S. 174).

„Das ist offenkundig für den naheliegenden Begriff der Bevölkerungspolitik. ... Er trifft aber auch das Problem nicht genau genug. (Vgl. Abschnitt 6.1). Es kommt ja für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Nachhaltigkeit nicht primär auf die Zahl und das Alter der in Deutschland Lebenden an, sondern auf den Umfang und die Art der vorhandenen Fähigkeiten sowie auf die Motive und Bedingungen ihrer Nutzung. Nicht demographische Quantitäten, sondern soziale Qualitäten in ausreichendem Umfange - als Bürger, Kulturträger, Produzenten, Konsumenten und, last but not least, als Eltern - sind das Entscheidende für die Zukunft einer Gesellschaft.“ (Ebd., S. 174).

„Der Begriff Familienpolitik kommt unserer Problematik bereits näher. Offensichtlich geschieht in der Gemeinschaft von Eltern und Kindern Entscheidendes für die Entfaltung der Anlagen von Kindern, wie wir aufgrund neuerer Erkenntnisse der Hirnforschung nun auch in naturwissenschaftlich belegter Weise wissen. Intelligenz entfaltet sich nicht ohne persönliche Zuwendung; Leistungsbereitschaft entsteht nicht ohne emotionale Anerkennung. Zudem gibt es kein anderes soziales Arrangement, in dem Fortpflanzung und Sozialisation in so selbstverständlicher Weise miteinander zu koppeln sind wie die Familie. Und vor allem: Jedermann glaubt an den Wert von Familie, wie auch immer er sie im einzelnen verstehen mag. Die unzureichende Häufigkeit von Familiengründungen ist der offensichtlichste Engpaß der Humanvermögensbildung in der Bundesrepublik.“ (Ebd., S. 174-175).

„Nicht zuletzt wegen des verbreiteten Paternalismus ist auch die Bezeichnung »Familienpolitik« ambivalent geworden, vor allem durch die Frauenbewegung. (Vgl. Karin Gottschall, Soziale Ungleichheit und Geschlecht, 2000). Manche plädieren statt dessen für eine Kinderpolitik, was insoweit problemaufschließend ist, als es ja nicht nur darauf ankommt, jungen Menschen die Elternschaft zu erleichtern, sondern, sind die Kinder einmal da, deren spezifische Belange als Kinder in den politischen Blick zu nehmen. Und dabei wird offenkundig, daß die entwicklungsförderliche Lebenswelt der Kinder in der Familie nicht aufgeht, sondern daß die politische Verantwortung für Kinder z. B. auch die Schulpolitik, die kommunale Raumplanungspolitik, die sozialen Dienste und nicht zuletzt die wohlfahrtsförderliche Abstimmung zwischen den verschiedenen Leistungsbereichen einbeziehen muß.“ (Ebd., S. 175).

„Die Bezeichnungen »Familienpolitik« wie »Kinderpolitik« haben als politische Leitbegriffe jedoch schlechte Karten. Sie suggerieren nur ein weiteres Feld der Klientelpolitik, ohne zu verdeutlichen, wie vital notwendig für die gesamte Gesellschaft die Erfolge einer solchen Politik sind. Familien und Kinder sind keine organisierbaren Interessengruppen, die es zu befriedigen gilt, sondern die Grundlage der Zukunft aller Gesellschaftsbereiche, welche angesichts des nicht zu beseitigenden Alterns und Sterbens des Menschen zwangsläufig auf Nachwuchs angewiesen sind. (Vgl. Abschnitt 4.4). Wenn Kinder nicht zur Welt kommen, wenn sie sich ungünstig entwickeln, wenn sie die für die gesellschaftliche Teilhabe notwendigen Kompetenzen nicht erwerben, wenn also die erforderlichen Humanvermögen nicht im für die Nachwuchssicherung notwendigen Umfange gebildet werden, so trifft das den gesellschaftlichen Zusammenhang als ganzen. Es reduziert die Standortqualitäten Deutschlands in jeder Hinsicht und leistet im Extremfall sozialer Desorganisation Vorschub. Der Hinweis ist nicht hilfreich, daß auch andere europäische Länder vor ähnlichen Problemen stehen. Einige gehen mit ihnen erfolgreicher um als die Bundesrepublik, und anderen stehen vergleichbare, ja, vielleicht noch gravierendere Probleme bevor.“ (Ebd., S. 175).

„Deshalb wird hier der Programmbegriff Nachwuchssicherung zur Kennzeichnung unserer Problematik vorgeschlagen. Nachwuchssicherung ist unschwer als eine Ausprägung von Nachhaltigkeit zu erkennen, so daß sich auch die Brücke zu diesem Diskurs schlagen läßt. Das dem Begriff nahestehende Wort »Nachwuchsförderung« ist zudem ein eingeführter Begriff auf der Ebene von Organisationen. Nachwuchssicherung wird postuliert als ein Politikfelder übergreifendes Ziel von Regierungspolitik, wie öffentliche Sicherheit, Geldwertstabilität, Vollbeschäftigung oder gesunde Umwelt.“ (Ebd., S. 175-176).

„Wir können zwischen dem quantitativen und dem qualitativen Aspekt von Nachwuchssicherung unterscheiden. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Alois Herlth und Klaus Peter Strohmeier, Sozialpolitik und familiale Sozialisation, 1980, S. 27ff.). Solange man von einzelnen Politikfeldern her denkt, kann man beide Aspekte auch verschiedenen Politikfeldern zuordnen, beispielsweise quantitative Nachwuchssicherung als Aufgabe der Familienpolitik - insbesondere einer »bevölkerungsbewußten Familienpolitik« (vgl. Max Wingen, Bevölkeungsbewußte Familienpolitik, 2003) - und die qualitative Nachwuchssicherung als Aufgabe der Bildungspolitik postulieren. Aber wie auch Wingen hervorhebt, geht es bei der Familienpolitik natürlich nicht allein um die Förderung der Fortpflanzung, sondern stets gleichermaßen um die Verbesserung der familialen Sozialisation. Und ebenso geht es bei der Bildungspolitik nicht allein um die Förderung der Qualifikation der Schüler, sondern auch um die Zahl oder den Anteil derjenigen, die einen höheren Qualifikationsgrad erreichen. Gerade hinsichtlich dieses integrativen Gedankens unterscheidet sich der Programmbegriff »Nachwuchssicherung« von den erörterten konkurrierenden Bezeichnungen.“ (Ebd., S. 176).

„Nachwuchssicherung ist keine Aufgabe eines einzelnen Politikfeldes, sondern auf Beiträge aus verschiedenen Politikfeldern angewiesen, nämlich zentral auf Familienpolitik, Bildungspolitik und Zuwanderungspolitik; ferner sind auch die Frauenpolitik, die Jugendpolitik, die Berufsbildungspolitik und die Arbeitsmarktpolitik direkt betroffen. Es würde offensichtlich zu weit führen und auch die Kompetenzen des Verfassers übersteigen, all diese Zusammenhänge aufzuzeigen. Einige grundsätzliche Überlegungen zu den drei zentralen Feldern müssen genügen. (Vgl. Abschn.: 6.4, 6.5, 6.6; Anm. HB).“ (Ebd., S. 176).

6.4) Zuwanderung ist nur ein bescheidener Beitrag zur Problemlösung

„Diese demographische Betrachtungsweise reicht aber nicht hin, denn es kommt für die Zukunft eines Landes nicht auf die Menschenzahl an sich an, sondern auf deren Motive und Fähigkeiten, also auf das oder die Humanvermägen. (Mit dieser ungewöhnlichen Formulierung sei ausgedrückt, daß » Vermögen« sowohl auf der Ebene des Individuums als Summe seiner Fähigkeiten als auch auf der Ebene sozialer Systeme als Summe der dort mobilisierbaren Fähigkeiten operationalisiert werden kann; vgl. auch Abschnitt 3.3). Die Knappheit des Nachwuchses vor allem in Ost- und Südeuropa macht die Hoffnung einer Problemlösung durch Zuwanderung kulturell ähnlicher Bevölkerungsgruppen trügerisch; wir müssen damit rechnen, daß die Humanvermögen der Zuwanderungswilligen in Zukunft immer weniger zu unseren Aufnahmebedingungen passen. Daß dies neben ungünstigen Wirkungen auf den Arbeitsmarkt auch zu größeren sozialen und politischen Spannungen führen würde, liegt auf der Hand.“ (Ebd., S. 177).

„Bereits eine ökonomische Betrachtungsweise allein macht das Dilemma sichtbar: Das Humankapital einer Volkswirtschaft ist sowohl von der Zahl als auch von der Qualifikation der Erwerbstätigen abhängig, und die beiden Größen lassen sich nur in bescheidenem Imfang einander substituieren.“ (Ebd., S. 177-178).

„Qualifikationen werden vornehmlich in der Ausbildungsphase erworben, wobei Zuwanderer meist über eine geringere Ausbildung und zudem über einen auf die Bedürfnisse des Aufnahmelandes weniger abgestimmten Sozialisationshintergrund verfügen. Sie dürften deshalb auch noch weniger als die einheimische Bevölkerung auf jene Prozesse »lebenslangen Lernens« vorbereitet sein, deren Institutionalisierung sich angesichts des fortschreitenden Alterns der Bevölkerung für die kommenden Jahrzehnte aufdrängt.“ (Ebd., S. 178).

„Sobald im übrigen die Zuwanderer einmal im Lande sind und eigene Familien gründen, geraten sie in dieselben Schwierigkeiten wie die Einheimischen in ungünstiger Soziallage, allerdings oft potenziert durch die Fremdheit der Eltern. Einer Studie der Bertelsmann-Stiftung in elf norddeutschen Städten zufolge gingen im Jahre 2003 22,6% aller ausländischen Schüler ohne Abschluß von der Schule; im Jahr zuvor waren es noch 15,1 %. Dieser Anteil ist etwa dreimal so hoch wie derjenige der einheimischen Jugendlichen. (Mitteilung in der »Neuen Westfälischen« vom 13.08.2004). Eine neuere Untersuchung zeigt, daß es in der Schweiz nur sehr ungenügend gelingt, die zweite Generation der Zuwanderer aus Italien und der Türkei zu integrieren. (Vgl. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny / Oliver Häming / Jörg Stolz, Desintegration, Anomie und Anpassungsmuster von Zuwanderern der zweiten Generation in der Schweiz, 2001). Mit Ausnahme einer noch in Gang befindlichen europäischen Studie (vgl. Friedrich Heckmann, Integrationsforschung aus europäischer Perspektive, 2001) fehlen m.W. für Deutschland vergleichbare Untersuchungen der Integration der zweiten und dritten Generation von Zuwanderern, doch spricht nichts für ein günstigeres Ergebnis. Hans-Dietrich von Loeffelholz und Dietrich Thränhardt (Kosten der Nichtintegration ausländischer Zuwanderer, 1996, S. III) schätzen allein den »fiskalischen Verlust bei Nichtintegration von Ausländern auf 7-12 Mrd. DM für die alten Bundesländer und auf 1,5- 3 Mrd. DM für Nordrhein-Westfalen«“ (Ebd., S. 178).

„Eine gezielte Zuwanderungspolitik kann zwar dazu beitragen, den absehbaren Mangel an jüngeren Arbeitskräften zu lindern, aber fortgesetzte Zuwanderung ist keine gleichwertige Alternative zur Nachwuchssicherung in der Form des Aufbringens ausreichenden Nachwuchses in den Erziehungs- und Bildungskontexten des eigenen Landes (im Gegenteil: sie bringt nur Nachteile! Anm. HB). Allerdings ließe sich durch eine deutlich auf Integration und Qualifikation der Zugewanderten und ihrer Kinder ausgerichtete Politik wahrscheinlich der »Umsatz« der Wanderungsströme reduzieren und damit auch die Zuwanderungsbilanz (vgl. Schader Stiftung u.a. (Hg.) 2005) verbessern. Das wäre durchaus ein willkommener Beitrag auch zur Nachwuchssicherung.“ (Ebd., S. 178-179).

6.5) Bildungspolitik: Kompensation statt Selektion

„Der Bildungspolitik, welche auch wesentliche Beiträge zur Integration der zweiten Generation der Zuwanderer zu leisten hätte, wird in der deutschen Öffentlichkeit bei weitem nicht die Beachtung zuteil, die sie verdient. Der »PISA-Schock« scheint schon wieder abzuklingen, und die Ministerpräsidenten der (Bundes-)Länder machten sich im Dezember 2004 nichts daraus, die Föderalismusreform an der Frage nach den Zuständigkeiten in der Bildungspolitik scheitern zu lassen, obwohl sich die Länder in den letzten Jahrzehnten hier keinesfalls »mit Ruhm bekleckert haben«. Auch für die Zukunft verspricht ein Rückbau der zentralstaatlichen Bildungspolitik nichts Gutes, denn wenn die Einschätzungen dieser Schrift zutreffen, so bedarf es einermassiven Umverteilung öffentlicher Mittel zu Gunsten des Bildungswesens. Es sind aber schon heute die Bundesländer, welche über die größte Knappheit ihrer Mittel klagen und deshalb sogar aus dem bisherigen tarifvertraglichen Verbund mit Bund und Ländern auszuscheren erwägen.“ (Ebd., S. 179).

„Wegen der Zuständigkeit der (Bundes-)Länder gehört »Bildungspolitik« in Deutschland konzeptionell nicht zur Sozialpolitik, obwohl fehlende schulische Qualifikationen ein zentrales Armutsrisiko darstellen. (Vgl. Jutta Allmendinger, Bildungsarmut, 1999). Man vergleiche dies mit der us-amerikanischen Auffassung, daß Bildungspolitik den Kern der Sozialpolitik ausmache. Die im deutschen Sprachraum einzigartige Halbtagsschule stellt auch ein wesentliches Hindernis für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und damit einen Aspekt der strukturellen Rücksichtslosigkeit unserer Verhältnisse gegenüber Familien dar. (Vgl. Karin Gottschall / Karen Hagemann, Die Halbtagsschule in Deutschland: Ein Sonerfall in Europa?,  2002). Bildungstheorie, Bildungsökonomie und Bildungspolitik sind konzeptionell breit entwickelte Gebiete, die mir jedoch nicht im einzelnen vertraut sind. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, daß insbesondere die Hochschullehre und -forschung in Deutschland dem Gewicht der problematik für die gesellschaftliche Zukunft entspricht. Anstöße kommen in neuerer Zeit vor allem von privaten Stiftungen. (Vgl. insbesondere Hans-Peter Klös / Reinhold Weiß [Hg.], Bildungs-Benchmarking Deutschland - Was macht ein effizientes Bildungssystem aus?,  2003.). Ich beschränke mich daher auf eine skizzenhafte Argumentation.“ (Ebd., S. 179-180).

„Herkömmlicherweise ist das Bildungswesen an den Prinzipien der Vermittlung von Bildungsinhalten und der Selektion nach Begabung und Leistung orientiert, und zwar in Deutschland besonders ausgeprägt. Die PISA-Studien lassen erkennen, daß es dem deutschen Bildungswesens besonders schlecht gelingt, den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Leistungsunterschieden der Schüler zu durchbrechen. (Vgl. Jürgen Baumert / Gundel Schümer, Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb, 2001). Vier plausible Erklärungen seien angeführt, die auf unser Argument hinführen:
-

Am folgenreichsten ist wohl die Vernachlässigung der (entgeltlichen!)  Frühförderung und der Grundschule zugunsten der (unentgeltlichen!)  Gymnasial- und Hochschulbildung. Die deutsche Bildungspolitik hat auf neuere Einsichten der Hirnforschung über den Zusammenhang von Gehirnentwicklung und Intelligenzentwicklung noch kaum reagiert: Das Wichtigste passiert vor Schulbeginn; und ab der Pubertät ist das Entwicklungsfenster im wesentlichen geschlossen. (Vgl. Wolf Singer, Was kann ein Mensch wann lernen?,  2002).

-Die deutsche Schule versteht sich ausschließlich als Bildungseinrichtung, aber weder als Erziehungseinrichtung noch als Erfahrungs- und Lebensraum für Kinder und Jugendliche. Das hängt nicht zuletzt mit dem Halbtagsschulsystem zusammen. Die Erziehungsaufgabe (einschließlich der schulunterstützenden Leistungen wie Aufgabenhilfe) wird grundsätzlich den Eltern überlassen, die damit je nach Kompetenz und eingesetzter Zeit unterschiedlich fertig werden.
-Der Anteil schwieriger und aus unterschiedlichen Gründen lernbehinderter Kinder nimmt zu. Schulsozialarbeit und die zusammenarbeit von Lehrern und Psychologen finden sich in deutschen Schulen im Gegensatz zu im Bildungswesen erfolgreicheren europäischen Ländern aber nur ausnahmsweise.
-Der zunehmende Anteil von Kindern mit fremdkulturellem Hintergrund verschärft die Problematik in strukturbildender Weise. Lernschwache Kinder werden gerne in Sonderschulen abgeschoben; darauf weist der überproportionale Anteil von Ausländerkindern in den Sonderschulen hin. (Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Familien ausländischer Herkunft in Deutschland: Leistungen - Belastungen - Herausfoderungen, 2000, S. 180f.) Soweit es nicht gelingt, die zweite Generation der Zuwanderer zu akkulturieren und zu integrieren, muß damit gerechnet werden, daß sie neue verfestigte Unterschichtmilieus bilden, deren Kinder erneut von sozialer Exklusion bedroht sind.
Diesen vier Punkten ist gemeinsam, daß sie offensichtliche Hindernisse für eine an sich mögliche Entwicklung von Humanvermögen darstellen. Derartige Hindernisse sind an sich nicht neu, und es läßt sich darüber streiten, ob und wo diese Voraussetzungen in den letzten Jahrzehnten günstiger oder ungünstiger geworden sind. Neu ist jedoch der Umstand, daß wir dauerhaft mit einem quantitativen Rückgang des Nachwuchses rechnen müssen, der sich durch eine bessere Qualifikation des vorhandenen Nachwuchses in etwa kompensieren ließe. Dabei ist nicht nur an Berufsqualifikation zu denken; auch Lebensbewältigung und soziale Teilhabe hängen in der heraufkommenden »Wissensgesellschaft« immer stärker von Kompetenzen ab, die typischerweise in der Schule gelernt werden können.“ (Ebd., S. 180-181).

„Von besonders erfolgreichen Bildungssystemen wie dem finnischen wird als Prinzip berichtet, daß jedes Kind als gleich wertvoll und förderungswürdig betrachtet wird. Der Schule wird hier also nicht primär eine Selektions-, sondern eine Kompensationsfunktion vorhandener Schwächen angesonnen. Das heißt nicht, daß auf die Feststellung und Dokumentation von Leistungsunterschieden verzichtet werden könnte oder daß hier für eine möglichste Nivellierung der Ergebnisse plädiert werden soll. Aber die Chancen zur schulischen Förderung sollten nicht vom Leistungsstand abhängig gemacht werden. Kompensierende Förderung ist besonders wirksam im Vor- und Grundschulalter; aber gerade auf diesen Bildungsstufen liegt Deutschland im internationalen Vergleich zurück (wegen der Ausländer! Anm. HB). Auch eine spätere Verzweigung der Schultypen dürfte der Angleichung der Lebenschancen förderlich sein. Vor allem im Bereich der bisherigen Hauptschule besteht dringender Reformbedarf, um den Zusammenhang von Schule und Leben zu verdichten. Im Hinblick sowohl auf die bessere Vereinbarkeit von Familienaufgaben und beruflichen Aufgaben als auch im Hinblick auf eine verbesserte Sozialisationssituation vor allem der Kinder aus benachteiligten Sozialschichten ist der Ausbau ganztägiger Schulangebote dringlich. (Vgl. Kerstin Wessig, Die Ganztagsschule, 2003).“ (Ebd., S. 181-182).

„Vor allem aber gilt es konzeptionell umzudenken. Es gibt eine »Bildungsarmut im (sc. deutschen) Sozialstaat« (Jutta Allmendinger / Stephan Leibfried, Bildungsarmut im Sozialstaat, 2002), welche eine wesentliche Voraussetzung für sowohl individuelle als auch kollektive Verarmungsrisiken darstellt. Nicht zuletzt infolge des zunehmenden Einflusses der sogenannten Globalisierung läßt sich der Sozialstaat nicht mehr primär als gigantische Umverteilungsmaschinerie begreifen. Er muß sich vielmehr seiner Verantwortung auch für die Bedingungen von Produktion und Reproduktion bewußt werden. Wenn es an Nachwuchs fehlt, kann sich eine Gesellschaft »Bildungsverlierer« um so weniger leisten. Daß dies zudem ein Gebot der Menschlichkeit ist, wissen zwar die meisten, doch schlägt leider die Sittlichkeit weniger als die Ökonomie politisch zu Buche.“ (Ebd., S. 182).

6.6) Familienpolitik: Politik für Eltern und Kinder

„Die Familienpolitik ist kein Ruhmesblatt deutscher Politik. Trotz ihrer Institutionalisierung auf Ministerebene und erheblicher Bemühungen der hierfür jeweils Veraßtwortlichen ist sie stets im Windschatten der »großen Politik« geblieben und hat kaum je eine nachhaltige Unterstützung der politischen Eliten erfahren. Das kontrastiert auffällig vor allem mit Frankreich, dem Musterland europäischer Familienpolitik. Aber auch in Ländern wie Schweden oder Großbritannien, welche keine explizite Familienpolitik kennen, ist die Unterstützung von Familien bzw. von Frauen und Kindern vergleichsweise gut ausgebaut. Im internationalen Vergleich erscheint Deutschland als ein Land, das auf der deklamatorischen Ebene der Familie und ihrer Förderung große Bedeutung zumißt, während die Implementation einer an den Belangen von Eltern und ihren Kindern orientierten Politik zu wünschen übrig läßt.“ (Ebd., S. 182).

„Ein wesentlicher Grund hierfür dürfte im Umstand zu suchen sein, daß die Bereitstellung sozialer Dienste zur Zeit verläßlichen Kinderbetreuung, welche die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit erleichtern, nicht Bundes-, sondern Ländersache, wenn nicht gar eine kommunale Angelegenheit ist. Ähnliches gilt für die Wohnungs- und Wohnumfeldpolitik. So bleibt dem Familienministerium im wesentlichen nur die monetäre Familienförderung überlassen, und selbst in dieser Hinsicht wurde es amputiert. Denn seit der letzten Reform des Familienlastenausgleichs ressortiert das Kindergeld beim Finanzminister, womit man den Bock zum Gärtner gemacht haben dürfte. Die Zersplitterung der familienpolitischen Kompetenzen ist ein weiterer, vielleicht der heute wichtigste Grund für die Schwäche der Familienpolitik in Deutschland.“ (Ebd., S. 182-183).

„Was den herkömmlicherweise als »Familienpolitik« bezeichneten Bereichbetrifft, so schwingt in der deutschen Diskussion ein traditionelles Familienverständnis im Sinne des bürgerlichen Familienideals der Ernährer-Hausfrauen-Ehe mit, worin der bereits erwähnte Paternalismus zum Ausdruck kommt. Lange Zeit blieben die familienpolitischen Vorstellungen der großen Parteien in frauenpolitischer Hinsicht kontrovers. (Vgl. Christiane Kuller, Familienpolitik im föderativen Sozialstaat, 2004). Immerhin ist in jüngster Zeit - nicht zuletzt unter dem Eindruck der ins öffentliche Bewußtsein rückenden demographischen Problematik - eine Konvergenz der parteipolitischen Auffassungen und ein gewisser Relevanzgewinn des Politikfeldes zu verzeichnen.“ (Ebd., S. 183).

