Erkenntnis
und Erkenntnislehre
(Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie) 
Erkenntnis
Erkenntnis bedeutet das Sichaneignen des Sinngehalts
von erlebten bzw. erfahrenen Sachverhalten, Zuständen, Vorgängen, mit
dem Ziel der Wahrheitsfindung. Erkenntnis heißt sowohl (ungenau) der Vorgang,
der genauer als Erkennen bezeichnet werden muß, als auch dessen Ergebnis.
Im Sinne der Philosophie ist Erkennen immer etwas als etwas erkennen,
so wie man z. B. sagt: Er hatte ihn als Lügner erkannt. In der
Erkenntnis ist also ein Beurteilen enthalten, das sich auf Erfahrungen stützt.
Wer nicht weiß, was ein Lügner ist und daß es Lügner gibt,
kann niemals einen Menschen als Lügner erkennen. In der Erkenntnis ist stets
auch ein Wiedererkennen enthalten. Neue, von innerer und äußerer Erfahrung
unabhängige Erkenntnisse können nur durch die schöpferische Phantasie
entstehen.Die Erkenntnis wird seit der griechischen Philosophie untersucht
nach den Gesichtspunkten von (objektiver) Quelle bzw. Herkunft, (subjektiver)
Fähigkeit, d. h. Vermögen dazu, Ziel und Zweck, Kennzeichen und Maßstäben,
Grenzen und Hindemissen (Aporien und Antinomien) in einer Erkenntnislehre, die
erst seit Kant
als philosophisches Sondergebiet unter dem Namen Erkenntnistheorie auftritt und
dann mitunter beinahe die ganze übrige Philosophie überwuchert. Seit
Leibniz
und Wolff
bedeutet Erkenntnis sowohl Prozeß als auch Ergebnis der spezifisch empirisch-wissenschaftlichen
Wahrheitsfindung. Kant unterschied in seiner Kritik der reinen Vernunft
(1781) die Prozesse bei der Erkenntnis (a) des Verstandes, (b) der Vernunft und
(c) der Sinne - alle drei müssen zusammenwirken, um die Erkenntnis im engeren
Sinne als systematisch geordnetes Wissen hervorzubringen. Schopenhauer
machte aus Kants drei Erkenntnisprozessen vier ( ).
Innerhalb der Erkenntnis wird unterschieden zwischen der (uneigentlichen) formalen
oder abstrakten Erkenntnis und der (eigentlichen) inhaltlichen oder konkreten
Erkenntnis. Diese zerfällt ihrerseits in so viele Erkenntnisarten, wie es
wichtige Sachgebiete gibt.
Subjekt | Objekt | | real | ideal (z.B.
Zahlen, geometrische Objekte, logische Begriffe und ihre Zusammenhänge) |
|
|
|
Bei
der Erkenntnis stehen sich Subjekt und Objekt als Erkennendes und Erkanntes gegenüber.
Das Subjekt erkennt, das Objekt ist erkennbar. Das Erkennen geschieht dadurch,
daß das Subjekt gleichsam in die Sphäre des Objekts hinübergreift
und es in seine eigene hereinholt, genauer dadurch, daß die Bestimmungsstücke
des Objektes an seinem, im Subjekt entstehenden Abbild wiederkehren. Auch dieses
Abbild ist objektiv, d.h. das Subjekt unterscheidet es, an dessen Aufbau es selbst
beteiligt ist, von sich selbst als ein Gegenüberstehendes. Das Abbild ist
nicht identisch mit dem Objekt, aber ihm kommt Objektivität zu.
Das Objekt ist unabhängig vom Subjekt. Es ist mehr als nur ein Gegenstand
der Erkenntnis und in diesem Mehr-als-bloßes-Objekt-Sein ist es das Transobjektive.
Neben dem Gegenstand-Sein besitzt das Objekt An-sich-Sein. Wird das Objekt unabhängig
von der Erkenntnisbeziehung gedacht, so wird es zum Ding. Das Subjekt aber kann
auch für sich selbst Subjekt sein, d.h. es kann ein Bewußtsein für
seine Fähigkeit des Erkennens haben, es besitzt über seine Eigenschaft
als eines Erkennenden hinaus noch ein Für-sich-Sein. Das An-sich-Sein des
Objektes bedeutet, daß neben dem am Objekt Erkannten noch ein unerkannter
Rest übrig bleibt. Die Tatsache, daß wir den Erkenntnisgegenstand nie
vollständig und ohne Rest, nie in der Fülle seiner Bestimmtheit erkennen
können, spiegelt sich wider in der Nichtübereinstimmung zwischen Objekt
und Abbild. Sofern das Subjekt von diesem Unterschied weiß, ergibt sich
das Phänomen des Problems, das den weiteren Erkenntnisvorgang mit Spannung
lädt und auf immer weitere Erkenntnisbemühungen drängt. Der Ausgleich
einer solchen Spannung liegt in der Richtung eines Erkenntnisprogresses, durch
den die Grenze zwischen dem, was bereits erkannt wurde, und dem, was erkannt werden
sollte, auf das Transobjektive hin verschoben wird. Der Erkenntnisdrang des Bewußtseins,
dessen Wirkung der Erkenntnisprogreß ist, ist ein fortschreitendes Sich-empfänglich-Machen
für die Bestimmthetlen des Objekts. Für den Erkenntnisdrang ist das,
was erkannt werden soll, unerschöpflich, für ihn ist es ein Unendliches.In
aller Erkenntnis stehen einander Erkennendes und Erkanntes gegenüber. Das
Gegenüber beider Glieder ist unaufhebbar und trägt den Charakter gegenseitiger
Ungescheidenheit oder Transzendenz. (Nicolai Hartmann
).
Zu
Erkennendes (Objiciendum) |
Unerkanntes (Transobjektives) |
Unerkennbares (Transintelligibles) | Vier
Schichten der Transzendenz gemäß Nicolai Hartmann
 |
|
Der
Erkenntnisprogreß findet seine Schranke an der selten verschiebbaren Grenze
der Erkennbarkeit. Dahinter beginnt das Unerkennbare, das Transintelligible (irreführend
oft das Irrationale genannt). Wie das Transobjektive in der verlängerten
Richtung des Erkannten liegt, so liegt innerhalb des Transobjektiven das Transintelligible
in der verlängerten Richtung des Erkennbaren (Nicolai Hartmann
).
Die Existenz des Transintelligiblen ist es, die den Erkenntnisvorgang nicht zur
Ruhe kommen läßt. Der Bereich des Transintelligiblen, dem An-sich-Sein
und Für-sich-Sein zugehören, ist das Medium, das den Wirkungszusammenhang
zwischen Objekt und Subjekt ermöglicht. In welcher Weise die Übertragung
der Bestimmungsstücke des Objekts auf das Subjekt erfolgt, ist im wesentlichen
unbekannt. Geht man aber davon aus, daß alles Seiende, da der gemeinsamen
Sphäre des Unerkannbaren angehörend, sich gegenseitig irgendwie bedingt
und bestimmt, bedenkt man ferner, daß das Subjekt das reaktionsfähigste
und empfindsamste unter allem Seienden ist, so ergibt sich, daß das ganze
System des Seienden vom Transobjektiven her über das Objekt und das Abbild
vor dem Subjekt in Erscheinung treten muß. Erkenntnis ist, so gesehen, ein
Wahrnehmen der dem Subjekt zunächst gelegenen Glieder der Beziehungen zwischen
Objekt und Subjekt.
Die Erkenntnisprinzipien, d.h. die Art und Weise, in der Erkenntnis
stattfindet, müssen also für alle Subjekte die gleichen sein.
Andererseits ergibt sich, z.B. aus der (innerhalb der bekannten Fehlerbereiche
möglichen) Berechenbarkeit physikalischer Vorgänge, daß
die Gesetze der mathematischen Logik (und somit die Gültigkeit apriorischer
Einsichten) die logisch-mathematische Sphäre überschreiten und
darüberhinaus Gültigkeit haben. Die Anwendung eines mathematischen
Satzes auf ein Naturgeschehen bedeutet ein Übergreifen der logischen
Sphäre auf die reale. Es gibt logische Zusammenhänge und Beziehungen,
die mit denen des Realen übereinstimmen. Die logische Sphäre
vermittelt demnach zwischen der Welt der Abbilder und der Welt des Realen.
