Das Ende des Individualismus. Die Kultur des Westens zerstört sich selbst.
(1993)
Worum es gehtVorliegendem
Buch liegt eine umfassende Untersuchung über die Ursachen der Geburtenarmut
in Deutschland zugrunde, die die Verfasser im Auftrag des Bundesministeriums für
Forschung und Technologie erstellt haben. In dieser Untersuchung gelangen sie
zu dem Ergebnis, daß sich die Bevölkerungen hochindustrialisierter
Länder, unter ihnen Deutschlands, in einer demographischen Zwickmühle
befinden, die leicht zum Verlust ihrer kulturellen Identitäten führen
könnte. Denn halten diese Bevölkerungen an ihrem seit langem geübten
Geburtenverhalten fest, werden sie binnen kurzem stark altern und zahlenmäßig
zügig abnehmen oder von so vielen Zuwanderern durchsetzt werden, daß
deren Integration sehr schwer fallen dürfte. Ursächlich für diese
Zwickmühle sind nach Auffassung der Verfasser die individualistischen Kulturen,
die die Bevölkerungen dieser Länder in Jahrhunderten verinnerlicht haben.
Kennzeichen dieser Kulturen ist die extreme Betonung der Interessen des Einzelnen
gegenüber der Gemeinschaft. Zwar verbessern sich durch diese Betonung die
individuellen Lebensbedingungen, was unter anderem die Lebenserwartung und mit
ihr zunächst auch die Bevölkerungszahl steigen läßt. Zugleich
verschlechtem sich jedoch die Voraussetzungen rur Gemeinschaften. Sie aber sind
Grundlage für den dauerhaften physischen Bestand der Gemeinwesen, insbesondere
für ausreichende Geburtenzahlen. (Ebd., S. 13).Wollen
also Bevölkerungen ihre physische Existenz sichern, müssen sie entweder
auf die Maximen »individualistischer« Kulturen (die
individualistischste Kultur aller Kulturen ist eindeutig das Abendland; Anm. HB)
weitgehend verzichten oder zumindest - im Rahmen dieser Kulturen (d.h.
für die Kultur des Westens, also für das Abendland: im Rahmen der eigenen
Kultur; Anm. HB) - die tradierten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen
und politischen Ordnungen nachhaltig umgestalten. (Richtig,
denn andernfalls werden die Abendländer auf passive Weise erleben,
wie diese Ordnungen von Angehörigen einer fremden Kultur umgestaltet werden;
Anm. HB). .... Stets muß sich die Bevölkerung in praktisch allen
Lebensbereichen neu orientieren. Ist sie dazu nicht willens oder in der Lage,
ist der Verlust ihrer kulturellen Identität nur eine Frage der Zeit. ....
Der Bevölkerungspolitik ist in diesen Ländern, namentlich auch in Deutschland,
künftig ein hoher Rang einzuräumen. Bevölkerungspolitische Abstinenz
ist mit Sicherheit kein Ausweg aus der Zwickmühle. (Ebd., S. 13).
Von der Natur- zur KulturordnungZunehmende
Individualisierung steigende Lebenserwartung abnehmende
Fruchtbarkeit. Die Lebensordnung der Natur ist gekennzeichnet von massenhaftem
Entstehen und Vergehen, großer Fruchtbarkeit und großer Sterblichkeit.
Viele Lebewesen sterben, noch ehe sie zu individueller Fortpflanzung gelangen.
Nur eine Minderheit vermag ihre physiologischen Möglichkeiten auszuschöpfen
und ihre biologisch vorgegebene Lebensspanne zu durchlaufen. Individuelles Leben
ist dem Leben der Gattung nachgeordnet. Diese Ordnung hat sich in einer langen
Entwicklung bewährt. Das gilt auch für die längste Zeit der Menschheitsgeschichte.
Der Einzelne ist der Gemeinschaft nachrangig. Die Gemeinschaft ist nicht nur Voraussetzung
, sondern auch Seinsgrund individueller Existenz. Als wesenhafter Bestandteil
der Gemeinschaft geht der Einzelne in ihr auf. Erst in historisch neuerer Zeit
beginnt er langsam, sich seiner Individualität bewußt zu werden, fängt
er an, sein Ich zu entdecken. Mit der Entdeckung seines Ichs entsteht beim Individuum
der Wunsch, es zu erhalten. Nach und nach wird individuelles menschliches Leben
dem Leben der Gemeinschaft gleichrangig und schließlich sogar vorrangig.
Entsprechend greift der Mensch immer entschlossener in die natürliche Ordnung
massenhaften Entstehens und Vergehens ein. Stück für Stück ersetzt
er die Naturordnung durch eine von ihm selbst erdachte Kulturordnung, in der sein
individuelles Leben größeren Bestand haben soll. Dabei fördert
er mit dem schrittweisen Aufbau der Kulturordnung seine weitere Individualisierung.
(Auf diesen Zusammenhang wird schon in der Bibel mit der Geschichte des Turmbaus
zu Babel hingewiesen; vgl. Genesis, 11, 1-9). Denn mit der Verwirklichung dieser
Kulturordnung entfaltet sich der Mensch in seiner Geistigkeit. Nur in seiner Geistigkeit
kann er nämlich die Kulturordnung schaffen, kann er aus der Naturordnung
heraustreten. Doch in seiner Geistigkeit ist der Mensch spezifisch, individuell,
unterscheidet er sich von der ihn umgebenden Gemeinschaft. Sein individuelles
Ich ist die Schöpfung seines Geistes. Je weiter er in seiner Individualisierung
voranschreitet, desto größer werden wiederum seine Fähigkeiten,
die Naturordnung durch die Kulturordnung zu verdrängen. Die Folge hiervon
ist der zunächst sehr zögerliche, dann aber zunehmend meßbare
Anstieg der individuellen Lebenserwartung. Eine wachsende Zahl von Geborenen gelangt
zu individueller Fortpflanzung, die Bevölkerung nimmt zahlenmäßig
zu. Zugleich beginnt der Mensch allerdings auch, sein Geburtenverhalten bewußt
zu steuern. Anders als in der Naturordnung schöpft er in der Kulturordnung
seine physiologischen Fortpflanzungsmöglichkeiten abnehmend aus. Schon in
recht frühen Epochen und in auch heute noch naturnahen Bevölkerungen
wird zumeist nur etwa die Hälfte der physiologisch möglichen Zahl von
Kindern geboren. (Gesunde Frauen müßten bei Ausschöpfung ihrer
physiologischen Möglichkeiten im Laufe ihres Lebens 10 bis 12 Kinder gebären.
Dies ist z.B. bei den aus Deutschland stammenden strenggläubigen Hutterern
in Nordamerika der Fall). Das Nicht-Ausschöpfen der physiologischen Fortpflanzungsmöglichkeiten
ist geradezu Kennzeichen der Kulturordnung wie menschlichen Verhaltens überhaupt.
Die Ziele, die mit der Steuerung des Geburtenverhaltens verfolgt werden, sind
nicht nur im Zeitablauf, sondern auch von Region zu Region, von Bevölkerung
zu Bevölkerung, von Gruppe zu Gruppe und selbst von Individuum zu Individuum
unterschiedlich. Dennoch ist ein Grundmuster zu erkennen. Befinden sich Einzelne,
Gruppen oder Bevölkerungen am Rande des Existenzminimums, ist in der Regel
dessen Sicherung vorrangiges Ziel der Steuerung ihrer Fruchtbarkeit. Diese Steuerung
hat noch Ähnlichkeit mit Verhaltensweisen, die auch im Tierreich zu beobachten
sind. (Bei höher entwickelten Tieren wird ebenfalls - wenn auch instinktbedingt
- die Fortpflanzung von der ausreichenden Ernährung der erwachsenen Tiere
beeinflußt). Ist das physische Existenzminimum gesichert, gewinnen andere
Steuerungsziele an Bedeutung. (Dies verkennt der englische Bevölkerungswissenschaftler
Thomas Robert Malthus, wenn er meint, die geschlechtliche Leidenschaft des Menschen
lasse die Bevölkerung stets solange zahlenmäßig zunehmen, bis
die Obergrenze des Nahrungsmittelstroms erreicht sei). Zu ihnen zählen einmal
die Dauerhaftigkeit des Einklangs zwischen Bevölkerungszahl und Lebensgrundlagen
und zum anderen die Verbesserung materieller Lebensbedingungen über das bloße
Existenzminimum hinaus. Sind auch diese Ziele gesichert, eröffnen sich weitere
Perspektiven, die vornehmlich im immateriellen Bereich liegen. Denn mit der Befriedigung
materieller steigt die Bedeutung immaterieller Bedürfnisse. Ist der Mensch
in seiner Körperlichkeit bestrebt, - ähnlich wie Tiere - seine natürliche
Existenz zu sichern und zu entfalten, so erstrebt er in seiner Geistigkeit das
gleiche für seine kulturelle Existenz. (Zur Unterscheidung des Menschen in
Natur- und Kulturwesen (vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine
Stellung in der Welt, 1940, S. 35ff.). Sowohl seine natürliche als auch
seine kulturelle Existenz sollen durch sein Geburtenverhalten möglichst gefordert,
keinesfalls aber beeinträchtigt werden. Diese Doppelfunktion der Steuerung
menschlicher Fruchtbarkeit ist ebenfalls schon in recht frühen Epochen und
in auch heute noch naturnahen Bevölkerungen zu beobachten. Zur Steuerung
ihres Geburtenverhaltens haben die Menschen seit langem eine Vielzahl von Instrumenten
entwickelt. (Vgl. Anhang,
S. 147-149). Mit Hilfe dieser Instrumente gelingt es ihnen, wenn auch erst
in jüngster Zeit, ihre Fruchtbarkeit ihrer gesunkenen Sterblichkeit anzunähern.
Wie in der Naturordnung stehen nunmehr auch in der Kulturordnung Fruchtbarkeit
und Sterblichkeit im Gleichgewicht. Das zahlenmäßige Wachstum der Bevölkerung
kommt wieder zum Stillstand. In Bevölkerungen, in denen die Individualisierung
besonders weit fortgeschritten ist, das heißt in Bevölkerungen, die
sich von der Naturordnung besonders weit entfernt und diese durch die Kulturordnung
weitgehend ersetzt haben, sinkt die Fruchtbarkeit sogar unter die Sterblichkeit.
Die Zahl der Sterbefälle ist also höher als die Zahl der Geburten, die
Bevölkerung nimmt zahlenmäßig ab. Dieser Zusammenhang von zunehmender
Individualisierung, Entfaltung der Kulturordnung, vorübergehendem Anstieg
der Bevölkerungszahl aufgrund steigender Lebenserwartung bei gleichzeitigem
Rückgang der Fruchtbarkeit und schließlichern Rückgang der Bevölkerungszahl
ist in der europäischen Geschichte, vor allem in der europäischen Ideologiengeschichte,
gut zu erkennen. Das Individuum rückt im Laufe der Geschichte immer stärker
in das Zentrum der jeweils herrschenden Ideologie, bis es schließlich im
Individualismus selbst zum Mittelpunkt und zugleich - gemessen an seinen physiologischen
Möglichkeiten - biologisch unfruchtbar wird. Dieser Zusammenhang zwischen
Individualisierung, Kulturordnung und Fruchtbarkeit läßt sich darüber
hinaus auch in gruppen- und einzelbiographischen Entwicklungen aufzeigen.
(Ebd., S. 15-17).
(Antike/Griechenland).
- In der Frühphase der griechischen Antike befindet sich die Individualisierung
des Einzelnen noch im Anfangsstadium. Der Einzelne weist kaum eigenständige
Züge auf, sondern verkörpert einen Typus. Als solcher ist er Träger
kollektiv definierter Eigenschaften, von Tugenden und Lastern. An ihm interessiert
vor allem das Generelle, nicht das Individuelle. Das Menschenbild dieser Epoche
ist weitgehend statisch. Idealiter füllt der Einzelne einen von der Gemeinschaft
gesetzten Rahmen, der von objektiven Kriterien wie Weisheit, Mut, Mäßigkeit
und Gerechtigkeit bestimmt ist. Der Mensch ist nicht individuell beseelt, sondern
hat nur Teil an einem allgemeinen Lebensgeist, der Psyche. Neigungen zur Individualität
werden als Stolz gegenüber den Göttern und damit als frevelhaft angesehen.
Der Begriff der Freiheit, soweit er überhaupt schon gedacht wird, steht nur
für den menschlichen Handlungsraum innerhalb göttlicher Gesetze, die
das Schicksal aller bestimmen. Nicht Freiheit, sondern Glückseligkeit durch
Beachtung dieser Gesetze ist das Ziel menschlichen Strebens. Die Gemeinschaft,
namentlich die Familie und darüber hinaus die Polis, ist der zentrale gesellschaftliche
und religiöse Wert. Die Ehe dient vorrangig der Fortpflanzung, die nicht
nur als sittliche, sondern sogar als religiöse Pflicht angesehen wird. Der
Einzelne versteht sich als Glied einer lebendigen Kette, die es zu erhalten gilt.
Diese Obliegenheit hat er gegenüber Vor- und Nachfahren. Um die Ahnenreihe
zu erhalten, muß die Frau gebären. Dies ist ihre vornehmste Aufgabe.
In dieses statische Welt-, Gesellschafts- und Menschenbild gerät erst in
der sogenannten klassischen Periode, während des 6. bis 4. vorchristlichen
Jahrhunderts, ein wenig Bewegung. Zwar gibt es schon vorher bei Homer (ca. 8.
Jh. v. Chr.) erste Andeutungen, daß Eigennutz vor Gemeinnutz gehen könne.
Aber erst jetzt finden sich in der Literatur vermehrt Gestalten, die sich vom
Stamm und seinen Traditionen zu emanzipieren versuchen, auch wenn sie dabei -
bezeichnenderweise - fast immer scheitern. (Eine Ausnahme bildet beim Griechischen
Dichter Homer die Figur Odysseus). Der Begriff der Freiheit erfährt einen
wichtigen Bedeutungswandel. Freiheit wird zunehmend zum Anspruch des Einzelnen
gegenüber Gemeinschaft und Göttern auf ein eigenes Ich. Die Durchsetzung
dieses Anspruchs ist oft Ansporn zu besonderen individuellen Leistungen. Der Einzelne
will sich gegenüber Gemeinschaft und Göttern beweisen. In der Literatur
finden sich erste Versuche, Wege einer individuell sinnvollen Lebensführung
aufzuzeigen. In einem oft mühsamen Lernprozeß erkennen die Menschen
die Chancen und Risiken persönlicher Freiheit. Diese Freiheit eröffnet
ihnen einerseits Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung. Ihr Schicksal
erscheint ihnen nicht mehr unabänderlich. Andererseits wächst die Last
persönlicher Verantwortung.31 Doch das Ringen um individuelle Freiheit geht
weiter. Mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft lernen zunächst die Bauern,
den Wert dieser Freiheit zu schätzen, mit dem Aufkommen der Tyrannis auch
der Adel. Die PerserKriege (500-479) lassen schließlich auch bei der städtischen
Bevölkerung die Bewahrung individueller Freiheit zu einem zündenden
Ideal werden. (Vgl. Hans Schaefer, Politische Ordnung und individuelle Freiheit
im Griechentum, 1969, S. 153). Im 5. Jahrhundert v. Chr. ist das Streben nach
persönlicher Freiheit zum Lebensprinzip eines großen Teils der Bevölkerung
geworden. Es hat das Streben nach Glückseligkeit durch Beachtung göttlicher
Gesetze in den Hintergrund gedrängt. Gesellschaftliche Traditionen und göttliche
Gesetze, die den Einzelnen gestützt und geschützt, zugleich aber auch
in seiner individuellen Entfaltung behindert haben, sind zerbrochen. Die Menschen
suchen nach individuellen Formen der Lebensgestaltung und entwickeln dabei zunehmend
die Fähigkeit, ihre individuellen Potentiale zu erkennen. Die Philosophie
jener Zeit spiegelt diese Entwicklung wider. Bereits Heraklit (550-480) erlaubt
die Durchbrechung gesellschaftlicher Gesetze, wenn dies individuellen Erfolg verspricht.
Für Sokrates (470-390) ist nicht mehr die Gemeinschaft, sondern der Einzelne
das höchste Ideal. .... Auch Platon (427-347) betont die Stellung des Einzelnen
in der Gemeinschaft, obwohl er zugleich auch auf die wechselseitige Abhängigkeit,
die Notwendigkeit eines Gleichgewichts zwischen individueller Freiheit und Gemeinschaftsbindung
verweist. Aristoteles (383-322) sieht dies ähnlich, meint aber, die Gemeinschaft
müsse jedem die Chance geben zu leben, wie er wolle. Nach Karel Mácha
(Individuum und Gesellschaft, 1964, S. 47) ergänzt und vervollkommnet
Aristoteles »die Voraussetzungen, auf denen die individualistische Menschenkonzeption
entstanden ist«. In der hellenistischen Epoche ... rückt das Individuum
endgültig in den Mittelpunkt des philosophischen Interesses. Für die
Stoiker gibt es für den Menschen nicht mehr zu suchen und zu finden als sich
selbst. Für die Sophisten wird der Mensch gar zum Maß aller Dinge.
Epikuräer und Kyniker - und das ist im antiken Denken neu - beziehen auch
Frauen in den Prozeß der Individualisierung ein. Im Hellenismus (Zeitraum
von ca. 360 v. Chr. bis ca. 80 n. Chr.), eindrucksvoll verkörpert in der
Gestalt Alexander des Großen (356-323), tritt das Individuum für jedermann
sichtbar aus der Gemeinschaft heraus. Dieses Heraustreten des Individuums aus
der Gemeinschaft hat weitreichende Folgen. Der Einzelne ist gezwungen, mit anderen
zu konkurrieren. Dies spornt ihn zu Leistungen in Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft
an, zu denen er als Teil der Gemeinschaft nicht imstande gewesen wäre. Gerade
deshalb beginnt er aber auch, die Gemeinschaft als Behinderung bei der Entfaltung
seiner individuellen Fähigkeiten zu empfinden. Die gemeinschaftsbezogenen
Ideale von einst werden vom Verlangen nach der Befriedigung individueller Bedürfnisse
überlagert. Ehe und Familie, vormals heilig, werden zunehmend als Last angesehen.