„Dadurch werden die in der Bevölkerung verbreiteten Ambivalenzen allerdings noch nicht aus der Welt geschafft. Die lassen sich knapp in sechs Punkten zusammenfassen:
- die Spannung zwischen dem herkömmlichen Leitbild der »bürgerlichen Kernfamilie« und alternativen privaten Lebensformen;
-die Spannung zwischen den Anforderungen seitens der Partnerschaft und seitens der Elternschaft;
-die Spannung zwischen emanzipativen Fraueninteressen und herkömmlichen Erwartungen an Mutterschaft;
-die Spannung zwischen Anforderungen des Berufslebens und des Familienlebens;
- die Spannung zwischen der Auffassung, daß Familie »Privatsache« sei, und den Erwartungen der Öffentlichkeit an die Leistungen von Familien;
- die Spannung zwischenfamilialer und außerfamilialer Wahrnehmung von Erziehungsverantwortung für die Kinder.
Diese auch öffentlich artikulierten Ambivalenzen werden in verschiedenen Milieus unterschiedlich akzentuiert und von jungen Menschen in unterschiedlichem Maße empfunden. Aber alles deutet darauf hin, daß diese Spannungen sich in den letztenJahrzehnten zumindest in Deutschland verstärkt haben und zu einer Verunsicherung in den jüngeren Generationen hinsichtlich ihrer Entscheidung für oder gegen Kinder beitragen. Das führt nicht selten zum Aufschieben der Entscheidung und damit entweder zu »später Mutterschaft« oder zu bedauerndem Verzicht auf Kinder.“ (Ebd., S. 183-184).

„Es liegt auf der Hand, daß sich diese Ambivalenzen direkt nicht durch familienpolitische Maßnahmen aus der Welt schaffen lassen. Der Wert von Kindern wird ja von den jüngeren Generationen nicht in Frage gestellt, wohl aber seine Realisierbarkeit in Konkurrenz zu anderen Wertorientierungen. Will Politik die tatsächliche Übernahme von Elternverantwortung und damit auch die Zahl der Geburten fördern, so kann sie entweder versuchen, die Priorität des »Wertes Kinder« zu unterstützen oder die Nachteile zu mindern, die mit der Übernahme von Elternverantwortung im Vergleich zu Kinderlosen in vergleichbaren sozialen Verhältnissen verbunden sind.“ (Ebd., S. 184).

„Die Wirksamkeit familienpolitischer Maßnahmen im Hinblick auf eine Erhöhung der Geburtenrate ist umstritten. Der Hauptgrund, weshalb die Wirksamkeit in Frage gestellt werden kann, besteht in der methodischen Unmöglichkeit der Isolierung einzelner Effekte sowie in der Unschärfe des Begriffes der Wirksamkeit selbst. Aus festzustellenden Korrelationen zwischen Aufwendungen für die nachwachsenden Generationen und Geburtenraten läßt sich nicht auf eine eindeutige Kausalität schließen. Wissenschaftlich praktikabel ist jedoch die Entwicklung von Wirkungsmodellen oder Theorien für die Wirkungsweise familienpolitischer Maßnahmen. Einerseits zeigt insbesondere das Beispiel Frankreichs, daß es grundsätzlich möglich ist, den Trend der Geburtenentwicklung zu ändern, solange ein nachhaltiger familienpolitischer Wille dahintersteht. Die Wirksamkeit einer expliziten Bevölkerungspolitik in anderen, vor allem sozialistischen Ländern blieb vorübergehend; und man darfhinzufügen, daß die Geburtenraten dort nach dem Ende des Ostblocks besonders drastisch zurückgegangen sind und sich bis heute nicht erholt haben. Die meisten Länder haben bisher eine konsequente »bevölkerungsbewußte Familienpolitik« (Max Wingen, Bevölkerungsbewußte Familienpolitik, 2003) überhaupt noch nicht versucht. Und was vorhandene familienpolitische Maßnahmen betrifft, so wird man bis zum Beweis des Gegenteiles davon ausgehen dürfen, daß sie den Familien in der einen oder anderen Weise zugute gekommen sind. Möglicherweise wäre ohne diese Maßnahmen das Geburtenniveau noch tiefer; das legt zum mindesten die mittlerweile extrem niedrige Fertilität in Griechenland, Italien und Spanien nahe, wo es bisher an staatlichen Hilfen für Eltern und Kinder nahezu vollständig fehlt. Grundsätzlich ist die Annahme in Frage zu stellen, politische Maßnahmen könnten sozusagen deterministisch Geburten »bewirken«. Eine flächendeckende Wirksamkeit staatlicher Maßnahmen ist nur im Falle von mit Strafe bewehrten Verboten, nicht jedoch im Falle von Fördermaßnahmen plausibel. jedes eingeräumte Recht und jede Geld- oder Sachleistung wird im Einzelfalle nur wirksam durch eine Mitwirkung der Adressaten. Die Entscheidung für ein (weiteres) Kind ist so einschneidend, daß es sehr naiv wäre, dies als typische Wirkung von staatlichen Maßnahmen zu erwarten. Eine direkte Wirkung ist nur dort plausibel, wo bestimmte Maßnahen den »Engpaßfaktor« von grundsätzlich kinderwilligen Paaren treffen. Wenn dieser Engpaßfaktor z.B. in fehlenden Möglichkeiten der Betreuung von Kleinkindern besteht, was bei berufsorientierten Frauen häufig sein dürfte, kann der Ausbau von Betreuungseinrichtungen auch den Nebeneffekt einer bescheidenen Geburtensteigerung haben; aber die Hauptwirkung ist und bleibt die Förderung der Kinder (hoffentlich!)  und die offensichtliche Zeitersparnis der Mütter. Für wenig berufsorientierte Frauen in materiell beengten Verhältnissen wäre dagegen eine bessere finanzielle Unterstützung hilfreicher; und vor allem in großstädtischen Verhältnissen dürfte der Engpaßfaktor nicht selten im Fehlen einer geeigneten Wohnung liegen - oder gar schon eines geeigneten Partners! Angesichts der Vielfalt der Motivationen und Problemlagen im einzelnen wird Familienpolitik in demographischer Hinsicht um so eher erfolgreich sein, je mehr sie sich daran orientiert, die Wahlfreiheit von Eltern in verschiedenen Dimensionen zu vergrößern.“ (Ebd., S. 184-185).

„Junge Menschen, die vor der Entscheidung stehen, ob sie sich auf das »Abenteuer Familie« einlassen sollen, haben - entscheidungstheoretisch gesprochen - eine »Entscheidung unter Ungewißheit« zu treffen. Dennoch werden sie versuchen, sich ein Bild über die Folgen der Entscheidung zu machen, und hierfür bietet es sich an, Personen aus ihren »Bezugsgruppen«, also nahestehende Menschen und Paare in ähnlicher Situation, zu beobachten. Die soziale Wirkung familienpolitischer Maßnahmen resultiert nicht aus ihrer Veröffentlichung in Gesetzesblättern, sondern aus ihrer praktischen Diffusion in der Bevölkerung. Ihre Wirksamkeit wird deshalb auch nicht isoliert, sondern eingebettet in lebenspraktische Zusammenhänge wahrgenommen. Soll jungen Familien wirksam geholfen und der Verbreitung kinderloser Milieus (vgl. Abschnitt 5.6) entgegengewirkt werden, so bedarf es nicht bloßer Einzelmaßnahmen, sondern einer langfristigen Strategie der Verbesserungfamilialer Lebenslagen.“ (Ebd., S. 185-186).

„Allerdings: Die Möglichkeiten staatlicher Politik zur Hebung der Geburtenraten bleiben sehr begrenzt, vor allem, wenn es an gleichzeitiger gesellschaftlicher Unterstützung fehlt. Im Fernsehen kommen »normale« Familien und fröhliche Kinder kaum vor, sondern - wenn überhaupt - Problemsituationen! (Dies wird auch durch eine Langzeitstudie [Juli 2001 bis März 2004] belegt: »Eine Konzentration der Medien auf straffällig gewordene Jugendliche prägt die öffentliche Wahrnehmung. Das Bild vom Kind als Täterdominiert, kein gutes Zeichen für die Zukunftsfähigkeit des Landes.« (Medien Tenor Newsticker, 11.05.2004.). Vielleicht könnte die regelmäßige Prämierung entsprechender Sendungen hier zu einem Bewußtseinswandel beitragen, wie ja auch die in jüngerer Zeit sich mehrenden Preise meist privater Stiftungen für gelungene Lösungen im Bereich von Familienförderung und lebensnaher Schulbildung bewußtseinsbildend wirken.“ (Ebd., S. 186).

„Staatliche Familienpolitik kann lediglich die Rahmenbedingungen beeinflussen, unter denen individuelle und paarweise Entscheidungen fallen. Und sie täte gut daran, die mutmaßlichen Auswirkungen ihrer Maßnahmen auch unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, inwieweit sie geeignet sind, die einleitend genannten Ambivalenzen zu reduzieren. Zur Familienpolitik gibt es eine mittlerweile breite Diskussion und vielfältige Vorschläge, für die hier nicht im einzelnen eingetreten sei. Wichtiger scheint es, im vorliegenden Zusammenhang einige systematische Unterscheidungen zu begründen, um die familienpolitischen Argumentationen treffsicherer zu machen.“ (Ebd., S. 186-187).

„Zunächst ist zwischen Maßnahmen zugunsten von Eltern und von Kindern zu unterscheiden, die Rede von »Familienpolitik« verwischt hier die Bezüge. Die Lebenslage beider Gruppen ist von unterschiedlichen Maßnahmen abhängig, und es ist keineswegs zwingend, daß Maßnahmen, die den Eltern nützen, auch den Kindern zugute kommen - und umgekehrt.“ (Ebd., S. 187).

„Bei den Maßnahmen zugunsten von Eltern ist zu unterscheiden, ob sie die direkten Kosten (monetäre Aufwendungen) für Kinder reduzieren, oder ob sie in erster Linie die Opportunitätskosten des Kinderhabens reduzieren, also den Eltern die Vereinbarkeit familiärer und außerfamiliärer Zielsetzungen erleichtern.“ (Ebd., S. 187).

„Beide Arten von Maßnahmen dienen primär dem Familienlastenausgleich, d.h., sie wollen die Belastungen reduzieren, welche Eltern im Vergleich zu Kinderlosen auf sich nehmen. Hiervon zu unterscheiden ist der Familienleistungsausgleich; hier geht es darum, die positiven »externen Effekte«, also Leistungen der Eltern für andere Gesellschaftsbereiche, anzuerkennen. Zentral ist hier an die oben dargestellten investiven Leistungen der Humanvermögensbildung für die Volkswirtschaft zu erinnern. Die beiden Begriffe werden bisher meist alternativ und nicht trennscharf verwendet. Genaugenommen handelt es sich um unterschiedliche Begründungen für familienpolitische Maßnahmen. De facto ist bisher ein »Familienleistungsausgleich« im genannten Sinne in der deutschen Familienpolitik kaum existent. So auch Irene Gerlach (Familienpolitik, 2004, S. 211): »Ein Leistungsausgleich könnte sich aber erst ergeben, wenn es tatsächlich zum Ausgleich der externen Effekte käme, die durch Familienarbeit für die Gesellschaft zustande kommen.« Unsere Argumentation in Abschnitt 6.7 geht dahin, daß aus dem Fehlen dieses Ausgleichs die entscheidende Benachteiligung der Eltern gegenüber den Kinderlosen resultiert.“ (Ebd., S. 187).

„Was die staatlichen Leistungen für Kinder betrifft, so sind sie nicht zwangsläufig mit Familienpolitik verbunden. Das Verhältnis zwischen familienunterstützenden, familienergänzenden und familienersetzenden Maßnahmen zugunsten von Kindern blieb lange Zeit umstritten. (Vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen, Leistungen für die nachwachsende Generation in der Bundesrepublik Deutschland, 1979, S. 145 ff.). Allein schon diese Systematik ist allerdings fragwürdig, weil sie die Familie und nicht das Kind ins Zentrum der Betrachtung stellt. Aus der Sicht kindlicher Sozialisation kommt es gerade auf das Zusammenwirken von elterlicher Zuwendung und Unterstützung einerseits und außerfamilialer Förderung andererseits an. (Vgl. Urie Bronfenbrenner, Die Ökologie der menschlichen Entwicklung, 1981; Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen, Gerechtigkeit für Familien, 1998; Angelika Engelbert / Franz-Xaver Kaufmann, Der Wohlfahrtsstaat und seine Kinder - Bedingungen der Produktion von Humanvermögen, 2003.).“ (Ebd., S. 187-188).

„Bei der Skizzierung einer Politik für Eltern einerseits und Kinder andererseits können wir uns grundsätzlich der gleichen, bereits in Abschnitt 6.2 eingeführten Dimensionierung der Lebenslage bedienen. Beide Gruppen brauchen Rechte, Ressourcen, Gelegenheiten und Kompetenzen.
1. Die Ausgestaltung der Rechte von Eltern stellt eine wesentliche Form des Abbaus struktureller Rücksichtslosigkeiten gegenüber der Familie dar. Es geht darum, Eltern als Eltern Anerkennung auch in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen als der Familie zu verschaffen. (In der Bundesrepublik ergeben sich entsprechende staatliche Verpflichtungen bereits aus Artikel 6 des Grundgesetzes. Allerdings: »Trotz hehrer Formelakrobatik ist es bislang ... nicht gerungen, durchgängig die Umsetzung gesetzgeberischer Schutzpflichten sicherzustellen.« (Peter J. Tettinger, Der grundgesetzlich gewährleistete besondere Schutz von Ehe und Familie, 2001, S. 156]). Ein klares Beispiel stellt die Befreiung alleinerziehender Väter vom Wehrdienst dar. Aber auch gesetzlicher Elternschaftsurlaub oder Anrechte auf Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit weisen in diese Richtung. (Am Rande sei vermerkt, daß der Ausbau gesetzlicher Elternrechte im Wirtschaftsleben unter den gegebenen Umständen auch zu einer Benachteiligung führen kann, insbesondere hinsichtlich der Inanspruchnahme durch die besonders »verdächtigen« Frauen! Gegenüber Betriebsleitern wirkungsvoller erscheinen »sanfte« Uberzeugungsstrategien hinsichtlich der Vorteilhaftigkeit der Beschäftigung von Müttern und dazu nützlicher betrieblicher Strategien.). Dagegen fehlt es noch weitgehend an einer Anerkennung der Erziehungsleistungen im Kontext der Renten- und Pflegeversicherungen. Daneben spielt natürlich auch die Ausgestaltung der Rechtsbeziehungen in der Partnerschaftsbeziehung eine Rolle, ein Thema, das allerdings weit größere öffentliche Beachtung findet als das erstgenannte. Daß auch Kinder Träger eigenständiger Rechte sind, tritt erst allmählich ins öffentliche Bewußtsein, ausgelöst vor allem durch die Anerkennung von Kinderrechten seitens der Vereinten Nationen. (Es sei daran erinnert, daß der Deutsche Bundestag die Konvention über Kinderrechte der Vereinten Nationen [1989] erst nach sehr kontroverser Diskussion und unter ausdrücklichem Ausschluß einer unmittelbaren Verbindlichkeit für die deutsche Rechtsordnung angenommen hat.). Die Durchsetzung der Rechte von Kindern ist allerdings aufgrund ihrer beschränkten Handlungsfähigkeit und Unterlegenheit gegenüber Erwachsenen ein dauerhaftes Problem, dem die jugendhilfe meist nur in extremen Fällen Abhilfe schaffen kann. Das neuerdings in die Diskussion gebrachte Wahlrecht für Kinder, welches bis zur Wahlmündigkeit von ihren Eltern wahrgenommen werden soll, ist unter dem Gesichtspunkt der Bewußtseinsbildung zu begrüßen.
2.Bei der politischen Gewährleistung von Ressourcen geht es in erster Linie darum, die sehr erheblichen »Kosten« der Übernahme von Elternverantwortung in Grenzen zu halten. Das klassische ökonomische Mittel der Familienpolitik ist seit seiner Einführung im Jahre 1955 das Kindergeld, wobei bis zum Jahre 1996 ein parteipolitisch kontroverses Verhältnis zu kindbedingten Steuerfreibeträgen bestand. (Vgl. Dagmar Nellesen-Strauch, Der Kampf um das Kindergeld, 2003). Aber zum einen hinkte die Entwicklung des Kindergeldes stets hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung hinterher; und zum anderen resultiert die ökonomische Benachteiligung der Familien auch aus der strukturellen Rücksichtslosigkeit unseres Abgabensystems: Während in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik der Einkommensbesteuerung zentrale Bedeutung zukam, hat sich zwischenzeitlich das Schwergewicht der Besteuerung auf indirekte Abgaben wie Mehrwertsteuer und Sozialversicherungsbeiträge verschoben, wodurch eine mit dem Einkommen »regressive Belastungsstruktur des Abgabensystems« entstanden ist. (Vgl. Hessische Staatskanzlei [Hg.], Die Familienpolitik muß neue Wege gehen! - Der »Wiesbadener Entwurf« zur Familienpolitik, 2003, S. 60ff.). Das heißt: Eltern müssen auch für die Einkommensbestandteile, die ausschließlich dem Aufbringen der Kinder zukommen, Sozialversicherungsbeiträge und Mehrwertsteuer zahlen. (Die Kommission für den 5. Familienbericht hat geschätzt, daß die Eltern etwa ein Drittel des ihnen zukommenden Familienlastenausgleichs durch ihre Abgaben selbst finanzieren [Bundesministerium für Familie und Senioren, Familien und Familienpolitik, 1994, S. 294]; brutto entlastet der Familienlastenausgleich die Familien im Durchschnitt um etwa ein Viertel der direkten Aufbringungskosten ihrer Kinder, wobei die Effekte jedoch je nach Familienkonstellation sehr unterschiedlich sind: »Der Deckungsanteil des Familienlastenausgleichs stieg mit steigender Kinderzahl, jedoch nicht mit sinkendem Einkommen« [ebda., S. 290f.]). Nicht belastet mit den mittlerweile über 20 Prozent erreichenden Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung werden einerseits Arbeitseinkünfte oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze, andererseits andere Einkünfte, insbesondere Kapitalerträge. Nicht belastet mit der Mehrwertsteuer werden alle Arten von Ersparnissen. Beides ist Eltern im Vergleich zu Kinderlosen ähnlicher Soziallage nicht oder in weit geringerem Umfange zugänglich, und zwar sowohl wegen der höheren Konsumausgaben als auch wegen der geringeren Erwerbsbeteiligung. Insofern ist eine »Familienpolitische Strukturreform des Sozialstaats« (Jürgen Borchert, Der »Wiesbadener Entwurf« einer familienpolitischen Strukturreform des Soziakstaats, 2003) ein konstitutives Moment der Nachwuchssicherungspolitik. Hier geht es im wesentlichen darum, die staatlich vermittelten Umverteilungen so umzugestalten, daß die Familien effektiv (d.h. netto) bessergestellt werden. Eine Konsequenz des Zusammenspiels von geringerer Erwerbsbeteiligung von Eltern und benachteiligender Abgabenstruktur ist nicht nur eine zunehmende Armut an Kindern in Deutschland, sondern auch eine zunehmende Armut von Kindern, genauer der Haushalte, in denen Kinder aufwachsen. Die Armutsquoten von Kindern und Jugendlichen sind zwischen 1973 und 1998 deutlich stärker gestiegen als diejenigen der Gesamtbevölkerung und haben sich in diesem Zeitraum je nach Alter verdoppelt oder verdreifacht. (Vgl. Irene Becker / Richard Hauser, Zur Entwicklung von Armut und Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland - eine Bestandsaufnahme, 2002, S. 34). Insgesamt ist eine deutliche Wohlstandsverschiebung zu Lasten der Jüngeren und zu Gunsten der Älteren festzustellen. (Vgl. Richard Hauser, Generationengerechtigkeit als Facette der sozialen Gerechtigkeit, 2005, Tabelle 1). Betrachtet man nicht nationale Durchschnitte, sondern großstädtische Verhältnisse, So werden die Benachteiligungen nach Familienstand und Kinderzahl noch weit dramatischer: So hat Diether Döring (Niedrigeinkommen von Kindern und Kindererziehenden in Frankfurt a.M., 2003, S. 224) für Frankfurt a.M. die Anteile derjenigen Haushalte errechnet, deren Haushaltäquivalenzeinkommen weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Haushaltsäquivalenzeinkommens der Frankfurter Bevölkerung beträgt (Bei der Berechnung von Haushaltäquivalenzeinkommen wird die Summe der Haushaltseinkünfte durch einen von der Personenzahl und ihrer Stellung im Haushalt abhängigen Quotienten geteilt. Nach einer Definition der OECD »hat die erste Person im Haushalt das Bedarfsgewicht 1, jede weitere Person über 14 Jahren 0,7 und Kinder bis 14 Jahren eines von 0,5« (Diether Döring, ebd., 2003, 219.): Es sind dies 9,9% bei kinderlosen Haushalten, 24,7 % bei Einkinderhaushalten, 39,4% bei Zwei-Kinder-Haushalten, 73,3% bei Drei-Kinder-Haushalten und 76,9% bei Haushalten mit vier Kindern. Gemäß allen einschlägigen Untersuchungen sind neben den kinderreichen Haushalten die Haushalte Alleinerziehender in der Armutsbevölkerung überrepräsentiert. Die Alleinerziehenden stellen jedoch eine sozial sehr heterogene Gruppe dar.
3.Gelegenheiten: Wie in Abschnitt 5.7 dargestellt, gehört Deutschland im internationalen Vergleich zu den Staaten, die die Familien zwar finanziell entlasten, aber hinsichtlich der Versorgung mit sozialen Diensten weit hinter Skandinavien und den meisten angelsächsischen Staaten zurückbleiben. So fehlt es in den alten Bundesländern nahezu vollständig an Angeboten zur frühkindlichen Betreuung. Im Vorschul- und Schulalter dominiert das Halbtagssystem, und vielfach ist nicht einmal hier eine zuverlässige Betreuung zu feststehenden werktäglichen Zeiten sichergestellt. Zudem sind, wie bereits in Abschnitt 6.5 erwähnt, die Schulen keineswegs darauf vorbereitet, Kindern aus benachteiligenden Familienverhältnissen kompensierende Hilfe zu geben. Diese Mängel treffen Eltern und Kinder gleichermaßen, aber auf verschiedene Weise. Auf der Seite der Eltern beeinträchtigen die eingeschränkten außerfamilialen Betreuungszeiten die Beteiligung am Erwerbsleben, vor allem der Mütter. Auf der Seite der Kinder werden die Bildungsmöglichkeiten eingeschränkt und ihnen kompensierende Erziehungsmöglichkeiten vorenthalten. Die Wirkungen unterschiedlicher Betreuungsarrangements sind allerdings noch wenigerforscht. Die Ergebnisse der PISA-Studien können immerhin einen gewissen, Wirkungsverdacht« begründen.
4.Kompetenzen: Kompetenzentwicklung und Lernen sind aus der Sicht von uns Erwachsenen die wichtigsten Aufgaben von Kindheit und Jugend, und die Sozialisationsforschung lehrt uns, daß dies keineswegs nur durch formale Bildungsprozesse und absichtsvolle Erziehung geschieht. Insofern spielt hier die gesamte Sozialisationssituation der Kinder eine entwicklungsförderliche oder die Entwicklung beeinträchtigende Rolle. Neben den materiellen Umständen ist das Maß an persönlicher Zuwendung, in erster Linie seitens der Eltern, von ganz entscheidender Bedeutung für die Kompetenzentwicklung, ja sogar bereits für die Entwicklung des Gehirns! Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist der Anregungsgehalt der Erfahrungswelt. Bildschirme vermitteln Erfahrung nur mit Bildschirmen! Wie wir spätestens seit dem bekannten Bild einer Pfeife mit der Umschrift »Ceci n'est pas une pipe« des belgischen Surrealisten René Magritte auch reflexiv wissen können, sind Bilder nur die Wirklichkeit der Bilder, nicht der Dinge oder des Lebens. Auf die Erfahrung der Dinge und des Lebens kommt es aber bei Kindern an. (Vgl. z.B. Hartmut von Hentig, Die Schule neu denken: eine Übung in pädagogischer Vernunft, 2003).
Auch zur Entwicklung der Elternkompetenzen wird in der Bundesrepublik wenig getan. Sie erfolgt fast ausscWießlich informell, nämlich durch persönliche Bezugspersonen aus Verwandtschaft und Bekanntschaft sowie durch einen florierenden Markt an Elternzeitschriften und schriftlichen Ratgebern. Das Eltern- und Erziehungsberatungswesen ist wenig ausgebaut. Die Beteiligung von Eltern am pädagogischen Geschehen des Kindergartens hängt weitgehend von örtlichen Initiativen ab. Die Beteiligung der Eltern am Schulwesen ist z.T. auf Länderebene gesetzlich geregelt, hat aber - soweit ersichtlich - wenig praktische Wirkungen.“ (Ebd., S. 188-192).