Die Erkenntnisprinzipien sind also nicht nur für alle Subjekte dieselben,
sondern sie treten auch in der Welt der Objekte auf, und zwar als die
Kategorien. Erkenntnis
ist möglich, weil Erkenntniskategorien und Seinskategorien identisch
sind. Aber weder sind alle Erkenntniskategorien zugleich Seinskategorien,
noch sind alle Seinskategorien zugleich Erkenntniskategorien. Träfe
das erstere zu, so würden alle Erkenntnisse die reine Wahrheit zum
Inhalt haben, träfe das letztere zu, so wäre alles Seiende ohne
Rest erkennbar. Die Bereiche der Seins- und der Erkenntniskategorien decken
sich teilweise, und nur so ist es zu verstehen, daß sich das Naturgeschehen
nach mathematischen Gesetzen zu richten scheint: daß z.B. die Planetenbahnen
auch tatsächlich elliptisch sind. Seit dem Ende des 18.
Jahrhunderts wird Erkenntnis hauptsächlich mit Erfahrungs-Erkenntnis
der Naturwissenschaften gleichgesetzt, während Geisteswissenschaften
über die rationale Erkenntnis hinauszugreifen gezwungen sind.
In seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) unterschied Kant
die Prozesse bei der Erkenntnis der Sinne, des Verstandes und der Vernunft.
Alle drei müssen zusammenwirken, um die Erkenntnis im engeren Sinne
als systematisch geordnetes Wissen hervorzubringen. Alle unsere
Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande
und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres
in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauungen zu bearbeiten und
unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen. (Ders., Kritik
der reinen Vernunft, in: Werke in zwölf Bänden, S.
311). Gemäß Kant besteht die Erkenntnis aus Anschauungen
(Sinnlichkeit und Verstand) und Begriffen (Vernunft). Die
Erkenntnis durch Begriffe heißt diskursiv, die in
der Anschauung intuitiv; in der Tat wird zu einer Erkenntnis beides
miteinander verbunden erfordert, sie wird aber von dem benannt, worauf
als den Bestimmungsgrund desselben ich jedesmal vorzüglich attendiere.
(Ebd., Beilage, 2. Absatz, V 3, 156 f.). Als Hauptsatz des (seines!) Kritzismus
gilt daher auch: Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne
Anschauungen leer. Alle unsere Erkenntnis hat eine zwiefache
Beziehung: erstlich eine Beziehung auf das Objekt, zweitens
eine Beziehung auf das Subjekt. In der ersteren Rücksicht
bezieht sie sich auf Vorstellung, in der letzteren auf das Bewußtsein,
die allgemeine Bedingung aller Erkenntnis überhaupt. (Ebd.,
Einleitung, V). Alle Erkenntnisse, das heißt: alle mit Bewußtsein
auf ein Objekt bezogenen Vorstellungen sind entweder Anschauungen oder
Begriffe. (Ebd., Transzendentale Logik, § 1, IV, 98).
Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft arbeiten also während unserer
Erkenntnis zusammen, beziehen sich auf Objekt und Subjekt, auf Vorstellung
und Bewußtsein.
Sinnlichkeit
(gemäß Kant) |
Verstand
(gemäß Kant) |
Vernunft
(gemäß Kant) |
|
- V e r s u c h
e i n e r A n a l o g i s i e r u n g
- |
Ikone
(gemäß Semiotik) |
Indizes
(gemäß Semiotik) |
Symbole
(gemäß Semiotik) |
Auch gemäß Schopenhauer
( )
ist alles, was für die Erkenntnis da ist - also diese ganze Welt
- Objekt in Beziehung auf ein Subjekt, ist Anschauung des Anschauenden,
mit einem Wort: Vorstellung. Also: kein Subjekt ohne Objekt, kein Objekt
ohne Subjekt. Zum Bewußtsein, mit dem sich das Subjekt auf ein Objekt
bezieht, also Vorstellungen (Anschauungen [durch Sinnlichkeit und Verstand]
und Begriffe [durch Vernunft]) hat, fügte er das Selbstbewußtsein
hinzu (vgl. in der folgenden Tabelle).
Die
Erkenntnis, daß die Welt Vorstellung sei, genügte Schopenhauer nicht.
Wir fragen, ob diese Welt nichts weiter als Vorstellung sei, und was, wenn sie
noch etwas anderes ist. Wir erkennen nun: das als Individuum erscheinende Subjekt
des Erkennens findet als sein innerstes Wesen den Willen, und zwar aus der Erfahrung
seines Leibes; er ist auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: als Vorstellung,
als Objekt unter den Objekten, zugleich aber auch als das jedem unmittelbar Bekannte,
welches das Wort Wille bezeichnet. Also: Der Leib ist die Objektivation des Willens:
der Wille ist das Ansich des Leibes. Diese Erkenntnis ist der Schlüssel zum
Wesen jeder Erscheinung in der Natur; alle Objekte müssen ihrem inneren Wesen
nach dasselbe sein, was wir an uns Wille nennen. Der Wille ist das Ding
an sich, also ist er auch das innerste Wesen des Menschen. Raum und
Zeit allein sind es, mittels welcher das dem Wesen und dem Begriff nach Gleiche
und Eine doch als verschieden, als Vielheit neben- und nacheinander erscheint.
Der Wille als Ding an sich liegt außer allem Raum und aller Zeit, wie auch
außer aller Kausalität: er ist grundlos, ursachlos, ziellos und erkenntnislos.
Sobald er sich der objektiven Erkenntnis darstellt, zeigt er sich in Raum und
Zeit dem Individuationsprinzip (principium inidividuationis) unterworfen
und wird dadurch Wille zum Leben. Die durch Raum und Zeit bestimmten Objekte (Vorstellungen)
betrachtet die Wissenschaft am Leitfaden der Kausalität. Darüber hinaus
vermag allein das Genie in der Kunst durch reine Kontemplation und ungewöhnliche
Kraft der Phantasie die ewigen Ideen aufzufassen und darzustellen, in der Poesie,
der bildenden Kunst, der Musik. Die Musik nimmt eine besonders hohe Stellung ein,
da sie nicht wie die anderen Kunstgattungen die Ideen abbildet, sondern die unmittelbare
Objektivation des Weltwillens in uns ist.Der Wille muß immer streben,
weil Streben sein alleiniges Wesen ist, dem kein erreichtes Ziel ein Ende macht,
das daher keiner endlichen Befriedigung. d.h. keines Glückes, fähig
ist. Laut Schopenhauer ist jede Lebensgeschichte Leidensgeschichte: Der
Lebenslauf des Menschen besteht darin, daß er, von der Hoffnung
genarrt, dem Tod in die Arme tanzt. Die ganze Natur ist ein unbarmherziger
Kampf ums Dasein. Sie ist ein Tummelplatz gequälter und geängstigter
Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher
jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung
eine Kette von Martertoden ist. Was alles Wirkliche kennzeichnet, ist der
endlose, aus dem Leben wesentlich entspringende Schmerz, davon die Welt übervoll
ist. So zeigt sich: Diese ist an allen Enden bankrott. Sie ist,
entgegen Leibniz,
der sie für die bestmögliche hielt, die schlechteste aller möglichen
Welten (**).
In summa: Die Welt ist etwas, was nicht sein sollte. Mitleid ist nach Schopenhauer
das Fundament der Moral. Das Gefühl des Mitleids bezieht sich nicht nur auf
Menschen, sondern, was für Schopenhauer besonders wichtig war, ebenso auf
Tiere. Aus Egoismus entspringt das Böse, aus Mitleid das Gute. Das ist das
Grundprinzip der Ethik Schopenhauers. Ihr gemäß wird der das Leiden
schaffende Wille durch die Tat des Mitleids verneint. Die Verneinung des Willens
zum Leben kann also in letzter Konsequenz nichts anderes sein als die Aufhebung
des Individuationsprinzips (principium inidividuationis) oder gar der Übergang
ins Nichtsein, ins Nichts (Nirwana). Diese Verneinung geht aus der Durchschauung
des Individuationsprinzips hervor, aus dem Sich-wieder-Erkennen (Sichwiedererkennen)
in der fremden Erscheinung.