Insbesondere wächst die Abneigung gegen Kinder. Gibt es im 4. und 3. Jahrhundert
v. Chr. noch einen beträchtlichen Bevölkerungsüberschuß,
nimmt die Bevölkerung im 2. Jahrhundert v. Chr. zügig ab, ohne daß
dafur äußere Gründe wie Kriege, Seuchen oder Hungersnöte
erkennbar wären. Vielmehr verstärkt sich die Neigung der Griechen zur
freiwilligen Kinderlosigkeit. Ein- und Zweikindfamilien, früher die Ausnahme,
werden jetzt zur Regel. (So ist ... die Ein-Kind-Familie zum Zwecke der Konzentration
von Wohlstand und Macht gerade in begüterten Bevölkerungskreisen keine
Seltenheit. Beispielsweise haben 79 Familien, die zwischen 228 und 220 v. Chr.
das milesische Bürgerrecht erhalten, insgesamt nur 146 Kinder. 32 dieser
Familien haben ein Kinde und 31 Familien zwei Kinder. Die durchschnittliche Kinderzahl
beläuft sich zu dieser Zeit auf höchstens zwei Kinder pro Familie, wobei
bevorzugt Söhne Dgroßgezogen werden. Auch gilt es im antiken Griechenland
und Rom als sittliche Pflicht des Familienoberhauptes, durch eine Beschränkung
der Kinderzahl die wohl durchaus nicht nur wirtschaftlich z uverstehende Leistungsfähigkeit
seiner Familie zu gewährleisten. (Vgl. Heleni Koch / Andreas Tewinkel, Bevölkerungspolitik
in Geschichte und Gegenwart, 1985, S. 23ff..). Dies reicht zur Bestandserhaltung
der griechischen Bevölkerung nicht aus. Sarah Pomeroy (Frauenleben im
klassischen Altertum, 1985) zufolge schmilzt die Bevölkerung der griechischen
Städte aufgrund der Heiratsunwilligkeit der Männer und des Brauchs,
ungewollte Kinder einfach auszusetzen, besorgniserregend zusammen. Versuche des
Staates, diesen Trend zu wenden, bleiben weitgehend erfolglos. Die Menschen, so
klagt der griechische Geschichtsschreiber Polybios (201-120), frönen lieber
ihrer Habgier und Prunksucht, anstatt Kinder großzuziehen. Um 100 v. Chr.
ist die Entvölkerung griechischer Städte so weit fortgeschritten, daß
in großer Zahl Fremde zur Aufrechterhaltung lebenswichtiger Funktionen aufgenommen
werden müssen. Trotzdem verlischt Griechenlands Macht. Rom füllt das
entstandene Vakuum. (Ebd., S. 17-19).(Antike/Rom).
- Mit einer zeitlichen Verzögerung ... wiederholt sich im antike Rom die
... demographische Entwicklung Griechenlands mit bemerkenswerter Parallelität.
In der frühen Republik ... haben die Interessen der Gemeinschaft noch unbedingten
Vorrang vor den Interessen des Einzelnen. Der Einzelne verschwindet zwar nicht
in der Masse, und die Gemeinschaft ist sich wohl bewußt, daß sie aus
Einzelgliedern besteht. Aber die Einzelnen wissen auch um ihre existentielle Abhängigkeit
von der Gemeinschaft. Ganz ähnlich wie die Griechen der frühen Periode
sehen sich auch die Römer der frühen Republik als Glieder einer Kette.
Römer zu sein heißt, einer römischen Ahnenreihe anzugehören.
(Vgl. Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Band 1, 1854, S. 62).
Familienbande werden intensiv gepflegt. »Eigenes Haus und Kindersegen erscheinen
dem römischen Bürger als das Ziel und der Kern des Lebens«, schreibt
Theodor Mommsen (ebd., 1854, S. 56). Viele Kinder zu haben gereicht der
Frau zur Ehre. Das ändert sich gegen Ausgang des 3. Jahrhunderts, vor allem
aber im 2. Jahrhundert v. Chr.. In dieser Zeit nimmt der Einfluß des Hellenismus
auf die römische Gesellschaft erheblich zu und mit ihm das Streben nach individueller
Freiheit und »Selbstverwirklichung« (Anführungszeichen
von mir: HB), nach Gleichheit und Teilhabe an der politischen Macht. (Vgl.
Theodor Mommsen, ebd., 1854, S. 304; Sarah Pomeroy, Frauenleben im klassischen
Altertum, 1985, S. 227). Bildung, Kunst und Wissenschaft beginnen zu blühen.
Sich in den Künsten zu bilden wird für die Angehörigen gehobener
Schichten zur Selbstverständlichkeit. Anders als in Griechenland gilt dies
auch für Frauen, die sich nicht nur bilden, sondern auch am öffentlichen
Leben teilnehmen. Vor allem Frauen der Oberschicht besuchen Theater und Gastmähler,
und das »Trachten nach Macht und Einfluß kann unter ihnen nicht anders
als sehr verbreitet gewesen sein« (Vgl. Ludwig Friedländer, Sittengeschichte
Roms, 1957, S. 258). Viele Frauen pflegen einen höchst individuellen
und mitunter ausschweifenden Lebensstil, an dem schon damals manche Zeitgenossen
Anstoß nehmen. (Vgl. Ludwig Friedländer, ebd., 1957, S. 249f.).
Die Zahl von Dichterinnen und Rednerinnen ist beträchtlich, und selbst der
Zugang zur Kaiserwürde ist Frauen nicht verschlossen. (Vgl. Ludwig Friedländer,
ebd., 1957, S. 258). Zugleich verfallen die tradtionsreichen Institutionen
Ehe und Familie. Die Manus-Ehe wird abgeschafft, Ehescheidungen werden erleichtert.
(In der Manus-Ehe wird die Frau bei der Heirat Mitglied der Familie des Ehemannes
und damit seiner Autorität unterworfen. Das Vermögen der Frau geht an
die Familie des Ehemannes über. Die Ehefrau hat dagegen auf das Eigentum
des Mannes nur geringe Rechtsansprüche. (Vgl. Karl Christ, Die Römer,
1979, S. 103f., S. 104; Ludwig Friedländer, ebd., 1957, S. 245f.;
Sarah Pomeroy, ebd., 1985, S. 232ff., S. 236f. und 141ff.). Besonders in
wohlhabenden Kreisen sind Ehescheidungen und Wiederverheiratungen häufig.
(Vgl. Karl Christ, ebd., 1979, S. 103f.). Männer und Frauen genießen
ein hohes Maß an sexueller Freizügigkeit. Dabei geht die Geburtenrate
zunächst bei der wohlhabenden, dann auch bei der übrigen Bevölkerung
ständig zurück. (Vgl. Sarah Pomeroy, ebd., 1985, S. 253f.). Maßnahmen
der Empfängnisverhütung und Abtreibung sind weithin praktizierte Mittel
der Geburtenkontrolle. Im 2. vorchristlichen Jahrhundert ist der Wunsch, kinderlos
zu bleiben, unter den Römern so verbreitet, daß sich der Staat zum
Eingriffen genötigt sieht. (Vgl. Sarah Pomeroy, ebd., 1985, S. 253ff.).
Doch alle Versprechungen und Bestrafungen bewirken wenig. Der Widerstand der Bevölkerung
gegen die Belebung altrömischer Traditionen ist beträchtlich. Vor allem
die Jugend besteht auf einem Höchstmaß an Bindungslosigkeit. Das Leben
in Rom ist nach Ludwig Friedländer geprägt durch Genußsucht und
dem Streben nach Besitz, von dem Rang, Stand, Ehre und Ansehen abhängen.
(Vgl. Ludwig Friedländer, ebd., 1957, S. 217). Um die Zeitenwende
muß der Staat seine Bürger geradezu zur Ehe verpflichten, was allerdings
deren Fruchtbarkeit nicht erhöht. (Mit der Lex Julia de maritandis
aus dem Jahr 18 v. Chr. und der Lex Papia Poppaea aus Jahr 9 v. Chr. wurden
unter der Herrschaft Kaiser Augustus Kinderlosen hohe Ämter verwehrt. Außerdem
wurden Kinderreiche durch das Erbrecht bevorzugt. (Vgl. John T. Noonan, Contracception,
1965, S. 21f.; Sarah Pomeroy, ebd., 1985, S. 254.). Gesellschaftlich angesehener
als der Verheiratete oder gar Kinderreiche ist der Ledige. Dies nicht zuletzt
deshalb, weil einige hoffen, ihn beerben zu können, und daher ständigen
Umgang mit ihm pflegen. Doch auch unabhängig davon ist für viele Römer
dieser Epoche Ehe- und Kinderlosigkeit gleichbedeutend mit einem gemächlichen
und sorgenfreien Leben. (Vgl. Ludwig Friedländer, ebd., 1957, S. 218ff.)
An dieser Auffassung vermag der Staat kaum etwas zu ändern. Wichtiger als
Kinder sind den Römern die Verschönerung ihrer Städte, gute Verkehrswege,
Einrichtungen der Hygiene wie Wasser- und Abwasseranlagen sowie ein umfassendes
Versorgungs-, namentlich Gesundheitssystem. Für diese Zwecke treiben sie
einen hohen Aufwand. Aber auch Mittellose werden großzügig unterstützt.
Während langer Perioden ist die öffentliche Verwaltung korrekt und effektiv.
Die Gesellschaft ist im historischen Vergleich freizügig und weltoffen, tolerant
und zunehmend human. Der Einzelne und sein Schicksal werden immer bedeutungsvoller.
Im wachsenden Bewußtsein seines Eigenwertes sprengt er »Schritt für
Schritt die Bande der Gemeinschaft und (läßt) an die Stelle der Hingabe
für das gemeine Wohl die Ausrichtung auf die persönlichen Interessen
und den eigenen Vorteil treten« (Franz Hampl, Probleme der römischen
Geschichte und antiken Historigraphie sowie ein grundsätzlicher Rückblick,
1979, S. 97). Diese Verhaltensänderungen bleiben wiederum nicht ohne Rückwirkungen
auf das Bevölkerungsgefüge. Im 2. Jahrhundert n. Chr. kommt - abermals
ohne erkennbare äußere Gründe - das Bevölkerungswachstum
in der besonders entwickelten Westhälfte Roms zum Stillstand, im 3. Jahrhundert
nimmt die Bevölkerung vor allem in den Städten ab, und im 4. Jahrhundert
verwaisen ganze Landstriche. Die immer großzügigere Gewährung
von Bürgerrechten vermag hieran nichts zu ändern. In den Stürmen
der Völkerwanderung erlischt auch Rom ähnlich wie Griechenland, nicht
zuletzt wegen des anhaltenden Rückgangs seiner Bevölkerung. Zu den Folgen
des Rückgangs der römischen Bevölkerung gehörta uch die Zunahme
von Nichtrömern im römischen Heer. Nichtrömer bilden schließlich
die Mehrheit. Der weströmische Kaiser gerät immer stärker in Abhängigkeit
von dieser Mehrheit und ist kaum noch in der Lage, römische Interessen surchzusetzen.
(Ebd., S. 20-21).(Antike/Christentum).
- Das Christentum dürfte den Rückgang der römischen Bevölkerung
noch beschleunigt haben. Mit ihm verinnerlichen die Römer seit dem 2. Jahrhundert
eine Religion, die ihre ohnehin vorhandene Abneigung gegen Ehe und Familie ethisch
rechtfertigt und metaphysisch überhöht. In den Worten des heiligen Hieronymus
(345-420) retten Ehe- und Kinderlosigkeit nunmehr nicht mehr nur »vor Sodom
und schmerzhaften Schwangerschaften und brüllenden Kindern und Haushaltssorgen
und den Qualen der Eifersucht« (Will Durant, Weltreiche des Glaubens,
1977, S. 296), sondern sie ebnen auch den Weg in den Himmel (vgl. Matthaüs,
19,12). Die Vorbehalte gegen Ehe und Familie wurzeln im jungen Christentum tief.
Das Vorbild ist Jesus von Nazareth. Nach der Überlieferung hat er seine Eltern
und Verwandten verlassen, ohne eine eigene Familie zu gründen. Stattdessen
erwählt er sich Jünger, von denen er Gleiches verlangt. Auch sie müssen
sich von ihren Familien trennen. (Vgl. Matthäus, 4, 18-22). Wer hierzu nicht
bereit ist, ist seiner nicht wert. (Vgl. Lukas, 14, 12-18). Wer jedoch »um
des Reiches Gottes willen Haus oder Frau, Brüder, Eltern oder Kinder verlassen
hat, wird dafür schon in dieser Zeit das Vielfache erhalten und in der kommenden
Welt das ewige Leben« (Lukas, 18, 28-30). Die Familie Jesu ist keine Gemeinschaft
»im Fleisch«, sondern »im Geist«. Bruder und Schwester
sind ihm jene, die sein Wort hören und befolgen. (Vgl. Matthäus, 12,
46-50). Nehmen im Alten Testament Ehe, Familie und Volk einen hohen Rang ein,
so findet sich hiervon im Neuen Testament, aber auch bei den Kirchenvätern
nichts mehr. Ergeht im Alten Testament an die Menschen der Aufruf, fruchtbar zu
sein und sich zu mehren (vgl. Genesis, 1, 22), so fordert das Neue Testament dazu
auf, in die Welt zu gehen, um zu lehren und zu taufen. (Vgl. Matthäus, 5,19;
10, 7-9). Doch der durch die Taufe Erlöste lebt nicht in seinen Kindern fort,
sondern in seiner eigenen, unsterblichen Seele. Folglich sind für Christen
eigene Kinder kein Anliegen. Sie wollen nicht selbst gebären, sondern in
Erwartung des jüngsten Gerichts dazu beitragen, daß möglichst
viele im Wasser und Geiste wiedergeboren werden und dadurch ewiges Leben empfangen.
Nicht Nachkommenschaft so zahlreich wie die Sterne des Himmels ist ihr Ziel (vgl.
Genesis, 15, 5f.), sondern die Erlösung derer, die bereits geboren sind.
In sie soll der Geist Gottes einziehen, ihre Leiber sollen zu Gottes Tempeln werden,
und der Heilige Geist soll in ihnen wohnen. (So der Apostel Paulus in seinem ersten
Brief an die Korinther; vgl. 1. Korinther, 3, 16). Hiermit sind Ehe und Familie
nur schwer zu vereinbaren. Das junge Christentum läßt keinen Zweifel,
daß die neue Zweckbestimmung des Menschen, seine Vergeistigung in der Kindschaft
Gottes ohne eheliche und familiäre Bindungen, leichter zu verwirklichen ist.
Die völlige Hingabe an Gott ist dem bindungslos, jungfräulich lebenden
Menschen eher möglich, und diese Menschen sind es, die aus der Sicht der
jungen Christengemeinde als erste erlöst werden. (Vgl. Matthäus, 19,
10-12; 22, 29-31). In dieser Gewißheit verlassen in der Frühphase des
Christentums zahllose Menschen ihre Ehepartner, Kinder und Eltern, um weltabgeschieden
nach individueller Vervollkommnung und Erlösung zu streben. (Vgl. Will Durant,
ebd., 1977, S. 320). Zeitweise drängen so viele in die Klöster,
daß die junge Kirche nach und nach eine verständnisvollere Haltung
gegenüber der Ehe einnimmt und diese schließlich sogar zum Sakrament
erhebt. Dennoch ist ein großer Teil Europas durch die Lehren des Christentums
nachhaltig verändert. Besonders die Vorstellung ihrer individuellen Beseelung
fasziniert die Menschen. Sie sind beglückt, einmalige, unverwechselbare und
unsterbliche Geschöpfe zu sein. Diese Beseelung macht sie nicht mehr nur
zu körperlichen, sondern auch zu geistigen Individuen. Im Christentum erfährt
ihre geistige Individualität erstmals grundsätzliche Beachtung. Das
Christentum legt auf das »kleine Ich«, wie Sören Kierkegaard
(1813-1855) später feststellt, ein ganz anderes Gewicht. (Vgl. Hermann Krings
/ Hans Michael Baumgartner / Christoph Wild, Handbuch der philosophischen Grundbegriffe,
Band 2, 1973, S. 731). Das so entstandene Körper-Geist-Individuum wird zumindest
idealiter zum Maß allen gesellschaftlichen und religiösen Handelns.
Diese Individualisierung bedeutet allerdings auch eine Belastung, die in der Menschheitsgeschichte
neu ist. Denn der Einzelne trägt nunmehr unmittelbar Verantwortung für
beides: sein irdisches Schicksal und sein ewiges Heil. Jeder geht seinen individuellen
Heilsweg. Niemand ist mehr eingebettet in die Familie, die Gemeinschaft oder das
Volk. Am Jüngsten Tag erwartet jeder sein individuelles Gericht und sein
individuelles Urteil. Die Idee der Selbsterhaltung, der Bewahrung des Ichs wird
nach Auffassung Max Horkheimers auf diese Weise in ein metaphysisches Prinzip
überführt. (Vgl. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft,
1967, S. 131). Das Streben des Menschen nach Individualität wird dadurch
unermeßlich gestärkt. Anders als die überindividuelle Psyche der
antiken Philosophie wirkt die individuelle Seele des Christentums wie ein »inneres
Licht«, das dem Menschen Persönlichkeit verleiht. Zugleich wird der
Begriff der Freiheit abermals neu bestimmt. Individuelle Freiheit ist nicht mehr
nur, wie in der Antike, Möglichkeit zur Gestaltung des irdischen Lebens,
sondern unverzichtbare Voraussetzung für menschliche Selbstbestimmung, die
ihrerseits Voraussetzung für eigenverantwortliches und mithin sittlich relevantes
Handeln ist. Nur für sittlich relevantes Handeln kann der Mensch jedoch zur
Rechenschaft gezogen werden - Bedingung seiner ewigen Seligkeit oder Verdammnis.
Diese kühne, gerade aber deshalb für viele Zeitgenossen auch beängstigende
Gedankenführung wird in der Völkerwanderung von einer Vielzahl zuwandernder
Bevölkerungen aufgenommen und mit deren zumeist noch sehr naturnahen Denk-
und Anschauungsweisen verschmolzen. Die geistige Überwölbung, die das
Individuum im Christentum erfahren hat, stürzt in großen Teilen wieder
zusammen. Als ... die Antike endet, haben die christlichen Lehren viel von ihrer
ursprünglichen Radikalität eingebüßt. Das Christentum ist
zu einer gesellschaftlichen Ordnungsmacht geworden, die den Gemeinschaftsbedürfnissen
und -neigungen der Menschen weit entgegenkommt. Die der Gemeinschaft abträglichen
Ideen von körperlich-geistiger Individualität und Freiheit verblassen.
Doch ganz in Vergessenheit geraten sie nicht. (Ebd., S. 21-23).(Abendland/Christentum).
- Etwa seit dem 5. Jahrhundert tritt das Individuum wieder in den Hintergrund
des gesellschaftlichen Bewußtseins. Ähnlich wie in der frühgriechischen
und frührömischen Zeit Phase dominieren erneut Gemeinschaftsorientierungen.
Die Gemeinschaft, die sich als naturgesetzlich versteht und daraus auch ihre politische
Ordnung ableitet, garantiert den Menschen einem »geordneten, final ausgerichteten
Lebenszusamenhang« (Claudia Honegger, Die Hexen der Neuzeit, 1978,
S. 90). Der Einzelne, die Gemeinschaft und die Natur bilden im mittelalterlichen
Denken eine unauflösliche Einheit. »Der Mensch aber«, schreibt
Jacob Burckhardt (Die Kultur der Renaissance in Italien, 1860, S. 97),
»erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst
in irgendeiner Form des Allgemeinen«. Auch in der Kunst jener Zeit ist der
Mensch nie Individuum, sondern nur Symbolträger jenes Allgemeinen, Erst gegen
Ende des Mittelalters wird von Scholastikern wie Albertus Magnus (= Albert von
Bollstädt; 1193-1280), Thomas von Aquin (1225-1274)
oder Bonaventura (1221-1274) der Versuch unternommen, die Idee der Individualität
des Menschen wieder zu beleben. Ihre Erfoge sind allerdings mäßig.