„Diese Skizze unterschiedlicher Dimensionen einer Politik der Nachwuchssicherung beansprucht keine Vollständigkeit. Sie soll lediglich die Komplexität der Aufgabe veranschaulichen und auf Defizite in der öffentlichen Erfüllung dieser Aufgabe in Deutschland hinweisen. Es ist nicht zu übersehen, daß die föderale Aufgabenteilung (oder das Kompetenzgerangel) zwischen Bund und Ländern einen wesentlichen Hinderungsgrund für eine größere Priorität der Nachwuchssicherung und für ein koordiniertes langfristiges Vorgehen darstellt.“ (Ebd., S. 192).

6.7) Eltern und Kinderlose - Zukunftsvorsorge durch Kinder oder Sparen

„Die bisherigen Überlegungen haben im wesentlichen die prekäre Position der Eltern im Verhältnis zu den Kinderlosen thematisiert. Diese Überlegungen sind wichtig, weil ohne eine wieder zunehmende Bereitschaft zur Übernahme von Elternverantwortung die Nachwuchsproblematik nicht gelöst werden kann und weil die Eltern auch für die Lebensperspektiven der Kinder von entscheidender Bedeutung bleiben.“ (Ebd., S. 193).

„Völlig aus dem Rahmen der bisherigen politischen Erörterungen fallen unsere abschließenden Überlegungen, denn sie betreffen den bisher tabuisierten Bereich der strukturellen Bevorzugung Kinderloser im deutschen Sozialsystem. Die hier zu beantwortende Frage wurde schon 1996 von Jürgen Krüger gestellt:
». ..die heute verbreiteten politischen Formeln vom Abbau oder Umbau des Wohlfahrtsstaates sind ja qualitativ wie quantitativ unspezifiziert .... Für eine im Kern sozialpolitisch-hilfeorientierte Handlungsperspektive wäre dagegen erforderlich, einen gesellschaftlichen wie politischen Diskurs darüber zu führen, welche wohlfahrtspolitischen Standards sozioökonomischer Existenz unaufgebbar zu sichern oder herzustellen sind, - auch wenn dies in ökonomisch-fiskalischen und demographischen Drucksituationen nur zu Lasten überkommener - und dann auch: welcher?-  Privilegien, also relativer Vorteile anderer gesellschaftlicher Gruppen realisierbar ist. Eine solche wohlfahrtspolitische Reformperspektive ist politisch risikovoll und gesellschaftlich konfliktreich.« (Jürgen Krüger, Generationensolidarität oder Altenmacht - Was trägt [künftig] den Generationenvertrag, 1996, S. 652).
Wie gezeigt wurde, gibt es viele Bedingungen und Gründe, welche die Kinderarmut moderner Gesellschaften plausibel machen. Grundlegend sind Errungenschaften der Moderne, welche die Menschen, insbesondere die Frauen, von den Zwängen des naturhaften Gebärens und von männlicher Dominanz befreit haben und auch ein wesentlich längeres individuelles Leben und damit eine langsamere Erneuerung der Bevölkerung auf der Basis einer geringeren Geburtenzahl pro Frau ermöglichen. Wie auch viele andere Freiheiten ist die dadurch gewonnene Freiheit riskant. (Vgl. Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim, Riskante Freiheiten - Individualisierung in modernen Gesellschaften, 1994). Es bedarf nun spezifischer gesellschaftlicher Vorkehrungen, um Individualinteressen und Kollektivinteressen in einem Gleichgewicht zu halten.“ (Ebd., S. 193).

„Im Rahmen der skizzierten gesellschaftlichen Bedingungen operieren politisch beeinflußbare Gründe, die wir als strukturelle Rücksichtslosigkeiten namhaft gemacht haben: institutionelle Vorgaben, welche das Kinder-Haben mehr oder weniger attraktiv bzw. mehr oder weniger belastend machen. (Vgl. Abschnitt 5.8). Ein wesentlicher Teil davon ist ökonomischer Natur: Die Entlohnungssysteme, die Bedingungen des beruflichen Aufstiegs und die bisherigen sozialstaatlichen Arrangements sind so ausgestaltet, daß es für junge Menschen ökonomisch vorteilhaft ist, keine Kinder zu haben. So erleben wir in Deutschland seit etwa dreieinhalb Jahrzehnten eine zunehmende Polarisierung der nachwachsenden Generationen in einerseits Eltern, welche »in Kinder investieren« und in der Regel die Verantwortung für das Aufbringen von mehr als einem Kind übernehmen, und andererseits einen von Jahrgang zu Jahrgang zunehmenden Anteil lebenslang Kinderloser, deren private Lebensformen eine größere Pluralität aufweisen. (Vgl. Abschnitt 5.6). Wir finden hier eine große Zahl beruflich erfolgreicher Alleinstehender, lose Verbundener und fester Paare, denen ihre Karrierebedingungen mit der Übernahme von Elternverantwortung nicht vereinbar erscheinen; wir finden manche, denen ein Familienleben aus unterschiedlichen Gründen wenig bedeutet; wir finden Paare, die sich ihren intensivem Kinderwunsch nie zu erfüllen vermochten; und es gibt auch benachteiligte Menschen, denen persönliche Eigenarten oder ungünstige Lebensbedingungen das Eingehen einer festen Partnerschaft und die Gründung einer Familie trotz entsprechender Wünsche unmöglich gemacht haben.“ (Ebd., S. 193-194).

„Kann es trotz dieser Vielfalt gute Gründe geben, aus der Unterscheidung von Eltern und Kinderlosen einen politisch relevanten Sachverhalt zu machen? Während über die Notwendigkeit öffentlicher Hilfen »für Familien« heute weithin grundsätzliche Einigkeit besteht, gibt es erhebliche Vorbehalte gegen eine politische Thematisierung von Kinderlosigkeit. Selbst wenn anerkannt wird, daß die Kinderlosen in Deutschland privilegiert und die Eltern ungebührlich benachteiligt sind, so kümmert sich die Politik doch bestenfalls um eine Milderung der Benachteiligungen der Eltern und nicht um eine Beseitigung der Privilegien der Kinderlosen. Allerdings: Wenn die Lebensentscheidung, Elternverantwortung zu übernehmen, zu Recht als Privatsache gilt, so müßte auch das Prinzip gelten, daß die Konsequenzen privater Entscheidungen privat und nicht öffentlich zu tragen sind.“ (Ebd., S. 194).

„Es ist gar nicht einfach, diese Privilegien im Rahmen üblicher Verteilungsdiskurse aufzuzeigen. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß kinderlose Paare im Durchschnitt über einen etwa doppelt so hohes Pro-Kopf-Nettoeinkommen verfügen wie ein Paar mit zwei unmündigen Kindern, auch wenn man die Kinder nur mit einer halben Vollperson rechnet. Und es ist auch nicht zu bestreiten, daß Doppelverdienerpaare wesentlich höhere Rentenanwartschaften aufzubauen vermögen als ein Einverdienerhaushalt, der drei Kinder aufzieht. Aber Kinderlose können zu Recht darauf verweisen, daß sie schon jetzt wesentlich höhere Einkommenssteuern zahlen (wobei sie allerdings die im vorangehenden skizzierte regressive Belastungsstruktur des gesamten Abgabensystems übersehen). Und man kann darüber streiten, inwieweit das Ehegattensplitting unabhängig von der Übernahme von Elternverantwortung noch gerechtfertigt ist.“ (Ebd., S. 195).

„Die wirtschaftliche Leistung von Eltern und deren strukturelle Benachteiligung werden im Rahmen einer synchronen Wirtschaftsbetrachtung, wie sie nahezu allen Verteilungsdiskursen und unseren geläufigen marktwirtschaftlichen Argumentationen zugrunde liegt, überhaupt nicht sichtbar. (Vgl. Hans-Günter Krüsselberg, Ökonomische Analyse der werteschaffenden lesitungen von Familie im Kontext von Wirtschaft und Gesellschaft, 2002). Erst die diachronen Diskurse über Zukunftsverantwortung und Generationengerechtigkeit bringen den entscheidenden Unterschied in den Blick: Menschen, die Elternverantwortung übernehmen, leisten unentgeltlich Investitionen in das zukünftige Humankapital oder Humanvermögen, Menschen ohne Elternverantwortung nicht. Diese unentgeltlichen Investitionen - in Form unmittelbarer Kosten und von Zeitaufwand - belaufen sich, wie die Schätzungen von Heinz Lampert (Priorität für die Familie - Plädoyer für eine rationale Familienpolitik, 1996, S. 30ff.) für das Jahr 1992 gezeigt haben, auf ca. 17000 DM pro Kind und Jahr. Die infolge des Geburtenrückgangs »unterlassenen Investitionen« in das volkswirtschaftliche Humankapital zwischen 1972 und 2000 belaufen sich (unter Einschluß der »eingesparten« Bildungsinvestitionen der öffentlichen Hand), auf ca. 4800 Milliarden DM oder 2500 Milliarden Euro. (Vgl. Abschnitt 3.4).“ (Ebd., S. 195).

„Die zweite Form volkswirtschaftlicher Zukunftsvorsorge - und die einzige, welche die herrschende Nationalökonomie kennt - besteht in der Bildung von Sachkapital, und sie setzt nach herrschender Lehre die Bildung von Ersparnissen voraus. Die Spar- und Investitionsquote hat jedoch in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten nicht etwa zugenommen, sondern ist, bezogen auf die Zeit von 1950 bis 1970, sogar deutlich gesunken. Man kann spekulieren, wohin der dem Aufbringen von Kindern entzogene Zeit- und Geldaufwand verschwunden ist: Wahrscheinlich wäre die Verkürzung der Arbeitszeiten geringer ausgefallen; wahrscheinlich hätte der Freizeitkonsum weniger expandiert, und es wäre mehr Geld in das Bildungswesen geflossen. Doch darauf kommt es nicht an. Als Tatsache bleibt eine volkswirtschaftliche Investitionslücke, von der anzunehmen ist, daß sie sich beim Fortgang der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Dinge wie bisher ständig vergrößern wird. Die Konsequenz ist eine Stagnation des Wirtschaftswachstums und wachsende Schwierigkeiten bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben sowie sich fortsetzende Kürzungen der kulturellen, sozialen und vielleicht sogar rechtsstaatlichen Leistungen der öffentlichen Körperschaften, mit entsprechenden Frustrationen der Bevölkerung - ohne begründbare Hoffnung auf Besserung.“ (Ebd., S. 195-196).

„Eine wirkliche Veränderung der Verhältnisse setzt ein öffentliches Umdenken in diesem zentralen Punkt voraus: Diejenigen, welche nicht in das Humankapital der nachwachsenden Generationen investieren, müssen in äquivalenter Weise zur kollektiven Zukunftsvorsorge beitragen, nämlich durch zusätzlichen Konsumverzicht und die Bildung von Ersparnissen. Jeder und jede, die aus persönlichen und wirtschaftlichen Gründen dazu in der Lage sind, vorzusorgen, haben dies entweder in der Form von Kindererziehung oder in der Form der langfristigen Ersparnisbildung zu leisten. Für dieses Gleichgewicht zu sorgen ist die zentrale sozialpolitische Aufgabe des kommenden Jahrzehnts.“ (Ebd., S. 196).

„Die hier verlangte Umorientierung ist in erster Linie konzeptioneller Natur. Es geht zunächst um die Einsicht, daß wir auch in Deutschland volkswirtschaftlich über unsere Verhältnisse gelebt haben, was wir seinerzeit anderen EG-Ländern mit höheren Inflationsraten ja immer wieder vorgeworfen haben. Es geht sodann um die Einsicht in die zentrale Bedeutung der Humanvermögen für die Zukunft einer »Wissensgesellschaft« und die Anerkennung des investiven Charakters der Erziehung und Sozialisation von Kindern. Es geht schließlich darum, unserer kollektiven Zukunft im Rahmen unserer gegenwärtigen politischen Entscheidungen größeres Gewicht einzuräumen: Bisher stützen wir uns nur auf die noch vagen Konzepte von »Nachhaltigkeit« und »Generationengerechtigkeit«. Es geht nicht primär darum, Verteilungspolitik zu treiben, wenngleich die Verteilungswirkungen gravierend sein werden. Nur wer bereit ist, das übliche politische Treiben und die »politischen Unmöglichkeiten« für einen kreativen Moment zu vergessen, wird die Unumgänglichkeit des skizzierten Grundgedankens einsehen. Und nur insoweit sich dieser durchsetzt, können auch konkrete Sozialreformen in die »richtige« Richtung wirken. Hierzu sollen im folgenden Kapitel Anregungen gegeben werden. (Vgl. Abschnitt 7.6).“ (Ebd., S. 196-197).


7) Generationenverhältnisse und Sozialstaat (S. 198-231)

7.1) Generationen (S. 201-204)
7.2) Gibt es einen Generationenvertrag?  (S. 204-209)
7.3) Das Kippen der Generationenbalance (S. 209-215)
7.4) Gibt es ein theoretisches Optimum der Versorgungslasten?  (S. 215-219)
7.5) Generationengerechtigkeit - Geschlechtergerechtigkeit - Elterngerechtigkeit (S. 219-224)
7.6) Lösungsvorschläge (S. 224-231)
»So wie Ihr heute an uns spart,
werden wir uns morgen um Euch kümmern!«
(Protesttransparent Berliner Schüler, 1996)

„Abschließend soll der Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung näher ins Auge gefaßt werden. Hierbei sind vielfältige Wechselwirkungen am Werk, die hier analytisch auf zwei kausaltheoretische Perspektiven reduziert werden müssen, nämlich (1) den Einfluß wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen auf die Determinanten der Bevölkerungsentwicklung und (2) die Rückwirkungen der Bevölkerungsentwicklung auf die entfalteten Institutionen des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates. Zwischen beiden Perspektiven vermittelt das Konzept der Generationenverhältnisse, also der quantitativen Relationen zwischen den Angehörigen verschiedener Altersgruppen bzw. Geburtskohorten. Das Konzept der Generationenverhältnisse ist zu unterscheiden vom Konzept der Generationenbeziehungen, das sich auf die interpersonellen Beziehungen zwischen Angehörigen uftterschiedlicher Generationen bezieht. (Vgl. hierzu weiterführend Kurt Lüscher, Ambivalenz - Eine Annäherung an das Problem der Generationen, 2005). Generationenbeziehungen werden vorzugsweise in mikrosoziologischer, Generationenverhältnisse in makrosoziologischer Perspektive relevant. Im Kontext von Bevölkerungsfragen steht hier die makrosoziologische Perspektive im Vordergrund, doch werden Relationen zur Mikroebene bei Gelegenheit mit angedeutet.“ (Ebd., S. 198).

„Was zunächst den Einfluß wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen auf die Determinanten der natürlichen Bevölkerungsentwicklung - Sterblichkeit und Fruchtbarkeit - betrifft, so muß eine kurze Skizze genügen. (Dies wurde bereits ausführlicher dargestellt in; Franz-Xaver Kaufmann, Sozialpolitik und Bevölkerungsprozeß, 1990; ders., Sozialpolitik und Sozialstaat - Soziologische Analysen, 2002.).Der säkulare Sterblichkeitsrückgang beruht hauptsächlich auf der Verbesserung der Lebensverhältnisse sowie auf Fortschritten der Krankenversorgung. Daß diese Fortschritte nicht allein den wohlhabenden Bevölkerungsgruppen zukommen, sondern eine starke Breitenwirkung bis in die unteren Sozialschichten entfaltet haben, ist im wesentlichen den entstehenden Institutionen des Wohlfahrtsstaats zuzuschreiben: von der progressiven Einkommenssteuer bis zur sozialen Sicherung im Falle von Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit oder Erwerbsunfähigkeit. (Es darf als Symptom dieser sozialstaatlichen Wirksamkeit gelten, daß die renoinmierte »Berliner Altersstudie« im Hinblick auf Morbidität und Behandlungsbedürftigkeit kaum Unterschiede nach der Sozialschicht gefunden hat; vgl. Frank Schirrmacher, Das Methusalem-Komplott, 2004, S. 216.). Darüber hinaus haben staatlicher Arbeits- und Gesundheitsschutz die mit der Industrialisierung verbundenen Lebensrisiken unmittelbar reduziert.“ (Ebd., S. 198-199).

„Mit Bezug auf die säkulare Tendenz zur Nachwuchsbeschränkung hat die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung vor allem die Anreizstrukturen für prospektive Eltern verändert. Verbote der Kinderarbeit expropriierten die Eltern der Arbeitskraft ihrer Kinder ohne Kompensation, und die fortgesetzte Verlängerung der Schulpflicht und der Ausbildungsphase haben den Eltern wachsende Unterhaltsverpflichtungen für ihre Kinder auferlegt. Zudem ist die selbständige Erwerbstätigkeit stark zurÜckgegangen, welche Kinder nicht nur als mithelfende Familienangehörige, sondern auch als potentielle Betriebserben wertvoll machte. Hatten früher eigene Kinder durchaus einen wirtschaftlichen Wert für ihre Eltern, so bedeuten sie in ökonomischer Hinsicht heute fast nur noch Belastungen. Ihr wirtschaftlicher Nutzen ist auch durch die Kollektivierung der Alterssicherung entscheidend reduziert worden. Deshalb werden heute Kinder kaum mehr aus wirtschaftlichen, sondern nur noch aus immateriellen Gründen gewünscht. (Vgl. Abschnitt 5.5). Die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung hat also eigene Kinder im Einzelfall entbehrlich, ja kostspielig gemacht. Allerdings spielen im Bereich nichtmonetärer Unterstützungen familiale Leistungs- und Austauschverhältnisse nach wie vor eine erhebliche Rolle.“ (Ebd., S. 199).

„Die als Folge von Sterblichkeits- und Geburtenrückgang absehbare demographische Entwicklung gehört zu den nachhaltigsten Herausforderungen der europäischen Wohlfahrtsstaaten. (Vgl. Abschnitt 2.1). Der deutsche Sozialstaat, genauer: das in seinem Rahmen institutionalisierte System sozialer Sicherung, ist aufgrund seiner vielgliedrigen Struktur und mangels vorsorglicher Rückstellungen, aber auch infolge der besonders niedrigen Geburtenrate in besonderer Weise gegenüber den zu erwartenden demographischen Veränderungen anfällig. Vor allem abhängig von den Generationenverhältnissen, also den Veränderungen in den Generationsstärken, sind die beiden finanziell gewichtigsten Umverteilungssysteme, nämlich die Gesetzliche Rentenversicherung und die Gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung sowie die mit ihnen funktional verbundene Beamtenversorgung.“ (Ebd., S. 199).

„Ohne auf die Feinheiten des in Deutschland nach Berufsgruppen gegliederten Alterssicherungssystems einzugehen, lassen sich die wesentlichen Zusammenhänge bereits anhand der sogenannten Jugend- und Altenquotienten, also dem zahlenmäßigen Verhältnis der noch nicht und der nicht mehr erwerbstätigen Altersgruppen zur Altersgruppe der Erwerbstätigen verdeutlichen.“ (Ebd., S. 200).

7.1) Generationen

„Es kommt selten vor, daß die Äußerung z.B. eines 23-Jährigen so hohe Wellen wirft wie der Vorschlag des Vorsitzenden der Jungen Union im Sommerloch 2003, man möge bestimmte medizinische Versorgungsleistungen, beispielsweise den Ersatz eines Hüftgelenkes, Menschen über 85 Jahren nicht mehr aus öffentlichen Mitteln bezahlen. Unsere Bielefelder Lokalzeitung brachte unter dem Titel »Geschwafel eines pubertären Selbstdarstellers« eine ganze Seite ausschließlich kritischer bis empörter Leserzuschriften zu dieser Äußerung. (Vgl. Neue Westfälische, 16/17.08.2003, S. 4; vgl. auch FAZ, 08.08.2003.). Da wurde offensichtlich ein Nerv der Bevölkerung getroffen - aber welcher Nerv?“  (Ebd., S. 201).

„Auf den ersten Blick handelt es sich bei dieser Provokation um das Problem der Rationierung medizinischer Leistungen. Darüber wird in Deutschland ungern gesprochen, während es im britischen Nationalen Gesundheitsdienst offizielle Politik ist, manche Leistungen nur bis zu einem bestimmten Lebensalter zu gewähren. Es ist unwahrscheinlich, daß dieser heute allenthalben virulente Konflikt zwischen Medizinethik und Medizinökonomie das Motiv der öffentlichen Erregung war. Nicht die Botschaft, der Bote ist das eigentliche Problem: der junge Mann gehört der ersten Generation an, welche lebenslang an den Folgen der in Kapitel 2 skizzierten demographischen Verwerfungen zu tragen haben wird. Er hat die in unseren sozialstaatlichen Regulierungen angelegte Spannung zwischen den Interessen unterschiedlicher Generationen öffentlich gemacht. War in der Entstehungsphase des Sozialstaats und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Eingrenzung des Klassenkonflikts das Hintergrundthema aller sozialpolitischen Auseinandersetzungen, so scheint dies im 21. Jahrhundert die Eingrenzung des Generationenkonflikts zu werden.“ (Ebd., S. 201).

„Das bis vor kurzem unscheinbare Wort »Generation« verweist zunächst auf die Einbindung des Menschen in die Kette der Fortpflanzung, auf einen biologischen Sachverhalt also, der allerdings stets kulturell überformt ist. Biologische Kategorien erscheinen in unseren gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen seit geraumer Zeit an Gewicht zu gewinnen (vgl. Wolfgang Lipp, Biologische Katheorien auf dem Vormarsch?,  1988), auch der Generationendiskurs gehört dazu.“ (Ebd., S. 201).

„Generation ist von alters her ein familialer Tatbestand. Und so finden wir im herkömmlichen, an Grund und Boden oder zum mindesten an ein bestimmtes Gewerbe geknüpften Familienverband auch Generationenverträge: das sogenannte Ausgedinge oder Altenteil. Wenn demgegenüber heute vom »Generationenvertrag« die Rede ist, welcher in Gefahr sei oder von der einen oder anderen Generation nicht eingehalten werde, so ist ein völlig anderer Sachverhalt gemeint. »Generationenvertrag« ist hier eine politische Metapher, die sich unterschiedlich weit auslegen läßt. Offensichtlich geht es hier nicht mehr um Verwandtschaftsbeziehungen, sondern um soziale Lagerungen im Horizont von Zeit.“ (Ebd., S. 202).