Erkenntnislehre (Wissenschaftslehre, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie)
Die
Erkenntnislehre, auch Erkenntnistheorie, Wissenschaftslehre (einschließlich
Wissenschaftstheorie und -praxis), Epistemologie oder Erkenntniswissenschaft genannt,
ist die spezialisierteste Lehre der Erkenntnis und gliedert sich in (a)
Erkenntniskritk, die von einem vorher bestehenden Erkenntnistypus ausgeht, an
dem sie die vorhandenen Kenntnisse kritisch mißt, so Kant
in seine Kritik der reinen Vernuft (1781), und (b)
Erkenntnismetaphysik, die das Wesen der Erkenntnis erforscht und dabei meist von
den im Sein des Erkennenden und im Sein des Erkannten beschlossenen Möglichkeiten
des Erkennens ausgeht.Mitunter,
so bei Nicolai Hartmann,
wurde die Erkenntnislehre in die Metaphysik einbezogen. Hartmann wählte den
Titel Metaphysik der Erkenntnis (1921) ganz gezielt, um auszudrücken,
daß die Grundannahme über die Relation von Erkenntnissubjekt und objekt
rational nicht zu erklären ist. Das unlösbare Rätsel der Beziehung
von Erkenntnis und Sein führt nach Hartmann notwendig in Aporien. Gegen Kant
war Hartmann der Auffassung, daß man keine voraussetzungsfreie Erkenntnistheorie
aufstellen kann. Jede Erkenntnistheorie hat metaphysische Voraussetzungen. Erkenntnis
bedeutete für Hartmann ein Erkennen von etwas schon Vorhandenem. Dieses beschrieb
Hartmann als einen Vorgang in drei Phasen. Am Anfang steht eine (a)
Phänomenologie der Erkenntnis. Hierzu gehören Vorgänge der Wahrnehmung
ebenso wie Vorgänge des Bewußtseins, wie die Bildung von Repräsentationen,
und der Erkenntnisfortschritt. In der phänomenologischen Betrachtung versucht
man ein Maximum an Gegebenheit zu erreichen. (Vgl. Nicolai Hartmann,
Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 1921, S. 43). Allerdings
zeigt sich, daß es Grenzen der Erkenntnis gibt. Der Mensch kann das Wesen
der Wirklichkeit, von dem er und seine Erkenntnisleistung selbst lediglich ein
Teil sind, nie vollständig erfassen. Bestenfalls kann er die Grenzen verschieben
und seinen Erkenntnishorizont erweitern. Im zweiten Schritt erfolgt eine (b)
Analyse der gegebenen Phänomene. Diese Analyse zeigt eine Grundaporie, die
Grundlage für alle weiteren Probleme der Erkenntnis ist. Einerseits ist das
Subjekt in den Grenzen seines Bewußtseins gefangen, andererseits bezieht
es sich auf ein Seiendes außer sich selbst. Die Erkenntnis ist abhängig
von der Beziehung auf einen Gegenstand außerhalb ihrer selbst. Hartmann
suchte für diesen Widerspruch keine Lösung, sondern betrachtete ihn
als gegeben. Die Auffassung von der Existenz ist Ergebnis der phänomenologischen
Betrachtung. Hartmann versuchte im dritten Schritt, diese (c)
Auffassung zu rechtfertigen. Sein wesentliches Argument ist, daß von der
Annahme des Realismus, der sowohl die natürliche als auch die wissenschaftliche
Weltsicht widerspiegelt, nur aus guten Gründen abgewichen werden darf. In
Wirklichkeit fällt also die Beweislast gerade dem Idealismus zu, eben weil
er es ist, der sich vom natürlichen Gegenstandsbewußtsein und von der
Sachlage des Erkenntnisphänomens entfernt und eine Behauptung aufstellt,
die von vorn herein den Stempel der Widernatürlichkeit trägt.
(Ebd., 1921, S. 229) Martin Heidegger
versuchte mit seiner Existenzphilosophie die Subjekt-Objekt-Beziehung durch das
In-der-Welt-Sein
des Menschen zu ersetzen. Heideggers Existenz(ial)ontologie (Fundamentalontologie)
und Hartmanns Neue Ontologie entwickleten sich zum Teil aus denselben
Wurzeln. Die alte Seinslehre hing an der These, das Allgemeine, in der essentia
zur Formalsubstanz verdichtet und im Begriff faßbar, sei das bestimmende
und gestaltgebende Innere der Dinge. Neben die Welt der Dinge, in der auch der
Mensch eingeschlossen ist, tritt die Welt der Wesenheiten, die zeitlos und materielos
ein Reich der Vollendung des höheren Seins bildet. (Nicolai Hartmann,
Systematische Philosophie, 1942, S. 240). Im Gegenbsatz zu Heidegger klammerte
Hartmann jedoch die Frage nach dem Sein an Sich, nach der speziellen
Metaphysik, aus und beschränkte seine Ontologie auf die Untersuchung des
Seienden als Seienden, auf die Welt der Wirklichkeit. Die Kategorien dieser neuen
Ontologie werden Zug um Zug den Realitätsverhältnissen abgelauscht
(ebd., 1942, S. 209) Aufgrund der Grenzen der Erkenntnisfähigkeit des Menschen
faßte Hartmann seine gesamte Ontologie als Hypothese, als weiterzuentwickelndes
Konzept auf. Bei der phänomenologischen Untersuchung der Kategorien des Seienden
unterschied Hartmann die intentio recta als Untersuchung der natürlichen
und wissenschaftlichen Einstellungen zu einem Gegenstand. Mit diesem Vorgehen
können anders als bei Kant oder im Neukantianismus keine Ergebnisse
a priori gewonnen werden. Den Gegenpol bildet die intentia obliqua,
die sich apriorisch-deduktiv und reflektorisch mit dem Akt der Erkenntnis in Logik,
Psychologie oder Erkenntnistheorie befaßt. Gemäß Hartmann ist
die Wirklichkeit in allem Seienden. Das Sein des Seienden ist eines, wie
mannigfaltig dies auch sein mag. Alle weiteren Differenzierungen des Seins sind
aber nur Besonderungen der Seinsweise. (Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung
der Ontologie, 1935, S. 38) Sein ist ein Letztes, nach dem sich fragen
läßt. Ein Letztes ist niemals definierbar. Definieren kann man nur
aufgrund eines anderen, das hinter dem Gesuchten steht. (Ebd., 1935, S.
43). Diese Undefinierbarkeit bedeutete für Hartmann, daß man vom Begriff
des Seins kein Gegenteil bilden kann. Daher lehnte er auch eine dialektische Gegenüberstellung
von Sein und Nichts (gegen Hegel und Heidegger) ab. Für
ähnlich verfehlt hielt er auch Heideggers Frage nach dem Sinn von Sein.
Die Untersuchung des Seienden als Seindem gehe auf die Wirklichkeit und nicht
auf Begriffe, so Hartmann (vgl. ebd., 1935, S. 42). Seiendes sei nicht mit Gegenständen
gleichzusetzen, denn ein Gegenstand bestimme sich durch seine Beziehung zu einem
Subjekt, während Seiendes subjektunabhängig sei.Die phänomenologische
Analyse führte Hartmann zu verschiedenen Unterscheidungen: | Seinsmomente
sind Dasein und Sosein  | | Seinsweisen
sind Realität und Idealität  | | Seinsmodi
sind Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit  | Jedes
Seiendes hat sowohl Dasein als auch Sosein. Beide Aspekte sind untrennbar miteinander
verbunden (vgl. Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 1935,
S. 86). Dasein und Sosein haben sowohl reale als auch ideale Entitäten wie
mathematische Gegenstände. Jedes Dasein hat ein Sosein. Und jedes Sosein
ist stets ein Sosein eines Daseienden. Realität und Idealität schließen
sich hingegen aus. Ein Daseiendes ist entweder real oder ideal. Ideales ist nicht
etwas nur Gedachtes, sondern nicht-gegenständliches Seiendes. Hierzu zählte
Hartmann Mathematisches, Wesenheiten, Logisches und Werte. Ideales Seiendes ist
zeitlos, allgemein und unveränderlich. Reales Seiendes ist dagegen zeitlich,
konkret und vergänglich. Realität ist aufdringlich. Man erfährt
sie in einem Widerstandserlebnis. Ideales ist in Realem als Struktur oder Gesetzmäßigkeit
enthalten. So ist eine geometrische Kugel ein ideales Gebilde, das die Struktur
einer materiellen Kugel beschreibt. Empirische Urteile beziehen sich stets auf
reale Entitäten, mathematische Urteile auf ideales Seiendes. Beide Arten
von Urteilen sind ein Erfassen von etwas An sich-Seiendem.