Die Fruchtbarkeit dieser gemeinschaftsorientierten Bevölkerung ist ganz wie
in der frühgriechsichen und -römischen bemerkenswert hoch. (Ebd.,
S. 24).(Abendland/Renaissance-Humanismus-Reformation-Aufklärung).
- Die umwälzenden Veränderungen fangen ... in Italien an und breiten
sich von dort über große Teile des Kontinents aus. Im Zuge dieser Veränderungen
zerbricht die bis dahin unauflöslich scheindende Einheit von Einzelnen, Gemeinschaft
und Natur, und es beginnt ein prozeß, in dem nach Agnes Heller (Der Mensch
in der Renaissanse, 1982, S. 10) »die Anfänge des Kapitalismus
das natürliche Verhältnis zwischen Mensch und Natur zunichte
machen, die natürlichen Bindungen des Menschen an seine Familie, seinen
Stand, an seinen vorgegebenen Platz in der Gesellschaft zersetzen,
die Hierarchie, die Stabilität erschüttern und die gesellschaftlichen
Verhältnisse in Fluß bringen«. Wieder tritt der Einzelne aus
der Gemeinschaft heraus, wobei er nicht nur erneut sein ich entdeckt, sondern
dieses auch bewußt annimt. Diese bewußte Individualisierung ist für
Jacob Burckhardt das wichtigste Merkmal der Renaissance. (Vgl. Jacob Burckhardt,
Die Kultur der Renaissance in Italien, 1860, S. 97ff.). .... Der Mensch
ist nicht mehr nur Maß aller Dinge, sondern Mittelpunkt der Welt. Nach Gott
dreht sich alles um ihn. Von dieser Individualisierungswoge sind zwar noch immer
nicht alle, aber doch breitere Bevölkerungsschichten als in der Antike (der
entsprechenden Zeit: ca. 7. und 6. Jh. v. Chr.; Anm. HB) erfaßt.
Besonders spürbar verändert sich die Stellung der Frau. Obgleich sie
von »Emanzipation« (Anführungszeichen von
mir: HB) im heutigen Sinne weit entfernt bleibt (vgl. Hanna-Barbara Gerl,
Frauenbilder in der Geschichte, 1988, S. 6), spielt sie nicht nur im Familienkreis,
sondern auch im wirtschaftlichen ... und mitunter sogar politischen Leben ...
eine zunehmend bedeutende Rolle. (Vgl. Claudia Honegger, Die Hexen der Neuzeit,
1978, S. 48ff.). Gegen Ende der Renaissance werden (laut
Meinung einiger Autoren: HB) sogar erstmals in der abendländischen
Geschichte Kinder als eigenständige Wesen entdeckt, die nicht nur liebes-,
sondern auch erziehungsfähig und -bedürftig sind. (Vgl. Philippe Ariès,
Geschichte der Kindheit, 1960, S. 554f. und 560ff.). .... Der Mensch soll
und will sein irdisches Schicksal selbst bestimmen. Sein Schicksal wird als Folge
dessen angesehen, was er aus sich machen konnte und aus sich gemacht hat. (Vgl.
Agnes Heller, ebd., S. 16). Diese Vorstellung setzt erhebliche Energien
frei. Ihre Triebfeder ist ein zunächst werk-, dann auch personenbezogener
schöpferischer Egoismus, der darauf abzielt, der Welt den eigenen Stempel
aufzudrücken. Selbstbewußt zerreißt der Renaissancemensch die
Fesseln, die ihm die feudale und klerikale Ordnung des Mittelalters angelegt hat.
Seine Neugier ist grenzenlos. Von allem Unbekannten ist er angetan. Kunst und
Wissenschaft lassen sich nicht länger durch den Glauben binden. Die Folge
ist eine Fülle von Entdeckungen und Neuerungen. (Hierzu gehören z.B.
die Entwicklung der Brille, vor allem aber die Erfindung der Buchdruckkunst durch
Johannes Gutenberg [1397-1468], die Entwicklung des Erdglobus durch Martin Behaim
[1459-1506], die Entdeckung fremder Erdteile, die
Entwicklung der Taschenuhr durch Peter Henlein [1480-1542],
die vielen Entdeckungen von Leonardo da Vinci [1452-1519]
oder Andreas Vesal [1514-1564] u.v.a.). Dadurch steigt
die Produktivität .... Die gesteigerte Produktion schafft große Räume
für gesellschaftliche Vielseitigkeit, wobei - .... Marx zufolge - individuelle
und gesellschaftliche Vielseitigkeit in enger Beziehung miteinander stehen. Die
Kehrseite dieser Entwicklung ist der immer härtere Wettbewerb zwischen Individuen
und Gruppen. In diesem Wettbewerb erscheinen auch Ehe und Familie zunehmend als
Belastung. .... Der Einzelne muß seinen eigenen Weg gehen. Allerdings kann
es dabei geschehen, daß »der sich von den Göttern und der Gemeinschaft
absondernde Mensch ... in Weltangst und Deformation« (Wieland Schmied, 1973,
S. 16) gerät. Mitunter flüchtet er sich dann in Sekten, die während
dieser Zeit in großer Zahl antstehen. (Vgl. Claudia Honegger, ebd.,
1978, S. 35ff. und 42). Orientierungslosigkeit ist ein weiteres Merkmal dieser
Epoche, auch wenn eine welt- und menschenbejahende Grundhaltung vorherrschend
ist. Der härter werdende Wettbewerb, verbunden mit einem immer ausgeprägteren
Wertepluralismus verändert auch die Rolle des Staates. Er ist seiner naturgesetzlichen
Fundierung verlustig gegangen. An ihre Stelle ist positives Recht getreten. Das
aber ist in einer wertepluralen Gesellschaft nicht frei von Willkür. Um so
notwendiger ist die feste Einbindung des Individuums in staatliche Ordnungs- und
Regelsysteme. (Die Ideale dieser Zeit sind streng heirarchisch organisierte, auf
ein Zentrum ausgerichtete staatliche Ordnungssysteme, wie sie u.a. in Johann Calvins
»Gottesstaat« oder Thomas Campanellas »Sonnenstaat« beschrieben
werden.). Der Staat muß die Verfolgung individueller Interessen durch Solidarangebote
zähmen. Die Regelementierung des Wettbewerbs wird zu einer seiner wichtigsten
Aufgaben. Zunehmend übernimmt der Staat Aufgaben, die früher Gemeinschaften
erfüllt haben. .... Die Überwindung des Mittelalters durch Rückgriff
auf antike Vorbilder leisten in der Philosophie die sogenannten Humanisten ....
In Italien sind es vor allem Gelehrte wie Marsilio Ficino (1433-1499), Giovanni
Pico della Mirandola (1463-1494) oder Pietro Pomponazzi (1462-1525), in Deutschland
Gelehrte wie Johannes Reuchlin (1455-1522), Erasmus von Rotterdam (1469-1536)
oder Ulrich von Hutten (1488-1523), die sich bemühen, antike Philosophie
mit christlicher Theologie zusammenzuführen. Doch
so wichtig die Arbeiten der Humanisten für den Individualisierungsprozeß
auch sind, noch folgenreicher ist das Wirken der sogenannten Reformatoren, namentlich
Martin Luther (1483-1546), Ulrich Zwingli (1484-1531) und Johann Calvin (1509-1564).
Trotz vieler Unterschiede im Detail sind sie sich einig in der Absage an die Amtskirche,
deren Ersetzung durch das Priesteramt aller Gläubigen und der religiösen
Selbstverantwortung jedes einzelnen Christen. Nach Luther steht der Mensch Gott
unmittelbar gegenüber. In jedem Einzelnen wirkt der Heilige Geist. Auch Zwingli
meint, Gott offenbare sich dem Menschen direkt, und der Mensch könne ihn
direkt erkennen. Äußerer Hilfsmittel bedürfe es nicht zum Glauben.
(Vgl. Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance
und Reformation, postum, S. 64f.). Am radikalsten ist Calvin. Für ihn
muß der Mensch seine Straße einsam ziehen. Nichts und niemand kann
ihm helfen, die Gnade Gottes zu erlangen - kein Priester und kein Sakrament. Gott
hat den Menschen entweder zu ewigem Heil auserwählt oder zu ewiger Verdammnis
bestimmt. Dieses Uretil ist unabänderlich. (Vgl. Max Weber, Gesammelte
Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 1919-1920, S. 94f.). Da
sich Gott und Mensch nach Auffassung der Reformatoren unmittelbar gegenüberstehen,
lehnen sie jede Bevormundung von Glauben und Gewissen ab. Ȇber die
Seele kann und will Gott niemand lassen regieren, denn sich selbst allein«,
schreibt Luther und fährt an anderer Stelle fort: »Darum mich niemand
darf fragen, ob er dies oder das tun soll, sondern er sehe zu, prüfe selbst
sein Gewissen, was er glauben und tun wolle oder möge. Ich kann ihm nicht
raten noch weiter heißen«. Damit ist auch die letzte Bindung des Einzelnen
an die Gemeinschaft gelöst, dem Individualismus auch im Bereich der Religion
Tür und Tor geöffnet. Nach Luther bedarf der wahre Christ weder kirchlicher
Autorität noch des Staates noch der Gesetze. Jeder ist seine eigene Autorität.
Wenn dennoch eine obrigkeitliche Ordnung anzuerkennen ist, dann nur, um die Freiheit
des Evangeliums zu sichern. Der Mensch erfährt seine Rechtfertigung vor Gott
nicht durch ein gottwohlgefälliges Verhalten, sondern allein aus dem Glauben.
Deshalb bedarf er auch keiner Sakramente mehr. Das gilt nicht zuletzt für
das Sakrament der Ehe. Die Ehe wird wieder zu einer weltlichen Einrichtung. Allerdings
wird die Mutterrolle erneut zum ethisch höchsten Ideal der Frau erhoben.
Die Auffassungen, die namentlich Luther hier vertritt, knüpfen durchaus an
mittelalterliche Sichtweisen an. Im Unterschied zum Mittelalter offenbart sich
für ihn die Mütterlichkeit der Frau jedoch nicht vorrangig in der Zahl
der Kinder, die sie gebärt, sondern in der Zuwendung, die sie ihnen zuteil
werden läßt. Diese Sichtweise trägt in der Folgezeit zu einer
nachhaltigen Veränderung der Familienstrukturen bei. Die Zahl der Kinder,
die nunmehr geboren werden, wird maßgeblich von den wirtschaftlichen Verhältnissen
der Eltern bestimmt. Dadurch zieht in die Familien eine bis dahin unbekannte Rechenhaftigkeit
ein. Die protestantische Ethik, die die Durchrationalisierung aller Lebensbereiche
fördert, spart auch Ehe und Familie nicht aus. Das ebnet den Weg zur bürgerlichen
Kleinfamilie, in der ungleich privatere Lebensformen möglich sind als sie
in der Großfamilie des Mittelalters gepflegt werden. Die Kleinfamilie wird
zum Hort von Intimität und Identität. .... Was immer am Ende von Renaissance,
Humanismus und Reformation an tradierten, gemeinschaftsformierenden und -stabilisierenden
Institutionen noch vorhanden ist, wird während des 17. und 18. Jahrhunderts
... einer kritischen Überprüfung unterzogen. Bestand soll nur noch haben,
was den Anforderungen der menschlichen Vernunft genügt. Normen, Konventionen
und Traditionen, die diesen Anforderungen nicht genügen, sollen hingegen
beseitigt werden. Hiervon erwartet Immanuel Kant (1724-1804) das Erwachen des
Menschen aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Obwohl ... das Denken
der Aufklärer keineswegs einheitlich ist, ist ein gemeinsamer Ausgangs- und
Zielpunkt zu erkennen. (Insbesondere stehen sich mit dem Empirismus in Großbritannien,
vertreten durch Francis Bacon [1561-1626], Thomas Hobbes [1588-1679], John Locke
[1632-1704] und David Hume [1711-1776], und dem Rationalismus in Frankreich, vertreten
durch René Descartes [1596-1650], Nicolas Malbranche [1638-1715] und François
Marie Voltaire [1694-1778] zwei recht unterschiedliche Denkrichtungen gegenüber.
Der Niederländer Hugo Grotius [1583-1655] sowie die Deutschen Johannes Alhusius
[1557-1638], Jacob Thomaisus [1622-1684], Samuel von Pufendorf [1632-1694], Christian
Wolff [1679-1754] und vor allem Immanuel Kant [1724-1804] vertreten hingegen eher
vermittelnde Positionen). Ausgangspunkt ist die Befreiung des Menschen von der
tradierten, auf Offenbarung gegründeten christlichen Religion und der mit
ihr verbundenen gesellschaftlichen und politischen Ordnung. An ihre Stelle soll
eine »vernünftige« Religion und Ordnung treten. Zielpunkt ist
hingegen die Emanzipation weiterer Bevölkerungskreise von jeglicher Bevormundung
und nicht zuletzt dadurch die Förderung menschlichen Fortschritts. Dieser
Fortschritt wird aus der Sicht der Aufklärer nur von der Erkenntnisfähigkeit
menschlicher Vernunft begrenzt, die gleichzeitig einzige und höchste Instanz
ist, über Wahrheit und Irrtum sowie Normen des ethischen, politischen und
sozialen Handelns zu entscheiden. Grundlage der »vernünftigen«
Gesellschaft ist »das denkende Individuum«. Dabei unterstellen die
Aufklärer für alle Individuen die gleiche Erkenntnisfähigkeit:
»Alle Menschen sind von Natur sich gleich« (Thomas Hobbes, Leviathan,
1651, S. 187). Daraus folgt für sie: Jedes Individuum muß zum einen
frei sein, seine Meinung zu äußern, und zum anderen bereit sein, die
Meinung anderer zu tolerieren. Im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen
Diskurs dieser Meinungen sollen zusätzliche Erkenntnisse gewonnen werden.
In diesem Diskurs spricht jeder nur für sich selbst. Niemand spricht für
eine Gruppe. Von dieser Vorgehensweise profitiert vor allem die Wissenschaft.
Fast alle Wissensgebiete werden beträchtlich erweitert. In den Naturwissenschaften
werden bahnbrechende Erkenntnisse gewonnen (so z.B. [1602-1686] das Gravitationsgesetz
von Isaac Newton [1643-1727], das Grundgesetz der Elastizität von Robert
Hooke [1635-1703] oder die Entdeckung elektrischer Funken durch den u.a. auch
eine Multipliziermaschine entwickelnden Gottfried Wilhelm Leibniz [1646-1716]),
aber auch die Geisteswissenschaften, namentlich die Theologie, werden vorangetrieben.
Wurde das Leben im Zuge der Reformation rechenhafter, so setzt jetzt seine Verwissenschaftlichung
ein. Die Erweiterung des Wissens führt allerdings auch zu dessen Fraktionierung.
Damit geht ein weiteres verbindendes Element in der Bevölkerung verloren.
Weitere praktische Folgen der Aufklärung sind humanitäre, soziale und
politische Reformen. Zumindest im Westen Europas beginnt die Periode des aufgeklärten
Absolutismus bis hin zum Konstitutionalismus. Im Ergebnis bewirken alle diese
Reformen die Stärkung der Stellung des Einzelnen, besonders aber der bürgerlichen
Schichten. (Ebd., S. 24-30).(Abendland/Liberalismus-Sozialismus-Individualismustriumph).
- So ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert der Liberalismus die eigentliche
Ideologie des aufstrebenden Bürgertums. Wieder geht es um das Individuum
oder genauer: das bürgerliche Individuum. Nach Max Horkheimer (Zur Kritik
der instrumentellen Vernunft, 1967, S. 133) ist der Individualismus »der
innerste Kern der Theorie und Praxis des bürgerlichen Liberalismus«,
wobei »das bürgerliche Individuum ... sich nicht notwendig im Gegensatz
zum Kollektiv (sah), sondern glaubte, ...es gehöre einer Gesellschaft an,
die den höchsten Grad von Harmonie einzig durch die unbeschränkte Konkurrenz
individueller Interessen erreichen könne«. Um diese Konkurrenz zu ermöglichen,
besteht das Bürgertum auf der Beseitigung auch der letzten Reste obrigkeitlicher
Bevormundung in der Wirtschaft und Wissenschaft, aber auch der Kultur und Politik.
Wo dieser Forderung nicht nachgekommen wird, wird ihr - wie 1789 in Frankreich
- blutig Nachdruck verliehen. Das bürgerliche Individuum will sein Schicksal
selbst bestimmen und sich ungehindert entfalten können. Diesem Ziel dienen
die individuellen Freiheitsrechte, die als allgemeine Bürger- und Menschenrechte
verankert werden. Jeder soll frei sein, seine Meinung zu äußern, Vereinigungen
zu bilden und vieles andere mehr. Zugleich umgibt sich das Individuum mit einem
umfassenden Rechtsschutz. Jedwede tatsächliche oder vermeintliche Beeinträchtigung
seiner Entfaltungsmöglichkeiten soll von Gerichten überprüft und
gegebenenfalls geahndet werden können. Die individuellen Freiheitsrechte
werden so zu Schranken der öffentlichen Gewalt. Diesen Rechten stehen kaum
noch Pflichten gegenüber. Das gilt besonders für das Eigentumsrecht.
Es ist seiner ursprünglich religiös-fundierten Gemeinwohlbindung weitgehend
entkleidet. Der schon in der Renaissance aufblühende Egoismus wird in höchster
Vollendung kultiviert. Der Staat soll sich aus den Belangen des Einzelnen weitestgehend
heraushalten. (Gemäß den Grundsätzem ungehinderter Erwerbs- und
Wettbewerbsfreiheit des englischen Philosophen Adam Smith [1723-1790] wird vor
allem in England eine Laissez-faire-Politik entwickelt, die die Initiative des
Einzelnen fördert und den Staat auf die Bereisttellung der wirtschaftlciehn
Rahmenbedingungen beschränkt.). Auch in das Verhältnis von Arheitgebern
und -nehmern soll er sich nicht einmischen. .... Eigentum und Bildung sind die
tragenden Säulen der bürgerlichen Schichten. Beide stehen in der Regel
auf individueller Leistung. Soziale Bezugssysteme ... befinden sich nicht nur
im Widerspruch zum bürgerlichen Selbstverständnis, sondern auch zum
individuellen Leistungsprinzip, das zum Wettbewerb mit anderen und damit zum Verlassen
der Gemeinschaft zwingt. .... Die Schwäche sozialer Bezugssysteme wirkt sich
auch auf die Familie aus. .... Ehe und Familie sind eine ausschließlich
private Angelegenheit. Die Fruchtbarkeit dieser bürgerlichen Familie ist
vergelichsweise gering. .... Zugleich steigt ... die Produktivität der von
der Industrialisierung erfaßten Bevölkerungsschichten steil an. (Von
der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg steigt das raele Volkseinkommen
in Deutschland um das Fünffache, im Vereinigten Königreich um das Vierfache
und in Frankreich und Italien um das Doppelte). .... Immer breitere Scchichten
der Bevölkerung leben und verhalten sich wie in früheren Perioden nur
Teile des Bürgertums. Die Gesellschaft verbürgerlicht, was zugleich
bedeutet, daß der Individualisierungsprozeß rasch voranschreitet.
Ehe, Familie und Fruchtbarkeit bleiben hiervon nicht unberührt. Wie zuvor
nur im Bürgertum sinkt die Geburtenrate weitester Bevölkerungskreise.