„Auf der gesellschaftlichen Ebene sind ein synchrones und ein diachrones Konzept von Generation zu unterscheiden. Die Unterscheidung von synchronen und diachronen Generationen scheint mir zutreffender als die von Jörg Tremmel (Generationengerechtigkeit - Versuch einer Definition, 2003) vorgeschlagene zwischen temporalen und intertemporalen Generationen. Bei der synchronen Betrachtungsweise spricht man meist von drei Generationen: (1) Kinder und Jugendliche, (2) Erwachsene und (3) Alte, wobei davon ausgegangen wird, daß die erste Generation noch nicht und die dritte Generation nicht mehr erwerbstätig sei, während von der mittleren zweiten Generation die Erwerbstätigkeit erwartet wird. Aus sozialpolitischer Perspektive empfiehlt sich eine feinere Differenzierung, etwa die Unterscheidung zwischen Kindern, Jugendlichen, jungen und älteren Erwachsenenjungen Alten und Hochbetagten, da diesen Gruppen unterschiedliche Eigenschaften und Bedürftigkeiten zugeschrieben werden. Dieses synchrone Konzept von Generation orientiert sich an der lebenslaufbezogenen Statusordnung einer Gesellschaft. Individuen wechseln ihm zufolge die Generationszugehörigkeit, indem sie mit zunehmendem Alter ihren sozialen Status verändern, also beispielsweise von der Schule ins Erwerbsleben übergehen. Festzuhalten ist für diese synchrone Betrachtungsweise, daß Generationsgrenzen häufig durch Rechtsnormen definiert werden, welche an ein bestimmtes kalendarisches Alter anknüpfen, so z. B. Normen der Schulpflicht, der Mündigkeit oder des Ruhestands. Auf diese Weise werden bestimmte kalendarische Altersgruppen mit bestimmten sozialen Merkmalen verknüpft. So lassen sich synchrone Generationsdefinitionen mit bestimmten bevölkerungsstatistischen Altersklassen verbinden.“ (Ebd., S. 202-203).

„Hiervon zu unterscheiden ist der diachrone Generationsbegriff, wie er seinerzeit vor allem von dem Soziologen Karl Mannheim (Das Problem der Generationen, 1928) entwickelt worden ist. Diachrone Generationen beziehen sich auf Personen benachbarter Geburtskohorten, die im Laufe ihres Lebens mit jeweils ähnlichen Umständen in bestimmten Lebensaltern konfrontiert wurden und denen deshalb unterstellt wird, daß sie auch durch ähnliche Erfahrungen geprägt worden und durch ähnliche Einstellungen zu charakterisieren seien. So unterscheiden beispielsweise Klaus Schönhoven und Bernd Braun »Generationen in der Arbeiterbewegung« (2004). Die »Generation von Langemarck«, die »Nachkriegsgeneration«, die »skeptische Generation«, die »Achtundsechziger«, und neuerdings die »Generation Golf«, man braucht bloß die Namen zu nennen, um auf die literarische Fantasie hinzuweisen, welche solchen Charakterisierungen oft zugrundeliegt. Dennoch ist der Grundgedanke plausibel: Menschen ähnlichen Alters teilen Gemeinsamkeiten des Erlebens öffentlicher Ereignisse oder alltäglicher Umstände und werden von veröffentlichten Meinungen vor allem im Zeitalter der Massenmedien unterschiedlich angesprochen, je nachdem, in welcher Lebensphase sie sich gerade befinden. Daraus kann auch ein emphatisches Generationsbewußtsein entstehen, also in Abwandlung eines Marx’schen Diktums bezüglich der Arbeiterklasse: der Übergang von einer Generation an sich zu einer Generation für sich. Dies geschieht in der Regel in der Form einer bewußten Abgrenzung» sei es gegenüber den Älteren oder den Jüngeren. Wenn auf diese Weise die öffentliche Definition einer Generationszugehörigkeit Grundlage einer sozialen Bewegung wird, wie das ja für die Achtundsechziger durchaus zutraf, so entsteht eine Konstellation, in der kollektive Generationenkonflikte nicht mehr unwahrscheinlich sind.“ (Ebd., S. 203).

„Bisher ist weitgehend ungeklärt, unter welchen Bedingungen solch ein kollektives Generationsbewußtsein zu erwarten ist. Wo es fehlt, bleibt »Generation« im wesentlichen eine Kategorie der wissenschaftlichen Beobachter, vor allem von Historikern, Soziologen und Psychoanalytikern. In unserem Zusammenhang kommt der diachronen Perspektive insofern besondere Bedeutung zu, als die quantitativ unterschiedlich starken verschiedenen Geburtskohorten ... im Laufe ihres Lebens die erwähnten unterschiedlichen Lebensphasen durchlaufen und infolge ihrer zahlenmäßigen Stärke besondere Herausforderungen für die unterschiedlichen Teilsysteme des Sozialsektors darstellen, während zugleich aber auch die ihnen Angehörigen ein spezifisches Kohortenschicksal erfahren.“ (Ebd., S. 203-204).

7.2) Gibt es einen Generationenvertrag?

„Das Wort »Generationenvertrag« hatte unter der rotgrünen Koalition (1998-2005) einen prominenten rhetorischen Platz gewonnen. .... Mit dem Hinweis auf den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, die Staatsverschuldung und die zwei zentralen Systeme sozialstaatlicher Umverteilung (d.h.: es werden keinerlei Kapitalreserven gebildet, sondern die Leistungen werden aus den Beiträgen desselben Jahres finanziert! Anm. HB) - Rentenversicherung und Krankenversicherung - spricht die Bundesregierung zentrale Dimensionen einer diachronen Generationengerechtigkeit an, wobei allerdings eine wichtige Dimension ausgeklammert bleib, nämlich die Nachwuchssicherung.“ (Ebd., S. 204).

„Durch das Verbot der Kinderarbeit und die Einführung formaler Verrentungsgrenzen hat die stattliche Sozialpolitik schon im 19. Jahrhundert die Lebensphase der Erwerbstätigkeit durch Altersgrenzen definiert. Und im 20. Jahrhundert wurde durch Hinaufsetzung des Jugendschutzalters und den Ausbau des Bildungswesens einerseits sowie durch Herabsetzung des Verrentungsalters und die Ermöglichung eines vorzeitigen Ruhestandes andererseits die Erwerbsphase weiter eingeengt, so daß heute die Erwerbstätigen im wesentlichen der Altersgruppe der 20-bis-60-Jährigen angehören. Weil die meisten sozialpolitischen Maßnahmen durch einkommensproportionale Beiträge vom Arbeitsentgelt finanziert werden, Erwerbsarbeit selbst aber in einem immer enger werdenden Altersrahmen sich konzentriert, hat sich der Sozialstaat immer unmittelbarer von der demographischen Entwicklung abhängig gemacht.“ (Ebd., S. 205-206).

„Die genannten Sachverhalte wurden als Generationenproblem erstmals 1955 in einer gerade heute wieder lesenswerten Denkschrift zur »Neuordnung der sozialen Leistungen« thematisiert, welche Bundeskanzler Adenauer von den Professoren Hans Achinger, Joseph Höffner, Hans Muthesius und Ludwig Neundörfer erbeten hatte. Hier lesen wir unter der Randglosse »Ausgleich zwischen den Generationen«:
»Da das Sozialprodukt infolge der dynamischen Entwicklung der modernen Wirtschaft sich ständig ändert, wird den Altersrentnern ein dem jeweiligen Stand der wirtschaftlichen Entwicklung entsprechender Lebensstandard nur gewährt werden können, wenn in der gesetzlichen Altersversicherung ein Ausgleich zwischen den Generationen erfolgt. Die Solidarität zwischen den Schaffenden und den Altersrentnern muß durch die Solidarität zwischen den Generationen ergänzt werden. In diesem Sinne könnte gesetzlich bestimmt werden, daß die heute Schaffenden, weil sie einen bestimmten Prozentsatz ihres Einkommens der Alterssicherung der heutigen Rentner zur Verfügung stellen, in gleicher Weise in ihrem Alter von den dann Schaffenden bedacht werden. Auf diese Weise würde die Alterssicherung dem jeweiligen Lebensstandard angeglichen, wobei die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu erwartende Zunahme der alten Leute mitberücksichtigt werden müßte.« (Hans Achinger / Joseph Höffner / Hans Muthesius / Ludwig Neundörfer, Neuordnung der sozialen Leistungen - Denkschrift auf Anregung des Herrn Bundeskanzlers, 1955).
Dieser Vorschlag ging bereits auf die Überlegungen von Wilfried Schreiber zurück, dessen später von Bundeskanzler Adenauer in die Diskussion gebrachten Vorschläge zur Rentenreform der Kommission im Manuskript vorlagen. Von Schreiber stammt also die Idee, »die gesetzliche Rentenversicherung nicht mehr als Sparvertrag nach dem Muster der privaten Lebensversicherung, sondern als »Solidar-Vertrag zwischen jeweils zwei Generationen« aufzufassen (Wilfried Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, 1955, S. 28). Schreibers Grundgedanke war jedoch breiter:
»In der industriellen Gesellschaft stellt sich daher erstmalig das Problem der Verteilung des Lebenseinkommens auf die drei Lebensphasen: Kindheit und Jugend, Arbeitsalter und Lebensabend.« (Wilfried Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, 1955, S. 7).
Demzufolge forderte er nicht nur einen staatlich vermittelten Solidarvertrag zwischen der erwerbstätigen und der alten Generation, sondern einen zweiten Solidarvertrag zwischen der erwerbstätigen und der nachwachsenden Generation, wobei die vorgesehene Kinder- und Jugendrente von ihm als eine Art Darlehen an den Nachwuchs verstanden wurde, das von diesem ab dem 35. Lebensjahr zu einem von der eigenen Kinderzahl abhängigen Erstattungssatz in Form von Beiträgen zurückzuzahlen wäre. (Es fällt auf, daß die Ausführungen Schreibers zum »Lebensanspruch der Kinder und Jugendlichen« [ebd., S. 31-35] in späteren Nachdrucken des »Schreiber-Plans« weggelassen wurden!). Der Beitrag der nachwachsenden Generationen zu diesem zweiten Generationenvertrag sollte also entweder durch das Aufziehen eigner Kinder oder durch Geldleistungen erfolgen. Noch deutlicher werden die Implikationen in einem Diskussionsbeitrag von Joachim Wiesner (in: Oswald Nell-Breuning / Cornelius G. Fetsch, Drei Generationen in Solidarität - Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan, 1981, S. 66) ausgedrückt: »Rentenpolitisch folgt daraus, daß analog zu den anrechnungsfähigen Zeiten im Rentenanspruchskatalog, wie z. B. Berufsbildung, Wehrdienst, Arbeitslosigkeit u.s.w. auch ein Faktor »Honorierung von menschlichen Investitionen« eingefügt werden muß, und zwar nicht etwa nur in der Almosenform von einigen wenigen zusätzlichen Baby-Jahren, Erziehungszeiten u.s.w., sondern als gleichberechtigte Komponente neben monetären Beitragsleistungen, als geldmäßiger Anspruch an die umzuverteilende (sic) Rentenkasse.«“ (Ebd., S. 206-207).

„Dieser Gedanke eines zweifachen Generationenvertrages paßte besonders gut zu den Vorschlägen des erwähnten »Vierprofessorengutachtens«, weil dieses im Horizont der von Adenauer in seiner Regierungserklärung von 1953 angekündigten »umfassenden Sozialreform« Grundgedanken des britischen Beveridge-Plans aufnahm und »für einen Tatbestand grundsätzlich nur eine Leistung durch einen verantwortlichen Träger vorsah«. (Hans Achinger / Joseph Höffner / Hans Muthesius / Ludwig Neundörfer, Neuordnung der sozialen Leistungen - Denkschrift auf Anregung des Herrn Bundeskanzlers, 1955, S. 135). Die zentrale Relevanz der Generationenverlältnisse für den sozialstaatlichen Umverteilungsprozeß wird um so deutlicher, je vollständiger die Bevölkerung in einem einheitichen Sicherungssystem erfaßt wird. Das nach Berufsgruppen gegliederte öffentliche Alterssicherungssystem in der Bundesrepublik ist ein wesentlicher Hemmschuh für eine politische Reform, da nicht alle Sicherungssysteme gleichermaßen von den demographischen Risiken betroffen sind.“ (Ebd., S. 207-208).

„Wilfried Schreiber war durchaus klar, daß das von ihm entworfene System nur unter der Voraussetzung einer annähernden Konstanz der demographischen Proportionen zwischen den Generationen langfristig funktionieren könne; auch deshalb schlug er einen zweifachen Generationenvertrag vor. Richtiger wäre es aber wohl, von einem Drei-Generationen-Vertrag zu sprechen, der in einem Umverteilungssystem zwischen Erwachsenen und Alten und zwischen Erwachsenen und Nachwachsenden zu institutionalisieren ist. (Vgl. Franz-Xaver Kaufmann / Lutz Leisering, Studien zum Drei-Generationenvertrag, 1984). Denn die Metapher des Vertrags darf hier nicht im marktwirtschaftlichen Sinne mißverstanden werden. Es werden keine Verpflichtungen zwischen Individuen begründet. Es handelt sich vielmehr um eine nur staatlich zu gewährleistende, die gesamte Lebensspanne übergreifende Solidarität der Generationen. Von einem »Vertrag« kann hier höchstens im Sinne einer kontraktualistischen Verfassungstheorie gesprochen werden. Es geht um eine politisch herzustellende Sozialverfassung, welche angesichts einer Wirtschaftsverfassung, welche die Erwerbsmöglichkeiten zunehmend auf die wirtschaftich produktivsten Lebensjahre konzentriert, den Unterhalt derenigen sicherstellt, die entweder noch nicht oder nicht mehr erwerbstätig sein können. Es geht um die Ergänzung der Marktökonomie durch eine »moralische Ökonomie«. (Vgl. Martin Kohli, Moralökonomie und Generationenvertrag, 1989).“ (Ebd., S. 208).

„Es bleibe dahingestellt, ob die vielfach kolportierte Bemerkung Konrad Adenauers, »Kinder haben die Leute immer«, zur Begründung des Verzichtes auf die Schreibersche »Kindheits- und Jugendrente« tatsächlich so gefallen ist, se non è vero, è ben trovato. Adenauer hat bereits in seiner Regierungserklärung zu Beginn der 2. Legislaturperiode (1953) deutlich auf die absehbare Überalterung und die Notwendigkeit von Kinderzulagen hingewiesen. Die Schaffung des Familienministeriums und die erste Kindergeldgesetzgebung erfolgten 1953 vor der Rentenreform. Es ist somit wahrscheinlicher, daß er diese Maßnahmen als politisch ausreichend ansah. Es dauerte auf jeden Fall nicht lange, bis diese Vorstellung durch einen rasanten Geburtenrückgang widerlegt wurde. Die mittlere Kinderzahl pro Frau sank von 2,1 Kindern auf ca. 1,4 Kinder, ein Mittelwert der Geburtenentwicklung in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten, der nunmehr auch den meisten demographischen Szenarien für das 21. Jahrhundert zugrunde gelegt wird.“ (Ebd., S. 208-209).

„In der Metapher des Generationenvertrags formuliert, bedeutet dieser Geburtenrückgang, daß die seit etwa 1950 geborenen Generationen die implizite Verpflichtung eines Drei-Generationen- Vertrags nicht mehr einhalten, indem sie per saldo weit weniger Kinder aufziehen, als zum Erhalt einer Generationenbalance notwendig wäre. ... Wie gezeigt wurde (Abschnitt 5.2), geht das niedrige Fertilitätsniveau in Deutschland im wesentlichen auf eine starke Zunahme von Kinderlosigkeit, weniger auf eine zu geringe Kinderzahl pro Ehepaar bzw. Mutter zurück. In den jüngeren Generationen polarisieren sich die Lebensformen in solche mit und ohne Kinder, und Wirtschafts- wie Sozialverfassung privilegieren die kinderlosen Lebensformen. (Vgl. Abschnitte 5.8 und 6.5).“ (Ebd., S. 209).

7.3) Das Kippen der Generationenbalance

Geburten (1950-2000)
Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2002

„Den Geburtenrückgang und seine demographischen Konsequenzen haben wir bereits in Kapitel 2 beschrieben. An dieser Stelle sei nur der spezifische Aspekt einer quantitativen Verschiebung der Generationenverhältnisse nachgetragen. Hierzu bedienen wir uns des Verhältnisses der 0-20-Jährigen zu den 20-60-Jährigen (Jugendquotient) bzw. der 60-und-mehr-Jährigen zu den 20-60-Jährigen (Altenquotient), also einem Näherungswert zu den Anteilswerten der noch nicht und der nicht mehr erwerbstätigen Bevölkerungsgruppen. Wie Abbildung 7.1 zeigt, steigt der Jugendquotient bis 1970 auf 0,64 an, eine Folge des Geburtenbooms der 1960er Jahre (vgl. Abbildung „Geburten 1950-2000“). Seither ist ein zunächst rascher, dann abgemilderter Rückgang bis 2020 auf 0,33 zu beobachten, was in etwa bereits dem stabilen Wert einer Bevölkerung mit durchschnittlich 1,4 Kindern pro Frau entspricht. Bei einer sich vollständig ersetzenden Bevölkerung würde der stabile Jugendquotient ca. 0,52 betragen. Diese Aussage beruht auf den Berechnungen anhand der Sterbetafel 1991/1993 des Statistischen Bundesamtes; bei einem weiteren Sterberückgang sinkt dieser Wert, allerdings nur unwesentlich. Der Altenquotient, also das Verhältnis von Altengeneration zur mittleren Generation, steigt zwischen 1970 und 2000 nur unwesentlich (genauer gesagt; er steigt erst ab Anfang der 1990er Jahre [vgl. Abbildung]; Anm. HB) und nimmt dann insbesondere zwischen 2010 und 2030 geradezu dramatisch zu. Denn mit dem Hineinwachsen der geburtenstarken, um 1960 (bzw.: von 1950 bis 1969; Anm. HB) geborenen Jahrgänge ins Rentenalter geht gleichzeitig der Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung erheblich zurück ....“ (Ebd., S. 209-210).

„Infolge eines plötzlichen Geburtenrückgangs zwischen 1965 und 1970 sanken die Aufwendungen für das Aufbringen der Kinder. Gleichzeitig nahm der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zunächst zu, da die Altenquote noch nicht anstieg. Diese vorteilhafte Phase nähert sich für Deutschland derzeit dem Ende. (Vorteilhaft ist dieser Zustand allerdings nur insoweit, als es gelingt, den steigenden Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter auch tatsächlich zu beschäftigen. Das ist im deutschen Fall bekanntlich nur unzureichend gelungen.). In dem Maße, wie dann die Zunahme der Altenquote den Rückgang der Jugendquote übertrifft, wirkt sich die demographische Veränderung im Sinne einer Reduktion der durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen aus.“ (Ebd., S. 212-213).

„Allerdings gilt das so nur in volkswirtschaftlicher Perspektive. De facto sind in der Bundesrepublik die Unterhaltskosten der älteren Generation weitgehend kollektiviert, während das Aufbringen der nachwachsenden Generation zu etwa drei Vierteln von deren Eltern getragen wird. Insofern wirkt sich die Steigerung der Altenquote auf die sozialpolitische Umverteilungsmasse stärker aus als das Sinken der Jugendquote. Allerdings läßt sich diese demographische Tendenz durch Modifikationen der Erwerbsbeteiligung erheblich beeinflussen. Wir haben die mittlere Aitersgruppe durch die Grenzwerte von 20 und 60 Jahren definiert, weil dies in etwa dem gegenwärtigen Durchschnitt des Beginns bzw. der Beendigung der Erwerbstätigkeit entspricht. (Allerdings sind auch nicht alle 20-60-Jährigen erwerbstätig.). Dabei wird deutlich, daß die deutsche Bevölkerung durch den Geburtenrückgang zunächst per saldo Versorgungsaufwendungen sich erspart, und zwar in solchem Maß, daß erst um 2030 der Wert von 1970 wieder erreicht wird. Aus demographischer Sicht befindet sich Deutschland derzeit immer noch in einem besonders günstigen Bereich, was den Unterhalt der nachwachsenden wie der alten Generation angeht. Deshalb sind die derzeitigen Finanzierungsschwierigkeiten der Rentenversicherung noch nicht demographisch bedingt. Allerdings ist diese günstige Konstellation nicht mehr von langer Dauer.“ (Ebd., S. 213).

„Die Summe der Jugend- und Altenquotienten der für bestimmte Zeitpunkte repräsentativen Sterbetafeln kann ... als Annäherungswert für die langfristig minimale Versorgungslast genommen werden.“ (Ebd., S. 213).

„Nach 2030 liegen die effektiven Versorgungslasten über den langfristig minimalen Werten, dementsprechend wird hier »die Rechnung präsentiert« für die suboptimale Fertilität.“ (Ebd., S. 214).

„Unsere Befunde und Überlegungen verdeutlichen, wie sehr die demographisch bedingten Generationslagen sich zwischen 1950 und 2050 verändern. Die synchronen Generationiverhältnisse ausgedrückt durch die Jugend- und Altenquotienten - verändern sich in der Zeit, so entstehen unterschiedliche diachrone Generationslagen. Die heute (und erst recht die in den letzten Jahrzehnten) im Rentenalter Stehenden können angesichts des erheblichen Wirtschaftswachstums seit der Rentenreform von 1957 mit Rentenzahlungen rechnen, die auch unter Ausschaltung der Geldentwertung einer überdurchschnittlich hohen Realverzinsung ihrer seinerzeit geleisteten Beiträge entsprechen. Wie auch immer die Belastungen durch die ungünstiger werdende demographische Lage zwischen Beitragszahlern und Rentnern verteilt werden, das Verhältnis von Beiträgen und Renten wird sich dauerhaft verschlechtern.“ (Ebd., S. 214).

„Diese diachronen Unterschiede stellen die unmittelbare Herausforderung sozialstaatlicher Politik dar, weil bereits heute absehbar ist, daß das gegenwärtige öffentliche Versorgungsniveau der Rentner auf Dauer nur mit exorbitanten Abgaben der Erwerbstätigen zu finanzieren wäre. Sie beliefe sich bei der bis 2003 gültigen Gesetzeslage und unter Einschluß der Arbeitgeberbeiträge und der steuerfinanzierten Staatszuschüsse nach einer Schätzung des Ifo-lnstituts auf dem Höhepunkt der demographischen Krise im Jahre 2035 auf 62,5% der Arbeitseinkommen. (Vgl. Hans-Werner Sinn, Das demographische Defizit, in: Demographie und Wohlstand, Hrsg.: Christian Leipert, 2003, S. 66.). Es ist also ein unvermeidbarer Interessengegensatz zwischen Beitragszahlern und Rentnern entstanden, wer in welchem Umfange die Konsequenzen der primär demographisch bedingten Finanzierungskrise tragen soll. Die jüngste Rentenreform hat den Konflikt im wesentlichen zu Lasten der zukünftigen Rentner entschärft. ... Beim Anhalten der gegenwärtigen Fertilität wird ... in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts der Altersquotient auf dem erreichten hohen Niveau verharren, bei gleichzeitiger Beschleunigung des Bevölkerungsrückgangs. Die Einführung des euphemistisch sogenannten »Nachhaltigkeitsfaktors« in die Rentenformel im Zuge der jüngsten Reform der Gesetzlichen Rentenversicherung, aber auch die nahezu gleichzeitige starke Reduktion der prognostizierten Renditen privater Lebensversicherungen sind erste Reaktionen auf die absehbare Verdüsterung der Perspektiven der Alterssicherung, aber gewiß nicht die letzten.“ (Ebd., S. 214-215).

7.4) Gibt es ein theoretisches Optimum der Versorgungslasten?

„Unsere bisherigen Überlegungen betrafen ausschließlich demographisch bedingte Proportionen. Wirtschaftlich und sozialpolitisch erscheinen jedoch andere Faktoren wie die Beschäftigungslage, die Produktivitätsentwicklung oder die Art und Höhe der Sozialleistungen von weit größerer Bedeutung, die hier nicht im Detail behandelt werden können. Um die Relevanz des demographischen Faktors zu verdeutlichen, schalte ich hier eine Zwischenfrage ein: Welches Niveau der Fertilität ermöglicht bei gegebenen Erwerbsstrukturen, Produktivitätsverhältnissen und Verteilungsregeln eine Maximierung der Pro-Kopf-Einkommen in einer geschlossenen Volkswirtschaft?  Lassen sich Aussagen über ein optimales langfristiges Verhältnis der Jugend- und Altenquote und die entsprechende Fertilität (»versorgungsoptimale Fertilität«) machen?  Ich bediene mich hierzu des bereits erwähnten Analyseinstruments stabiler Bevölkerungen.“ (Ebd., S. 215).