Zwar konnte auch die im 1. Drittel des 20. Jahrhunderts entstandene (sogenannte!)
wissenschaftstheoretische Wende die Erkenntnistheorie ein
bißchen bereichern, doch das Verhältnis der Wissenschaftstheorie
zur Wissenschaft blieb ambivalent. Jede Wende (Beispiele: Linguistische
Wende, scheinbar neue anlytische Philosophie,
kritischer Rationalismus u.s.w.) konnte dieses Verhältnis
nur leicht verbessern. Da vor allem die Entwicklung der formalen Logik
(bzw. Logistik) und der Sprachphilosophie sowie die im Rahmen der damaligen
Denkgewohnheiten nicht erfaßbaren Vorstellungen der Quantentheorie
(Max Planck)
und Relativitätstheorie (Albert Einstein)
zur Entstehung einer neueren Wissenschaftstheorie geführt hatten,
blieb sie zunächst auch wesentlich bestimmt vom Neopositivismus und
logischen Empirismus; dagegen begründete z.B. Karl Popper
die zweite Grundrichtung dieser neueren Wissenschaftstheorie, den sogenannten
kritischen Rationalismus, nach dem sich Wissenschaftstheorie auf
die Untersuchungen der Bedingungen für eine Falsifikation der als
Hypothesen aufgefaßten wissenschaftlichen Theorien beschränken
muß. (Anti-Test). Der begründungstheoretische Ansatz wird,
gefördert z.B. durch die analytische Philosophie, zum einen von der
analytischen Wissenschaftstheorie, zum anderen in der operationalistisch
orientierten und von Paul Lorenzen
begründeten konstruktiven Wissenschaftstheorie fortgeführt.
Aber trotzdem: das Verhältnis der Wissenschaftstheorie zur Wissenschaft
ist ambivalent. Faktische wissenschaftliche Forschung steht eben oft unter
anderen Bedingungen als ihre in der Wissenschaftstheorie analysierten
Strukturen und Normen. Die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis wird
wissenschaftstheoretisch immer noch als Abgrenzungsproblem zwischen wissenschaftlichen
und nicht-wissenschaftlichen Aussagen oder - wie bei Kant - als Kritik
der reinen Vernunft behandelt. Als theoretische Fundamentaldisziplin
hat die Erkenntnistheorie damit die Stelle der Metaphysik, d.h. ihren
ersten Platz übernommen, denn in der transzendentalen Erkenntnistheorie
Kants erfuhr die Erkenntnistheorie ihre (wirklich) entscheidende Wende.
(Kant als Vater
der Moderne  ).
Das scheinbar ewige Subjekt-Objekt-Problem führte, indem unter
Erkenntnistheorie nicht mehr nur primär Methodologie naturwissenschaftlichen
Wissens verstanden wurde, zu der auch heute noch fundamentalen Unterscheidung
zwischen Realismus und Idealismus. (Übrigens konnte auch Heideggers
In-der-Welt-Sein trotz enormen Willens und grandioser Versuche
das Subjekt-Objekt-Problem nicht tilgen  ).
Zugleich wurde die Erkenntnistheorie aus der Einsicht in die historische
Bedingtheit des Erkennens (vgl. Historismus)
durch die Hermeneutik ergänzt, d.h. wissenschaftstheoretisch um die
Unterscheidung von Verstehen und Erklärung. Die erkannte Bedeutung
der Sprachphilosophie gilt angesichts der sprachlichen Verfaßtheit
aller Erkenntnis auch für die Begründung des sogenannten exakten
Wissens (Mathematik, Naturwissenschaft).
Herrschaftsformen in der Erkenntnistheorie - müssen
die sein?
In der Erkenntnistheorie darf es keine Herrschaftsformen
geben. Die jeweils herrschende bzw. vorherrschende Erkenntnis ergibt sich sowieso
schon aus der Natur der Macht. Also muß da nicht auch noch mit Formen
der Herrschaft nachgeholfen werden. Die Geschichte der Wissenschaft
zeigt jedoch seit dem Ende des 2. Weltkriegs und verstärkt seit dem Ende
des sogenannten Kalten Krieges, daß die je nach Bedarf gewählten
Herrschaftsformen sich immer mehr durchgesetzt haben. Zum Verständnis
dessen, was ich meine, sei aus meinem E-Brief vom 04.01.2012 ( )
zitiert: Eine Theorie muß falsifizierbar sein.
Aber wir können ja nicht abstreiten, daß die Theorien solcher Wissenschaftler
schwer zu widerlegen oder, um es wissenschaftlicher bzw. erkenntnistheoretischer
auszudrücken, schwer zu falsifizieren sind. Solange sie gelten, gelten sie
auch als nicht widerlegt, nicht falsifiziert. Poppers Aussagen
betreffen ja die wissenschaftliche Erkenntnis, genauer: die Erkenntnistheorie
als Teil der Erkenntnislehre. .... Wir müssen uns darüber natürlich
im klaren sein, daß Popper mit seiner Falsifikationsthese die Naturwissenschaft
einerseits nicht sicherer, sonderen unsicherer, aber andererseits nicht unsicherer,
sondern sicherer gemacht hat. Für wen jeweils? Darauf kommt es an!
Denn (nicht nur, aber) auch dank Popper können sich zwar alle diejenigen
Naturwissenschaftler, deren Theorien als nicht falsifiziert gelten, sicher
sein, daß sie es ziemlich lange bleiben werden, während alle anderen
Naturwissenschaftler unsicher bleiben müssen darüber, ob ihre
vielleicht bessere bzw. erkenntnistheoretisch wertvollere Theorie jemals akzeptiert
werden wird (denken Sie nur daran, wie lange Alfred Wegener ausgelacht worden
ist - gerade auch in dem englischsprachigen Teil der Erde -, obwohl auch damals
schon die vorherrschenden Theorien in der Geologie falsifiziert werden konnten,
aber eben nicht wurden [warum wohl?]). Die anderen Wissenschaftler sind gegenüber
den etablierten Wissenschaftlern aber immer eine riesige Mehrheit und könnten
sich unter anderen Bedingungen als den geltenden viel leichter durchsetzen. Es
ist ähnlich wie in der Evolution bzw. Geschichte. Manchmal setzt sich die
Minderheit aufgrund ihrer Qualität (Intelligenz, Leistung u.s.w.) durch und
manchmal die Mehrheit aufgrund ihrer Quantität (Masse, Anzahl). Wenn es nur
die Qualität wäre, dann gäbe es - übrigens - auch keinen Untergang
des Abendlandes; denn leider ist es die Quantität, z.B. die Zahl der Migranten
aus fremden Kulturen (weil sie schlicht mehr Nachkommen haben!), die zuletzt dem
Abendland den Todesstoß versetzen wird. Wenn es in der (Natur-)Wissenschaft
auch noch exakt so wäre - seit Poppers These Doktrin ist, ist das aber immer
seltener so -, dann wären Theorien, dann wäre z.B. Einsteins Relativitätsheorie
mehr Druck seitens der Konkurrenz ausgesetzt, als es tatsächlich der
Fall ist. (Übrigens: Ich bin nicht gegen Einstein oder dessen Relativitätstheorie!).