(Vgl. Hans Linde, Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung von
1800 bis 2000, 1984, S. 84). Dadurch nimmt die Fruchtbarkeit der Gesamtbevölkerung
ab. Doch wiederum steigt auch die Produktivität und mit ihr der Wohlstand
breitester Schichten. Erneut zeigt sich die Verzahnung von Individualisierung,
Wettbewerb, steigender Produktivität und sinkender Fruchtbarkeit. In der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelangen mehrere europäische Länder
unter den Einfluß totalitärer und faschistischer Ideologien. .... Eines
ihrer wichtigsten Ziele ist die Beendigung und Umkehr des jahrhundertelangen Individualisierungsprozesses
in Europa. Das Individuum soll sich nicht mehr frei entfalten, sondern Teil einer
»Volksgemeinschaft« werden, deren Interessen unbedingten Vorrang vor
Individualinteressen haben. Gemeinnutz soll wieder vor Eigennutz gehen. Entsprechend
werden Ehe, Familie und Fruchtbarkeit gefördert. (So werden in den 1930er
Jahren z.B. in Deutschland jungverheiratete Paare mit zinslosen Darlehen unterstützt
und die Darlehensschuld für jedes Kind um ein Viertel gekürzt. Kinderreiche
Mütter werden mit dem »Ehrenkreuz der deutschen Mütter«
ausgezeichnet. Zugleich werden die gesetzlichen Bestimmungen gegen Abtreibungen
verschärft, um die Zahl der Abtreibungen, die vor 1933 in Deutschland auf
jährlich 600000 bis 800000 geschätzt wird, zu senken.). Die Geburtenraten
steigen auch. Ob dieser Trend angehalten hätte, ist jedoch ungewiß.
denn die Dauer dieser Regime ist kurz. .... Die großen Denkrichtungen Europas
... münden im Individualismus, der - regional wiederum recht unterschiedlich
- um die Mitte des 20. Jahrhunderts zur vorherrschenden Ideologie wird. .... Da
(laut dieser Ideologie! Anm. HB) der Einzelne als
der Gemeinschaft vorgegeben und als Träger »vor-gesellschaftlicher«
Rechte angesehen wird (vgl. Günter Hartfiel, Wörterbuch der Soziologie,
1972, S. 289 *),
haben seine Interessen und Bedürfnisse Vorrang vor den Interessen und Bedürfnissen
der Gemeinschaft. Das gilt um so mehr, als (geglaubt wird,
daß) die Gemeinschaft keine eigene Qualität hat, sondern nur
die Summe Einzelner ist. Subjekt ist daher (d.h.: laut dieser
Ideologie) nur der Einzelne. Folglich (d.h.: dieser
Ideologie folgend) kann auch nur der Einzelne Rechte haben. Die Gemeinschaft
hat (laut dieser Ideologie) nur dienende Funktion.
Sie hat (laut dieser Ideologie) die Voraussetzungen
dafür zu schaffen, daß sich der Einzelne allseitig entfalten kann.
Hierauf hat er (laut dieser Ideologie) einen Anspruch.
Seine individuelle Entfaltung ist (laut dieser Ideologie)
nicht nur sein höchstes Ziel, sondern zugleich auch Ziel der Gemeinschaft.
Um die Erreichung dieses Ziels zu fördern, darf (laut
dieser Ideologie) das Ich des Einzelnen dem Wir der Gemeinschaft nicht
unter- oder auch nur eingeordnet werden. Diese unbedingte Vorrangstellung des
Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft führt zur Vereinzelung, die wiederum
Grundlage eines ausgeprägten Wettbewerbs zwischen den Einzelnen ist. ....
Zugleich sinkt die Fruchtbarkeit dieser individualistischen Bevölkerungen
so tief, daß diese ihren Bestand nicht erhalten können. (Ebd.,
S. 30-33).* Der politisch-anthropologische
Individualismus interpretiert das Individuum als vor-gesellschaftliches Einzelwesen,
als Träger verstaatlichter und vor-gesellschaftlicher Rechte (- Grundrechte),
betrachtet es als Selbstzweck und erkennt in seiner allseitigen (nur durch die
Lebensrechte anderer Individuen begrenzten) Entfaltung das höchste irdische
Lebensziel. Staat und Gesellschaft gelten hier lediglich als Plattform und Hilfsmittel
zum Erreichen dieses Ziels. (Günter Hartfiel, Wörterbuch der
Soziologie, 1972, S. 289).Der seit Jahrhunderten zu beobachtende
Prozeß der Individualisierung breitet sich in den verschiedenen Regionen
Europas unterschiedlich intensiv und schnell aus. Am kräftigsten wirkt er
in West- und Nordeuropa (hierzu gehören: Belgien, Dänemark, Deutschland,
England, Finnland, Frankreich, Irland, Island, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen,
Österreich, Schottland, Schweden, die Schweiz, Wales). (Ebd., S. 34).Städte
- Hochburgen der Individualisierung. - Innerhalb von Regionen ist der Grad
der Individualisierung in dicht besiedelten, urbanen Räumen meßbar
höher als in ländlichen Gebieten. Ggenläufig hierzu läuft
die Fruchtbarkeit der Bevölkerung. Sie ist auf dem Lande höher als in
der Stadt und nimmt mit wachsender Bevölkerungsdichte ab. In dieses Land-Stadt-Gefälle
sind alle Schichten einbezogen. Sowohl Selbständige als auch abhängig
Beschäftigte, sowohl Erwerbstätige in der Landwirtschaft als auch im
verarbeitenden Gewerbe haben im allgemeinen auf dem Land mehr Kinder als in der
Stadt. Dies zeigen z.B. Untersuchungen des Geburtenverhaltens in Deutschland für
die 2. Hälfte der 1920er Jahre von Hans Linde. Danach ist die Geburtenrate
von Selbständigen, die in Städten mit über 100000 Einwohnern wohnen,
nur reichlich halb so hoch wie die Geburtenrate von Selbständigen auf dem
Land. Arbeiter in der Stadt haben lediglich reichlich 60 v.H. der Geburten von
nicht landwirtschaftlich tätigen Arbeitern im ländlichen Raum. (Vgl.
Hans Linde, Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung von 1800
bis 2000, 1984, S. 84). An diesem traditionellen Land-Stadt-Gefälle hat
sich auch in neuerer Zeit tendenziell kaum etwas geändert. zwar sind die
geburtenraten überall zurückgegangen, doch ist der relative Abstand
zwischen Standt und Land gleich geblieben. (Vgl. Hansjörg Bucher / Hans-Peter
Gatzweiler / Irmgard Schmalenbach, Das regionale Bevölkerungsprognosenmodell
der BfLR, 1984, S. 1149ff.. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Herwig
Birg, demzufolge die Nettoreproduktionsrate in Hanover 1983 rund 55 v.H. der Nettoreproduktionsrate
im Landkreis Borken beträgt. (Vgl. Herwig Birg, Biographische Theorie
der demographischen Reproduktion, 1991, S. 150.). (Ebd., S. 34).Bildung
individualisiert. - Der Prozeß der Individualisierung erfaßt aber
nicht nur die verschiedenen Teile Europas sowie die ländlichen und urbanen
Gebiete, sondern auch gesellschaftliche Schichten mit unterschiedlicher Intensität
und Geschwindigkeit. Das wird besonders deutlich im 19. Jahrhundert, als der Individualisierungsgrad
des Bürgertums wesentlich höher ist als jener anderer gesellschaftlicher
Schichten. (Vgl. S. 30f.).
Aber auch in früheren und späteren Epochen bestehen zwischen gesellschaftlichen
Schichten mitunter markante Individualisierungsunterschiede. Dabei fällt
der Zusammenhang zwischen Bildung und Individualisierung auf. Überdurchschnittlich
gebildete gesellschaftliche Gruppen und Schichten neigen stärker dazu, sich
gemeinschaftsbildenden und -festigenden Konformitäten zu entziehen und sich
individualistischer zu verhalten als weniger gebildete Teile der Bevölkerung.
Zugleich ist die Fruchtbarkeit dieser gebildeteren und sich individualistischer
verhaltenden Gruppen und Schichten insgesamt niedriger als die der übrigen
Bevölkerung. Ein Beispiel hierfur ist wiederum der große Fruchtbarkeitsunterschied
zwischen den bürgerlichen Schichten einerseits und den adeligen, bäuerlichen
und proletarischen Schichten andererseits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
(Vgl. S. 31f.). Aber
auch heute noch bestehen enge Beziehungen zwischen Bildungs- und damit Individualisierungsgrad
und Fruchtbarkeit. Je weiter die Individualisierung innerhalb einer Gruppe oder
Schicht vorangeschritten ist, desto niedriger ist in der Regel deren Fruchtbarkeit.
(Vgl. Hans Linde, Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung von
1800 bis 2000, 1984, S. 84; Herwig Birg, Biographische Theorie der demographischen
Reproduktion, 1991, S. 350.). (Ebd., S. 35).Religionen
wirken gemeinschaftsbildend . - Anders als das Frühchristentum, das erheblich
zur Individualisierung beiträgt (vgl. S. 21f.),
wirken die heute in Europa vorherrschenden christlichen Konfessionen eher gemeinschaftsbildend
und -erhaltend. Nur so können sie auf Dauer Bestand haben. Ihr gemeinschaftserhaltender
Konformitätsdruck bewirkt jedoch zugleich eine Verminderung der Individualisierung
konfessionell Gebundener. Diese sind Teil einer Gemeinschaft und können als
solche ihre Individualisierung nur gemeinschaftskonform verwirklichen. Die Fruchtbarkeit
dieser gemeinschaftskonformen, konfessionell Gebundenen ist deutlich höher
als die der konfessionell Ungebundenen, wobei die Fruchtbarkeit mit dem Grad der
Gebundenheit steigt. So liegt nach Herwig Birg die durchschnittliche Kinderzahl
konfessionell gebundener Frauen zu einem bestimmten Zeitpunkt etwa doppelt so
hoch wie die Fruchtbarkeit konfessionell ungebundener Frauen, und die Fruchtbarkeit
konfessionell stark gebundener ist reichlich ein Drittel höher als die Fruchtbarkeit
schwach gebundener. (Vgl. Herwig Birg, Biographische Theorie der demographischen
Reproduktion, 1991, S. 156). Besonders hoch ist die Fruchtbarkeit religiöser
Gruppen, die nicht nur eine Gemeinschaftsorientierung anstreben, sondern der Gemeinschaft
unbedingten Vorrang vor dem Einzelnen einräumen. Zu solchen Gruppen zählen
beispielsweise die Amish und die Hutterer, die heute in den USA und Kanada religiöse,
wirtschaftliche und gesellschaftliche Enklaven inmitten individualistischer Bevölkerungen
bilden. Die religiöse Fundierung dieser Gruppen, die im 16. Jahrhundert als
bewußte Gegenbewegung zu den stark individualistisch orientierten Lehren
Calvins und Zwinglis (vgl. S. 27f.)
entstehen, ist ihre Überzeugung, daß der Einzelne - anders als dies
die Reformatoren lehren (!) - nur in der Gemeinschaft
der Gläubigen zum Heil gelangen kann. Die Gemeinschaft ist für den Heilsweg
jedes einzelnen verantwortlich. Sie wird von Gott solidarisch zur Rechenschaft
gezogen. Aus dieser Verantwortung der Gemeinschaft für das Heil ihrer Glieder
folgt, daß sich jeder Einzelne ihr zu fügen hat. Der Einzelne muß
sich der Gemeinschaft unterwerfen, wie er sich Gott unterwirft, und völlig
in ihr aufgehen. Die Gemeinschaft ist ein Tempel Gottes, in dem sich der Einzelne
als lebendiger Stein, gleichmäßig behauen, fugenlos einzupassen hat.
(Vgl. Michael Holzach, Das vergessene Volk - Ein Jahr bei den deutschen Hutterern
in Kanada, 1980, S. 85). Moralisch gut handelt deshalb nur derjenige, der
keinen eigenen Willen hat und nicht sein eigener Herr sein will. (Vgl. ebd.).
Dieser Vorrang der Gemeinschaft gilt aber nicht nur im Verhältnis zum Einzelnen,
sondern auch zur Familie. Vor allem bei den Hutterern hat die Familie als soziales
Beziehungssystem von Mann, Frau und Kindern nur untergeordnete Bedeutung. Sie
wird überlagert und durchdrungen von anderen Beziehungssystemen, die eine
Abkapselung der Familie gegenüber der Gemeinschaft verhindern. Das ständige
Zusammensein mit Menschen, die keine Familienangehörigen sind, gehört
zu den wichtigsten Grundsätzen dieser religiösen Gruppen. Um möglichen
Individualisierungsneigungen vorzubeugen, darf in diesen Gruppen auch niemand
seinen eigenen wirtschaftlichen Vorteil erstreben. Privateigentum ist ausgeschlossen,
über die individuelle Arbeitskraft verfügt die Gemeinschaft. Jeder arbeitet
da, wo ihn die Gemeinschaft am dringendsten benötigt. Entsprechend gering
ist die berufliche Differenzierung. Von allen werden vielfältige Fertigkeiten
erwartet und zumeist auch erbracht. (Vgl. Werner Enniger / Karl-Heinz Wandt, Zur
Beziehung zwischen religiösen, sozialen und ökonomischen Faktoren in
einem Old Order Amish Isolat, 1980, S. 379). Alle genießen den gleichen
Lebensstandard, den die Gemeinschaft in der Regel durch sächliche Zuwendungen
gewährt. Da nach Auffassung besonders der Hutterer das Erdenelend aus dem
Wunsch nach Wissen und Klugheit herrührt, ist auch der Stellenwert schulischer
Bildung gering. Sie soll keine eigenständig denkenden Menschen hervorbringen,
sondern Menschen, die sich problemlos in die Gemeinschaft einfügen. Diese
Gemeinschaft ist streng hierarchisch gegliedert. Die Jüngeren gehorchen den
Älteren, die Frauen den Männern, diese den Ältesten der Gemeinschaft,
die wiederum durch die Männer legitimiert werden. Diese so geordenten Gemeinschaften
haben aufgrund ihrer hohen Fruchtbarkeit das schnellste Bevölkerungswachstum
in der Welt. Ende der 1970er Jahre werden in einer Amishehe durchschnittlich etwa
sieben Kinder geboren, in jeder zweiten Huttererehe sogar mehr als zehn Kinder.
Diese Kinderzahl entspricht im allgemeinen dem Wunsch der Mutter. Anzeichen für
einen Rückgang dieser hohen Fruchtbarkeit gibt es nicht, solange keine individuellen
Außenkontakte bestehen. Mehren sich jedoch solche Kontakte, sinkt auch bei
den Amish und Hutterern die individuelle Geburtenrate. (Ebd., S. 35-37).Prominenz
verhält sich individualistisch. - Der Zusammenhang zwischen hoher und
niedriger Fruchtbarkeit, derin historischen und gruppenbiographischen Entwicklungen
sichtbar wird, ist auch in Einzelbiographien zu beobachten. Wie eine Auswahl von
106 nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Lebensläufen prominenter europäischer
Künstler, Dichter und Gelehrter (der letzten rund 2000
Jahre; Anm. HB) zeigt, führen diese - erwartungsgemäß -
nicht nur einen betont individualistischen Lebenswandel. Zugleich liegt auch ihre
Fruchtbarkeit im Durchschnitt bei nur knapp der Hälfte ihres jeweiligen gesellschaftlichen
Umfeldes und damit erheblich unter der Bestandserhaltungsrate. Insgesamt hat dieser
Personenkreis nur etwa 173 Kinder. Der gesellschaftlichen Norm hätten etwa
360 entsprochen. Dabei hat die Hälfte überhaupt keine Kinder. Nur reichlich
ein Drittel hat - dem Geburtenverhalten ihrer Epoche entsprechend - drei und mehr
Kinder. Das verbleibende Siebentel hat mit einem oder zwei Kindern eine deutlich
unterdurchschnittliche Kinderzahl. Von der Hälfte der ausgewählten Personen,
die Kinder hat, kümmert sich nur ein knappes Drittel mehr oder minder regelmäßig
um diese. Ein weiteres Fünftel kümmert sich zwar um seine Kinder, fühlt
sich aber dadurch in seiner eigenen Entwicklung nachhaltig beeinträchtigt.
Mehr als die Hälfte kümmert sich jedoch entweder gar nicht oder nur
gelegentlich um ihre Kinder. Von einigermaßen harmonischen und stabilen
Eltern-Kind-Beziehungen kann also bei nur etwa einem Zehntel des insgesamt untersuchten
Personenkreises ausgegangen werden. Wie die Auswertung von Lebensläufen prominenter
Künstler, Dichter und Gelehrter ferner zeigt, betrachtet die Mehrheit von
ihnen jedoch nicht nur Kinder und Familien als belastend, sondern auch dauerhafte
Partnerschaften. Lebenslange Bindungen werden daher in vielen Fällen bewußt
vermieden. Bindungslosigkeit wird als - mitunter schmerzlich empfundene - Voraussetzung
für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit angesehen. Eine Alternative
hierzu sind allenfalls Partner, die sich kompromißlos anpassen oder unterordnen.
Gleichberechtigte Partnerschaften sind die Ausnahme. (Ebd., S. 37-38).Am
Ende eines weiten Wegs. - In der europäischen Ideologiengeschichte spiegelt
sich ebenso wie in gruppen- und einzelbiographischen Entwicklungen die Individualisierung
des Menschen im Zuge des Auf- und Ausbaus der Kulturordnung wider. Dabei kann
dahingestellt bleiben, ob diese Individualisierung als in der Natur des Menschen
liegend gewissermaßen biologisch erfolgt oder ob sie »nicht einfach
von Natur gegeben, sondern etwas aus dem biologischen Rohmaterial im Laufe eines
gesellschaftlichen Prozesses Entwickeltes« ist, wie Norbert Elias meint.
(Vgl. Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, 1987, S. 191). Entscheidend
ist, daß in der Naturordnung der Mensch in der Gemeinschaft aufgeht und
erst in der Kulturordnung seine Individualität entdeckt. Dieser Prozeß
der Individualisierung verläuft nicht geradlinig. Vielmehr kommt er immer
wieder zum Stillstand und erfährt auch Rückschläge. (Mit
anderen Worten: er ist zyklisch, er ist wiederkehrend, er ist eine historische
Konstante; vgl. hierzu z.B. Goethes Konzept der Spiraltendenz, Nietzsches
Konzept der ewigen Wiederkehr, Spenglers v.a. von Goethe und Nietzsche
beeinflußtes Konzept und Miegels Konzept; Anm. HB). Doch insgesamt
ist die Richtung eindeutig: Zuerst sind es nur einzelne, dann kleine Gruppen,
Minderheiten und Mehrheiten und schließlich ganze Bevölkerungen, die
den Prozeß der Individualisierung mit allen seinen Konsequenzen durchlaufen.