Versorgungslast

„Wie Abbildung 7.4 zeigt, liegt unter Zugrundelegung gegenwärtiger Sterblichkeitsverhältnisse (der Berechnung von Abbildung 7.4 wurde die Sterbetafel 1997/'99 für Frauen in Deutschland zugrunde gelegt, welche eine mittlere Lebenserwartung bei der Geburt von 80,6 Jahren ausweist) das langfristige Minimum der Versorgungslasten bei einem Wert der Nettoreproduktionsziffer von ziemlich genau 1,0; am Minimum hat jeder Erwerbstätige für sich sowie für 1,07 Nichterwerbstätige (Junge oder Alte) zu sorgen: T(r) = 2,07. Im Bereich einer Nettoreproduktionsrate von ca. 0,9 bis 1,2 tritt jedoch keine wesentliche Erhöhung der Versorgungslasten ein. Allerdings zeigt die Darstellung einen scharfen Anstieg der Kurve auf der Seite niedriger Fertilität: Sinkt die Reproduktion der Bevölkerung unter ca. 80%, so ist mit zunehmenden Wohlfahrtsverlusten zu rechnen. Dies ist aktuell in Deutschland mit einer Nettoreproduktionsziffer (NRZ) um 0,65 offensichtlich der Fall. Deutlich wird zudem, daß Deutschland sich bereits im »roten Bereich« befindet: ein weiteres Absinken der Fertilität würde die Schwierigkeiten für die kollektive Finanzierung des Unterhalts der Nichterwerbstätigen exponentiell anwachsen lassen.“ (Ebd., S. 215-216).

„Das Verhältnis von Alten- zur Jugendquote ist von den durch die Sterbetafel repräsentierten Sterblichkeitsverhältnissen abhängig. Wenn, wie zu erwarten ist, die Sterblichkeit insbesondere in höheren Lebensaltern weiter sinkt, so würde sich die gesamte Kurve weiter nach rechts und nach oben verschieben, d.h., es bedürfte einer höheren Fertilität, um im Bereich des demographischen Optimums zu landen, und die minimalen Versorgungslasten steigen bei gleichbleibender Fertilität an. Umgekehrt wären bei einer niedrigeren Lebenserwartung die demographisch bedingten Versorgungslasten geringer.“ (Ebd., S. 216-217).

„Soweit also die ausschließlich demographischen Zusammenhänge, die u.a. auf der mutmaßlich unrealistischen Annahme beruhen, daß die Versorgungsaufwendungen für einen jugendlichen und einen alten Menschen gleich denjenigen für einen Erwerbstätigen sind.25 Allerdings spielt das Verhältnis zum Versorgungsniveau der Erwerbstätigen mathematisch keine Rolle, sondern nur das Verhältnis zwischen den Aufwendungen für die noch nicht und die nicht mehr Erwerbstätigen. (So auch Herwig Birg [Die demographische Zeitenwende, 2001, S. 161]. Die von ihm postulierte Normativität einer stationären Bevölkerungsentwicklung hängt allerdings von der Annahme durchschnittlich gleicher Versorgungsbedarfe junger und alter Menschen ab.). Je höher das postulierte Versorgungsniveau der Alten im Verhältnis zu den Jungen, desto mehr verschiebt sich die gesamte Kurve nach rechts. Geht man von der verbreiteten Annahme aus, daß die Durchschnittsaufwendungen für einen Jugendlichen etwa 2/3 derjenigen eines alten Menschen betragen (hebt man auf die öffentlichen Aufwendungen allein ab, so werden die Aufwendungen für einen alten Menschen im Durchschnitt sogar auf das Dreifache derjenigen eines Jugendlichen geschätzt), so würde sich die optimale Reproduktionsrate von 1,0 nach 1,3 verschieben und dementsprechend natürlich auch die gegenwärtige deutsche Reproduktionsrate von 0,65 in einem noch ungünstigeren Licht erscheinen.“ (Ebd., S. 217).

„Bis hierher haben wir lediglich die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge vorgestellt. Sie lassen sich zur These zusammenfassen, daß eine niedrige Fertilität um so unschädlicher ist, je geringer die Pro-Kopf-Aufwendungen für die alte Generation im Verhältnis zu denjenigen der nachwachsenden Generation sind. Oder politikbezogen formuliert: Je geringer der Nachwuchs, desto schwieriger der Unterhalt der alten Generation, was eigentlich auch dem gesunden Menschenverstand einleuchten müßte. Doch die sozialpolitischen Auseinandersetzungen orientieren sich an anderen Maximen, die durch strukturierte Interessen vorgegeben werden. Berücksichtigt man die existierenden Versorgungsstrukturen, so ist die von der demographischen Perspektive ausgehende Botschaft allerdings noch dramatischer: Da die Aufwendungen für die alte Generation ganz überwiegend durch politisch festgelegte Umverteilungen zu Lasten der Erwerbstätigen finanziert werden, die Aufwendungen für die nachwachsende Generation jedoch nach Schätzungen des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen (Leistungen für die nachwachsende Generation in der Bundesrepublik Deutschland, 1979) zu rund drei Vierteln von den Eltern selbst getragen werden, ist die Belastung der öffentlichen Haushalte durch das Kippen der Generationsbalance noch weit schwerwiegender. Die »Ersparnisse« durch den Geburtenrückgang kommen ganz überwiegend denjenigen Individuen zu, die auf die Erziehung von Kindern verzichten, während die zunehmenden Belastungen für die Alterssicherung auf die öffentlichen Haushalte zukommen.“ (Ebd., S. 217-218).

„Vor allem zeigen diese Überlegungen erneut, daß unter Versorgungsgesichtspunkten der Rückgang der Fertilität unter das Reproduktionsniveau die eigentlich problematische Entwicklung darstellt, und nicht die Verlängerung der Lebenserwartung. Die demographischen Versorgungslasten lassen sich unter der Voraussetzung einer quasistationären oder selbst einer mäßig wachsenden Bevölkerung wesentlich leichter tragen als unter den Bedingungen eines Bevölkerungsrückgangs. Je geringer die Fertilität, desto dramatischer wachsen die Versorgungslasten der älteren Generation und die damit vorprogrammierten Verteilungskonflikte.“ (Ebd., S. 218).

7.5) Generationengerechtigkeit - Geschlechtergerechtigkeit - Elterngerechtigkeit

„Die ... Diskurse über Verteilungsgerechitgkeit orientieren sich an der Verteilung von Macht, Gütern und Rechten unter den gleichzeitig lebenden Menschen. Hierarisch geordnete Gesellschaften kannten (und kennen; Anm. HB) noch eine vierte Hauptdimension sozialer Ungleichheit, nämlich die an einen bestimmetn Status gebundene Ehre.“ (Ebd., S. 219-220).

„Die problematischen demographischen Entwicklungen - und nicht nur sie - erfordern jedoch den Einbezug einer diachronen Dimension in die Gerechtigkeitsdiskurse. Dies geschieht (jedenfalls scheinbar; Anm. HB) neuerdings unter dem Titel der Generationengerechtigkeit.“ (Ebd., S. 220).

„Das Konzept der Generationengerechtigkeit ist noch eher ein politischer Kampfruf denn ein ausgearbeitetes philosophisches Konstrukt, doch liegen einige Vorabeiten vor. (Folgt man den Schätzungen von Hauser [2005], so ist »auf absehbare Zeit eineVerletzung der Generationengerechtigkeit in der Längsschnittperspektive nicht zu erwarten. Dies gilt allerdings nur dann, wenn weiterhin eine ausreichend hohe Ersparnis und hohe Bildungsausgaben aufgebracht werden« [Richard Hauser, Generationengerechtigkeit als Facette der sozialen Gerechtigkeit, 2005, S. 22f.]). Im Zentrum der Diskussion standen die Umweltproblematik und die Erhaltung der natürlichen Ressourcen der Menschheit. Im Vergleich zu diesem universalen Problem mutet die primär auf nationale Rahmen bezogene Problematik der Staatsverschuldung und der Zukunft der sozialen Sicherung eher bescheiden an, was jedoch ihrer politischen Dringlichkeit keinen Abbruch tut. Insbesondere die steigende Staatsverschuldung wird zunehmend als Belastung zukünftiger Generationen thematisiert. (Das Thema Staatsverschuldung bedarf mit Bezug auf die Generationengerechtigkeit einer differenzierten Betrachtung. Sofern aktueller Verschuldung entsprechende Zukunftsinvestitionen gegenüberstehen, ist sie zu rechtfertigen; allerdings fehlt es staatlicherseits an einer in der Privatwirtschaft selbstverständlichen Amortisierung.). In jüngster Zeit hat sich die Diskussion jedoch stark hin zur demographischen Problematik und zum Problem der Generationensolidarität verschoben.“ (Ebd., S. 220).

Dem Generationenkonzept wird (hier) also eine gesellschaftsstrukturierende Bedeutung zugemessen, der aber keine soziale Realität außerhalb der Rentenversicherung entspricht. Nach dieser Auffassung haben die dauerhaften Finanzierungsprobleme des Sozialversicherungssystems ihren Kern in dem Umstand, daß die seit etwa 1950 geborenen Generationen zahlenmäßig so geringen Nachwuchs hervorgebracht haben, daß die nachwachsenden Generationen bei gleichbleibenden Leistungen wesentlich höhere Versorgungslasten werden tragen müssen. Sie werden dadurch nachhaltig in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt und mit den ihnen von den vorangehenden Generationen hinterlassenen Verpflichtungen tendenziell überfordert. Auch die Organisation staatlicher Alterssicherung nach dem Umlageverfahren läßt sich als staatlich organisierte Verschuldung an die nachwachsenden Generationen interpretieren, wobei hier die konsumtiven Zwecke eindeutig dominieren. Was früher für den Familienverband galt, daß nämlich Kinderlosigkeit nicht nur ein persönliches, sondern auch ein ökonomisches Unglück darstellt, gilt unter den vorhandenen sozialstaatlichen Bedingungen in der Bundesrepublik zwar nicht mehr in jedem Einzelfall, wohl aber weiterhin mit Bezug auf das Kollektiv der Generationen.“ (Ebd., S. 222).

„Allerdings: Generationen sind keine Kollektivsubjekte, und sie sind deshalb auch, wie gesagt, nicht als solche fähig, Verträge abzuschließen, wie dies die Metapher des Generationenvertrages suggeriert. Auch ein Moralisierung, als ob bestimmte Generationen als solche »schuld« wären an der »Geburtenmisere« und deshalb mit dem Schwinden ihrer Sicherung im Alter zu Recht »bestraft« würden, geht am Problem vorbei.“ (Ebd., S. 222).

„Die Ursachen der diachronen »Gerechtigkeitslücke« als Folge der demographischen Entwicklung sind in Ungleichheiten zu finden, die sich bereits aus einer synchronen Betrachtungsweise namhaft machen lassen, nämlich in der Polarisierung der erwachsenen Bevölkerung in Personen mit und ohne Elternverantwortung. (Vgl. Abschnitt 5.6). Blieben von den in den 1930er Jahren geborenen Frauen etwa jede zehnte kinderlos, so wird von den nach 1965 geborenen Frauen voraussichtlich etwa jede Dritte kinderlos bleiben; und bei den Männern ist die Verantwortungsübernahme für Kinder noch weniger verbreitet. Dagegen hat die mittlere Kinderzahl der Mütter, also der Frauen mit Kindern, bei den nach 1950 geborenen Frauen von 2,03 auf 2,25 Kinder zugenommen (vgl. Tabelle). Diese Polarisierungstendenz zwischen Mehrkinderhaushalten und Kinderlosen ist im internationalen Vergleich in Deutschland besonders ausgeprägt. Wie die Untersuchungen von Becker und Hauser (2003) gezeigt haben, läßt sich
»im Hinblick auf die gleichzeitig lebenden Mitglieder verschiedener Generationen (d.h. in der Querschnittsperspektive F.X.K.) in Westdeutschland konstatieren, daß sich die Verhältnisse immer mehr zu Ungunsten der jungen Generation verschoben haben. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß es bei der mittleren Generation einen deutlichen Unterschied zwischen Haushalten mit Kindern und Haushalten ohne Kinder gibt. Paare mit Kindern und Alleinerziehende lagen bereits 1973 unter dem Durchschnitt und ihre relative Position hat sich bis 1998 nochmals stark verschlechtert.« (Richard Hauser, Generationengerechtigkeit als Facette der sozialen Gerechtigkeit, 2005, S. 12) «
Die immer deutlicher sich profilierende Differenz zwischen Eltern und Kinderlosen stellt eine neue Form sozialer Ungleichheit dar, welche ethische und politische Beachtung verdient.“ (Ebd., S. 222-223).

„Auch hier muß zunächst vor Moralisierungen gewarnt werden. Man kann niemandem vorwerfen, daß er nicht heiratet oder keine Kinder hat, und bekanntlich gibt es nicht wenige Menschen und Paare, für die Kinderlosigkeit eine persönliche Tragödie darstellt. Das Problem sind die institutionellen Regelungen, also die Folgen unserer Gesetzgebung, welche den Kinderlosen Vorteile und den Eltern Nachteile bringen.
»Die Leistungserbringung der Kinderaufzucht, die den vergesellschafteten Alterssicherungssystemen erst das »Deckungskapital« - entweder als künftige Beitrags- oder als künftige Steuerzahler - liefert, bleibt dementsprechend in der deutschen Rechtsordnung erstens weitgehend privatisiert und wird zweitens in den Altersversorgungssystemen gerade nicht gleichberechtigt mit den monetären Beiträgen als anspruchbegründende Leistung anerkannt.« (Matthias Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gesastaltungsgebot für die staatliche Ordnung, 1994, S. 35f.).
Es ist also vordergründig, allein von einem Verteilungskonflikt zwischen unterschiedlichen Generationen zu sprechen; dahinter verbergen sich mindestens zwei weitere Verteilungskonflikte, nämlich derjenige zwischen den Geschlechtern und derjenige zwischen Eltern und Kinderlosen. Alle drei beziehen sich auf eine Sphäre, die dem herkömmlichen Nachdenken über den Sozialstaat fremd geblieben ist, nämlich die Sphäre der Reproduktion.“ (Ebd., S. 223-224).

7.6) Lösungsvorschläge

„Die Einführung des Umlageverfahrens in der Gesetzlichen Rentenversicherung war nach den Vermögensverlusten in und nach den beiden Weltkriegen als Übergangsmaßnahme ethisch wie politisch zu rechtfertigen. Seine exklusive Beibehaltung hat jedoch - insbesondere in Verbindung mit der dadurch mit bedingten Geburtenzurückhaltung - zu eindeutig unethischen Konsequenzen geführt. Die Finanzierung der Alterssicherung im Umlageverfahren bedeutet keine Zukunftsvorsorge, sondern nur die Abtragung alter Schulden. Wenn der Staat den Beitragszahlern für ihre Beiträge eine spätere Rente in Aussicht stellt, so ist das ein der Staatsverschuldung ähnlicher Sachverhalt. Jegliche Zukunftsvorsorge setzt Investitionen voraus, Investitionen in Sachkapital und in Humankapital. Eltern bilden durch ihre Erziehung und Pflege Humankapital oder - richtiger gesagt - Humanvermögen, genauso wie Lehrer und Ausbildner, welche allerdings nur die einmal geborenen oder allenfalls zugewanderten Kinder qualifizieren können. Wer keine Kinder aufzieht, investiert nicht ins Humanvermögen der Zukunft und damit in seine eigene Altersvorsorge. Deshalb sollte er verpflichtet werden, durch Ersparnisse für sein Alter vorzusorgen und die Bildung von Sachvermögen zu fördern. (Vgl. Abschnitt 6.7). So auch Holger Fabig (Meßbare Orientierungen für das sozial- und finanzpolitische Ziel der Generationengerechtigkeit, 2001, S. 171) unter Zitierung von O. Mayer: Generationengerchtigkeit - was ist das?,  in: Wirtschaftsdienst, 2000, Nr. 10.“ (Ebd., S. 224).

„Versicherungsökonomisch gesprochen, geht es darum, das beitragsfinanzierte Umlagesystem vom »Moral-Hazard«-Verhalten der Kinderlosen zu entlasten. Es ist in einem marktwirtschaftlichen System ökonomisch vorteilhaft, keine Elternverantwortung zu übernehmen, und diese Vorteilhaftigkeit wird durch das Äquivalenzprinzip von monetären Beiträgen und Rentenleistungen sozusagen sozialstaatlich verdoppelt. Aber selbst das ist erst die halbe Wahrheit, denn die Beiträge dienen ja nicht dem Aufbau von Zukunftskapital, sondern nur zur Finanzierung des Unterhalts der älteren Generation. Hierfür erscheint es durchaus gerechtfertigt, von allen Erwerbstätigen beitragsproportionale Beiträge zu fordern, ja, man kann sich fragen, warum diese durch eine Beitragsbemessungsgrenze nach oben beschränkt werden, und warum die Beamten und die freien Berufe davon ausgenommen sind. Die gelegentlich von Familienpolitikern erhobene Forderung, den Eltern geringere Beiträge als den Kinderlosen abzufordern, würde die ökonomischen Zusammenhänge zusätzlich vernebeln. Für den distributiven Familienlastenausgleich, also die Kompensation der Aufbringungskosten von Kindern, kann sinnvollerweise kein kollektives Alterssicherungssystem zuständig gemacht werden.“ (Ebd., S. 224-225).

„Anders steht es mit dem allokativen Familienleistungsausgleich. Es ist geradezu absurd, daß diejenigen, die das Humanvermögen der Zukunft aufziehen, also die wichtigste Basis für die Finanzierung der zukünftigen Renten gewährleisten, im Rahmen der Rentenanwartschaften nicht oder nur minimal anerkannt werden. (Eine Anrechnung von Erziehungszeiten [derzeit drei Jahre pro Kind] erfolgt nur für die nach 1992 geborenen Kinder). Die einzige plausible Begründung für die Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung besteht in der Analogie zur privaten Lebensversicherung. Diese Analogie ist jedoch sehr vordergründig, wie sowohl die unterschiedliche Finanzierung als auch die unterschiedliche Risikostruktur der beiden Sicherungssysteme zeigt. Zwar ist es plausibel, denjenigen, die für den Unterhalt der alten Generation Beiträge geleistet haben, eine beitragsäquivalente Alterssicherung in Aussicht zu stellen, aber der Unterhalt der alten Generation beinhaltet lediglich die eine Hälfte des sogenannten Generationenvertrages; die andere Hälfte bezieht sich auf die kollektive Zukunftsvorsorge. Und diese hat nicht mit der Beitragsleistung, sondern mit der Bildung von Zukunftsvermögen zu tun, sei es als Investition in das Sachvermögen oder in das Humanvermögen.“ (Ebd., S. 225).

„Mit Bezug auf die Verknüpfung von Generationen- und Elterngerechtigkeit hatte der »Vater der Dynamischen Rente« von 1957, Wilfried Schreiber, bereits eine im Grundsatz überzeugende Lösung vorgeschlagen: Die Kinder- und Jugendrente wurde als »Investitionskredit« gedeutet, der von den erwachsen Gewordenen entweder in der Form der Erziehung eigener Kinder oder in bar zu erstatten sei, wobei der einkommensbezogene Erstattungssatz um so geringer anzusetzen wäre, je mehr Kinder in einem Haushalt erzogen werden. (Vgl. Wilfried Schreiber, Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft, 1955, S. 32ff.). Hier also erscheint die Abgabe der Kinderarmen oder Kinderlosen nicht als »Strafsteuer«, sondern als Äquivalent für die normalerweise zu erwartende Erziehungsleistung, ohne die eine Gesellschaft ebensowenig eine Zukunft hat wie eine Familie. Dieses Konzept eines staatlich vermittelten doppelten Generationenvertrags ist in sich schlüssig und kann auch heute noch zur Schärfung des Problemverständnisses dienen. (Hierzu immer noch lesenswert: Oswald Nell-Breuning / Cornelius G. Fetsch, Drei Generationen in Solidarität - Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan, 1981). Der wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie hat kürzlich eine ähnliche Perspektive entwickelt, in der »alle Elemente von Familienpolitik als Teil eines Austauschprozesses (betrachtet werden), der lebenslang innerhalb und zwischen den Generationen stattfindet« und für den »ein drei Generationen einschließendes System von Zahlungsströmen« gefordert wird. (Vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen, Gerechtigkeit für Familien, 2001, S. 247, 257).“ (Ebd., S. 225-226).

„Hans-Werner Sinn, der gegenwärtige Direktor des Ifo-lnstituts (München), verficht ein dem Gedanken Schreibers verwandtes, in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation aber wohl praktikableres Konzept. Er kritisiert, daß der Ausbau des Familienlastenausgleichs zur Kompensation der Nachteile des Kinderhabens in der Alterssicherung »auf eine doppelte Intervention des Staates« hinausläuft, und plädiert daher dafür, allein im Rentenrecht anzusetzen und die bis 2035 unumgänglichen Kürzungen der gesetzlichen Renten nur denjenigen aufzuerlegen, die weniger als zwei Kinder erziehen, und für ebendiese eine Vorsorge im Sinne der kapitalgedeckten Riester-Renten vorzuschreiben. Er begründet dies wie folgt:
»Im Generationenzusammenhang (gehört es) zu den normalen Pflichten einer jeden Generation ..., zwei Leistungen zu erbringen: In der leistungsfähigen Lebensphase muß man seine Eltern und seine Kinder ernähren. Die erste dieser beiden Leistungen wird in Form der Rentenbeiträge erbracht, die ja in vollem Umfang an die heutigen Rentner fließen. Doch die zweite Leistung wird von vielen Menschen nicht erbracht, weil sie sich gegen Kinder entscheiden. So gesehen ist es sehr wohl gerecht, nun auch diesen Menschen eine zweite Leistung in Form des Riester-Sparens abzuverlangen. Dadurch sichern sie sich die Renten, deren Vollfinanzierung man den wenigen zukünftigen Beitragszahlern nicht mehr zumuten kann, und es wird möglich, den Eltern einen größeren Teil der von ihren eigenen Kindern gezahlten Rentenbeiträge zu belassen. Menschen, die mehrere Kinder großziehen, an der Riesterrente zu beteiligen, hieße indes, ihnen eine dreifache Last aufzuerlegen. Als Beitragszahler ernähren sie die jetzt Alten, als Eltern finanzieren sie über die Kosten der Kindererziehung die Renten aller zukünftigen Rentenbezieher, und als Riester-Sparer müßten sie zusätzlich ihre eigenen Renten finanzieren.« (Hans-Werner Sinn, Das demographische Defizit, in: Christian Leipert, Demographie und Wohlstand, 2003, S. 87; vgl. auch Hans-Werner Sinn, Ist Deutschland noch zu retten?,  2003, S. 389ff.).
Sinns Vorschlag läuft auf eine allgemeine Kürzung der Renten hinaus, bei gleichzeitiger Aufwertung der Ansprüche aus Erziehungsleistungen. Entsprechende durchgerechnete Vorschläge wurden von Gallon, Bank und Kreikebohm bereits 1994 vorgelegt. Sie haben jedoch niemals eine ernsthafte politische Diskussion ausgelöst. Immerhin scheint neuerdings der öffentliche Druck auf eine stärkere Anerkennung der Familienleistungen zuzunehmen, was bei den »Mandarinen des Systems« entsprechende Abwehrreaktionen auslöst. (Vgl. Bert Rürup / Sandra Gruescu, Nachhaltige Familienpolitik im Interesse einer aktiven Bevölkerungsentwicklung, 2003; Franz Ruland, Familie und Alterssicherung, 2004).“ (Ebd., S. 226-227).