|  | | H a l l i g
S ü d f a l l | Dadurch,
daß politisch nachgeholfen wird, können sich Theorien und
Erkenntnisse nicht oder zumindest nicht mehr so durchsetzen, wie
es in der Wissenschaft eigentlich üblich ist, wie es gemäß des
freien Spiels in der Wissenschaft möglich zu sein hat. Statt dessen wird
also politisch selektiert, d.h. nach Machtverhältnissen selektiert, was durchaus
nicht der Evolutionstheorie ( )
widerspricht, aber es wird dadurch die Wissenschaft zerstört, denn die Wissenschaft
ist eine Insel im Meer der Evolution und war ursprünglich auch
so erdacht, weil sie anders auch nicht existieren kann. Schon Lebewesen und ganz
besonders die Menschen sind solche Inseln bzw. suchen sie auf, um
sich gegen die Regeln der Natur zu wehren - und sei es auf so gefährliche
Weise, wie es die Bewohner auf den Halligen in der Nordsee oder den Malediven
im Indischen Ozean tun. Nun wird aber, wenn ich nur
die Falsifikation im Sinne Poppers gelten lasse, natürlich versucht, die
Falsifikation zu verhindern. Das heißt: Das ganze Wissenschaftliche erhält
eine politische Komponente, und daß dies heute längst immer
mehr der Fall ist, läßt sich schon seit dem Ende des 2. Weltkrieges
sagen. ( ).
Daß also auch z.B. so Leute wie Popper erst seit dem Ende des 2. Weltkrieges
vermehrt im Sinne der Mächtigen argumentieren und dadurch die
Wissenschaft zur Nicht-Wissenschaft machen, ist kein Zufall, sondern gewollt.Es
gibt mittlerweile so viele sogenannte Theorien von sogenannten Experten,
die in Wirklichkeit alles andere als das sind, so daß ohne Gehirn sein muß,
wer immer noch nicht weiß, worauf das alles hinauslaufen soll. Die angeblich
naturwissenschaftliche Urknalltheorie
geht konform mit dem Kreationismus bzw. der angeblichen Schöpfungsgeschichte
aus dem angeblich Alten Testament des angeblich auserwählten
Volkes. ( ).
Die angeblich physikalischen, die angeblich chemischen
die angeblich biologischen, die angeblich ökonomischen,
die angeblich soziologischen, die angeblich psychologischen,
die angeblich semiotischen, die angeblich linguistischen,
die angeblich philosophischen und die angeblich mathematischen
uns diktierten Theorien sollen wir ihren, uns ebenfalls diktierten
Experten überlassen, und - zur Krönung - sollen wir auch
noch das eventuelle Falsifizieren dieser Theorien ihren Experten
überlassen. Was hier geschieht, ist die Dekonstruktion, der rücksichslose
Abbau bzw. Rückbau, die bewußte Zerstörung bzw. Vernichtung unserer
Tradition, wozu u.a. eben auch unsere in Jahrhunderten aufgebaute Wissenschaft
gehört. Dabei ist das Ziel, aus Freiheit wieder Sklaverei zu machen - über
den Weg von einer Neu-Theologie zu einer Neu-Religion. ( ).
Wenn erst die Globalisten diese Neu-Religion etabliert haben werden, werden
sie keine Ausnahme mehr zulassen - die ersten Ansätze dazu erkennt man jetzt
bereits (vgl. Klimahysterie
u.v.a.) -, aber daß ihre bereits seit dem Übergang vom 18. zum 19.
Jahrhundert etablierte Neu-Theologie, deren Idealismen bzw. Nihilismen
anfangs wenigstens noch mehr Gut- als Bösartiges in sich hatten, seit ungefähr
der Mitte des 20. Jahrhunderts, als deren Idealismen und Nihilsimen erstmals mehr
Bös- als Gutartiges in sich hatten, stärker als zuvor danach streben
muß und auch wirklich immer mehr - weil immer bösartiger werdend -
danach strebt, zur Neu-Religion zu werden, scheinen viele noch gar nicht
begriffen zu haben. Diese Neu-Religion muß wegen seines Anspruches
auf Gültigkeit in der gesamten Welt Elemente aus den größten bzw.
bedeutendsten Religionen integrieren, also synkretistisch ( )
sein - dabei helfen ihr eben auch diejenigen Elemente aus allen Wissenschaftsdisziplinen,
die sich für den Synkretsimus eignen, und da, wo sie fehlen, müssen
sie kreiert werden. Also, Leute, zieht euch lieber jetzt schon warm an, denn die
Globalisten haben längst alles, was sie für ihre für die Ewigkeit
geplante Macht brauchen, aus dem Nichts geschöpft.           Die
Wissenschaft braucht keine Gesetze, Vorschriften, Regularien, Regeln darüber,
wie lange eine Theorie Theorie bleiben darf. Wenn dies aber in der Wissenschaft
der Fall ist, dann ist sie im Fall. Sie geht dann unter. Wenn bestimmt wird, wie
lange eine Theorie überleben darf, dann wird auch bestimmt, was
als Theorie überhaupt gelten darf. Was die Wissenschaft - also: die abendländische
Wissenschaft, denn sie ist die einzige, die diesen Namen wirklich verdient hat
- für ihre jeweilige Theorie und Praxis braucht, sind Logik und Empirie.
Für sie dürfen, ja müssen Regeln aufgestellt werden - das ist klar
-, aber doch nicht dafür, was wie lange Theorie und Praxis, was wie lange
Logik und Empirie sein darf und was nicht. Alle Wissenschaftler sollen,
ja müssen streiten dürfen darüber, was in der Wissenschaft
gelten soll und was nicht, aber kein Wissenschaftler soll bestimmen
dürfen darüber, was in der Wissenschaft gelten soll und was nicht. Da,
wo diktiert wird, ist keine Freiheit, keine Wissenschaft möglich. Die z.B.
auch von Lerner angesprochene wissenschaftliche Methode besagt: »Prüfe
die Theorie anhand intensiver Beobachtungen.« Wenn die Beobachtung der Theorie
widerspricht, verwirf die Theorie. Auf dieser Basis hätte die Urknalltheorie
schon vor Jahrzehnten verworfen werden müssen. Diese Abwendung von der wissenschaftlichen
Methode und die Wiedereinführung der Vorstellung, daß man sich in Sachen
Wissen auf die Experten verläßt, ist sehr verhängnisvoll.
( ).
Wer diktiert, wie lange wer oder was in der Wissenschaft überleben
darf, wird auch bald diktieren, wer oder was in der Welt überleben
darf, wird also wie ein Evolutionsgott selektieren und dadurch Gott
herausfordern. Das nannte man früher Sünde!
Evolutionäre Erkenntnistheorie
Die
Evolutionäre Erkenntnistheorie betrachtet das menschliche Erkenntnisvermögen
als eine Fähigkeit, die wir im Laufe der Evolution erworben haben. Auch mit
diesem Vermögen haben wir uns an unsere Umwelt angepaßt. Den Ausschnitt
der realen Welt, an den wir kognitiv angepaßt sind, nennen wir Mesokosmos.
Er ist - in Analogie zur ökologischen Nische - die kognitive Nische
des Menschen. Er ist räumlich dreidimensional; bei Entfernungen reicht er
von Millimetern (»Haaresbreite«) zu Kilometern (Tagesmarsch), zeitlich
vom subjektiven Zeitquant (etwa 1/20 Sekunde) zum eigenen Lebensalter, von Gramm
zu Tonnen, von Stillstand zur Geschwindigkeit eines geworfenen Steins, von gleichförmiger
Bewegung (Beschleunigung Null) zur Sprinter- oder Erdbeschleunigung, vom Gefrier-
bis zum Siedepunkt des Wassers, von Komplexität Null (unzusammenhängender
Staub) bis zu linearen Systemen und damit auch zu linearer Kausalität. Dagegen
gehören elektrische und magnetische Felder nicht zum Mesokosmos: Sie
sind zwar, wie das Erdmagnetfeld zeigt, makroskopisch; wir haben jedoch kein Sinnesorgan
für sie und können sie deshalb nicht »unmittelbar« wahrnehmen.