Der sich seiner Individualität bewußt werdende, der »erkennende«
Mensch (vgl. Genesis, 3, 4-7), verläßt seine naturgegebene Gemeinschaft,
die ihn sowohl begrenzt als auch beschützt, und tritt in eine zunehmend von
ihm selbst geschaffene Welt ein. Diesen Schritt empfindet er zwar als Verlust
des Paradieses, aber auch als unumkehrbar. (Vgl. Genesis, 3, 23f.). Teil dieser
geschaffenen Welt ist die gesteuerte menschliche Fruchtbarkeit. Diese Steuerung
wird um so zielstrebiger, je individualistischer der Mensch wird. .... Die Verdrängung
der ... individualistischen Kultur durch weniger individualistische, »primitive«
Kulturen führt zu einem erneuten Anstieg menschlicher Fruchtbarkeit. ....
Gegenläufig zum Anstieg der Individualisierung - historisch, regional, schichten-
und gruppenspezifisch sowie individuell - entwickelt sich die menschliche Fruchtbarkeit.
Von Ausnahmen abgesehen, wo hochgradig individualisierte einzelne oder Gruppen
als Ausdruck ihrer Individualität zahlreiche Kinder haben, bedeutet Individualisierung
verstärkte Zuwendung zum eigenen Ich und damit auch Abwendung von anderen
(Menschen; Anm. HB), einschließlich eigenen
Kindern. (Ebd., S. 38-39).
Die individualistischen Kulturen
-
Der Prozeß der Individualisierung und seine Folgen (schematische Darstellung)
-  | Individualisierung
wird zum Selbstzweck. - Wie die Ideologiengeschichte zeigt, verselbständigt
sich in Europa die Individualisierung des Menschen, die mit der Entfaltung der
Kulturordnung einhergeht, und wird zum Selbstzweck. Damit verändert sie ihre
Qualität. Sie ist nicht mehr nur Voraussetzung und Folge der Kulturordnung,
sondern ideelle Vorgabe aller individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungen.
Als ideelle Vorgabe wird sie aktiv erstrebt. Der Mensch erkennt sich nicht nur
als Individuum und nimmt sich als solches an, sondern er fördert und pflegt
bewußt individuelle und zunehmend individualistische Neigungen und Verhaltensweisen.
Sie erscheinen ihm im Vergleich zu gemeinschaftsorientierten höherwertig.
Im Laufe der Zeit verdichten sich diese individualistischen Neigungen und Verhaltensweisen
zu regional und schichtenspezifisch unterschiedlichen Kulturen, die ihrerseits
im Handeln der Menschen und dessen Folgen empirisch erfaßbar werden. Dabei
sind das Handeln der Menschen und dessen Folgen nicht das Ende der Wirkungskette.
Vielmehr wirken beide auf Neigungen und Verhaltensweisen und möglicherweise
sogar auf die dahinterstehenden geschichtlichen Entwicklungen zurück. Dadurch
entstehen - wie das Schaubild in schematischer Form verdeutlicht - sich selbst
verstärkende Kreisläufe, in denen geschichtliche Entwicklungen, Ideologien,
Neigungen und Verhaltensweisen, Kulturen sowie das Handeln der Menschen und dessen
Folgen jeweils sowohl Ursache als auch Wirkung sind. Die in diese Kreisläufe
eingebetteten individualistischen Kulturen sind spezifische Erscheinungsformen
der unspezifischen menschlichen Kulturordnung. (Ebd., S. 41).Verstädterung
verstärkt Vereinzelung. - Die Individualisierung wird weiter durch die
Verstädterung gefördert. Stadtluft befreit (vgl. Paul Schütze,
Die Entstehung des Rechtssatzes: Stadtluft macht frei, 1903) zu Beginn
der Neuzeit nicht nur von Leibeigenschaft und Unmündigkeit, sondern auch
von den Bindungen dörflicher Gemeinschaft. In der Stadt ist der Zusammenhalt
der Gruppe geringer. Der Einzelne kann leichter aus ihr heraustreten. Er lebt
anonymer. Damit nehmen seine individuellen Entfaltungsmöglichkeiten zu. Die
Stadt bietet ... den idealen Nährboden für den Individualisierungsprozeß.
(Ebd., S. 46).Autorität wird abgelehnt. - ....
(Ebd., S. 55).Religiöse Bindungen nehmen ab. - ....
(Ebd., S. 55-56).Individualrechte
gegen Gemeinschaftsrechte. - .... Ferner wird dem Einzelnen eine Fülle
von Rechten gegenüber der Gemeinschaft eingeräumt, die in der Regel
nicht mit entsprechenden Pflichten verbunden ist. Ihm wird auch ein Entscheidungsraum
zugestanden, der größer ist als seine Fähigkeit, für die
Folgen seiner Entscheidungen einzustehen. .... Schließlich wird in individualistischen
Kulturen die Rechtsordnung, zum Beisspiel das Steuerrecht, immer weiter differenziert,
um den Belangen des Einzelnen so weit wie möglich Rechnung zu tragen. Konkrete
Beispiele für die fortschreitende Individualisierung der Rechtsordnung sind
aus neuester Zeit die rechtliche Annäherung nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften
an die Ehe sowie die in Deutschland geplante Reform des ehelichen Namensrechts
und des Unterhaltsrechts zwischen Eltern und Kindern bzw. Kindern und Eltern.
(Der 59. Juristentag hat vorgeschlagen, die Unterhaltspflicht von Eltern gegenüber
Kindern mit deren 27. Lebensjahr enden zu lassen und die Unterhaltspflicht von
Kindern gegenüber Eltren ganz abzuschaffen.) Alle diese Maßnahmen zielen
darauf ab, rechtlich zwingende Organisationsformen von Gemeinschaften und deren
Symbole, wie gemeinschaftliche Familiennamen, zugunsten individualistischer Gestaltungsformen
aufzulösen. Der Einzelne soll durch die Rechtsordnung nach Möglichkeit
nicht an eine Geminschaft gebunden werden: an einen Ehepartner, an seine Kinder,
an seine Eltern oder gar sein Volk. Der Schutz seiner Individualität hat
in der Rechtsordnung im Zweifel immer Vorrang. (Ebd., S. 57).Zwischenmenschliche
Beziehungen werden lockerer - .... (Ebd., S. 58-59).Frauen
und Kinder emanzipieren sich. - .... (Ebd., S. 59-60).Ehe
und Familie im Konflikt mit den Maximen individualistischer Kultur. - Die
Maximen individualistischer Kulturen, die die Gestaltung zwischenmenschlicher
Beziehungen erheblich beeinflussen, stehen im Widerspruch zur Ehe, vor allem aber
zur Familie. Denn diese Institutionen sind nur insoweit voluntaristisch, als es
dem Einzelnen frei steht, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen
oder nicht. .... Der Konflikt zwischen individueller Freiheit und Genußstreben
auf der einen und den Zwängen der Ehe auf der anderen Seite schlägt
sich in nüchternen Zahlen nieder. .... Parallel zum Rückgang der Eheneigung
verringert sich die Stabilität der Ehegemeinschaft. (Ebd., S. 60-62).Individualistische
Kulturen sind kinderarm. -Noch geringer als der Stellenwert der Ehe ist in
individualistischen Kulturen der Stellenwert der Familie. .... Kinder fügen
sich offenbar schlecht in individualistische Kulturen. Biologisch-kulturelle Voraussetzung
ihrer Existenz und Entwicklung ist nämlich Gemeinschaft und nicht Individualität.
Gemeinschaft kann jedoch in individualistischen Kulturen - logisch zwingend -
nur begrenzt, vor allem aber kaum dauerhaft gewährleistet werden. In diesen
Kulturen ist der Einzelne so mit der Entfaltung seiner selbst beschäftigt,
daß er sich Dritten nur begrenzt zuwenden und mit ihnen dauerhafte Gemeinschaften
bilden kann. Kinder zwingen jedoch zu derartigen Gemeinschaften und erschweren
so eine bedingungslose Ich-Entfaltung. Deshalb sind sie in individualistischen
Kulturen nur bedingt gewollt. Entsprechend wenig leiden die Kinderlosen unter
ihrem Zustand. Fünf Sechstel von ihnen beschäftigen sich kaum oder auch
gar nicht mit dieser Frage. Das gilt besonders, wenn sie einem interessanten Beruf
nachgehen. Für ihn wird Kinderlosigkeit bereitwillig in Kauf genommen. Der
Beruf, die Bevorzugung eines bestimmten Lebensstils und eine allgemein ablehnende
Haltung zu Kindern sind die mit großem Abstand wichtigsten Gründe filr
Kinderlosigkeit. Weit abgeschlagen folgen materielle Gründe. Die Familie
kann mit Erwerbsarbeit nur schwer konkurrieren. Die Tätigkeit einer Hausfrau
oder eines Hausmanns ist im Vergleich zu beruflichen Tätigkeiten filr viele
wenig reizvoll. Mit »Hausfrau« verbinden sie Begriffe wie Gebundenheit,
Kontaktarmut, Sackgasse oder niedriges Ansehen. Mit »Berufstätigkeit«
hingegen Begriffe wie Selbstbewußtsein, Bereicherung, viele Kontakte, Zufriedenheit,
hohes Ansehen und ähnliches. Diese Sichtweise hat für die Familie erhebliche
Rückwirkungen. .... Im europäischen und weltweiten Vergleich scheinen
westdeutsche Familien besonders starken Spannungen unterworfen zu sein.
(Ebd., S. 62-64).Individualistische Kulturen
zerstören sich selbst. - Bedingt durch den logisch zwingenden Gegensatz
zwischen Individualismus und Kinderreichtum sinkt in individualistischen Kulturen
die menschliche Fruchtbarkeit. Dies ist der eigentliche und zugleich einzige Grund
für die Geburtenarmut in Ländern der individualistischen Kulturen. Weiterer
Begründungen bedarf es nicht. (Ebd., S. 64).Individualistische
Kulturen wirken mithin ambivalent. Einerseits fördern sie durch die Zurückdrängung
der Gemeinschaft die geistig-kulturelle Entwicklung des Menschen, die tief in
dessen Individuellem wurzelt. Dadurch werden nicht zuletzt wohlstandsfördende
Kreativitäts- und Innovationspotentiale freigesetzt. Andererseits hemmen
sie durch die Zurückdrängung der Gemeinschaft die körperlich-biologische
Entwicklung des Menschen, die eben diese Gemeinschaft zur Voraussetzung hat. Dadurch
wird die physische Stabilität einer Bevölkerung untergraben. (Das
heißt: Weil die Gemeinschaft die Voraussetzung für jeden Einzelnen
ist, kann auch nur sie verhindern, was der Individualismus in der Konsequenz bedeutet:
Vereinzelung, Vereinsamung, Unfruchtbarkeit, Aussterben, Tod! Anm. HB).
(Ebd., S. 64).Das aber heißt, individualistische Kulturen
zerstören sich selbst. Denn entweder hält eine Bevölkerung an den
Maximen solcher Kulturen fest. Dann wird sie zahlenmmäßig solange abnehmen,
bis sie als Träger dieser Kultur ausfällt. Oder die Bevölkerung
will ihre physische Existenz sichern. Dann muß sie die Maximen individualistischer
Kulturen aufgeben. Oder ihr kulturell bedingter zahlenmäßiger Schwund
wird fortwährend durch Zuwanderungen ausgeglichen. Dann wird ihre individualistische
Kultur nach und nach durch weniger individualistische Kulturen verdrängt.
(Ebd., S. 64).Das Ergebnis ist immer das gleiche: Die jeweilige
individualistische Kultur wird früher oder später durch gemeinschaftsorientierte
und damit biologisch stabilere Kulturen ersetzt. Diese Entwicklung liegt im Wesen
individualistischer Kulturen. Sie ist deshalb unvermeidlich. Möglich ist
allenfalls eine zeitliche Streckung dieser Entwicklung und eine Milderung ihrer
Folgen. (Ebd., S. 64).Durch den von ihnen bewirkten Bevölkerungsschwund
zerstören individualistische Kulturen jedoch nicht nur sich selbst. Durch
eben diesen Bevölkerungsschwund wird auch die ethnische kulturelle Identität
von Bevölkerungen zerstört, die individualistische Kulturen verinnerlicht
haben. Diese ethnische und kulturelle Identität geht über die individualistische
Kultur einer Bevölkerung hinaus, auch wenn zwischen beiden enge Wechselbeziehungen
bestehen. Anders als die individualistische Kultur gehört die ethnische und
kulturelle Identität einer Bevölkerung zu deren wichtigsten Seinsgründen.
Sie umfaßt deren Sprache, Traditionen und Bräuche ebenso wie deren
Bauwerke, Musik, Malerei oder Dichtkunst. Zwar werden alle diese Elemente von
der individualistischen Kultur mehr oder minder geprägt. Doch sind sie nicht
mit dieser identisch. Individualistische Kultur und kulturelle Identität
sind durchaus zu trennen. Solange sie verknüpft bleiben, erfahren sie jedoch
das gleiche Schicksal: Mit dem Schwund der sie verkörpenden Bevölkerungen
erlöschen sie. (Ebd., S. 64-65).
Demographische Wirkungen der IndividualisierungDie
fünf Phasen der Bevölkerungsentwicklung. Weitgehend abhängig
vom Grad der Individualisierung kann in der bisherigen quantitativen Entwicklung
der Weltbevölkerung zwischen fünf Phasen unterschieden werden. Auf eine
sehr lange Phase geringen Bevölkerungswachstums folgt eine Phasen beschleunigten
Bevölkerungswachstums. Diese geht über in eine Phase schnellen Bevölkerungswachstums,
die ihrerseits abgelöst wird von einer Phase mäßigen Bevölkerungswachstums.
Diese mündet ein in eine Phase zahlenmäßigen Bevölkerungsrückgangs.
Zur Zeit befindet sich die Menschheit in jeder dieser Phasen. (Ebd., S.
67).(1) Naturnahe Lebensformen
- die Bevölkerung wächst nur geringfügig. (Ebd., S. 67).(2)
Zunehmende Individualisierung - das Bevölkerungswachstum beschleunigt
sich. (Ebd., S. 67).(3) Fortschreitende
Individualisierung - die Bevölkerung wächst schnell. (Ebd., S.
68).(4) Individualisierung der Massen
- die Bevölkerung wächst nur noch mäßig. (Ebd., S.
80).
(5) Der Individualismus -
die Bevölkerung nimmt zahlenmäßig ab. (Ebd., S. 84).In
der Phase des zahlenmäßigen Bevölkerungsrückgangs ist die
Naturordnung fast völlig durch individualistische Erscheinungsformen der
Kulturordnung ersetzt. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist hoch. Ihr weiterer
Anstieg liegt ausschließlich in fortgeschrittenem Alter. Da schon in der
vorangegangenen Phase die Geburtenrate nicht mehr bestandserhaltend war, sinkt
die Zahl gebärfähiger Frauen. Zugleich bleibt die Geburtenrate weiter
unter der Bestandserhaltungsrate. Dadurch übersteigt die Zahl der Sterbefälle
die Zahl der Geburten. (Ebd., S. 84).In der deutschen Bevölkerung
übersteigt übersteigt - wie das Schaubild verdeutlicht - die Zahl der
Sterbefälle die Zahl der Geburten seit Anfang der siebziger Jahre. Deutschland
befände sich damit seit diesem Zeitpunkt in der Phase zahlenmäßigen
Bevölkerungsrückgangs, wen der Schwund der deutschen Bevölkerung
nicht durch Zuwanderer fortlaufend kompnesiert und überkompensiert würde.
Nur deshalb geht die Bevölkerung in Deutschland seit Anfang der siebziger
Jahre zahlenmäßig nicht zurück, sondern erhöht sich sogar.
(Ebd., S. 84).Wie Schaubild A
(**)
ferner verdeutlicht, schwankt die jährliche Differenz zwischen Geburten und
Sterbefällen der deutschen Bevölkerung beträchtlich. Im langjährigen
Mittel unterschreitet die Zahl der Geburten die Zahl der Sterbefälle jedoch
um beachtliche 150000 im Jahr. Dadurch nimmt die deutschen Bevölkerung von
Anfang der siebziger bis Anfang der neunziger Jahre um 3 Millionen Menschen von
rund 75 Millionen auf etwa 72 Millionen ab. (Wenn die deutsche Bevölkerung
1992 dennoch wieder fast 75 Millionen zählt, ist dies ausschleißlich
auf die Zuwanderung deutschstämmiger Aussiedler aus Mittel- bzw. Ostmittel-
und Osteuropa zurückzuführen). Das entspricht einem jährlichen
Bevölkerungsschwund von durchschnittlich 0,2 v.H.. (Ebd., S. 84).Schaubild
A
Schaubild
B  Dieser
Bevölkerungsschwund ist die Folge eines langfristigen stabilen Trends. Wie
Schaubild B (**)
zeigt, werden die letzten Jahrgänge, die sich in der Zahl ihrer Kinder voll
ersetzen, bereits vor rund 100 Jahren geboren. Kein einziger Jahrgang, der nach
1892 geboren wird, zeugt und gebärt noch die Zahl von Kindern, die seiner
eigenen Zahl entspricht. In die gleiche Richtung weist Schaubild C (**),
wonach Ehen, die nach 1920 geschlossen werden, keine bestandserhaltenden Kinderzahlen
mehr aufweisen. (Ebd., S. 84-87).Schaubild
C
Schaubild D  Ursächlich
hierfür ist - wie Schaubild D (**)
verdeutlicht - die abnehemende Zahl kinderreicher Familien. In den um 1920 geschlossenen
Ehen, in denen letzmals eine bestandserhaltende Zahl von Kindern geboren wird,
hatten 21 v.H. der Paare vier und mehr Kinder, 15 v.H. drei Kinder, 24 v.H. zwei
Kinder, 23 v.H. ein Kind. Demgegenüber haben in den um 1970 geschlossenen
Ehen nur noch 5 v.H. der Paare vier und mehr und 10 v.H. drei Kinder. 43 v.H.
beschränken sich hingegen auf zwei und 27 v.H. auf ein Kind. Die Zahl der
kinderlosen Paare ist mit 15 v.H. fast gleichgeblieben. (Ebd., S. 87).Seitdem
hat sich das Geburtenverhalten der deutschen Bevölkerung nur wenig verändert.
(Ebd., S. 87).Geburtenrate
(zusammengefaßte Geburtenziffer) in Deutschland von 1871/1880 bis 1989.