„Allgemeine Kürzungen haben durch die Rentengesetzgebungen von 1992, 1999 und 2003 bereits stattgefunden. Diese Rentenkürzungen betreffen jedoch alle Anspruchsberechtigten im Grundsatz gleichermaßen, unabhängig davon, ob sie Kinder großgezogen haben oder nicht. Unter Einschluß der Gesetzgebung über die sogenannten Riester-Renten kommt Winfried Schmähl (Wem nutzt die Rentenreform?,  2003, S. 361) sogar zum Schluß: »Durch die beitragsäquivalente Ausgestaltung der Privatvorsorge bei gleichzeitiger Reduktion des Leistungsniveaus der gesetzlichen RV werden Umverteilungselemente zugunsten von Frauen und Familien abgebaut.« (Hervorhebung von mir). Zwar wurde die Anrechnung von Erziehungszeiten etwas verbessert, aber damit kommen keine wirkliche Entlastung der Eltern und keine spezifische Belastung der Kinderlosen zustande. (Vgl. die Kritik in Hessische Staatskanzlei i [Hg.], Die Familienpolitik muß neue Wege gehen! Der »Wiesbadener Entwurf« zur Familienpolitik, 2003, S. 79ff. - Zumindest müßte die Kindererziehung so erheblich aufgewertet werden, daß Mütter, die mehr als zwei Kinder erziehen, unter Anrechnung vorfamilialer Berufstätigkeit eine eigenständige durchschnittliche Rente erreichen können.).“ (Ebd., S. 227-228).

„Es kommt vielmehr darauf an, den Generationenvertrag zwischen der Erwachsenen- und der Altengeneration so zu modifizieren, daß die volkswirtschaftliche Leistung der Kindererziehung äquivalent zu einer höheren Sparrate der Kinderlosen gilt. Unter dieser Voraussetzung könnte auf den von Wilfried Schreiber vorgesehenen »zweiten Generationenvertrag« grundsätzlich verzichtet werden. Damit wäre das Problem der »Transferausbeutung«, d.h. der Familienleistungsausgleich, prinzipiell gelöst. Das macht allerdings den Familienlastenausgleich nicht entbehrlich, wie Sinn meint. (Vgl. Abschnitt 6.6).“ (Ebd., S. 228).

„Die hier vorgestellte Perspektive wirft auf jeden Fall ein neues Licht auf die alte Kontroverse bezüglich einer Finanzierung der Alterssicherung (Rentenversicherung und Pflegeversicherung) durch das Umlageverfahren oder durch das Kapitaldeckungsverfahren. Seine politische Legitimation bezog die explizite Einführung des Umlageverfahrens mit der Rentenreform von 1957 bereits durch das Hinschwinden aller Kapitalrückstellungen seien sie öffentlicher oder privater Natur - in den beiden Währungsreformen von 1922 und 1948. Politisch gab es damals gar keine Alternative, wollte man die vom Krieg ohnehin gebeutelten Alten am Wirtschaftsaufschwung teilhaben lassen. Die volkswirtschaftliche Legitimation des Umlageverfahrens resultierte aus der sogenannten Mackenroth’schen Regel, der zufolge »aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedecktwerden muß« (Gerhard Mackenroth, Die Reform der Sozialpolitik durch eine deutschen Sozialplan, 1952, S. 41). Heute müßte diese Regel wie folgt modifiziert werden: Aller zukünftige Sozialaufwand muß aus den Erträgen des Human- und Sachvermögens der betreffenden Periode gedeckt werden. Nur was vorher investiert worden ist, wirft zu gegebener Zeit Erträge ab.“ (Ebd., S. 228).

„Aber das Umlageverfahren ist nicht ohne Tücken. Denn wenn sich das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern nachhaltig ändert - und ebendies ist aufgrund des demographischen Wandels in den kommenden Jahrzehnten zu erwarten -, so gerät das System der sozialen Sicherung zwangsläufig aus dem Gleichgewicht. - Es bleibt zu berücksichtigen, daß in Deutschland nicht die gesamte Bevölkerung in einem einheitlichen System gesichert ist. Das verschleiert zwar manche Probleme, mildert sie aber nicht. Für die Versorgung der Beamten haben die meisten Gebietskörperschaften keine Vorsorge getroffen. Am ehesten dürften die Sicherungssysteme der freien Berufe von einer jüngeren Altersstruktur profitieren und auch eine gewisse Anziehungskraft ausüben. Das geht dann zu Lasten der Beitragszahler in den Gesetzlichen Sozialversicherungen. Ein »Risikostrukturausgleich« in der Altersversorgung wäre aber wohl nur bei einer grundlegenden Reform der Alterssicherung praktikabel, wie sie heute unter dem Schlagwort »Bürgerversicherung« angedacht wird. Die Diskussion dieser Fragen liegt jenseits unserer Fragestellung. - Die aufgrund früherer Zahlungen akkumulieren Leistungsansprüche der geburtenstarken Jahrgänge (»Babyboomer«) wirken wie eine zusätzliche Staatsverschuldung, deren Honorierung den jüngeren Generationen auferlegt wird. Ökonomen fordern daher für die »Babyboomer« eine stärkere Eigenvorsorge in Form kapitalwirksamer Ersparnis und weisen darauf hin, daß diese Ersparnisse auch im Ausland angelegt werden könnten, wo die Renditen voraussichtlich höher und die Wirkungen des »Entsparens« zum Zeitpunkt wachsender Rentnerpopulationen weniger kraß zu Buche schlagen als in einer geschlossenen Volkswirtschaft. In der Tat beruht die »Mackenroth’sche Regel« ja auf der Keynesianischen Vorstellung einer Volkswirtschaft mit grundsätzlich geschlossenem Kreislauf. Vor allem von privaten Kapitalsammelstellen (Lebensversicherungen, Pensionsfonds u.ä.) wird erwartet, daß sie in der Lage seien, die Ersparnisse der Bürger auch dann noch in renditeträchtiger Form zu verwalten, wenn die reale Rendite der Sozialversicherungsbeiträge infolge des Kippens der Generationsbalance verschwinden oder gar negativ werden sollte. Auch wenn diese Hoffnungen berechtigt sein sollten (daß man in dieser Hinsicht keinen allzu großen Optimismus hegen sollte, zeigen die radikalen Kürzungen der erwirtschafteten Überschußbeteiligung in der privaten Lebensversicherung und die erfolgreichen Bemühungen der Lebensversicherungsgesellschaft in Deutschland, selbst die gesetzlich vorgeschriebene Garantieverzinsung weiter zu senken - auch die Privatassekuranz ist von der zunehmenden Langlebigkeit sowie sinkeneden Realzinsen betroffen), würden sie allerdings nicht dazu beitragen, das Problem der» Transferausbeutung von Familien« zu beseitigen. Denn die Sparpotentiale sind um so größer, je geringer die mit der Kinderzahl zwangsläufig steigenden Konsumbedürfnisse werden. Deshalb sollte das Prinzip der Kapitaldeckung nur für den Teil der obligatorischen Altersvorsorge der Kinderlosen eingeführt werden, der den durch Erziehungs- und Pflegeleistungen erworbenen Zusatzleistungen der Eltern in der Gesetzlichen Rentenversicherung entspricht.“ (Ebd., S. 228-230).

„Was die gegenwärtig diskutierte Umstellung der Pflegeversicherung auf Kapitalfinanzierung betrifft, so ist nicht zu bestreiten, daß infolge der Verlängerung der Lebenserwartung die Altenpopulation anschwillt, was - mit einer gewissen Verzögerung dank einer längeren Lebensphase bei guter Gesundheit - schließlich zu einer überproportionalen Nachfrage nach Pflegeleistungen führen wird. Gegen dieses Risiko könnte heute noch in praktikabler Weise durch Kapitalbildung vorgesorgt werden. Allerdings wäre hier zu berücksichtigen, daß Eltern nicht nur reale Vorleistungen in der Form von Kindererziehung erbracht haben, sondern daß darüber hinaus ihr Risiko, in die besonders kostenträchtige Heimpflege zu kommen, durch die Pflegepotentiale in der Familie reduziert wird. Würden hier gleiche Beitragssätze kalkuliert, so würden die hochindividualisierten posttraditionalen Lebensformen erneut von den Leistungen der Familien profitieren, denn deren Heimeinweisung dürfte infolge ihrer häufigeren Vereinsamung und angesichts knapper Plätze stets dringlicher erscheinen als diejenige von bereits in Familienpflege befindlichen Personen. Wie in einem sozialversicherungsrechtlichen Verhältnis eine degressive Beitragsgestaltung gerechtfertigt wäre, so müßten im Falle einer privatrechtlichen Versicherungslösung entsprechend getrennte Tarife für Eltern und für Kinderlose vorgeschrieben werden. “ (Ebd., S. 230).

„Im Anschluß an eine vergleichende Untersuchung unterschiedlicher Entlastungsformen von Familien im Rahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung haben Winfried Schmähl und Heinz Rothgang (Familie und Pflegeversicherung: Verfassungsrechtlicher Handlungsbedarf, Handlungsmöglichkeiten und ein Gestaltungsvorschlag, 2004) jüngst ein umfassendes Konzept des Familienlasten- und Familienleistungsausgleichs vorgelegt. Sie machen zu Recht darauf aufmerksam, daß die bisherige Politik der Entlastung von Familien stückwerkartig und intransparent ist und daß insbesondere steuerlich finanzierte Leistungen in erheblichem Maße von den Familien mitfinanziert werden. Demzufolge schlagen sie vor, die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Entlastung der Familien in der Pflegeversicherung nicht durch eine erneute punktuelle Maßnahme, sondern im Zuge einer umfassenden Reorganisation der Transferströme zugunsten von Familien vorzunehmen. Schmähl und Rothgang schlagen vor, den ohnehin steuerfinanzierten Familienlastenausgleich durch ebenfalls steuerfinanzierte Zuschüsse zu den Beitragszahlungen an Renten- und Pflegeversicherung von Personen mit Erziehungsverantwortung zu ergänzen. Das eigentlich Neue an ihrem Vorschlag bezieht sich jedoch auf die Finanzierungsseite: Um die bisherige intransparente Beteiligung auch einkommensschwacher Eltern an der Finanzierung der Familienleistungen zu beseitigen, sollte die Finanzierung des Familienlasten- und Familienleistungsausgleich als Zuschlag zur Einkommensteuer ausgestaltet werden (»Kinder-Soli«). Dieser Vorschlag verspricht in der Tat eine sehr effektive und das gesamte Transfersystem erheblich vereinfachende Lösung, die dem ursprünglichen Gedanken Wilfried Schreibers, die Transferströme zugunsten der nachwachsenden Generation in einer »Kinderkasse« zu bündeln, nahe kommt. (Vgl. Wilfried Schreiber, Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft, 1955, S. 32ff.).“ (Ebd., S. 230-231).

„Immer bleibt es eine politische Entscheidung, in welchem Ausmaße die Bevölkerung zur kollektiven Altersvorsorge angehalten werden soll, und nur in diesem Zusammenhang kann realistischerweise von einem Familienleistungsausgleich die Rede sein. In diesem Rahmen allerdings erscheint mir die Anerkennung der Haushaltsproduktion neben der marktwirtschaftlichen Produktion und damit die Anerkennung der Humanvermögensbildung als Investition neben der Sachvermögensbildung eine wissenschaftliche und politische Voraussetzung, um Deutschland eine humanere und ökonomisch nachhaltigere Zukunftsperspektive zu geben. Um dies zu begreifen, muß man sich allerdings vom Schleier einer bloß monetären Betrachtungsweise lösen und die realen Zusammenhänge der Wohlfahrtsproduktion in den Blick nehmen.“ (Ebd., S. 231).


8) Statt eines Schlußworts: Anmerkungen zu zwei Bestsellern (S. 232-243)

8.1) Albrecht Müller: „Die Reformlüge“ (S. 232-239)
8.2) Frank Schirrmacher: „Das Methusalem-Komplott“ (S. 239-243)

8.1) Albrecht Müller: „Die Reformlüge“

„Albrecht Müller hat sich bereits während seiner Tätigkeit im Bundeskanzleramt unter Helmut Schmidt bemüht, das ihn irritierende Thema der Bevölkerungsentwicklung »unter der Decke zu halten«.“ (Ebd., S. 233).

„Es kommt nämlich wirtschafts- und sozialpolitisch nicht auf die Bevölkerungsgröße und noch weniger auf die Bevölkerungsdichte an, sondern auf Struktur und Wachstumstendenz der Bevölkerung. Im Jahre 1950 waren 31% der Bevölkerung unter 20 Jahre alt, im Jahre 2050 werden es nach der von Müller zitierten Modellrechnung des Statistischen Bundesamtes noch 16% sein. (Vgl. Tabelle). Dementsprechend lag die Fertilität damals leicht über dem Reproduktionsniveau; bei der Modellrechnung reproduziert sich die Bevölkerung dagegen nur noch zu zwei Dritteln.“ (Ebd., S. 234).

„Weil sich demographische Veränderungen sehr langsam vollziehen, sind sie vergleichsweise gut vorauszuberechnen; ihre »Volatilität« ist wesentlich geringer als bei ökonomischen Indikatoren; deshalb sind so langfristige Extrapolationen sinnvoll. Aber das schließt eine Trendwende und damit die prognostische Irrigkeit der Extrapolation natürlich nicht aus. Allerdings haben unsere Überlegungen keine Faktoren erkennen lassen, die ohne nachhaltige politische Anstrengungen zu einer Trendumkehr führen könnten. Nur ein weitreichender kultureller Wandel hinsichtlich des Wertes von Kindern und Familie ließe - in Verbindung mit einer stärkeren politischen und wirtschaftlichen Anerkennung von Familientätigkeiten - eine Trendwende wahrscheinlich werden. Solange Kinderlosigkeit ökonomisch und sozial so attraktiv bleibt wie bisher, erscheint es dagegen wahrscheinlicher, daß sich Kinderlosigkeit in wachsenden Milieus weiter verfestigt. Es könnte demographisch also auch durchaus »schlimmer kommen«, als die vom Statistischen Bundesamt vorgestellte mittlere Variante, mit der sich Müller auseinandersetzt.“ (Ebd., S. 235).

„Nicht die Zunahme des Anteils der alten Menschen ist das Problem; sie ist angesichts der zunehmenden Langlebigkeit bie besserer Gesundheit weder zu bedauern noch zu vermeiden. Das Problem besteht im zu geringen Nachwuchs, der unter den gegebenen Bedingungen nicht nur mit Bezug auf die »Babyboomer«, sondern dauerhaft mit dem Unterhalt der alten Generation überfordert ist. Eine Bevölkerung, in der etwa gleich viele Unter-20-Jährige wie Über-80-Jährige gibt, kann nicht nachhaltig sein.“ (Ebd., S. 236).

„Von einer kontinuierlichen Zuwanderung, die ... Müller empfiehlt, sollte man sich nicht zuviel versprechen. Sie vermag zwar vorübergehend die Bevölkerungsbilanz zu verbessern (vorübergehdend, denn auch die Zuwanderer kommen ins Rentenalter !), aber ob sie wirtschaftlich und sozial auf Dauer von Vorteil ist, bleibt nach bisherigen Erfahrungen angesichts der hohen Rückwanderungsquote zweifelhaft. (Die Zuwanderung bringt nur Nachteile! Anm. HB). Nur eine konsequente Integrationspolitik könnte hier hilfreich sein. (Aber auf diesem Gebiet versagen gerade unserer Politiker total! Anm. HB). Da die demographische Entwicklung in ganz Europa und insbesondere in Osteuropa mehr oder weniger prekär ist, wird man zunehmend auf außereuropäische Zuwanderer angewiesen sein, deren Integration bedeutend schwieriger ist. (Das endgültige Aus für unser Gemeinwesen?  Anm. HB).“ (Ebd., S. 236).

„Daß die »demographische Keule« derzeit von Politikern und Publizisten oft auch geschwungen wird, um Verteilungsstrukturen aus ganz anderen Gründen zu ändern, kann man Müller durchaus abnehmen.“ (Ebd., S. 236).

„Auch die ökonomische Theorie der Alterssicherung bestätigt die Eignung des Kapitaldeckungsverfahrens, um intergenerationelle Lastverschiebungen zu bewerkstelligen, konkret also: diejenigen Generationen, welche durch ihre Zurückhaltung beim Aufziehen don Kindern gespart haben, zu einer stärkeren Vorsorge für ihr eigenes Alter zu veranlassen und damit die zukünftigen, zahlenmäßig schwächeren Generationen zu entlasten.“ (Ebd., S. 237).

„Im übrigen geht die Periode, in der der Aufbau eines derartigen Kapitalstocks aus demographischen Gründen relativ leicht gewesen wäre, bereits zu Ende. In diesem Zeitraum scheint es aus demographischen Gründen relativ leicht, neben den für den Unterhalt der alten Generation erforderlichen Beitragsleistungen zusätzliche Ersparnisse zu bilden und einen Kapitalstock aufzubauen, der dann nach 2030 zur Entlastung der Umlagefinanzierung herangezogen werden könnte. Würde das Geld diversifiziert im Ausland angelegt, so wäre die Auflösung des Kapitalstocks auch ohne gravierende binnenwirtschaftliche Nebenwirkungen grundsätzlich möglich. Auch die ökonomische Theorie der Alterssicherung bestätigt die Eignung des Kapitaldeckungsverfahrens, um intergenerationelle Lastverschiebungen zu bewerkstelligen, konkret also: diejenigen Generationen, welche durch ihre Zurückhaltung beim Aufziehen von Kindern gespart haben, zu einer stärkeren Vorsorge für ihr eigenes Alter zu veranlassen und damit die zukünftigen, zahlenmäßig schwächeren Generationen zu entlasten. (Vgl. Friedrich Breyer, Kapitaldeckung versus Umlageverfahren, 2000).“ (Ebd., S. 237).

„Hier setzt der Vorschlag ein, die Kürzungen in der GRV (Gesetzliche Rentenversicherung; Anm. HB) schwerpunktmäßig denjenigen zuzumuten, die keine Kinder aufziehen und deshalb unter gleichen Einkommensbedingungen auch größere Sparpotentiale haben. »Eine Rentenversicherung nach dem bisher praktizierten Umlageverfahren ist eine Zwangsmaßnahme, die sicherstellen soll, daß Kinder ihre Eltern im Alter finanzieren, und sie ist zugleich eine Versicherung gegen Kinderlosigkeit, weil sie diejenigen, die selbst keine Kinder haben können, in die Lage versetzt, sich von den Kindern anderer Leute ernähren zu lassen.« (Hans-Werner Sinn, Das demographische Defizit, in: Demographie und Wohlstand, Hrsg.: Christian Leipert, 2003, S. 473). Das muß sich ändern. Einfach gesagt: Wer keine Kinder großzieht, kann nicht erwarten, von ihnen im Alter unterstützt zu werden, und muß daher selbst vorsorgen. Dieser Grundsatz ist uns selbstverständlich unter staatsfreien Bedingungen der Lebensführung, er sollte aber auch in die Prinzipien staatlich organisierter kollektiver Altersvorsorge Eingang finden, unbeschadet des Anspruchs auf ein sozialstatlich verbürgtes Existenzminimum, das allen Bürgern zusteht. (Vgl. Abschnitte 6.7 und 7.6).“ (Ebd., S. 238).

„Wer ... die Erziehung von Kindern als Grundlage einer zukünftigen Leistungsfähigkeit des Umlagesystems als zusätzliche oder ersatzweise Rentenansprüche begründet anerkennen will, kommt nicht umhin, denjenigen mehr abzuverlangen, die diese Leistung nicht erbringen - sei es durch höhere Beiträge oder durch zwangsweise kapitalbildende Altersvorsorge. Diese ... Methode scheint mir schlüssiger und auch weniger in private Rechte eingreifend ....“ (Ebd., S. 239).

8.2) Frank Schirmmacher: „Das Methulasem-Komplott“

„Frank Schirrmachers irritierender Dauer-Bestseller (ebd., 2004) bringt interessante Befunde, Einsichten und Meinungen, und er enthält eine deutliche Botschaft: Aber zwischen beiden vermitteln keine guten Gründe.“ (Ebd., S. 239).

„Die Botschaft ist die Forderung nach einem Komplott: »Es geht um eine Verschwörung gegen die besondere Form des selbsthasses, die in der Diffamierung des Alters liegt.« (S. 63). Schirmmacher ist der Prophet dieser Verschwörung. »Unsere Mission ist es, alt zu werden. Wir haben keine andere. Es ist die Aufgabe unseres Lebens.« (S. 155). Dies wird gefordert vor dem Hintergrund der ... Verlängerung des Lebens, welche in den letzten Jahrzehnten (scheinbar; Anm. HB) eine neue Qualität gewonnen hat. .... Das biologisch, sozial und kulturell neue Phänomen ist die massenhafte Verbreitung einer Lebensspanne des »jungen Alters« zwischen dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und der prämortalen Phase zunehmender Hinfälligkeit, als die gemeinhin das Alter thematisiert worden ist. Es ist vor allem diese Lebensphase des unmerklichen Alterns bei weitgehender Gesundheit, welche sich in absehbarer Zeit weiter verlängern wird. Hierfür fehlt es in Deutschland und anderswo an kulturellen Leitbildern und spezifischen Aufgaben.“ (Ebd., S. 239-240).

„Schirrmacher ... diagnostiziert einen »Krieg der Generationen« (S. 54 und ff.) und »rassistische Altersstereotypen« (S. 91), die treffend als »Entwürdigung des Menschen durch Dämonisierung seines Alters« (S. 93) charakterisiert werden. Ausführlich belegt er unterschiedliche Formen der Diskriminierung aufgrund von Lebensalter oder zugeschriebener altersspezifischer Fehlleistungen; hierin besteht ein Großteil der informativen Substanz des Buches. Alte Menschen, oder genauer: die heute an der Schwelle des Alterns stehenden Generationen, sollten es sich zur Aufgabe machen, gegen diese Diskriminierungen anzugehen: gegen ein »Zwangssystem von Jugend, Schönheit und Sexualität« in Werbung und Massenmedien (S. 77); gegen das »schmutzige Wort« des »Disengagements«, des »altersgemäßen Rückzugs aus der Gesellschaft« (S. 97 und ff.); und schließlich gegen alle moralischen Zumutungen, die Spanne des eigenen Lebens selbst zu begrenzen (S. 155).“ (Ebd., S. 240).

„Schirrmacher, Jahrgang 1959, gehört selbst zur Generation der »Babyboomer« ....“ (Ebd., S. 240).

„Schirrmacher war acht Jahre alt, als Benno Ohnesorg in Berlin von der Polizei erschossen wurde. Er gehört nicht mehr zur Generation der Achtundsechziger .... Die deutschen Babyboomer wurden wurden von den Achtundsechzigern geprägt (wirklich ?  Anm. HB) und sind die erste Generation, für die die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung bereits selbstverständlich war. Permanente Kinderlosigkeit - nicht als beklagenswertes Schicksal, sondern als freiwillige Option - hat durch sie den Charakter eines sozialen Leitbildes erhalten: Von den nach 1965 geborenen Frauen dürfte jede dritte lebenslang kinderlos bleiben. Dies wird von Schirrmacher nicht erwähnt, aber es gehört zu seinen eigenen Selbstverständlichkeiten: Herwig Birgs »Fortpflanzungsethik« (vgl. Herwig Birg, Unterwegs zu einer philosophischen Demographie, 1990) wird von ihm unter Zitierung Gottfried Benns als »zur Weltanschauung erhobene Kinderzeugung unter Staatsdruck ... apostrophiert« (was sie natürlich nicht ist; Anm. HB).“ (Ebd., S. 241).