(Gerhard Vollmer, Die Evolution entläßt ihre Kinder - geht das überhaupt?
, in: Kulturelle Vererbung, Hrsg: Klaus Gilgenmann, Peter Mersch, Alfred
K. Treml, 2010, S. 35 **).Die
Evolutionäre Erkenntnistheorie (vgl. Gerhard Vollmer, Evolutionäre
Erkenntnistheorie, 1994) geht in ihrer realistischen Variante davon aus, daß
es eine reale Welt gibt, deren Objekte zunächst auf die Sinnesorgane projiziert
werden. Im Erkenntnisprozeß wird dann versucht, die Objekte aus ihren Projektionen
zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion bleibt jedoch stets hypothetisch. Mit
anderen Worten: Alles Tatsachenwissen ist hypothetisch. Daß dennoch eine
gute Passung der Erkenntnisstrukturen zur Realität besteht, ist gemäß
der Evolutionären Erkenntnistheorie eine Folge von Evolution: »Unser
Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der biologischen Evolution. Die subjektiven
Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution
in Anpassung an diese Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen
Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung
das Überleben ermöglichte. Sie sind individuell angeboren und somit
ontogenetisch a priori, aber stammesgeschichtlich erworben, also phylogenetisch
a posteriori. .... Die Evolutionäre Erkenntnistheorie deutet die Passung
unserer kognitiven Strukturen als Ergebnis eines Selektionsprozesses, einer evolutiven
Anpassung. Nicht nur Sinnesorgane, Zentralnervensystem und Gehirn sind Evolutionsprodukte,
sondern ebenso ihre Funktionen: Sehen, Wahrnehmen, Urteilen, Erkennen, Schließen.«
(Gerhard Vollmer, Biophilosophie, 1995, S. 120 f.). (Peter Mersch,
Systemische Evolutionstheorie, 2012, S. 89 **).Das
mag so sein, obwohl hier rasch der Gedanke an einen Zirkelschluß (Circulus
Vitiosus) aufkommt, weil ja behauptet wird: Die subjektiven
Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution
in Anpassung an diese Welt herausgebildet haben. (**).
Das ist ähnlich wie: Wir sind Gottes Geschöpfe, weil Gott uns
geschöpft hat. Eine Seinsform (die subjektiven Erkenntnisstrukturen
**)
wird mit einer Werdensform (die Herausbildung im Laufe der Evolution in
Anpassung an diese Welt **),
also das Sein mit dem Werden erklärt. Zwar ist hier mehr das Ergebnis
gemeint und das ist nicht neu. So lautete Friedrich W. Nietzsches
metaphysische These: Alles, was ist, auch das menschliche Erkennen, ist Erscheinungsform
des Willens zur Macht; es gibt kein absolutes Sein, sondern Sein ist Werden, aber
kein endloses Neuwerden, sondern ewige Wiederkehr dessen, was schon
unendlich oft dagewesen ist - die ewige Sanduhr wird immer wieder umgedreht
(**)
-; das identische Ich ist eine Fiktion ebenso wie das wahre Sein. Die Evolutionäre
Erkenntnistheorie sollte also - bitte - nicht mit einem Zirkelschluß
argumentieren und um den heißen Brei herumreden,
sondern so wie zuvor z.B. Nietzsche trotz der Abneigung gegenüber der Metaphysik
eine metaphysische These aufstellen: Sein ist Werden. Auch Heraklit
hätte sich darüber gefreut!Der Ansatz der Systemischen
Evolutionstheorie (**)
unterscheidet sich in der genannten Fragestellung nur unwesentlich von der Evolutionären
Erkenntnistheorie. Beispielsweise ist für sie der menschliche Erkenntnisapparat
ein Ergebnis der biologischen und der soziokulturellen Evolution. Ferner
entstanden in ihrer Auffassung die Erkenntnisstrukturen nicht nur durch Anpassungen
an die reale Welt und im Rahmen eines Selektionsprozesses, sondern vor allem in
Übereinstimmung mit den Reproduktionsinteressen .... Anders gesagt: Erkenntnis
ist immer auch interessengeleitet. (Peter Mersch, Systemische Evolutionstheorie,
2012, S. 90 **).
Wahrheit
hat ganz massiv etwas mit Interessen zu tun. Wissenschaftliche Ergebnisse kommen
nicht durch den Wahrheitswillen der Wissenschaftler, sondern durch ihr Kompetenzerhaltungsinteresse
zustande (dies wiederum ist eine Kernaussage der Systemischen Evolutionstheorie
zum Erkenntnisgewinn). Anders wäre es nicht erklärbar, daß
Mediziner fundamental falsche Aussagen verbreiten und als allerneuesten Forscherstand
verkaufen, von denen jederzeit leicht nachprüfbar ist, daß sie
falsch sind, wie es falscher nicht geht. (Don Quijote (Pseudonym), 24.08.2012,
11:37 [**|**]). |
Ob
man die Systemische Evolutionstheorie sogar in jedem Fall als eine
der Evolutionären Erkenntnistheorie untergeordnete Theorie verstehen
kann, ist nicht sicher, aber der Einfachheit halber unterstelle ich das
einmal.Halten wir also bezüglich der Evolutionären Erkenntnistheorie
und auch der ihr ähnlichen und erkenntnistheoretisch ihr untergeordneten
Systemischen Evolutionstheorie fest: Sein ist Werden - sowohl natürlich
als auch kulturell und in Übereinstimmung mit den Reproduktionsinteressen
-, und das gilt auch für die Erkenntnis. In diesem Sinne ist also die
Erkenntnis stets ein interessengeleiteter Erkenntnisprozeß.
Digitale Erkenntnistheorie - werden wir die bald nötig
haben?
Der
aus Korea stammende Byung-Chul Han glaubt, daß wir eine neue, ja eine
digitale Anthropologie, eine digitale Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie
( )
brauchen. Wir brauchen eine digitale Sozialphilosophie und Kulturphilosophie
( ).
Um genauer zu verstehen, wie er das begründet, ist es ratsam, den dazugehörigen
Text - ein Gespräch mit dem Titel: Der Eros besiegt die Depression,
in: Philosophie-Magazin, Juli/August 2012, S. 61-65 - zu lesen. Folgend ist er
in nur etwas verkürzter Form dargestellt (lassen Sie sich von der
ostasiatischen Mentalität nicht irritieren!):P.-M.:
Was ist denn überhaupt das Problem an der neoliberalen Leistungsethik?
Das
Problem ist, daß sie so listig ist und dadurch so verheerend effizient.
Ich will Ihnen erzählen, worin diese List besteht. Karl
Marx hat eine Gesellschaft kritisiert, die durch eine Fremdherrschaft regiert
wurde. Im Kapitalismus wird der Arbeiter ausgebeutet, und diese Fremdausbeutung
stößt ab einem bestimmten Produktionsniveau an ihre Grenzen. Ganz anders
die Selbstausbeutung, der wir uns heute freiwillig (bedingt
freiwillig [**];
HB) unterwerfen. Die Selbstausbeutung ist grenzenlos! Wir beuten uns freiwillig
aus, bis wir zusammenbrechen. Wenn ich scheitere, mache ich mich selbst für
dieses Scheitern verantwortlich. Wenn ich leide, wenn ich pleitegehe, dann bin
nur ich selbst schuld. Selbstausbeutung ist eine Ausbeutung ohne Herrschaft, denn
sie geschieht völlig freiwillig. Und weil sie unter dem Zeichen der Freiheit
steht, ist sie so effektiv. Niemals bildet sich ein Kollektiv, ein »Wir«,
das sich gegen das System erheben könnte. Sie
diagnostizieren unsere Gesellschaft mit Hilfe des ungewöhnlichen Begriffspaars
von Positivität und Negativität. Und stellen dabei die verschwindende
Negativität fest. Wozu soll Negativität gut sein? Und was verstehen
Sie überhaupt unter Negativität?
Die
Negativität ist etwas, das eine immunologische Abwehrreaktion hervorruft.