(Ebd., S. 89). | Jahr | Deutschland | West
nach 1945 | Ost (DDR) nach 1945 | insgesamt | Deutsche | insgesamt | Deutsche | insgesamt | durchschnittliche
Kinderzahl pro 1000 Frauen ** | 1871/1880 | 4,700 | | | | | 1881/1890 | 4,680 | | | | | 1891/1900 | 4,570 | | | | | 1901/1910 | 4,170 | | | | | 1913 | 3,890 | | | | | 1920 | 2,860 | | | | | 1925 | 2,470 | | | | | 1931 | 1,790 | | | | | 1935 | 2,080 | | | | | 1940 | 2,440 | | | | | 1945 | 1,430 | | | | | 1950 | ... | | 2,091 | | | 1951 | ... | | 2,060 | | | 1952 | 2,137 | | 2,071 | | 2,399 | 1953 | 2,111 | | 2,046 | | 2,370 | 1954 | 2,146 | | 2,095 | | 2,350 | 1955 | 2,154 | | 2,102 | | 2,347 | 1956 | 2,221 | | 2,198 | | 2,303 | 1957 | 2,284 | | 2,294 | | 2,249 | 1958 | 2,274 | | 2,284 | | 2,241 | 1959 | 2,368 | | 2,362 | | 2,386 | 1960 | 2,353 | | 2,360 | | 2,328 | 1961 | 2,447 | | 2,451 | | 2,435 | 1962 | 2,439 | | 2,436 | | 2,452 | 1963 | 2,512 | | 2,513 | | 2,505 | 1964 | 2,538 | | 2,537 | | 2,542 | 1965 | 2,481 | | 2,502 | | 2,483 | 1966 | 2,508 | | 2,530 | | 2,424 | 1967 | 2,453 | | 2,485 | | 2,338 | 1968 | 2,360 | | 2,377 | | 2,297 | 1969 | 2,216 | | 2,210 | | 2,236 | 1970 | 2,052 | 2,052 | 2,012 | 2,010 | 2,193 | 1971 | 1,963 | 1,949 | 1,917 | 1,894 | 2,131 | 1972 | 1,727 | 1,690 | 1,710 | 1,661 | 1,796 | 1973 | 1,548 | 1,498 | 1,541 | 1,474 | 1,577 | 1974 | 1,516 | 1,457 | 1,510 | 1,432 | 1,540 | 1975 | 1,472 | 1,405 | 1,449 | 1,365 | 1,542 | 1976 | 1,493 | 1,446 | 1,453 | 1,388 | 1,637 | 1977 | 1,500 | 1,465 | 1,402 | 1,352 | 1,851 | 1978 | 1,491 | 1,463 | 1,379 | 1,334 | 1,899 | 1979 | 1,488 | 1,460 | 1,377 | 1,333 | 1,895 | 1980 | 1,500 | 1,522 | 1,443 | 1,397 | 1,942 | 1981 | 1,523 | 1,498 | 1,434 | 1,393 | 1,854 | 1982 | 1,502 | 1,489 | 1,406 | 1,380 | 1,858 | 1983 | 1,428 | 1,427 | 1,330 | 1,320 | 1,790 | 1984 | 1,383 | 1,388 | 1,289 | 1,287 | 1,735 | 1985 | 1,376 | 1,381 | 1,280 | 1,277 | 1,734 | 1986 | 1,449 | 1,421 | 1,344 | 1,339 | 1,700 | 1987 | 1,445 | 1,419 | 1,367 | 1,327 | 1,740 | 1988 | 1,468 | | 1,411 | | 1,670 | 1989 | 1,430 | | 1,394 | | 1,572 | **
Deutschland und West/Deutsche: bezogen auf Frauen im Alter von 15 bis
unter 50 Jahren; West insgesamt: bezogen auf Frauen im
Alter von 15 bis unter 45 Jahren; Ost (DDR): bezogen auf
Frauen im Alter von 14 bis unter 45 Jahren; Quellen:
Deutschland und West/Deutsche: Statistische Bundesamt;
Ost: Hartmut Wendt, Territorial-Analyse der Fruchtbarkeitsentwicklung
in der DDR, Heft 2; Berechnungen des IWG Bonn.
(Ebd., S. 89).Deutschland als Vorreiter. (Ebd., S. 93).
Folgen des zahlenmäßigen BevölkerungsrückgangsDie
Bevölkerung vergreist und stirbt aus. - .... (Ebd., S. 97).Die
Zahl Auszubildender nimmt ab. - Im Bereich schulischer und beruflicher Bildung
wird Bevölkerungsschwund aufgrund rückläufiger Geburtenzahlen am
unmittelbarsten und schnellsten wirksam. (Ebd., S. 100).Reaktionen
des Arbeitsmarktes sind ungewiß. - Weniger unmittelbar und schnell als
im Bereich schulischer und beruflicher Bildung wirkt Bevölkerungsschwund
auf dem Arbeitsmarkt. .... Der Arbeitsmarkt hat also in der Regel genügend
Zeit, um sich auf demographische Veränderungen einzustellen. Allerdings muß
diese Zeit vorausschauend genutzt werden. In der Vergangenheit ist dies kaum jemals
geschehen. So war geraume Zeit absehbar, daß aufgrund kriegs- und nachkriegsbedingter
Ereignisse die Erwerbsfähigenquote Westdeutschlands in den sechziger Jahren
deutlich zurückgehen und mit Beginn der siebziger Jahre wieder kräftig
ansteigen würde. Deshalb hätte zum Beispiel das arbeitsmarktpolitische
Instrument der Arbeitszeitverkürzung in den sechziger Jahren behutsam und
umgekehrt in den siebziger Jahren offensiv eingesetzt werden müssen. Geschehen
ist genau das Gegenteil. In den sechziger Jahren nutzten die Gewerkschaften ihre
durch den Arbeitskräftemangel gestärkte Verhandlungsposition, um die
Arbeitszeit zügig zu verkürzen. Die Folge war eine empfindliche Verschärfung
des Arbeitskräftemangels, die zur Anwerbung von Millionen ausländischer
Arbeitskräfte führte. Umgekehrt verschleppten die Arbeitgeber in den
... siebziger und ... achtziger Jahren sinnvolle Arbeitszeitverkürzungen,
als sich durch die demographiebedingte Zunahme des Arbeitskräfteangebots
ihre Verhandlungsposition wieder verbesserte. Dadurch vergrößerte sich
der Arbeitskräfteüberschuß und mit ihm die Arbeitslosigkeit ....
(Ebd., S. 103-104).-
Soziallastquoten in Deutschland von 1900 bis 2030* (*Vorausberechnung; vgl. Statistisches
Bundesamt [Hrsg.], Statistisches Jahrbuch 1992 für die Bundesrepublik
Deutschland, 1992) -  |
Die
Soziallast steigt. - Funktions- und Leistungsfähigkeit der bestehenden
Systeme der gesetzlichen Alters-, Kranken- und Pflegeversicherung sind in hohem
Maße vom Altersaufbau der Bevölkerung abhängig. Je höher
der Anteil der Erwerbsfähigen an der Wohnbevölkerung ist, desto leichter
sind diese Systeme - bei angemessener Erwerbstätigkeit - zu finanzieren.
Im umgekehrten Falle wird ihre Finanzierung zum Problem. (Ebd., S. 104).1900
standen 100 Personen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren 109 Personen gegenüber,
von denen 93 jünger als 20 Jahre und 16 älter als 60 Jahre waren. 130
Jahre später, um 2030, dürfte die Soziallast insgesamt genauso hoch
sein wie 1900. 100 Personen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren dürften wiederum
109 Personen gegenüberstehen, von denen jedoch nur 36 jünger als 20,
aber 73 älter als 60 Jahre sein dürften. Das zahlenmäßige
Verhältnis von jung zu alt dürfte sich also von 6 zu 1 um 1900 auf 1
zu 2 um 2030 verschieben. (Ebd., S. 106).Besonders hervorzuheben
ist dabei der starke Anstieg des Anteils der Über-80-Jährigen. ....
Bis 2030 dürfte etwa jeder Fünfte in der Gruppe der Über-60-Jährigen
der Gruppe der Über-80-Jährigen angehören. (Ebd., S. 106).Das
bedeutet für die sozialen Sicherungssysteme:-
Im Bereich der gesetzlichen Alterssicherung müssen ohne erneute nachhaltige
Eingriffe in das bestehende System bis 2030 die relativen Lasten der jeweils Erwerbstätigen
auf ungefähr das 1,7fache ihrer derzeitigen Lasten steigen, die ... Rentenversicherungsbeiträge
also von derzeit rund 18 v.H. auf reichlich 30 v.H. der Bruttoarbeitsentgelte
angehoben werden.- Auch
im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung müssen ohne tiefgreifende
Veränderungen erheblich höhere Beiträge geleistet werden, da ältere
Menschen einen weit überproportionalen Anteil an Krankenkosten verursachen,
im bestehenden System aber nur einen unterproportionalen Anteil an diesen Kosten
tragen. Über-60-Jährige belasten die gesetzliche Krankenkasse ungefähr
doppelt so stark wie Versicherte im Erwerbsfähigenalter (soll heißen:
20-bis-60-Jährige), zahlen jedoch nur halb so hohe Beiträge wie diese.
Ohne einschneidende Eingriffe in die gesetzliche Krankenversicherung dürfte
der Beitrag von heute 13 v.H. bis zum Jahr 2030 auf über 20 v.H. des durchschnittlichen
Bruttoarbeitsentgelts steigen.-
Schließlich muß aufgrund des Anstiegs des Anteils Hochbetagter mit
einer raschen Zunahme der Beiträge für die geplante Pflegeversicherung gerechnet
werden. (Ebd., S. 106-107).Ob die Erwerbsfähigen bereit
sein werden, diese steigenden Lasten in vollem Umfang zu tragen, ist ungewiß.
Sie könnten sich ihnen zumindest teilweise entziehen. Sozialabgaben in einer
Größenordnung von weit über 50 v.H. der Bruttoarbeitsentgelte
dürften politisch nicht durchsetzbar und ethisch kaum vertretbar sein. Schon
aus sozialpolitischen Gründen dürften mithin die sozialen Sicherungssysteme
in absehbarer Zeit der Umgestaltung bedürfen. Eine Umgestaltung dürfte
aber auch aus ordnungspolitischen Gründen erforderlich sein. Als Kinder-
und Jugendlast ist nämlich die Soziallast in erster Linie eine Individuallast,
die fast ausschließlich von den privaten Haushalten getragen wird. Als Alterslast
ist sie hingegen bei der derzeitigen Organisation der Altersversorgung vor allem
eine Kollektivlast, für die eine gesetzlich organisierte Versichertengemeinschaft,
faktisch also der Staat, aufzukommen hat. Mit der Verlagerung der Soziallast von
einer Kinder- und Jugendlast zu einer Alterslast nimmt deshalb die soziale Bedeutung
des Staates fortlaufend zu, was zu folgenreichen Veränderungen im Verhältnis
von Staat, Gesellschaft und Individuum fuhren dürfte. Bei Fortsetzung der
gegenwärtigen Organisation der Altersversorgung dürften Individuum und
Gesellschaft in immer höherem Maße vom Staat abhängig werden.
(Ebd., S. 107).Die Wirtschaftskraft sinkt. - Die Wirkungen,
die von einer zahlenmäßig schrumpfenden, alternden und zunehmend von
Zuwanderern durchsetzten Bevölkerung auf den wirtschaftlichen Wachstumstrend
ausgehen, sind nicht geklärt. Empirische Erfahrungen ... gibt es nicht. Die
Modellannahmen der Wissenschaft sind spärlich und wenig aussagekräftig.
Als gesichert kann nur angenommen werden, daß es kritische Untergrenzen
der Bevölkerungsdichte und -homogenität gibt, unterhalb derer wirtschaftliches
Wachstum zum Stillstand kommt oder sich auch in einen Schrumpfungsprozeß
verkehrt. (Ebd., S. 107).Traditionelle Vermögenswerte
verfallen. - Hätte die Bevölkerung in Deutschland seit Anfang der
siebziger Jahre eine bestandserhaltende Geburtenrate gehabt, müßte
sie derzeit nicht nur reichlich 17 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter zwischen
null und zwanzig Jahren unterhalten, sondern knapp 25 Millionen. Je nachdem, wie
hoch die privaten Unterhaltungskosten von Kindern und Jugendlichen veranschlagt
werden, bedeutet dies Minderaufwendungen von rund 100 Milliarden DM im Jahr. (Die
durchschnittlichen Unterhaltskosten pro Kind werden 1992 auf rund 11000 DM pro
Jahr und 220000 DM insgesamt veranschlagt.) Aufgrund dieser Minderaufwendungen
für die Bestandserhaltung der Bevölkerung stehen zusätzliche Mittel
für den Konsum von Gütern und Diensten sowie die Vermögensbildung
zur Verfügung. Nicht zuletzt deshalb erfreut sich heute die große Mehrheit
der deutschen Bevölkerung bei vergleichsweise viel Freizeit eines hohen Konsums
und einer beachtlichen Vermögensbildung. - Zur Freizeit:
Mit durchschnittlich 1567 Stunden pro Jahr arbeitet der westdeutsche Arbeitnehmer
im Verarbeitenden Gewerbe 1990 6 v.H. weniger als sein französischer und
sogar ein Viertel weniger als sein japanischer Kollege. Zum
Konsum: Mit über 23000 DM pro Jahr nimmt der westdeutsche private
Pro-Kopf-Verbrauch 1992 im internationalen Vergleich eine Spitzenplatz ein. Zur
Vermögensbildung: Mit knapp 13 v.H. seines verfügbaren Einkommens
spart der deutsche Haushalt 1992 ein Drittel mehr als der französische und
doppelt so viel wie der us-amerikanische Haushalt. (Ebd., S. 108-109).Das
individuelle Wohlstandsniveau steigt weiter durch ergiebige Erbgänge, die
in nächster Zeit im jahresdurchschnittlichen Volumen von etwa 100 Milliarden
DM für Millionen von Deutschen anstehen. Dabei wird die Zahl der Erblasser
schon bald die Zahl der Erben übersteigen, so daß sich die angesammelten
Vermögen auf einen kleiner werdenden Personenkreis konzentrieren. Dies hat
zur Folge, daß beispielsweise die Wohneigentumsquote sowie die Ausstattung
weiter Bevölkerungskreise mit langlebigen Gütern ohne eigene Leistungen
zügig zunehmen. Schließlich kann der individuelle Wohlstand in der
Anfangsphase der Bevölkerungsschrumpfung, in der die Kinderlast gering und
die Alterslast noch nicht drückend ist, aufgrund vergleichsweise geringer
Belastungen der Bevölkerung durch die öffentliche Hand zusätzlich
gemehrt werden. Denn auch die öffentliche Hand spart bei geringen Kinder-
und Jugendzahlen Mittel, die sie sonst z.B. für Kindergärten, Schulen,
Sporteinrichtungen und ähnliches hätte aufwenden müssen. Allerdings
dürfte dieser Zustand nicht von Dauer sein. In einer fortgeschrittenen Phase
des Bevölkerungsschwundes ist vielmehr mit einem zunehmenden Verfall der
Vermögenswerte zu rechnen. Viele alte Menschen könnten gezwungen sein,
zu beinahe jedem Preis Leistungen bei einem klein gewordenen Kreis von Erwerbsfähigen
und -willigen nachzufragen. Die Übertragung einer Immobilie könnte dann
beispielsweise durchaus als angemessenes Entgelt für einige Jahre der Betreuung
und Pflege eines alten Menschen angesehen werden. Möglich ist ferner, daß
sich in einer zahlenmäßig schrumpfenden, vor allem aber altemden Bevölkerung
wirtschaftliche Prioritäten und Zielsetzungen verändern. So könnte
z.B. ein stark steigendes Gesundheits- und Umweltbewußtsein dazu beitragen,
daß Produktivitätssteigerungen durch erhöhten Kapitaleinsatz und/oder
arbeitssparende Techniken zu ressourcen- und umweltbelastend politisch verworfen
werden. Zwar könnte durch diesen Bewußtseinswandel die Umwelt möglicherweise
geschont werden, zugleich wäre jedoch aufgrund der abnehmenden wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit ein Verfall traditioneller Vermögenswerte wahrscheinlich.
Insgesamt dürften sich schrumpfende und altemde Bevölkerungen darauf
einzurichten haben, daß auf eine Phase vergleichsweise rascher und leichter
Vermögensbildung eine Phase nicht minder raschen Vermögensverzehrs folgt.
Die zahlenmäßig stagnierenden oder schrumpfenden Bevölkerungen
befinden sich gegenwärtig ausnahmslos in der ersteren, vergleichsweise angenehmen
Phase. Sie wird jedoch schon in wenigen Jahrzehnten durch die zweite Phase abgelöst
werden. (Ebd., S. 109-110).Anforderungen an die Wirtschafts-
und Infrastruktur ändern sich. - .... (Ebd., S. 110-111).Das
internationale Wettbewerbsgefüge verschgiebt sich. - Deutschlands internationale
Wettbewerbsfähigkeit beruht im wesentlichen auf der hohen Qualität seiner
Güter und Dienste. Diese wiederum ist die Frucht einer bestimmte Wirtschafts-
und Arbeitskultur, die sich in langen Zeiträumen entwickelt hat. (Vgl. Meinhard
Miegel, Wirtschafts- und arbeitskulturelle Unterschiede in Deutschland
- Zur Wirkung außerökonomischer Faktoren auf die Beschäftigung,
1991.) Daher kommt es für die künftige Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands entscheidend auf die Wirkungen an, die demographische Veränderungen
auf die historsich gewachsene Wirtschafts- und Arbeitskultur haben. Gesicherte
Erkenntnisse hierüber gibt es nicht. Doch dürften abnehmende Bevölkerungszahlen
und steigendes Durchschnittsalter die Wirtschafts- und Arbeitskultur kaum berühren.
Unklar sind hingegen die Wirkungen die von den Zuwanderern ausgehen. Möglicherweise
übernehmen diese die wirtschafts- und arbeitskulturellen Einstellungen, die
im Laufe vieler Generationen in Deutschland entstanden sind. Möglicherweise
halten sie aber auch an den Einstellungen fest, die sich in ihren eigenen Kulturkreisen
entwickelt haben. Letzteres ist um so wahrscheinlicher, je größer und
geschlossener die Gruppen von Zuwanderern sind. (Ebd., S. 111).Regionale
Unterschiede nehmen zu - .... In den dicht besiedelten Räumen ist das
Durchschnittsalter der Bevölkerung und folglich deren Sterblichkeit überdurchschnittlich
hoch. Die Geburtenrate liegt hingegen bei nur reichlich 50 v.H. der Bestandserhaltungsrate.
Der Wanderungssaldo der 30-bis-50-Jährigen ist negativ. Die Bevölkerung
dicht besiedelter Räume nimmt daher zahlenmäßig zügig ab.
In den dünn beseidelten Räumen sind demgegenüber Surchschnittsalter
und Sterblichkeit deutlich geringer als in den dicht besiedelten Räumen.
Auch liegt die Geburtenrate weit überdurchschnittlich bei 90 v.H. der Bestandserhaltungsrate.
An sich könnte also die Bevölkerung dünn besiedelter Räume
noch lange Zeit stationär sein. Doch steht dem die starke Abwanderungsneigung
junger Menschen entgegen. Sie läßt die Bevölkerung dünn besiedelter
Räume noch zügiger schwinden als die Bevölkerung dicht besiedelter
Räume. Nutznießer dieser Binnenwanderung sind die mäßig
dicht besiedelten Räume, also die Umlandregionen großer Städte
und Mittelstädte. Durch diese Wanderungen wird das Geburtendefizit dieser
Räume bisher noch immer mehr oder minder ausgeglichen. Ihre Bevölkerung
ist daher verhältnismäßig stationär, was für geraume
Zeit die Attraktivität dieser Räume gegenüber dicht und dünn
besiedelten Räumen weiter erhöhen dürfte. .... In den derzeit mäßig
dicht besiedelten Räumen dürften sich ... die Probleme der Bevölkerungsabnahme
und -alterung erst mit einiger zeitlicher Verzögerung stellen. (Ebd.,
S. 112-113).Gesellschaftliche Institutionen verlieren an Bedeutung.
- Die wichtigste strukturelle Veränderung kinderarmer, zahlenmäßig
schrumpfender und alternder Bevölkerungen dürfte der Bedeutungsverfall
von Ehe und Familie sein. .... Noch um die Jahrhundertwende ist die Ehe in der
Regel die juristische und gesellschaftliche Grundlegung eines Fünf- bis Sechs-Peronenhaushaltes,
von dem existenzsichernde wirtschaftliche und soziale Leistungen erwartet und
im allgemeinen auch erbracht werden. Zugleich ist er der wichtigste Ort der Sozialisierung.