„Das zentrale Problem ist vielmehr der Mangel an Nachwuchs, weshalb die »Versorgungslasten« der Rentner und Pensionäre auf zu wenig Schultern verteilt werden müssen. Wenn eine Bevölkerung sich dauerhaft nur noch zu zwei Dritteln reproduziert, so hilft keine Zuwanderung, um ein Gleichgewicht zwischen Beiträgen und Leistungen auf dem bisherigen Niveau zu ermöglichen. Die Befürchtung der Babyboomer, daß sie im Alter zu viele sein werden, ist berechtigt. Aber nur, weil sie zu wenig Nachkommen aufgezogen haben.“ (Ebd., S. 241-242).

„Wann immer Gebrechlichkeit und Hilfebedürftigkeit überhand nehmen, beginnt eine neue Lebensphase, auf die unsere traditionellen Altersbilder ausgerichtet sind. Deren Deutung bedarf in postmetaphysischen (stimmt das?  Anm. HB) Zeiten einer Kultur des Sterbens, welche diese letzte Lebensaufgabe deutlich vom Tode als einem Zustand jenseits unserer möglichen Erfahrung trennt. Von diesem »vierten Lebensalter« klar zu unterscheiden ist jene in der Tat von der Natur nicht vorgesehen Lebensphase des »dritten Lebensalters«. Davon und seiner mangelnden kulturellen und sozialen Anerkennung handelt zentral das Buch Schirrmachers, und hierzu weiß er in gewohnter Brillanz viel Bedenkenswertes zu sagen.“ (Ebd., S. 242).

„»Wir müssen das Problem unseres eigenen Alters lösen, um das Problem der Welt zu lösen«. Dieser Werbeslogan auf dem Cover verrät unfreiwillig ein Problem: Wer die Welt aus der Perspektive seines eigenen Standortes erlösen will, verliert sich schnell im Ungefähren. »Wir müssen lange leben und dabei ein starkes, uneingeschüchtertes Selbstbewußtsein haben.« Gründe, die über Nietzsches »Willen zur Macht« hinausweisen, werden hierfür nicht genannt. Das liest sich als Kampfansage, vor allem unter dem Titel »der Krieg der Kulturen« (S. 49).“ (Ebd., S. 242).

„In der Tat wirken diese geburtenstarken Jahrgänge - in Deutschland durch Zuwanderung noch verstärkt - als Störfaktor im rahmen demographischer und sozialversicherungspolitischer Überlegungen. Aber Bevölkerungsprojektionen machen deutlich, daß beim Andauern der gegenwärtigen niedrigen Fertilität der Seniorenanteil auch nach 2050 nicht zurückgehen wird. Dann werden die Babyboomer verschwinden, aber die die Probleme bleiben; nicht nur dasjenige einer gesellschaftlichen Ortsbestimmung des dritten Lebensalters, sondern auch die noch gewichtigeren Folgen unserer Nachwuchsschwäche. Der Bevölkerungsrückgang wird bald ... einen Sog auf die noch »jungen« und weit ärmeren Bevölkerungen anderer Weltteile ausüben. Was dann zu erwarten steht, läßt sich durchaus mit den Wirkungen der Völkerwanderung vergleichen.“ (Ebd., S. 243).

 

 

BAYERN ALPHA

Sendetag: 11.04.2006, 20.15 Uhr ff.


Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann
Sozialwissenschaftler

im Gespräch mit Dr. Eberhard Büssem

Büssem: Herzlich willkommen bei Alpha-Forum. Als Gast begrüße ich heute den Sozialwissenschaftler Professor Franz-Xaver Kaufmann. Eigentlich würdige ich Sie nicht richtig, wenn ich nicht alle Ihre Titel und Ehrendoktorwürden nenne und auch nicht alle Ihre Publikationen aufzähle, die Sie in Ihrem langen Berufsleben veröffentlicht haben, ich bitte um Ihr Einverständnis, die Liste wäre zu lang. Ich will zuerst nur folgendes fragen: Sie sind in der Schweiz geboren, Sie sind in der Schweiz aufgewachsen und haben dort auch studiert. Dennoch waren Sie dann 30 Jahre lang an der Universität in Bielefeld. War das ein Zufall der Berufung oder war das geplant?

Kaufmann: Von Planung kann man hier nicht sprechen. Als ich mein Studium abgeschlossen hatte, war ich zunächst einmal in der Praxis tätig. Nach einiger Zeit wollte ich dann aber in die Wissenschaft. In der Schweiz gab es jedoch für die Soziologie nur sehr wenige Möglichkeiten. Denn es hatte sich während meines juristischen und volkswirtschaftlichen Studiums herausgestellt, daß ich mich immer mehr für soziologische Fragen interessierte. Tja, und dann habe ich eben versucht in Deutschland Fuß zu fassen und kam an die Sozialforschungsstelle der Universität Münster, die allerdings in Dortmund beheimatet war. Ich kam damit zu Professor Schelsky und dort hatte ich dann auch die Chance, mich zu habilitieren. Schelsky war bekanntlich ja auch der Planer der Universität in Bielefeld: Zunächst hatte ich damit gar nicht gerechnet, denn ich hatte zeitgleich Rufe in die Schweiz und nach Österreich, aber plötzlich kam eben auch Bielefeld dazu. Und so habe ich mich für Bielefeld entschieden und das auch nie bereut.

Büssem: Bevor Sie eine wissenschaftliche Karriere eingeschlagen haben, haben Sie auch in der Privatwirtschaft gearbeitet, und zwar im Personalwesen. War das nur so ein Zwischenstopp oder wären Sie u.U. dort auch länger geblieben?

Kaufmann: Als ich vor der Berufswahl stand, war für mich der Status des Professors, waren für mich die Aufgaben eines Professors noch wirklich eine Frage der Berufung. Ich fragte mich also, ob ich wirklich dazu berufen sei und wollte mich selbst testen. Ich bin deshalb in die Privatwirtschaft gegangen, allerdings immer schon mit dem Hintergedanken, von dort auch wieder wegzugehen. Ich muß jedoch gestehen, daß ich diese drei Jahre in keinem Fall missen möchte. Ich bedauere es daher auch, daß es in Deutschland so schwierig ist für junge Wissenschaftler, aus der Universität in eine außeruniversitäre Tätigkeit zu wechseln und dann wieder in die Universität zurückzukehren. Gerade für Sozialwissenschaftler halte ich das nämlich für eigentlich unerläßlich.

Büssem: Diese Zeit in einer Personalabteilung hat Sie also bereichert?

Kaufmann: Ja, ganz enorm, vor allem deshalb, weil ich da von innen sehen konnte, wie eine Großorganisation eigentlich funktioniert. Das war ein internationaler Chemiekonzern, die Ciba in Basel, heute Novartis. Da konnte man enorm viel quasi beiläufig mitbekommen: gar nicht so sehr durch das eigene Tun, sondern ganz einfach durch die vielen Kontakte. Eine meiner Aufgaben bestand darin, Kurse zu organisieren für das mittlere Management. So kam es, daß ich eigentlich fast alle Leute wie z. B. Prokuristen u.s.w. dieser Firma, die in Basel angestellt waren, persönlich kennen gelernt habe. Sie haben mich dann auch mal in ihre Abteilungen hineinblicken lassen. Auf diese Weise habe ich wirklich Erfahrungen gemacht, die man jedem Sozialwissenschaftler nur wünschen kann.

Büssem: Sie sind dann als Professor in Bielefeld gelandet und haben dort 29 Jahre ausgehalten. In all diesen Jahren haben Sie viele Rufe an andere Universitäten abgelehnt, obwohl diese Rufe z. T. sogar sehr attraktiv waren. Was war und ist in Bielefeld so interessant, daß Sie als Wissenschaftler unbedingt dort bleiben wollten?

Kaufmann: Das hatte natürlich unterschiedliche, z. T. auch private Gründe. Vor allem lag das aber an dem Umstand, daß in Bielefeld die einzige Fakultät für Soziologie in der Bundesrepublik entstanden ist – und damit auch eines der spannendsten Zentren für Soziologie in Europa. Das hatte natürlich auch damit zu tun, daß wir bedeutende Leute wie Norbert Elias oder Niklas Luhmann bei uns hatten. Darüber hinaus hatte das aber auch mit der Breite und der Arbeitsteiligkeit des wissenschaftlichen Lehrens und Forschens zu tun, das dort möglich gewesen ist. Das ermöglichte uns in der Soziologie – die Soziologie war damals, als ich anfing, ja noch eine im Aufbau begriffene Wissenschaft – eine Spezialisierung, die anderswo nicht möglich gewesen wäre.

Büssem: Sie haben sich neben Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit ja auch schon sehr früh um sozialpolitische Fragen gekümmert. Man könnte Sie daher auch als eine Art Missionar bezeichnen, denn "Professor" heißt ja eigentlich auch "Bekenner". Sie haben sich schon sehr früh mit dem Problem beschäftigt, daß unsere Gesellschaft überaltert ist. In diesem Frühjahr kam nun erneut ein Buch von Ihnen zu diesem Thema heraus, das den Titel trägt "Schrumpfende Gesellschaft". Trifft es zu, daß Sie da so ein Gefühl von Mission entwickelt haben?

Kaufmann: Eigentlich war es umgekehrt. Nachdem ich meine Dissertation geschrieben hatte, die nun in der Tat zufällig auf das Thema der Überalterung abgehoben hatte, und ich mich aus diesem Grund damals sehr intensiv mit bevölkerungswissenschaftlichen Fragen beschäftigt habe, wollte ich 40 Jahre lang von diesem Thema eigentlich nicht mehr viel wissen. Ich war also eigentlich immer eher auf der Flucht vor diesem Thema – zumal in Deutschland die Bevölkerungswissenschaft ja fast nicht existent gewesen ist und so auch die wechselseitige Anregung nur sehr bescheiden war. Ich habe mich also immer eher für neue Themen interessiert. Als dann aber in den letzten Jahren diese demographischen Fragen so langsam an die Oberfläche gekommen sind, dies meiner Ansicht nach jedoch zu einseitig bezogen auf das Thema "alte Menschen", habe ich mich veranlasst gesehen, diesen anderen Aspekt, nämlich den Aspekt des Bevölkerungsrückgangs, den ich für den eigentlich problematischen Aspekt halte, in den Vordergrund zu stellen.

Büssem: Es steht also bei Ihnen nicht das Problem der Überalterung der Gesellschaft im Mittelpunkt, sondern eher das Problem, daß es zu wenig junge Menschen gibt.

Kaufmann: Genau.

Büssem: Was bedeutet das nun aber genau? Denn eigentlich könnte man ja auch argumentieren, daß das doch auch sein Gutes hätte: Wenn die Bevölkerung abnimmt, dann könnte das doch durchaus ökologische und andere Vorteile haben.

Kaufmann: Das denkt man so. Inzwischen gibt es, was die Ökologie betrifft, ziemlich genaue Untersuchungen, die zeigen, daß sich aufgrund der Tatsache, daß die Bevölkerung zurückgeht, keineswegs automatisch die ökologischen Probleme entschärfen. Zumal ein Bevölkerungsrückgang ja in der Regel vor allem eine Ausdünnung des flachen Landes bedeutet. In Deutschland betrifft das vor allem die neuen Bundesländer. Die Städte, in denen es hauptsächlich die ökologischen Probleme gibt, wachsen jedoch nach wie vor. Sie werden erst ganz zuletzt schrumpfen. So gesehen ist also das ökologische Argument kein starkes Argument. Warum es so schwierig ist, dieses Problem der Bevölkerung klar zu machen, liegt daran, daß jeder diese Dinge aus seiner eigenen Perspektive sieht. Demgegenüber ist aber die Demographie eine ganz abstrakte Wissenschaft: Die Bevölkerung, was ist das eigentlich? Eigentlich ist das ja nur ein statistisches Konstrukt. Und deshalb ist es auch nur wenig sinnvoll, wenn manche Kulturschaffende auf die Idee kommen, statt im Namen des "deutschen Volkes" im Namen der "deutschen Bevölkerung" an den Bundestag zu schreiben oder zu appellieren. Denn "Bevölkerung" ist ein statistischer Begriff, der sich an den jeweiligen politischen Einheiten orientiert: an den Gemeinden, an den Ländern, am Bund, an Europa u.s.w. Man kann überall Bevölkerungen konstruieren: Sie werden aber eben nur durch diesen Umstand geschaffen, daß wir voraussetzen, daß hier auch eine gewisse Solidarität vorhanden ist. Erst dann wird die Bevölkerung etwas Wirkliches. Das geschieht natürlich in erster Linie durch politische Zusammenhänge, z. B. durch ein Bundesland, durch die Bundesrepublik Deutschland oder neuerdings durch die Europäische Union. Die Frage ist nun: Welche Konsequenzen hat es, wenn sich die Zusammensetzung der Bevölkerung ändert? Das deutlichste Moment ist natürlich die Rentenversicherung: Bei diesem Thema hat das inzwischen jeder verstanden. Wenn wir immer mehr alte Menschen haben, aber nicht genügend junge Menschen nachwachsen, dann sitzen – bildlich gesprochen – immer mehr Alte als Last auf den Schultern der immer weniger werdenden Berufstätigen. Das ist eines der zentralen Momente bei dieser Frage. Das ist aber keineswegs der einzige Punkt dabei.

Büssem: Wie kann man es nun schaffen, daß in Deutschland die Kinderfreundlichkeit wieder steigt, daß die Bevölkerung wieder in ausreichendem Maße Kinder bekommt? Zwei Kinder pro Frau wären doch, wie ich glaube, die für unsere Gesellschaft richtige Reproduktionsrate. Wie könnte das erreicht werden?

Kaufmann: Vielleicht darf ich vorher doch noch das andere Thema etwas weiter ausführen: Warum ist ein Bevölkerungsrückgang problematisch? Das Wirtschaftswachstum hatte im 19. und im 20. Jahrhunderte im Wesentlichen drei Gründe: Vor allem im 19. Jahrhundert war dafür ursächlich die Entdeckung neuer Gebiete und neuer Rohstoffe, das gibt es z. T. bis heute noch. Der zweite Grund war der technische Fortschritt und der dritte Grund das Bevölkerungswachstum. In dem Maße, in dem das Bevölkerungswachstum wegfällt und die Entdeckung neuer Gebiete eigentlich keine große Rolle mehr spielt, wird der technische Fortschritt zur einzigen Quelle des Wachstums. Wir haben nun aber in der Bundesrepublik sogar einen Bevölkerungsrückgang. Der deutet sich jetzt zwar erst an, aber in Wirklichkeit, wenn man nur die Geburten und Todesfälle nimmt, schrumpft die deutsche Bevölkerung bereits seit 1972. Das konnte bis jetzt durch die Zuwanderung in den letzten Jahrzehnten wenigstens numerisch ausgeglichen werden. Aber das Numerische ist natürlich nicht alles und deshalb ist auch die Bevölkerungswissenschaft eigentlich ein zu kurz greifendes Analyseelement. Es kommt ja nicht darauf an, wie viele Köpfe in der Bundesrepublik leben, sondern es kommt darauf an, was in diesen Köpfen steckt. Und deshalb muß man dieses Thema eigentlich unter dem Gesichtspunkt des so genannten Humanvermögens oder Humankapitals, wie die Ökonomen sagen, angehen. Was ist aber das Humanvermögen? Das ist die Gesamtheit aller Fähigkeiten, die die Menschen eines Landes haben –bzw. die Menschen einer irgendwie sich solidarisch fühlenden Einheit. Und das Schöne an diesem Begriff ist ja: "Ich vermag etwas! Ich habe ein Vermögen, auch als Individuum!" Aber man kann dieses Vermögen eben auch auf alle Menschen gemeinsam beziehen. Es geht also um die Fähigkeiten der Menschen. Und wenn wir heute fragen, ob der Bevölkerungsrückgang, ob insbesondere der Geburtenrückgang problematisch ist, dann müssen wir sagen, daß er besonders deshalb problematisch ist, weil wir für die Qualifizierung der einmal Geborenen nicht mehr tun, als wir tun. Man könnte nämlich das Humanvermögen auch dadurch vergrößern, daß man in den Nachwuchs mehr investiert, daß man insbesondere in diejenigen investiert, die von Natur aus oder vom familiären Hintergrund her nicht so gute Entwicklungschancen haben.

Büssem: Das heißt doch eigentlich, daß es gar nicht so sehr auf die Zahl der Kinder ankommt, sondern viel mehr darauf, wie die vorhandenen Kinder ausgebildet und erzogen werden. Finden Sie denn, daß in der Beziehung in der Bundesrepublik genug geschieht? Die PISA-Studie hat uns ja, was das betrifft, kein sehr gutes Zeugnis ausgestellt.

Kaufmann: Das trifft zu und es trifft außerdem zu, daß die Bildungsaufwendungen in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich relativ bescheiden sind. Es gibt jetzt eine neue Studie, die zeigt, daß die Bildungsaufwendungen in der Bundesrepublik zu 95 Prozent bloße Reinvestitionen sind und nur etwa 5 Prozent tatsächliche Zusatzinvestitionen in das Humanvermögen der Menschen. Das ist wirklich bedenklich – vor allem dann, wenn man berücksichtigt, daß es immer weniger Kinder gibt.

Büssem: Wie bedeutet das: 95 Prozent Reinvestitionen? Geht es da um die Erhaltung der Schulgebäude u.s.w.?

Kaufmann: Nein, da geht es um die Erhaltung des Gesamtvolumens des Humankapitals. Wir müssen uns das jetzt wie eine Humankapitalrechnung vorstellen, das ist genauso wie beim Sachkapital. Wenn ich hier gleich eine Anmerkung machen darf: Schätzungen zeigen, daß das Humankapital für die Zukunft der Wirtschaft genauso wichtig ist wie das Sachkapital. Beides ist in der Bundesrepublik etwa gleich groß. Aber vom Humankapital spricht eben keiner. Wenn dieses Humankapital schrumpft, und es schrumpft insofern, als zunehmend weniger Kinder geboren werden, als das für die Ersetzung der erwerbstätigen Bevölkerung notwenig wäre, dann ist das wie eine Desinvestition zu behandeln.

Büssem: Was ist denn Ihrer Meinung nach im Bildungssektor nötig? Mehr Investitionen? Reformen? Ganztagesschulen? Mehr vorschulische Erziehung? Wo sehen Sie die Hauptfehler?

Kaufmann: Für Deutschland liegen die größten Mängel wahrscheinlich im Bereich der Früherziehung. Gerade die neueren Ergebnisse der Hirnforschung weisen ja darauf hin, wie wichtig die ersten Lebensjahre für die Entwicklung des Menschen sind. Das heißt natürlich auch, es geht hier nicht nur um die Schule, sondern es geht genauso um die Familie, es geht also insgesamt um die Zuwendung, die Kinder bekommen. Bei Kindern, die nicht genügend Zuwendung bekommen, entwickelt sich das Gehirn nicht so, wie es sein könnte. Das muß man eben auch deutlich sehen. Dieses ganze Problem besteht also darin, wie wir unserem Nachwuchs lebenswerte Bedingungen schaffen, in denen er so heranwachsen kann, daß er später einmal als erwachsener Mensch ein brauchbarer Bürger, ein Vater oder eine Mutter und eine brauchbare Arbeitskraft wird. Denn es sind ja diese drei Dinge, die man hier sehen muß: Man sollte also nicht immer nur an die Arbeitskräfte denken. Und deshalb sprechen wir im fünften Familienbericht auch von Humanvermögen und nicht von Humankapital. Beispielsweise das Vermögen, Kinder zu erziehen, Menschen trösten zu können, Menschen Zuwendung schenken zu können u.s.w. gehört genauso zu den Fähigkeiten mit dazu, die für eine Gesellschaft wichtig sind. Das ist genauso wichtig wie die Fähigkeit, sich am politischen Leben zu beteiligen.

Büssem: Sie haben es bereits angedeutet: Es käme also darauf an, daß in der Schule das Defizit ausgeglichen wird, das in vielen Familien existiert, weil sich die Eltern nicht richtig um ihre Kinder kümmern. Aber ist es überhaupt möglich, daß da in der Schule etwas aufgeholt und ausgeglichen wird?

Kaufmann: Es wäre ganz sicher möglich, natürlich ist es leichter, wenn die Voraussetzungen vom Elternhaus her bereits vorhanden sind. Dafür müßten die Schulen allerdings ganz anders konstruiert werden. Zum Beispiel in den Niederlanden und auch in einigen anderen Ländern ist es nahezu selbstverständlich, daß jede Schule einen Psychologen und einen Sozialarbeiter hat. Die gehören sozusagen zum Steuerungsgremium in einer Schule mit dazu, denn sie arbeiten mit den Lehrern zusammen: Sie sind an allen Konferenzen beteiligt und können also all diese nicht unmittelbar fachlichen Aspekte mit in das Gesamte hineinbringen. Sie können u. U. auch einmal Familien besuchen, mit den Eltern sprechen u.s.w., wenn es irgendwo entsprechende Schwierigkeiten geben sollte. In Deutschland hat man jedoch den Eindruck, daß sowohl von der akademischen Ausbildung wie auch vom Selbstverständnis her – es gibt natürlich lobenswerte Ausnahmen – die Lehrer sich doch im Wesentlichen als Fachlehrer verstehen und nicht als Erzieher. Und genau dieses Moment, daß die Schule ein Lebensraum sein sollte - in den skandinavischen Ländern wird das z. B. sehr stark so gesehen -, ist in Deutschland überhaupt nicht selbstverständlich.

Büssem: Wie erklären Sie es sich eigentlich, daß in der politischen Diskussion in Deutschland über genau diese inhaltlichen Fragen eigentlich nicht diskutiert wird? Stattdessen wird nur darüber diskutiert, ob sich nun vor allem der Bund oder vor allem die Länder um die Bildung kümmern sollen, dürfen, müssen. Ist hier der deutsche Föderalismus ein unseliger Föderalismus in der Hinsicht, daß bei uns jeder macht, was er will, und man sich – beraten von Pädagogen und Wissenschaftlern und belehrt durch das Beispiel anderer Länder – nicht darauf einigt, wie man das Schulwesen eigentlich organisieren müßte? Denn für die Zukunft ist das doch das Wichtigste.

Kaufmann: Das ist eine ganz zentrale Aufgabe, vor der die Bundesrepublik gerade steht. Ich kann Ihnen nur Recht geben: Hier hat sich der Föderalismus bisher als Hemmschuh erwiesen. Denn sehr häufig haben in der Tat Kompetenzstreitigkeiten eine sehr viel größere Bedeutung als das, was tatsächlich geschieht bzw. geschehen müßte. Verschärft wird dieses Problem des Föderalismus noch dadurch, daß die Länder vermutlich diejenige politische Ebene darstellen, die den Gürtel sozusagen am engsten schnallen muß, die also die geringsten Reserven hat. Aber gerade dieser Ebene obliegt nun in den Landeshaushalten der riesige Brocken, der das Bildungswesen ausmacht.

Büssem: Sie sind ja in vielen politischen Beratungsgremien gewesen: in Nordrhein-Westfalen und auch im Bund. Haben Sie denn den Eindruck, daß die Politik Ihre Kritik und Anregungen überhaupt aufnimmt und dieses Problem ernst nimmt?

Kaufmann: Die Politik gibt es in diesem Sinne natürlich nicht. Stattdessen sind das immer einzelne Personen und unter denen gibt es durchaus einige, die sensibel für diese Dinge sind. Ich meine, daß z. B. auch die letzte Familienministerin durchaus viel Sinn für die Zusammenhänge zwischen Politik und Gesellschaft hatte, denn dies war bisher noch selten der Fall gewesen. Sie hat z. B. lokale Bündnisse für die Familie angestoßen, betriebliche Bündnisse für die Familie u.s.w. Das halte ich in der Tat für sehr innovative und vielversprechende Formen. Denn der Staat bzw. die Politik kann das nicht alleine richten. Es hängt nämlich auch sehr viel davon ab, wie sich die Wirtschaft gegenüber Eltern verhält: ob man beispielsweise bereit ist, es jungen Menschen über das Mittel der Flexibilisierung der Arbeitszeit, über das Einräumen von Zeitsouveränität zu ermöglichen, Familienarbeit und Berufstätigkeit miteinander zu verbinden.