So ist der Andere das Negative, das in das Eigene eindringt und dies zu negieren,
zu zerstören sucht. Ich habe behauptet, daß wir heute in einem postimmunologischen
Zeitalter leben. Die psychischen Erkrankungen von heute wie Depression, ADHS oder
Burnout sind keine Infektionen, die durch eine virale oder bakterielle Negativität
verursacht werden, sondern Infarkte, für die das Übermaß an Positivität
verantwortlich ist. Die Gewalt geht nicht nur von der Negativität, sondern
auch von der Positivität aus, nicht nur vom Anderen, sondern auch vom Gleichen.
Die Gewalt der Positivität oder des Gleichen ist eine postimmunologische
Gewalt. Krank macht die Fettleibigkeit des Systems. Es gibt bekanntlich keine
Immunreaktion auf das Fett. Inwiefern
hat die Depression mit der verschwindenden Negativität zu tun?
Die Depression ist ein Ausdruck des krankhaft gesteigerten narzißtischen
Selbstbezugs. Der Depressive versinkt und ertrinkt in sich. Ihm ist der Andere
abhandengekommen. Haben Sie Lars von Triers Film »Melancholia« gesehen?
An der Protagonistin Justine zeigt sich, was ich meine: Sie ist depressiv,
weil sie total erschöpft, zermürbt ist von sich selbst. Ihre ganze Libido
richtet sie auf ihre eigene Subjektivität, daher ist sie unfähig zur
Liebe. Und dann, ja dann: Ein Planet erscheint, der Planet Melancholia.
In der Hölle des Gleichen kann die Ankunft des ganz Anderen eine apokalyptische
Form annehmen. Der todbringende Planet offenbart sich Justine als der ganz
Andere, der sie aus dem narzißtischen Sumpf herausreißt. Sie blüht
angesichts des todbringenden Planeten förmlich auf. Sie entdeckt auch die
Anderen. So wendet sie sich fürsorglich Claire und ihrem Sohn zu.
Der Planet entfacht ein erotisches Begehren. Eros als Beziehung zum ganz Anderen
beseitigt Depression. Das Desaster bringt ein Heil mit sich. Das Desaster geht
im übrigen auf das lateinische Wort »desdesatrum« zurück,
das »Unstern« bedeutet. »Melancholia« ist ein Unstern.Sie
meinen, nur ein Desaster kann uns noch retten (in Anlehnung
an einen Satz von Martin Heidegger: Nur noch ein Gott kann uns retten
[ ];
Anm. HB) ?
Wir leben in einer Gesellschaft,
die ganz auf Produktion, ganz auf Positivität gerichtet ist. Sie schafft
die Negativität des Anderen oder des Fremden ab, um die Kreisläufe der
Produktion und des Konsums zu beschleunigen. Zulässig sind nur konsumierbare
Differenzen. Den Anderen, dem die Andersheit genommen worden ist, kann man nicht
lieben, sondern nur konsumieren. Vielleicht deshalb wächst heute wieder das
Interesse für die Apokalypse. Man spürt eine Hölle des Gleichen,
der man entkommen möchte. Können
Sie uns keine griffigere Definition des Anderen anbieten?
Der
Andere, das ist auch der Gegenstand, ja der Anstand. Wir haben die Fähigkeit,
die Anständigkeit verloren, den Anderen in seiner Andersheit zu sehen, weil
wir alles mit unserer Intimität überfluten. Der Andere ist etwas, das
mich in Frage stellt, das mich aus meiner narzißtischen Innerlichkeit herausreißt.
Aber formiert sich nicht gerade im Moment, etwa in Gestalt
der jungen Protestbewegungen wie Occupy, ein widerständiges Wir, das im System,
hier vertreten durch die Börse und den Markt, ein anderes erkennt und dagegen
angehen will?
Das geht nicht weit genug. Ein
Börsencrash ist noch keine Apokalypse. Er ist ein innersystemisches Problem,
das schnell beseitigt werden soll. Und was bringen schon die 300 oder 500 Leute,
die sich schnell von Polizisten wegtragen lassen? Das ist noch lange nicht das
Wir, das wir brauchen. Die Apokalypse ist ein atopisches Ereignis. Sie kommt von
ganz woanders her. Wo fände
sich dann ein Ausweg?
Eine Gesellschaft ohne
den Anderen ist eine Gesellschaft ohne Eros. Auch die Literatur, die Kunst und
die Dichtung leben vom Begehren des ganz Anderen. Die Krise der Kunst von heute
ist vielleicht auch eine Krise der Liebe. Bald, da bin ich mir sicher, werden
wir die Gedichte von Paul Celan nicht mehr verstehen, denn sie sind an den ganz
Anderen adressiert. Auch mit den neuen Kommunikationsmedien schaffen wir den Anderen
ab. In einem Gedicht von Celan heißt es: »Du bist so nah, als weiltest
du nicht hier.« Darum geht es! Die Abwesenheit, das ist der Grundzug des
Anderen, das ist Negativität. Weil er nicht hier weilt, kann ich sprechen.
Nur deshalb ist Poesie möglich. Der Eros richtet sich auf den ganz Anderen.
Dann wäre die Liebe eine utopische,
eine uneinlösbare Option.
Das Begehren wird
vom Unmöglichen genährt. Wenn es aber, etwa in der Werbung, ständig
heißt: »du kannst« und »alles ist möglich«,
dann ist das das Ende des erotischen Begehrens. Es gibt keine Liebe mehr, weil
wir uns zu frei wähnen, weil wir zwischen zu vielen Optionen wählen.
Der Andere ist natürlich dein Feind. Aber der Andere ist auch der Geliebte.
Es ist wie mit der mittelalterlichen Minne, von der Jacques Lacan gesagt hat,
sie sei ein Schwarzes Loch ( ),
um das herum sich das Begehren verdichtet. Wir kennen dieses Loch nicht mehr.
Haben wir nicht den Glauben an Transzendenz
durch den Glauben an Transparenz ersetzt?
Vor
allem in der Politik geht es doch kaum noch um etwas anderes. Ja, das Geheimnis
ist eine Negativität. Der Entzug zeichnet es aus. Die Transzendenz ist auch
eine Negativität, während die Immanenz eine Positivität darstellt.
So äußert sich das Übermaß an Positivität als ein Terror
der Immanenz. Die Transparenzgesellschaft ist eine Positivgesellschaft.
Worauf führen Sie den Kult der Transparenz zurück?
Zunächst muß man das digitale Paradigma verstehen. Ich halte die digitale
Technologie für einen ähnlich dramatischen historischen Einschnitt wie
etwa die Erfindung der Schrift oder des Buchdrucks ( ).
Das Digitale selbst drängt zur Transparenz. Wenn ich eine Taste auf dem Computer
drücke, habe ich sofort ein Ergebnis. Die Temporalität der Transparenzgesellschaft
ist die Unmittelbarkeit, die Echtzeit. Der Stau, der Informationsstau wird nicht
mehr geduldet. Alles muß sich in der Gegenwart der unmittelbaren Sichtbarkeit
zeigen. Die Piratenpartei ist der
Ansicht, daß die Politik von dieser Unmittelbarkeit nur profitieren kann.
»Liquid feedback« heißt da wohl das Zauberwort. Es scheint,
als bringe die repräsentative Demokratie einen unerträglichen Zeitstau
mit sich. Aber diese Ansicht führt zu massiven Problemen: Es gibt nämlich
Dinge, die sich nicht der Unmittelbarkeit fügen. Dinge, die erst reifen müssen.
Und Politik sollte eben ein Experiment sein, auch ein Experiment mit offenem Ausgang.
Solange aber experimentiert wird, kann das Ergebnis noch nicht bekannt sein. Solange
eine Vision realisiert werden soll, braucht es den Zeitstau geradezu. Die Politik,
die die Piratenpartei anstrebt, ist daher notwendigerweise eine Politik ohne Vision.
Und das gilt auch auf der Ebene der Unternehmen. Ständig findet irgendeine
Evaluation statt. Jeden Tag muß ein optimales Ergebnis präsentiert
werden. Es ist kein langfristiges Projekt mehr möglich. Der digitale Habitus
bedeutet auch, daß wir ständig unsere Standpunkte wechseln. Daher wird
es keine PolitIker mehr geben. Politiker ist jemand, der auf einem Standpunkt
beharrt. Und all das verstehen Sie
als Resultat einer neuen Technologie?