Nur ein Zehntel der Ehen ist - fast immer aus physiologischen Gründen - kinderlos
und ein weieteres Zehntel hat - ebenfalls oft aus physiologischen Gründen
- lediglich ein Kind. In vier von fünf Ehen werden hingegen mindestens zwei
und häufig mehr Kinder großgezogen. Demgegenüber wird in jeder
fünften Ehe, die in der ersten Hälfte der siebziger Jahre geschlossen
wird, bislang kein Kind und in einem weiteren Drittel nir ein Kind geboren. Aus
fast der Hälfte dieser Ehen sntstehen also lediglich Kleinst- und Kleinhaushalte,
und nur die andere Hälfte bildet etwas größere, ausnahmsweise
auch große Haushalte. Die Erwartungen an die wirtschaftlichen und sozialen
Leistungen dieser Haushalte begrenzt. Jedenfalls steht die Gemeinschaft in ständiger
Bereitschaft, bei den nicht seltenen wirtschaftlichen und sozialen Ausfällen
der priavten Haushalte einzugreifen. Besonders deutlich ist der Bedeutungsverfall
der Familie als Or der Sozialisierung. Die Sozialisierung findet zunehmend in
Kindergärten, Schulen und im Beruf statt und ist der Familie weitgehend entzogen.
Allerdings sind die heutigen Stätten der Sozialisierung häufig nicht
ausreichend auf ihre Aufgabe vorbereitet, oder sie lehnen die Erfüllung dieser
Aufgabe sogar ausdrücklich ab. Dies ist um so problematischer, als seit den
siebziger Jahren ein Viertel der Kinder als Einzelkinder aufwachsen. Ihre sozialen
Fähigkeiten und ihr Solidarverhalten gelten als unterdurchschnittlich, individualistische
Sichtweisen hingegen als überdurchschnittlich entwickelt. (Ebd., S.
113-114).Eine absehbare Folge der Kinderarmut ist die Abnahme verwandtschaftlicher
Verflechtungen. Die Zahl älterer Menschen ohne nahe Verwandte nimmt schon
heute rasch zu. (Ebd., S. 107).Die Abhängigkeit vom
Staat wächst. - .... Aufgrund des Bedeutungsverlustes des Familienverbandes
könnte der Staat zunehmend traditionelle Aufgaben der Familie übernehmen,
wodurch diese weiter geschwächt werden dürfte. (Kinder
für den Staat! Dem Staat könnte also im 21. Jh. endlich das gelingen,
was ihm im 20. Jh. trotz großer Anstrengungen noch nicht gelungen ist! Was
für ein Führerstaat! Was für ein Verführerstaat ! Anm. HB.)
Auch hier könnte ein sich selbst verstärkender Kreislauf entstehen,
der unter anderem zum Anstieg der Staatsquote beitragen könnte. In die gleiche
Richtung dürfte die sich möglicherweise immer weiter entsolidarisiernde
Gesellschaft wirken. Durch den Verfall natürlicher Solidarbindungen in der
Familie und die abnehmende soziale Konditionierung der Bevvölkerung im Familienverband
könnte sich der Staat gezwungen sehen, durch eigenes Handeln fehlende gesellschaftliche
Solidarität zu ersetzen. Hierduch könnte eine wachsende Zahl von Menschen
in unmittelbare Abhängigkeit vom Staat geraten. Ob Menschen aus dieser Abhängigkeit
heraus die Träger staatlicher Funktionen noch demokratisch legitimieren und
kontrollieren können, ist fraglich. Sollte dies nicht möglich sein,
würde die Demokratie als politische Ordnung in Gefahr geraten. Die Demokratie
als politische Ordnung könnte aber auch durch einen zunehmenden Generationenkonflikt
gefährdet werden. Bis 2030 dürfte die Hälfte der Wähler älter
als 55 Jahre sein und somit Interessen des alten Bevölkerungsteils vertreten.
Der Durchsetzung dieser Interessen, die nicht zuletzt hohe Sozialleistungen umfassen
dürften, dürfte sich die andere Hälfte der Wähler, die diese
Leistungen zu erbringen hätte, mehr oder minder entschlossen entgegenstellen.
Dadurch könnte der Staat zu einer politischen Gratwanderung genötigt
werden, die seine Handlungsfähigkeit beträchtlich einschränkt.
Die Folge dieser beschränkten Handlungsfähigkeit könnte eine wachsende
Verdrossenheit der bevölkerung mit der politischen Ordnung insgesamt sein.
(Ebd., S. 114-115).
Bevölkerungspolitische Optionen
|
Beste
Bevölkerungsentwicklung für Deutschland (1989) | Antwort | in
v.H. | Zunahme am besten Abnahme
am besten Status quo am besten Summe |
37 9 54 100 |
Sample* | 2614 |
* Nur West-Deutschland
Folgen der Verringerung der Geburtenzahl
(1989) | Antwort | in
v.H. | Eher positive Folgen Eher
negative Folgen Wohl keine Folgen Summe |
9 69 22 100 |
Sample* | 2780 |
* Nur West-Deutschland
Viele Ausländer in Deutschland
(1992) | Antwort | in
v.H. | | West-Deutsche | Ost-Deutsche |
finden in Ordnung finden nicht in
Ordnung weiß nicht Summe |
47 53 - 100 |
46 51 3 100 |
Sample | 2614 | 2614 |
Regelung der Zuzugsmöglichkeiten
(1992) | | von
EG- Arbeitnehmern | von
Nicht-EG- Arbeitnehmern | von Asylanten |
Antwort | W
in v.H. | O in v.H. | W
in v.H. | O in v.H. | W
in v.H. | = in v.H. | keine
Einschränkung mit Einschränkungen völlige Unterbindung Summe |
35 56 9 100 |
13 63 24 100 |
10 62 28 100 |
6 58 36 100 |
13 63 24 100 |
15 67 18 100 |
Sample: je ca. 2000
in West-Deutschland (W) und Ost-Deutschland (O) |
| Der
Bürger hat die Wahl. - .... Repräsentativen Umfragen zufolge begrüßt
nur knapp ein Zehntel (des deutschen Volkes; Anm. HB)
einen möglichen Rückgang der Bevölkerungszahl Deutschlands. Rund
die Hälfte wünscht hingegen keine zahlenmäßigen Veränderungen,
während knapp ein Fünftel sogar ein weiteres Wachstum der Bevölkerung
für erstrebenswert halten. Über zwei Drittel der Bevölkerung erwarten
den gleichen Umfragen zufolge von einem Geburtenrückgang mehr Nachteile als
Vorteile. Für nur rund ein Fünftel halten sich Vor- und Nachteile eines
Geburtenrückgangs die Waage. Und wiederum nur knapp ein Zehntel vermag in
einem Rückgang der Geburten in Deutschland eher Vor- als Nachteile zu erkennen.
Ähnlich eindeutig sind die Antworten auf die Frage nach einem Anstieg des
Zuwandereranteils. Mehr als die Hälfte hält den Zuwandereranteil bereits
jetzt für zu hoch. (Vgl. IPOS, 1992, S. 80). Die Deutschen vertreten damit
die gleiche Einstellung wie der Durchschnitt der EG-Bürger. (Vgl. Zentrum
für Umfragen, Methoden und Analysen [ZUMA], 1993, S. 1.) Neun Zehntel wollen
den weiteren Zuzug von Nicht-EG-Arbeitnehmern, sieben Zehntel auch von EG-Arbeitnehmern
unterbinden oder einschränken. (Ebd., S. 119).Das stellt
die Politik vor einzigartige Herausforderungen. Um diese bewältigen zu können,
müssen die Bevölkerungen von Ländern wie Deutschland erkennen,
daß aufgrund ihrer individualistischen Kulturen ihre physische Existenz
und damit auch ihre ethnische und kulturelle Identität gefährdet sind.
Politik und Wissenschaft müssen dieses Bewußtsein wecken, damit die
Bevölkerungen entscheiden können (vorausgesetzt,
daß ein Parteienstaat wie der unsrige ein wenig Demokratie erlaubt! Anm.
HB), ob sie | auf
die Maximen individualistischer Kultur verzichten wollen, um so ihre physische
Existenz und mit ihr einen Teil ihrer kulturellen Identität zu sichern,
* | oder | an
den Maximen individualistischer Kultur festhalten und nur deren demographische
Folgen mildern wollen, indem sie nach Möglichkeit | die
Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung erhöhen und/oder |
| Zuwanderer
umfassend integrieren (oder keine Zuwanderer mehr zulassen,
ja vielleicht sogar eine Rückwanderung früherer Zuwanderer betreiben
! Anm. HB) und/oder |
| Vorbereitungen
für eine zahlenmäß abnehmende und alternde Bevölkerung treffen |
| oder | an
den Maximen individualistischer Kultur festhalten und möglichst nichts unternehmen
wollen. | Noch stehen der Bevölkerung Deutschlands
alle diese Optionen offen. (Ja, wirklich
? Es ist doch wohl eher so, daß unser Parteienstaat mit all seinen
diktatorischen Mitteln die Demokratie weiterhin verbietet! Anm. HB.)
Die bevölkerungspolitischen Gestaltungsräume verengen sich jedoch mit
wachsender Geschwindigkeit. Entscheidungen können deshalb nicht beliebig
hinausgeschoben werden. (Ebd., S. 120).* Bei
einem Verzicht auf die Maximen individualistischer Kulturen kann nur ein Teil
der kulturellen Identität gewahrt werden, weil zu dieser eben auch die individualistische
Kultur gehört.Gemeinschaftsbezogen handeln. - Der Verzicht
auf die Maximen individualistischer Kultur oder zumindest deren nachhaltige Einschränkung
und die Hinwendung zu einer gemeinschaftsorientierten Kultur dürften die
Geburtenrate in Ländern mit individualistischen Kulturen - auf welchem Niveau
auch immer - am ehesten wieder auf eine bestandserhaltende Höhe steigen lassen,
so daß die physische Existenz der Bevölkerung und deren ethnische und
kulturelle Identität gesichert wären. Im Mittelpunkt dieser Umorientierung
stünde die Neubestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft.
Das Individuuum wäre der Gemeinschaft nicht mehr über-, sondern gleichgeordnet,
wobei im Konfliktfall seine Interessen denen der Gemeinschaft sogar nachgeordnet
wären. Die Rechte des Individuums müßten im Vergleich zu individualistischen
Kulturen ab-, die der Gemeinschaft zunehmen. Der Grad individualistischer Emanzipation
von der Gemeinschaft würde erheblich vermindert. Gemeinwohlorientierung und
gemeinschaftsverträgliches Handeln und nicht individuelle Freiheit und Unabhängigkeit
wären das individuelle und gesellschaftliche Leitbild. Die Maßstäbe
sittlichen Handelns setzte nicht mehr der Einzelne weitgehend selbst, sondern
sie würden von der Gemeinschaft - vom Familienverband bis hin zum Staat -
gesetzt werden. Anders als in individualistischen Kulturen wären diese Gemeinschaften
recht hierarchisch und autoritär. Ehe und Familie nähmen in der Rechtsordnung,
mehr aber noch im Bewußtsein des Einzelnen und der Gemeinschaft einen hohen
Rang ein. Das Handeln des Einzelnen wäre in erheblichem Maße von Familien-
und Gemeinschaftsinteressen bestimmt. Entsprechend hoch wäre der Stellenwert
von Kindern. Sie hätten einen gesellschaftlichen, vor allem aber kulturellen
Wert und würden unabhängig von wirtschaftlichen Erwägungen wesentlich
zur Lebensqualität des Einzelnen und der Gemeinschaft beitragen. Im Bildungswesen
wäre das vorrangige Ziel die Eingliederung des Einzelnen in die Gemeinschaft
und nicht dessen individuelle Entfaltung. Die schulische und berufliche Qualifikation
würde mehr von den Bedürfnissen der Gemeinschaft und weniger von den
Neigungen des Einzelnen geleitet. Das würde auch für die Kommunikation
und Information gelten. Sie müßten gemeinschaftsfördernd sein.
Gemeinschaftsunabhängige Informations- und Kommunikationsformen würden
zugunsten unmittelbarer, zwischenmenschlicher Kommunikation an Bedeutung einbüßen.
Die Bedingungen für die Mehrung materiellen Wohlstands würden sich verschlechtern.
Das in die Gemeinschaft eingebundene Individuum würde weniger gefordert,
im Wettbewerb mit anderen seine individuellen Kreativitäts- und Innovationspotentiale
zu entfalten. Einen gewissen Ausgleich hierfür könnte allenfalls der
erneute zahlenmäßige Anstieg des jungen kreativen Bevölkerungsteils
bieten. Insgesamt dürfte jedoch die internationale Wettbewerbsposition beeinträchtigt
werden, was zu Wohlstandseinbußen führen würde. Allerdings könnte
diesen Einbußen durch sparsamere Formen des Konsums begegnet werden. Denn
in gemeinschaftsorientierten Kulturen können zahlreiche Güter und Dienste,
die in individualistischen Kulturen jeweils nur einer nutzen kann, problemlos
von mehreren genutzt werden. Darüber hinaus würden mit sinkender Bedeutung
materiellen Wohlstands im individuellen und kollektiven Wertgefüge objektive
Wohlstandseinbußen subjektiv weniger einschneidend empfunden werden. ....
Das Leben in der Gemeinschaft würde für den Einzelnen überschaubarer
sein als in individualistischen Kulturen und ihm ein erhebliches Maß an
Sicherheit geben. Er könnte sich weniger verletzlich fühlen und deshalb
auch weniger Angst vor der Zukunft haben. Seine Lebesngrundlagen könnten
ihm in gemeinschaftsorientierten Kulturen stabiler erscheinen als in individualistischen.
(Ebd., S. 120-122).Mehr Kinder haben. - In fast allen individualistischen
Kulturen bemühen sich Staat, Kirchen und ähnliche Institutionen, (manche
nur angeblich, andere vorgeblich, jedenfalls fast alle vergeblich; Anm. HB)
die Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung zu heben oder zumindest nicht
weiter sinken zu lassen. Deshalb haben sie Maßnahmen ergriffen, die darauf
abzielen, Eltern trotz ihrer Kinder ein hohes Maß individualistischer Lebensführung
zu ermöglichen. Die Maßnahmen sollen gewährleisten, daß
Kinder die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten ihrer Eltern möglichst
wenig beeinträchtigen und sie insbesondere nicht zu eng in die Familie einbinden.
Dadurch soll die Bereitschaft des Einzelnen gefördert werden, auch unter
den Bedingungen individualistischer Kultur eine Familie zu gründen und Kinder
zu haben. Mit diesem Ziel werden | die
Familie teilweise durch Staat und ähnliche Institutionen ersetzt, |
| die
Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit verbessert, |
| die
finanziellen Lasten von Kindern für deren Eltern vermindert. | Um
in individualistischen Kulturen die verminderte soziale Bereitschaft von Familien,
Nachbarschaften und dergleichen auszugleichen, gibt es in fast allen hochindustrialisierten
Ländern staatliche, halbstaatliche und private Familiensubstitute ....
(Ebd., S. 123).Insgesamt sind die Erfolge der Maßnahmen,
die in individualistischen Kulturen zur Hebung oder zumindest Stabilisierung der
Geburtenraten wirksam sind, bescheiden (und das ist noch
harmlos ausgedrückt; Anm. HB). Nirgendwo gelingt es, mit Hilfe dieser
Maßnahmen bestandserhaltende Geburtenraten zu erreichen. Die Hoffnung, diesen
Befund durch den Ausbau dieser Maßnahmen nachhaltig bessern zu können,
dürfte trügerisch sein (was nicht heißt
und auch nicht heißen darf, daß man es auch gar nicht mehr versuchen
sollte; Anm. HB). (Ebd., S. 126).Um zum Beispiel die
deutsche Bevölkerung auf ihrem gegenwärtigen Stand zu halten, müßte
die demnächst zeugungs- und geburtsfähige Generation nicht nur sich
selbst zahlenmäßig ersetzen, sondern auch das Geburtendefizit seit
Anfang der siebziger Jahre ausgleichen. Dazu müßte sie zum Beispiel
zu einem Geburtenverhalten wie vor dem Ersten Weltkrieg zurückkehren. Damals
hatte ein Drittel der zeugungs- und gebärfähigen Paare fünf und
mehr Kinder, und jeweils rund ein Fünftel ein, zwei bzw. drei Kinder.
(Ebd., S. 126).Offenbar beeinflussen die Finanzleistungen des Staates
das Geburtenverhalten weniger stark als zum Beispiel intakte Familienverbände
(und genau die gehen im abendländischen Kulturkreis
immer weiter unter; Anm. HB). (Ebd., S. 127).Darüber
hinaus ist nicht auszuschließen, daß in individualistischen Kulturen
der weitere Ausbau scheinbar familienfreundlicher Maßnahmen auf Dauer kontraproduktiv
wirkt. Denn durch diesen Ausbau könnte die ohnehin bestehende Neigung der
Individuen, sich immer individualistischer zu verhalten, weiter gefördert
und dadurch die Auflösung von Gemeinschaften noch beschleunigt werden.
(Ebd., S. 127).Zuwanderer umfassend integrieren. -
(Ebd., S. 128).Auf eine zahlenmäßig abnehmende und
alternde Bevölkerung vorbereiten. - (Ebd., S. 131).Erwachsenenbildung
ausbauen. - (Ebd., S. 132).Erwerbstätigkeit
und Produktivität steigern. - (Ebd., S. 133).Private
Vorsorge verbessern. - (Ebd., S. 134).Jugend-
und Altersphase an die Lebenserwartung anpassen. - .... Eine solche dynamische
Anpasung dürfte nicht nur lebensnäher sein als die derzeit vorherrschende
statische Sichtweise. Zugleich nähme durch die Verlängerung der Jugend-
und das Hinausschieben der Altersphase der Anteil junger Menschen an der Bevölkerung
wesentlich langsamer ab und der Anteil alter Menschen langsamer zu. (Ebd.,
S. 136).Werden das Ende der Jugend- und der Beginn der Altersphase
in dieser Weise an die Entwicklung der Lebenserwartung angepaßt, ist das
zahlenmäßige Verhältnis von Jungen und Alten deutlich ausgewogener
und seine Entwicklung wesentlich gleichförmiger als bei der üblichen
statischen Sichtweise. (Ebd., S. 136).-
Modifizierte Soziallastquoten der Bevölkerung in Deutschland von 1900 bis
2030* (*Vorausberechnung; vgl. Statistisches Bundesamt [Hrsg.],
Statistisches Jahrbuch 1992 für die Bundesrepublik Deutschland, 1992)
-  |
Besonders
folgenreich wäre diese dynamische Anpassung für den Arbeitsmarkt und
die sozialen Sicherungssysteme. Auch 2030 wäre der Erwerbsfähigenanteil,
der sich bei statischer Sichtweise erheblich verringert, nur wenig anders als
heute. Allerdings wären diese Erwerbsfähigen im statistischen Mittel
recht alt. Die Bedingungen des Arbeitsmarktes müßten also auch bei
einer dynamischen Anpassung der Altersstruktur erheblich verändert werden.