Büssem: Wenn Sie nun sozusagen Ihre Rolle wechseln könnten und Politik betreiben dürften bzw. müßten, die gerade die schulische Ausbildung verbessert: Können Sie sich vorstellen, daß man ein Konzept entwickeln kann, das in dieser Hinsicht wirklich tragfähig ist?

Kaufmann: Ich glaube nicht, daß man irgendein Konzept machen und das dann einfach so umsetzen könnte. Nein, man muß Visionen erarbeiten, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln sollen. Man muß dann ganz langsam und schrittweise versuchen, die realen Verhältnisse in diese Richtung weiterzuentwickeln. Und wenn ich eine solche Vision zu formulieren hätte, dann würde ich doch wieder auf das vorhin bereits erwähnte Stichwort von der Schule als Lebensraum zurückgreifen: Die Schule sollte ein Lebensraum sein, ein Lebensraum, der allerdings nicht abgeschottet von den Familien ist, sondern ein offener Lebensraum, der auch in die Gemeinden hinein offen ist. Ich kann mir z. B. vorstellen, daß in diesem Lebensraum noch viel stärker als heute auch Laien bestimmte Aufgaben übernehmen könnten, daß die Schüler in die ortsansässigen Betriebe gehen könnten u.s.w. All das sind Dinge, die natürlich nicht mein Spezialgebiet sind, die aber von Pädagogen seit langem vorgeschlagen werden. Man muß letztlich immer von den Kindern her denken: Was brauchen Kinder? Kinder sind neugierig, Kinder wollen neue Erfahrungen machen. Und wenn sie diese Erfahrungen nicht machen können, dann entwickeln sie sich nicht so gut.

Büssem: Besteht das Dilemma im Augenblick nicht darin, daß man zwar über die Renten, über die Steuern u.s.w. spricht, daß es jedoch ein wirkliches Programm für all diese Dinge nicht gibt? Kennedy hatte z. B. damals dieses Programm mit der Mondlandung, Roosevelt hatte das Programm mit dem Namen New Deal. Sollte man sich nicht endlich darum bemühen, Einigkeit herzustellen über ein Ziel, das man erreichen möchte, und dann daran zu arbeiten? Denn solche Dinge werden in der Politik ja gar nicht wirklich diskutiert.

Kaufmann: Das stimmt sicherlich. Überhaupt scheint mir in der deutschen Politik eine gewisse depressive Stimmungslage vorzuherrschen, die einer Reformbereitschaft natürlich nicht sonderlich förderlich ist.

Büssem: Wir haben nun darüber gesprochen, daß die Ausbildung, daß das Humanvermögen der Kinder eine wichtige Rolle spielt. Aber wenn die Zahlen nicht stimmen, wenn auf numerischem Gebiet große Probleme vorhanden sind, wenn es also einfach nicht genügend Kinder gibt, dann ist das Humanvermögen eines Tages auch erschöpft. Wie könnte man die Bereitschaft der Menschen anregen, mehr Kinder zu bekommen? Durch Geburtsprämien? Haben Sie da bestimmte Vorstellungen? Gibt es Erfahrungen aus anderen Ländern, in denen das besser funktioniert?

Kaufmann: Das einzige Land, das es geschafft hat, einen jahrzehntelangen Geburtenrückgang – man kann fast sagen, dieser Geburtenrückgang ging über ein ganzes Jahrhundert – wirklich umzuwenden, war Frankreich. In Frankreich gab es zunächst einmal soziale Bewegungen, die sich für die Familie eingesetzt haben. Es gab dabei zwei Strömungen. Die eine war eine sehr stark nationalistische Strömung, die sagte: "Wir brauchen mehr Kinder, damit wir mehr Soldaten haben, damit Frankreich seine Macht nicht verliert!" Die zweite Strömung speiste sich vor allem aus christlichem Gedankengut. Diese Strömung bemühte sich vor allem um gute Familienverhältnisse. Diese beiden Motive, die sich zunächst einmal recht unabhängig voneinander entwickelt haben, haben dann in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zusammengefunden, um ein politisches Klima zu schaffen, in dem klar wurde, daß sich der Staat um die Familie kümmern muß. Und 1938 wurde dann der so genannte "code de la famille" verabschiedet, ein groß angelegtes Gesetzeswerk, das sowohl zivilrechtliche wie sozialrechtliche Dinge umfasste. Dieser Code wurde nicht sofort in die Wirklichkeit umgesetzt, weil der Zweite Weltkrieg ausbrach. Er entfaltete dann seine Wirkung erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich glaube schon, daß gerade dieser Schock des Zweiten Weltkriegs den Franzosen auch die notwendige Energie gegeben hat, um ihre Mentalität zu ändern. Und in der Tat gab es dann nach dem Zweiten Weltkrieg einen Geburtenaufschwung in Frankreich. Dieser wurde dann noch weiter durch familienpolitische Maßnahmen unterstützt, die damals freilich noch viel stärker waren als heute, wenn man das in der Relation zum gesamten Sozialbudget sieht. Dies hatte jedenfalls damals erstaunliche Erfolge.

Büssem: Was ist denn das Geheimnis dieses Erfolges? Was hat man in Frankreich genau gemacht, damit sich die Familien wieder für Kinder entschieden haben?

Kaufmann: Das Entscheidende war der Mentalitätswandel, das Entscheidende waren nicht die politischen Maßnahmen. Das ist auch genau das Problem. Ich glaube, wir müssen erst irgendeine Katastrophe erleben, bevor sich in Deutschland etwas bewegt.

Büssem: Nun gibt es ja auch eine erhebliche Zahl von Menschen, die keine Kinder bekommen, weil sie dann keine Karriere machen können bzw. Arbeit und Erziehung nicht miteinander verbinden können. Hier könnte man doch Rahmenbedingungen schaffen, die das besser möglich machen würden, so daß darüber ein Mentalitätswechsel eingeleitet würde.

Kaufmann: Das kann man in der Tat tun. Es gibt in Deutschland mehrere Aspekte des gesellschaftlichen Lebens, die der Entwicklung von Familien eigentlich abträglich sind. Erstens ist es so, daß es ein zunehmendes Auseinanderdriften von Familien und Kinderlosen gibt: So etwas gibt es neben der Bundesrepublik eigentlich nur noch in Österreich. Das gibt es also interessanterweise nur im deutschsprachigen Raum. Der deutschsprachige Raum ist übrigens auch der einzige Raum Europas, in dem die Halbtagsschule und die Halbtagsbetreuung dominant sind. Es sieht also fast so aus, als ob man im deutschsprachigen Raum den Familien mehr Lasten zumutet, als man ihnen – relativ gesehen – in anderen Ländern zumutet. Das wäre ein Aspekt der ganzen Geschichte. Ein zweiter Aspekt bezieht sich auf die Folgen, die das für die Rentenversicherung hat. Es gibt in Deutschland eine zunehmende Polarisierung zwischen Kinderlosen und Menschen, die Elternverantwortung übernehmen. Typischerweise gibt es in Deutschland nur wenige Ein-Kind-Familien: Es gibt viel mehr Zwei-Kinder-Familien und kinderlose Familien. In Italien und in einigen anderen Ländern ist es hingegen so, daß sozusagen der Kompromiß, der sich aus den veränderten Umständen ergibt, auf die Ein-Kind-Familie hinausläuft. Das spricht dafür, daß es in Deutschland für Frauen besonders schwierig ist, ihre Karrierevorstellungen mit der Übernahme von Mutterschaft verbinden zu können.

Büssem: Es gibt ja jetzt die Diskussion, daß in Zukunft Kinderlose weniger Rente bekommen sollen als Erziehende. Halten Sie so etwas für richtig oder erfolgversprechend? Oder ist auch das nur ein Herumdoktern an Symptomen?

Kaufmann: Wenn man das ernst nehmen würde, dann könnte man damit durchaus bewußtseinsbildend wirken. Wir müssen uns nämlich klar machen, daß es eigentlich nur zwei Formen gibt, für die Zukunft vorzusorgen: entweder man zieht Kinder groß oder man investiert wirtschaftlich. In beiderlei Hinsicht hat Deutschland in den letzten 30 Jahren weniger getan als die meisten anderen Länder. Man kann z. B. die Schätzung aufstellen, daß die Geburtenausfälle, die wir zwischen 1972 und 2000 hatten, ein Humanvermögen von ungefähr 2,5 Billionen Euro ausmachen, die nicht investiert worden sind. Man muß dabei sehen, daß das gesamte Sachvermögen in der Bundesrepublik irgendwo in der Gegend von 10 Billionen Euro liegen dürfte.

Büssem: Das ist ein interessanter Vergleich.

Kaufmann: Das sind natürlich massive Investitionslücken, die hier entstanden sind und mit denen wir in den nächsten Jahrzehnten irgendwie werden umgehen müssen.

Büssem: Das Dumme ist ja nur, daß sich das alles immer erst ein paar Jahrzehnte später auswirkt. Wenn ich noch einmal zusammenfassen darf: Sie glauben also, daß das Fehlen der Ganztagsschule ebenso wie die steuerliche Behandlung der Familie eine Rolle spielt auf diesem Gebiet. Würde man das ändern, könnte man eventuell auch die Mentalität der Menschen in Deutschland ändern. Denn eigentlich ist es ja schon so, daß die meisten Menschen gerne Kinder hätten. Sie können es aber nicht, weil die Umstände so sind, wie sie sind.

Kaufmann: Ja, und teilweise passen sie deswegen auch bereits ihre Erwartungen an. Denn das ist ebenfalls ganz interessant. Bis vor etwa zehn, womöglich sogar noch bis vor fünf Jahren gab es bei Meinungsfragen immer folgendes Bild: Wenn man jungen Menschen die Frage stellte, wie viele Kinder sie eigentlich gerne haben möchten, dann bekam man in der Bundesrepublik Antworten, die zusammengenommen bei einem Durchschnitt von 2 bis 2,2 Kindern lagen. Der Wunsch nach Kindern war also so groß, daß sich unsere Gesellschaft, wenn all diese Kinder tatsächlich auf die Welt gekommen wären, ziemlich genau reproduzieren würde. Dies wäre dann in der Tat ein ausreichendes Maß an Geburten gewesen. In verschiedener Hinsicht wäre es zwar wünschenswert, wenn es sogar ein kleines Wachstum der Bevölkerung geben würde, aber politisch und gesellschaftlich wäre eine Geburtenrate, die deckungsgleich mit diesen Wünschen gewesen wäre, sicherlich unproblematisch gewesen. Nun ist es aber so, daß seit kurzem bei den Umfragen dieser Durchschnittswert auf ein 1,7 Kinder heruntergegangen ist. Das heißt, jetzt haben sich sogar schon die Erwartungen angepaßt: Es gibt also zunehmend mehr junge Frauen und Männer, die offen sagen: "In meinem Lebensplan haben Kinder keinen Platz mehr!" Das ist ein neues Phänomen, ein Phänomen, das tatsächlich die Alarmglocken schrillen lassen sollte.

Büssem: Hinsichtlich des Wunsches, Kinder in die Welt zu setzen, spielt natürlich auch die allgemeine wirtschaftliche Lage eine Rolle. Wenn man nur noch auf Zeit angestellt wird, wenn man immer damit rechnen muß, arbeitslos zu werden, dann hat man wohl nicht gerade viel Motivation, Kinder in die Welt zu setzen. Früher war das ja nicht so: Früher kamen die Kinder auch dann auf die Welt, wenn die Zeiten schlecht waren. Glauben Sie, daß die geringe Geburtenrate bei uns auch mit der allgemeinen Depression in Deutschland zusammenhängt? Wie erklären Sie das als Soziologe?

Kaufmann: Interessanterweise hängt das eigentlich nicht zusammen. Denn als es diesen großen Geburtenrückgang zwischen 1965 und 1974 gegeben hat, boomte die Wirtschaft ja. Seit 1974/75 gibt es eigentlich ziemlich konstant nur noch so ungefähr 1,4 Kinder im Durchschnitt pro Frau. Das sind also nur ungefähr zwei Drittel dessen, was wir eigentlich bräuchten. Das ist ein ziemlich konstanter Wert, der sich recht unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung in diesen drei Jahrzehnten gezeigt hat. Auch in jüngster Zeit kann man nicht sagen, daß die Geburtenrate herunter gegangen wäre. Das ist doch ein recht überraschendes Phänomen, das so eigentlich nicht unbedingt zu erwarten wäre.

Büssem: Das Problem besteht ja darin, wie man in der Politik einen solchen Mentalitätswandel vorantreiben bzw. verstärken könnte, es ist ja so, daß die älteren Wähler Programme, die ihnen Nachteile bringen könnten, nicht unbedingt mit Begeisterung unterstützen werden, und die jungen Wähler sind an dieser Problematik vielleicht gar nicht interessiert. Politiker wollen aber gewählt werden und werden deshalb genau dieses Problem nur widerwillig anpacken. Wie kann man denn aus dieser Zwickmühle herauskommen?

Kaufmann: Es ist richtig, daß Familien keine Lobby haben, wie man das einmal ausgedrückt hat, und daß sich auch die Familien selbst nur schwer politisch organisieren lassen. Es gab ja im Bereich der älteren Mitbürger immerhin schon mal die Grauen Panther, aber eine vergleichbare starke Familienbewegung hat es in Deutschland nie gegeben. Irgendwie ist das aber auch ganz gut so. Ich bin deshalb auch kein begeisterter Verfechter des Familienwahlrechts. Ich hätte zwar nichts dagegen, insofern alleine schon diese Forderung bewußtseinsbildend wirken kann. Ich bin aus folgendem Grund aber nicht so sehr dafür. Würde man das machen, dann würde das bedeuten, daß man sagt: "Eigentlich sind die Familien auch nur eine von vielen Interessengruppen, die es in der Gesellschaft gibt, genauso wie die Gewerkschaften oder die Arbeitgeber oder meinetwegen auch die Rentner!" Aber das Problem ist doch viel ernster: Es ist einfach so, daß die Familie einer der wichtigsten Investoren unserer Gesellschaft ist, und zwar ein Investor, den die normale Ökonomie überhaupt nicht sieht. Die Tatsache, daß sich unsere Ökonomen überhaupt nicht darum kümmern, was in den privaten Haushalten geschieht, daß sie meinen, die Marktwirtschaft sei die ganze Wirtschaft, zeugt von einer Verengung der Perspektive auf Seiten der Ökonomen, die äußerst gravierend ist. Selbst eine Beratungsagentur wie Goldman Sachs in den USA, die ja eine der bekanntesten Beratungs- und Rating-Agenturen ist, schüttelt den Kopf über die deutschen Ökonomen, weil sie überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, welche Bedeutung die schrumpfende Bevölkerung in wirtschaftlicher Hinsicht für die Zukunft Deutschlands hat.

Büssem: Wie sehen Sie denn die Zukunft dieses Problems? Glauben Sie, daß sich da jetzt aufgrund der großen Koalition und anderer Entwicklungen etwas ändert? Oder sind Sie doch eher pessimistisch?

Kaufmann: Nun, pessimistisch wäre vielleicht etwas zu viel gesagt. Es kann sich durchaus etwas ändern. So weit ich sehe, ist vor allem auch unser neuer Bundespräsident an dieser Frage interessiert. Er hat erst vor kurzem dazu in Berlin eine Rede gehalten. In seiner ersten Rede im Bundestag hat er dieses Thema ebenfalls angesprochen. Ich glaube, daß wir hier wirklich ein wichtiges Sprachrohr haben. Auch das Bundesverfassungsgericht übt ja in seinen Entscheidungen bereits seit langem immer wieder Druck auf die Politik aus, damit sie den Menschen, die Elternverantwortung übernehmen, und den Kindern endlich gerecht wird, daß jedoch gleichzeitig in den internen Machtzentren der politischen Kreise dieses Thema wenig Resonanz findet, weil es kaum Stimmen verspricht, ist allerdings auch nicht zu bestreiten.

Büssem: Um die Breite Ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung aufzuzeigen, würde ich nun ganz gerne auch über das Thema "Religion" mit Ihnen sprechen. Sie haben nämlich auch über Religionssoziologie gearbeitet. Ihr Kollege, der Theologieprofessor Ahrens, hat Sie einmal sogar eine Koryphäe der Religionssoziologie genannt. Sie kritisieren ja den Reformstau bzw. den Reformunwillen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. In gewisser Weise machen Sie das hinsichtlich der Kirche genauso. Auch dort gibt es Ihrer Ansicht nach so etwas wie einen Reformstau. Worauf bezieht sich das?

Kaufmann: Ob das Problem der Kirchen nur als ein Problem der Reform oder der Reformen aufzufassen ist, da bin ich mir nicht so ganz sicher. Tatsache ist, daß die Auseinandersetzung mit Schicksalsschlägen, mit dem Sinn des Lebens, mit der Frage nach der Berufung des Menschen in einer eher allgemeinen Weise u.s.w. heute nicht etwa abgestorben ist oder beendet wäre. Nein, diese Auseinandersetzung läuft heute lediglich in ganz anderen Formen ab: Diese Fragen werden heute einfach nur anders gestellt, als sie in den herkömmlichen Selbstverständnissen der Kirchen dargestellt werden. Wenn die Kirchen heute immer noch sehr stark auf Strukturen setzen, wenn sie glauben, daß das alles per Strukturreform zu verändern und zu bewältigen sei, dann paßt das nicht mit den Erwartungen der Menschen zusammen. Es ist nämlich heutzutage ganz deutlich zu spüren, daß sich die Jüngeren, wenn sie sich solche Fragen stellen, nicht an eine exklusive Glaubens-"Agentur" wenden. Stattdessen sind sie der Meinung, daß alle irgendwie ähnliche Fragen, ähnliche Probleme haben: egal ob man nun Christ, Buddhist, Moslem u.s.w. ist. Die Jüngeren sehnen sich geradezu nach einer Art Weltreligion oder nach einer Art Weltethos. Hans Küng hat hier sicherlich einen wichtigen Topos aufgebracht, der tatsächlich Resonanz erzeugt. Wir haben ja vorhin festgestellt, daß in der Politik die herrschenden Strukturen doch relativ resistent sind gegenüber irgendwelchen Visionen und Leitbildern. Ganz ähnlich ist das eben auch im Bereich der Religion: Vision und Leitbilder lassen sich nicht so ohne weiteres auf die Strukturen abbilden.

Büssem: Sie heben ja darauf ab, daß die Kirche in der Kurie zu bürokratisiert ist, auch daß die Bischöfe z. B. nicht gewählt werden, sondern vom Papst bestimmt werden. Wäre es eine Aufgabe für den jetzigen Papst, das zu ändern – obwohl er gerade aus dieser traditionellen Haltung kommt?

Kaufmann: Sie sprechen damit natürlich nur die katholische Kirche an, der ich selbst auch angehöre. Insofern habe ich mich auf diesem Gebiet auch sicherlich öfter zur katholischen Kirche geäußert als zur evangelischen Kirche. Es gibt ganz bestimmt eine besondere Spannung einerseits zwischen dem hierarchischen Selbstverständnis der katholischen Kirche und ihrer sehr stark organisatorisch-bürokratischen Grundvorstellung, die sich ja immer weiter fortsetzt, und andererseits unserer heutigen, stärker an einem Partizipationsmodell orientierten Haltung. Ich glaube in der Tat, daß es sehr zweckmäßig und auch im Interesse der katholischen Kirche wäre, wenn z. B. die Einsetzung von Bischöfen dezentralisiert und vom Geist der Mitbestimmung getragen würden. Es gab in den letzten Jahren ja bekanntlich nicht wenige sehr unglückliche Bischofsernennungen, bei denen ich mir sicher bin, daß man mit ihnen auch innerhalb der Kurie nicht so arg zufrieden gewesen ist. Früher war es ja so, daß der Bischof vom Volk per Akklamation angenommen worden ist. Gut, heute müßte man das vielleicht ein bisschen anders machen. Aber ich denke schon, daß es sinnvoll wäre, wenn einer nur dann Bischof werden kann, wenn er von seiner Diözese auch angenommen wird. Ein solches Moment hielte ich durchaus für eine sinnvolle Reform.

Büssem: Ich würde gerne weiter mit Ihnen diskutieren, aber wir sind leider am Ende unserer Sendezeit angekommen. Ich bedanke mich herzlich bei Ihnen, Herr Professor Kaufmann und ich bedanke mich auch bei Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, für Ihr Interesse. Ich hoffe, daß Sie uns wieder besuchen bei Alpha-Forum.


Zitate: Hubert Brune, 2005-2006 (zuletzt aktualisiert: 2009).

 

 

Von Franz-Xaver Kaufmann benutzte Quellen bzw. Literatur (Sekundärliteratur) u.a.:
- Birg, Herwig: Unterwegs zu einer philosophischen Demographie, 1990.
- Birg, Herwig: Die demographische Zeitenwende - Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, 2001.
- Borchert, Jürgen: Innenweltzerstörung - Sozialreform in die Katastrophe, 1989.
- Borchert, Jürgen: Renten vor dem Absturz - Ist der Sozialstaat am Ende?,  1993.
- Borchert, Jürgen: Der „Wiesbadener Entwurf“ einer familienpolitischen Strukturreform des Sozialstaats, 2003.
- Butterwegge, Friedrich: Sterben die weißen Völker?,  1934.
- Dorbritz, Jürgen: Europäische Fertilitätsmuster, 2000.
- Dorbritz, Jürgen: „Nur Tempoeffekte, aber kein Babyboom“ - BiB-Mitteilungen (25/2; S. 10-14), 2004.
- Dorbritz, Jürgen: Keine Kinder mehr gewünscht?  - BiB-Mitteilungen (25/3; S. 10-17), 2004.
- Felderer, Bernhard: Wirtschaftliche Entwicklung bei schrumpfender Bevölkerung, 1983.
- Felderer, Bernhard und Sauga, Michael: Bevölkerung und Wirtschaftsentwicklung, 1988.
- Goldscheid, Rudolf: Entwicklungswerttheorie, Entwicklungsökonomie, Menschenökonomie - Eine Programmschrift, 1908.
- Keynes, John Maynard: Some Economic Consequences of a Declining Population, 1937.
- Leipert, Christian (Hrsg.): Demographie und Wohlstand, 2003.
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- Mackenroth, Gerhard: Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, 1952.
- Mackenroth, Gerhard: Bevölkerungslehre - Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung, 1953.
- Miegel, Meinhard: Das Ende des Individualismus - Die Kultur des Westens zerstört sich selbst, 1993.
- Miegel, Meinhard: Die deformierte Gesellschaft, 2002.
- Müller, Albrecht: Die Reformlüge - 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denn Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren, 2004.
- Oswalt, Philipp: Schrumpfende Städte (Band 1), 2004.
- Pflüger, Friedbert: Ein neuer Weltkrieg?  Die islamische Herausforderung des Westens, 2004.
- Sauga, Michael und Felderer, Bernhard: Bevölkerung und Wirtschaftsentwicklung, 1988.
- Schirrmacher, Frank: Das Methusalem-Komplott, 2004.
- Schreiber, Wilfried: Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, 1955.
- Schultz, Theodore W.: Ökonomie der Familie: Heirat, Kinder und Humankapital, 1974.
- Schultz, Theodore W.: In Menschen investieren: Die Ökonomik der Bevölkerungsqualität, 1981.
- Tinbergen, Jan: Zur Theorie der langfristigen Wirtschaftsentwicklung, 1942.
- Wingen, Max: Die Geburtenkrise ist überwindbar: Wider die Anreize zum Verzicht auf Nachkommenschaft, 2004.
- Zimmermann, Klaus F.: Reformen - jetzt! So geht es mit Deutschland wieder aufwärts, 2003.
WWW.HUBERT-BRUNE.DE
- Literaturverzeichnis -