Was heißt
denn »digital«? Digital kommt von »digitus«, dem lateinischen
Wort für »Finger«. Im Digitalen wird das menschliche Tun auf
die Fingerkuppen reduziert. Lange Zeit war ja die menschliche Tätigkeit mit
der Hand verbunden. Daher die Begriffe Handlung, Handwerk. Aber wir fingern heute
nur noch. Das ist die digitale Leichtigkeit des Seins. Eine Handlung im emphatischen
Sinne ist aber immer eine Art Drama. Heideggers Fetischisierung der Hand protestiert
bereits gegen das Digitale. Die
Frage, ob man überhaupt noch handeln und experimentieren kann, spiegelt sich
auch darin wider, daß es in dieser neuen digitalen Logik keine Führungspersonen
gibt, daß es eine Politik ist ohne Anführer.
Das ist bereits in der Piratenpartei der Fall. Führung ist eine andere Tätigkeit.
Wenn man führen will, muß man die Zukunft im Blick behalten. Ein Führer
sieht in die Zukunft hinein. Und wenn ich ein politisches Experiment mache, dann
muß ich auch ein Risiko eingehen können, weil das Ergebnis nicht sofort
vorliegt, weil ich mich in einen unberechenbaren Raum begebe. Ein Führer
im Sinne von Vorhut begibt sich ins Unberechenbare. Die Transparenz, die hingegen
mit dem Digitalen verbunden ist, strebt eine totale Berechenbarkeit an. Alles
muß berechenbar sein. Es gibt aber keine Handlung, die berechenbar ist.
Sie wäre dann ein Rechnen, ja eine Rechnung. Die Handlung reicht immer in
das Unberechenbare, in die Zukunft, hinein. Das heißt, die Transparenzgesellschaft
ist eine Gesellschaft ohne Zukunft. Zukunft ist die temporale Dimension des ganz
Anderen. Zukunft ist heute nichts anderes als optimierte Gegenwart.
Hat nicht die Feier der Urunittelbarkeit auch etwas mit
Infantilisierung zu tun? Auch Dreijährige können es nicht ertragen,
wenn ihnen ihre Eltern nicht sofort geben, was sie wollen.
Natürlich.
Das Digitale infantilisiert uns, weil wir nicht mehr warten können. Denken
Sie etwa daran, wie die Zeitlichkeit der Liebe verlorengeht. Der Satz »Ich
liebe dich« ist ja ein Versprechen in die Zukunft hinein. Menschliche Handlungen,
die emphatisch zukünftig sind, wie Verantwortung oder Versprechen, verkümmern
heute. Auch Wissen, Erkenntnis oder Erfahrung besitzen einen Zeithorizont der
Zukunft. Die Zeitlichkeit der Information oder des Erlebnisses ist dagegen die
Gegenwart. Es gibt eine neue Krankheit der Informationsgesellschaft. Sie heißt
»Information Fatigue Syndrom« (IFS). Eines ihrer Symptome ist die
Lähmung der analytischen Fähigkeit. Mitten in der Informationsflut ist
man offenbar nicht mehr in der Lage, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden.
Ein weiteres Symptom ist interessanterweise die Unfähigkeit, Verantwortung
zu übernehmen. Sie nennen die
Transparenzgesellschaft auch »Pornogesellschaft». Warum ?
Die Transparenzgesellschaft ist insofern eine pornographische Gesellschaft, als
die Sichtbarkeit totalisiert und verabsolutiert wird und das Geheimnis darüber
ganz verschwindet. Der Kapitalismus verschärft die Pornographisierung der
Gesellschaft, indem er alles als Ware ausstellt und der Sichtbarkeit ausliefert.
Angestrebt wird die Maximierung des Ausstellungswerts. Der Kapitalismus kennt
keinen anderen Gebrauch der Sexualität. Die erotische Spannung entspringt
nicht der permanenten Ausstellung der Nacktheit, sondern der Inszenierung eines
Auf- und Abblendens. Es ist die Negativität der Unterbrechung, die der Nacktheit
einen erotischen Glanz verleiht. Das
Pornographische zerstört also das Erotische.
Ja.
Denken Sie an diesen wunderbaren Moment in Flauberts »Madame Bovary«:
Die Kutschfahrt mit Leon und Emma - eine sinnlose Kutschfahrt durch
die ganze Stadt, und der Leser erfährt nichts, aber auch gar nichts vom Geschehen
in der Kutsche selbst. Flaubert zählt statt dessen Plätze und Straßen
auf. Und am Ende streckt Emma ihre Hand aus dem Fenster und läßt
Papierschnipsel wie Schmetterlinge auf ein Kleefeld segeln. Ihre Hand ist das
einzig Nackte in dieser Szene - das ist der denkbar erotischste Moment. Weil man
nichts sieht. In der Hypervisibilität, die uns umgibt, ist so etwas nicht
mehr vorstellbar. Welche Rolle spielt
die Philosophie angesichts der Hölle des Gleichen?
Die Philosophie ist für mich der Versuch, eine ganz andere Lebensform zu
entwerfen, andere Lebensentwürfe zumindest in Gedanken zu erproben. Aristoteles
hat es uns vorgemacht. Er hat die Vita contemplativa erfunden. Heute ist
die Philosophie weit davon entfernt. Sie ist ein Teil der Hölle des Gleichen
geworden. Heidegger vergleicht in einem Brief das Denken mit dem Eros. Er spricht
vom Flügelschlag des Eros, von dem sein Denken ins Unbegangene getragen wird.
Die Philosophie ist vielleicht die Liebkosung, die Formen und Sprachmuster dem
sprachlos Anderen in die Haut einzeichnet. Mittlerweile
haben Sie eine Professur, aber Ihr Verhältnis zur akademischen Philosophie
war nicht immer spannungsfrei, oder?
Wie Sie
wissen, bin ich Philosophieprofessor an einer Kunsthochschule. Ich bin wahrscheinlich
zu lebendig für das philosophische Seminar einer Universität. Die akademische
Philosophie ist leider total erstarrt und leblos. Sie läßt sich nicht
auf die Gegenwart, auf gesellschaftliche Probleme der Gegenwart ein. Wo
sehen Sie die größten Herausforderungen für das Denken?
Heute gibt es so viele Dinge und Ereignisse,
die einer philosophischen Erörterung bedürften. Depression, Transparenz
oder auch Piratenpartei sind für mich ein philosophisches Problem. Vor allem
die Digitalisierung und die digitale Vemetzung stellen heute für die Philosophie
eine besondere Aufgabe und Herausforderung dar. Wir brauchen eine neue, ja eine
digitale Anthropologie, eine digitale Erkenntnis- und Wahrnehmungstheorie. Wir
brauchen eine digitale Sozialphilosophie und Kulturphilosophie. Heideggers »Sein
und Zeit« hätte man längst digital updaten müssen.
Wie meinen Sie das?
Heidegger hat das Subjekt durch das »Dasein« ersetzt. Wir müssen
nun das Subjekt durch das Projekt ersetzen. Wir sind nicht mehr »geworfen«.
Wir haben kein »Schicksal«. Wir sind entwerfende Projekte. Die Digitalisierung
bringt Heideggers »Ding« endgültig zum Verschwinden. Sie erzeugt
ein neues Sein und eine neue Zeit. Wir müssen mehr Theorie wagen. Dafür
ist die akademische Philosophie zu ängstlich. Ich wünsche ihr mehr Mut
und Wagnis.»Geist« bedeutet ursprünglich Unruhe oder Ergriffenheit.
Die akademische Philosophie ist, so gesehen, ohne Geist. (Ebd., S. 61-65).
Die
Aussagen von Byung-Chul Han sind sehr interessant, wie ich finde. Finden
Sie das auch? Schreiben Sie mir Ihre Meinung: **
**

© Hubert Brune, 2001 ff. (zuletzt aktualisiert:
2014).
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