Aufgrund des sich nur wenig verändernden Erwerbsfähigenanteils steigen
auch die Soziallasten nur mäßig. Laut Schaubild ist die Gesamtzahl
von Jungen (Unter-20-J.; Anm. HB) und Alten (Über-60-J.;
Anm. HB) zu keinem Zeitpunkt größer als die Zahl der Erwerbsfähigen
(20-bis-60-J.; Anm. HB). Selbst um 2030 ist die Soziallast
bei einer dynamischen Anpassung der Altersstruktur nur reichlich halb so hoch
wie bei statischer Sichtweise. Dadurch, daß die Zahl junger Menschen immer
weit höher bleibt als die Zahl alter Menschen, wird auch die Soziallast in
geringerem Umfang kollektiviert und mithin die Rolle des Staates weniger tiefgreifend
verändert. Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß die Bevölkerung
- entsprechend der Zunahme ihrer Lebenserwartung und der sich mit ihr ändernden
objektiven und subjektiven Lebensbedingungen - schrittweise für einen länger
werdenden Zeitraum individuelle Verantwortung für sich übernimmt.
(Ebd., S. 136-139).Maßnahmen zur Milderung der demographischen
Folgen individualistischer Kulturen verbinden. - Jedes der Maßnahmenbündel
zur Milderung der demographischen Folgen individualistischer Kulturen hat seine
spezifischen Stärken und Schwächen. Keines von ihnen ist leicht zu verwirklichen.
Auch dürfte keines allein ausreichen, das angestrebte Ziel zu erreichen.
Vielmehr dürfte es erforderlich sein, alle ... Optionen miteinander zu verknüpfen,
das heißt die Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung ... zu erhöhen
und gleichzeitig trotz Anpassung der Altersphasen an die Entwicklung der Lebenserwartung
Vorbereitungen auf eine zahlenmäßig abnehmende und alternde Bevölkerung
zu treffen. Dies dürfte die wirklichkeitsnäheste und deshalb vermutlich
erfolgsversprechendste Bevölkerungspolitik im Rahmen einer individualistischen
Kultur sein. (Ebd., S. 139).Einfach ist allerdings auch dieser
Weg nicht zu gehen. Selbst wenn die Bevölkerung im großen und ganzen
an der von ihr verinnerlichten individualistischen Kultur festhalten kann, muß
sie sich in vielen Bereichen radikal vom gewohnten abwenden. (Ebd., S. 139-140).Wenn
nichts geschieht. - Sollte die Bevölkerung bewußt und in Kenntnis
der Folgen an den Maximen individualistischer Kultur festhalten und zugleich nicht
bereit sind, Maßnahmen zur Milderung dieser Folgen zu ergreifen, dürfte
es erhebliche Schwierigkeiten bereiten, sie politisch vorausschauend von diesem
Kurs abzubringen. .... Möglicherweise ändert die Bevölkerung ihre
Einstellung erst, wenn sich aufgrund ihrer zahlenmäßigen Abnahme, ihrer
Überalterung und des zahlenmäßigen Anstiegs nicht integrierter
Zuwanderer ihre Lebensbedingungen drastisch verschlechtern. Ob dann allerdings
noch Korrekturen des demographischen Gefüges möglich sind, ist ungewiß.
.... Sollten demographische Korrekturen nicht mehr möglich sein, würde
die ethnische und kulturelle Identität dieser Bevölkerung erlöschen.
Ohne Veränderung der derzeitigen Trends dürfte dieser Zeitpunkt in etwa
einem Jahrhundert erreicht sein. (Ebd., S. 140).
Fazit: Das große DilemmaNicht
weniger beschwerlich als diese Veränderungen hinzunehmen sind die Bemühungen,
sie abzuwenden. Denn ihre Ursache, der Rückgang der Geburtenrate unter das
bestandserhaltende Niveau, ist ... Wesensbestandteil hochindustrialisierter Länder.
Dieser Rückgang der Geburtenrate und die durch ihn bewirkte existentielle
Gefährdung der Bevölkerung entspringen derselben Quelle wie die hohe
wirtschaftliche und kulturelle Produktivität dieser Länder und der aus
ihr erwachsende materielle und immaterielle Wohlstand. Geburtenarmut, Hochindustrialisierung
und vieles andere sind Erscheinungsformen ein und desselben: einer spezifischen
Kultur - individualistischer Kultur. (Ebd., S. 142).Diese
individualistische Kultur ist ... die einzige und alles erklärende Ursache
für die Geburtenarmut dieser Länder .... Weitere Ursachen gibt es in
diesen Ländern nicht. Die Verfasser (Meinhard Miegel
und Stefanie Wahl; Anm. HB) widersprechen damit ausdrücklich der derzeit
in der Wissenschaft mehrheitlich vertretenen Auffassung, die Geburtenarmut hochindustrialisierter
Länder sei nur mit einer Vielzahl von Ursachen wie der Industrialisierung,
der Verstädterung, der Emanzipation der Frau, wirtschaftlichen Erwägungen
und anderem mehr zu erklären (s. Anhang,
S. 150ff.). Diese angeblichen Ursachen sind nach Auffassung der Verfasser
nichts anderes als weitere Erscheinungsformen individualistischer Kulturen, die
die Geburtenarmut hochindustrialisierter Länder nicht erklären, sondern
mit dieser auf einer Stufe stehen. (Ebd., S. 142).Individualistische
Kulturen sind mittelbar das Ergebnis geschichtlicher Entwicklungen. .... Trotz
vielfältiger Hemmnisse treibt und drängt alles in der europäischen
Geistesgeschichte zur Emanzipation des Individuums, zu individueller Freiheit
und Unabhängigkeit, zu individueller Entafltung und Selbstverwirklichung.
(Ebd., S. 142).Diese individualistischen Ideologien prägen
die Neigungen und Verhaltensweisen von Individuen und Gemeinwesen und durchdringen
deren Selbstverständnis sowie deren Verständnis von gesellschaftlichen
Organisationen und Institutionen. Die individualistischen Neigungen und Verhaltensweisen
wiederum beeinflussen das Handeln der Menschen und zeitigen bestimmte Folgen.
(Vgl. Schaubild). Bildung,
Kommunikation und Information, Erwerbsarbeit und materieller Wohlstand, Siedlungsstrukturen
und gesellschaftliche Ordnungen, von der Religion über die Politik bis zum
Recht, werden in den Dienst des Einzelnen und seiner Selbstverwirklichung gestellt.
Das Individuum und seine Bedürfnisse sind der allein verbindliche Maßstab.
An ihm hat sich alles auszurichten. (Ebd., S. 142-143).Diese
Individualisierung erlaubt nicht nur, sondern zwingt den Einzelnen geradezu, aus
der Gemeinschaft heraus und in den Wettbewerb mit anderen zu treten. Einerseits
fördert das die Entfaltung seiner kreativen und innovativen Potentiale. ....
Andererseits lockern sich jedoch zwischenmenschliche Beziehungen. Gemeinschaften
lösen sich auf. Gesellschaftliche Institutionen zerbrechen. .... Denn da
in diesen Kulturen alles im Dienste des Einzelnen steht, kann er Gemeinschaften
nicht ein- oder gar untergeordnet sein. .... Individuen wollen Gemeinschaft nur,
wenn sie ihnen bei der Verwirklichung ihrer individualistischen Ziele nutzt. Nutzt
sie ihnen nicht mehr oder behindert sie gar, wollen Individuen sie nicht mehr.
Damit verliert die Gemeinschaft ihren Seinsgrund. Gemeinschaften sind in individualistischen
Kulturen voluntaristisch. Bestimmte Gemeinschaften sperren sich allerdings gegen
diesen Voluntarismus. Die wichtigste von ihnen ist die Gemeinschaft von Eltern
und Kindern. Zwar steht es Eltern frei, diese Gemeinschaft zu zeugen. Haben sie
sie aber gezeugt, können sie sie - gleichgültig ob sie ihnen nützlich
ist oder hinderlich ist - nur unter Beschädigung ihrer selbst, vor allem
aber ihrer Kinder beenden. Damit sind Familien nur bedingt voluntaristisch, oder
umgekehrt, sie sind in gewisser Weise Zwangsgemeinschaften, die als solche in
Widerspruch zu den Maximen indivdualistischer Kultur stehen. Die einsichtige Folge:
Gemeinschaften mit Kindern werden in individualistischen Kulturen gemieden, es
sei denn, sie entsprechen den individualistischen Neigungen von Einzelnen. Das
aber ist - wie alle Empirie zeigt - nicht die Regel. Nur Minderheiten verhalten
sich in individualistischen Kulturen heute so, daß der Bestand der Bevölkerung
gewährleistet ist. Viele haben kein oder allenfalls ein Kind. Deshalb sind
individualistische Kulturen insgesamt unfruchtbar oder richtiger: Ihre Fruchtbarkeit
ist janusköpfig. Ihrer großen kulturellen, insbesondere wirtschaftskulturellen
Stärke steht eine große biologische Schwäche gegenüber. ....
Durch die Auflösung von Gemeinschaft sinkt in individualistischen Kulturen
die menschliche Fruchtbarkeit. Der kulturell hochgradig entfaltenen Bevölkerung
droht so der Verlust ihrer physischen Existenz. (Ebd., S. 143-144).Aufgrund
der Ungleichzeitigkeit der zahlenmäßigen Bevölkerungsentwicklung
können nämlich in absehbarer Zukunft ganze Kulturen zerstört werden
- das Dilemma hochindustrialisierter Länder. (Ebd., S. 144).In
Anbetracht dieser Entwicklungen haben die Bevölkerungen hochindustrialisierter
folgende Optionen: | Sie
können die Maximen individualistischer Kultur aufgeben und sich gemeinschaftsorientierten
Kulturformen zuwenden. Dann dürfte ihre Geburtenrate wieder steigen und wahrscheinlich
auch ein bestandserhaltendes Niveau erreichen. |
| Sie
können an den Maximen individualistischer Kultur festhalten und versuchen,
deren demographische Folgen zu mildern. Dazu müßten sie die Geburtenrate
wenigstens mäßig erhöhen ... und sich gleichzeitig auf eine zahlenmäßig
abnehmende und alternde Bevölkerung einrichten. Auf diese Weise könnten
sie die demographischen Verwerfungen und die Gefährdung ihrer kulturellen
Identität noch einige Generationen lang meistern. |
| Sie
können an den Maximen individualistischer Kultur festhalten und Versuche
unterlassen, deren demographische Folgen zu mildern. Dann dürften voraussichtlich
rasch wachsende Bevölkerungsverluste durch ebenso rasch wachsende Zuwandererzahlen
quantitativ ausgeglichen, ihre ethnische und kulturelle Identität jedoch
früher oder später marginalisiert werden und erlöschen. | Alle
diese Optionen verlangen den Bevölkerungen hochindustrialisierter Länder
mit Deutschland an der Spitze erhebliche Opfer ab. Unübersehbar befinden
sich diese Länder in einer demographischen Zwickmühle. Ihr zu entkommen
ist schwierig. Soll dies überhaupt gelingen, muß Bevölkerungspolitik
künftig einen hohen Rang einnehmen. Dies gilt besonders für Deutschland.
(Ebd., S. 144-145).Anhang:
Instrumente
der Steuerung des Geburtenverhaltens (S. 147-149) Überblick
über die wichtigsten Bevölkerungstheorien (S. 150-160)
Instrumente der Steuerung des GeburtenverhaltensÄhnlich
wie die Ziele sind die Instrumente der Steuerung des generativen Verhaltens im
Zeitablauf, regional, aber auch von Individuum zu Individuum unterschiedlich.
Dabei kann grundsätzlich zwischen zwei Gruppen unterschieden werden: biologischen
und gesellschaftlichen Steuerungsinstrumenten. (Ebd., S. 147).Zu
den biologischen (und also auch: biopolitischen; Anm. HB)
Steuerungsinstrumenten gehören-
Sexuelle EnthaltsamkeitVor der Verbreitung
künstlicher Methoden der Empflingnisverhütung ist sexuelle Enthaltsamkeit
ein wichtiges Instrument der Geburtenbeschränkung. Selbst innerhalb der Ehe
werden beispielsweise im mittelalterlichen Europa von der Kirche lange Perioden
der Enthaltsamkeit empfohlen und wohl auch eingehalten. (So fordert die Kirche
eheliche Entahltsamkeit in der ersten oder in den ersten drei Nächten nach
der Trauung, während der Advents. und fastenzeit, in den zwei wochen vor
un der Woche nach Pfingsten, an den als Bußtagen geltenden Wochentagen Mittwoch
und Freitag sowie in den Nächten vor Sonn- und hohen Feiertagen. (Vgl. Edith
Ennen, Frauen im Mittelalter, 1984.) Menschen, die freiwillig enthaltsam
leben, genießen bis heute in vielen Kulturen besondere Hochachtung.
(Ebd., S. 147).- StillzeitenVor
allem in naturnahen Bevölkerungen wird die Unfruchtbarkeit der Frau während
der Stillphase eines Kindes als Instrument zur Vermeidung von Schwangerschaften
genutzt, indem diese Phase solange wie möglich ausgedehnt wird. Auf diese
Weise können Schwangerschaften bis zu einigen Jahren vermieden werden. (Vgl.
Arthur Imhof, Einführung in die Historische Demographie, 1981, S.
179f.) Mitunter wird während der Stillphase noch zusatzlich sexuelle Enthaltsamkeit
geübt. (Ebd., S. 147).- Empfängnisverhütung
Natürliche und künstliche Methoden der Empflingnisverhütung
sind seit langem bekannt. Erst seit der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts
sind jedoch künstliche Methoden der Empfängnisverhütung recht zuverlässig
wirksam, verhältnismäßig problemlos anwendbar und gesellschaftlich
weitgehend akzeptabel. (Hierbei handelt es sich in erster Linie um um hormonale
Kontrazeptiva, z.B. Antibabypille). Dies hat zu ihrer weiten Verbreitung geführt.
Künstliche Methoden der Empängnisverhütung sind heute das wichtigste
Instrument zur Steuerung des generativen Verhaltens. Einer Umfrage von 1992 zufolge
sind 69 v.H. der westdeutschen Frauen der Auffasung, daß es heute genügend
wirksame Verhütungsmöglichkeiten gibt. Unter den verschiednen künstlichen
Verhütungsmitteln wird die Antibabypille mit Abstand am »positivsten«
(Anführungszeichen von mir: HB) beurteilt. (Vgl.
Allensbacher Institut für Demoskopie). (Ebd., S. 147).-
AbtreibungAuch die Abtreibung ist seit
langem eine Methode zur Beschränkung der Geburtenzahl. Allerdings stellt
sie bis heute nicht nur einen erheblichen medizinischen Eingriff dar. Sie wird
von der Gesellschaft auch immer noch ethisch und moralisch sehr unterschiedlich
bewertet. Die Bewertungen erstrecken sich von ihrer weitgehenden Tolerierung bis
zu ihrem völligen Verbot. Dennoch wird Abtreibung verbreitet praktiziert.
1991 wurden in Westdeutschland rund 750000 legale Abtreibungen vorgenommen. In
der ehemaligen DDR war 1989 die Zahl gemessen an der Bevölkerung fast viermal
so hoch. (Vgl. Statistisches Budesamt, Statistisches Jahrbuch 1992 für
die Bundesrepublik Deutschland, 1992, S, 452). (Ebd., S. 147).-
KindestötungObgleich die Tötung
von Neugeborenen kein eigentliches Instrument der Steuerung generativen Verhaltens
ist, spielt sie in früheren Epochen und in sehr naturnahen Bevölkerungen
zum Teil auch noch heute eine gewisse Rolle bei der Beschränkung der individuellen
Kinderzahl und einer bestimmten Population. Insoweit muß auch die Kindestötung
als eine zwar extreme und sehr archaische, aber dennoch als eine Form der Kontrolle
menschlicher Fruchtbarkeit angesehen werden. (Ebd., S. 147). Zu
den gesellschaftlichen (und also auch: gesellschaftspolitischen;
Anm. HB) Steuerungsinstrumenten gehören-
Diskrepanz zwischen natürlicher und gesellschaftlich akzeptierter Zeugungs-
und GebärphaseIn den meisten Bevölkerungen
ist die gesellschaftlich akzeptierte Zeugungs- und Gebärphase deutlich kürzer
als die natürliche. Oft ist der Höhepunkt natürlicher Fruchtbarkeit
bereits überschritten, wenn Zeugen und Gebären gesellschaftlich akzeptiert
werden. Dies zeigt der langfristige und regional differenzierte Vergleich von
natürlicher Fruchtbarkeit und den Zeitpunkten der Geburten im Lebenszyklus
von Frauen. In hochindustrialisierten Ländern ist die Diskrepanz zwischen
der Phase natürlicher Fruchtbarkeit und der Gebärphase von Frauen besonders
groß. Während die Phase natürlicher Fruchtbarkeit in den letzten
100 jahren von 19 auf 39 Jahre gestiegen sit, ist die Gebärphase von durchschnittlich
11,8 auf 4,5 Jahre zurückgegangen. Damit erstreckt sich die Gebärphase
heute (1993) nur noch auf 11,5 v.H. der fruchtbaren
Phase gegenüber 40,7 v.H. vor 100 Jahren. (Vgl. Arthur Imhof, Einführung
in die Historische Demographie, 1981, S. 165ff.). (Ebd., S. 148).-
Diskriminierung lediger Eltern und ihrer KinderIn
vielen Gesellschaften werden ledige Mutter - seltener auch ledige Väter -
und ihre Kinder gesellschaftlich wirksam diskriminiert. Diese Diskriminierung
zielt darauf ab, Kinder möglichst nur innerhalb einer Ehe zu gebären.
Nichtverheiratete sollen davon abgehalten werden, Kinder zu haben. Erst in neuerer
Zeit ist in Deutschland wie in anderen hochindustrialisierten Ländern die
Zahl nichtehelich Geborener angestiegen. 1990 wurden in Deutschland rund 140000
Kinder, das sind 15,5 v.H. aller Lebendgeborenen, von ledigen Müttern geboren.
(Ebd., S. 148).- Einwirkungen auf die EheZwar
dienen gesellschaftliche Einwirkungen auf die Ehe nicht nur der Beeinflussung
des Geburtenverhaltens. Gewollt oder ungewollt führen sie jedoch, insbesondere
in Verbindung mit der gesellschaftlichen Diskriminierung lediger Eltern und ihrer
Kinder, zu einer zumindest mittelbaren Beeinflussung des Geburtenverhaltens. Zum
einen wirkt die Gesellschaft über das Heiratsalter auf die Ehe ein. Das gesellschaftlich
akzeptierte Heiratsalter schwankt mit dem gesellschaftlichen Interesse an Geburten.
Früheres oder späteres Heiraten wird je nach gesellschaftlicher Interessenlage
benachteiligt oder begünstigt. Häufig liegt jedoch das gesellschaftlich
akzeptierte Heiratsalter erheblich später als der Beginn der natürlichen
Fruchtbarkeit. Die gesellschaftlichen Einwirkungen auf das Heiratsalter zeigt
ein langfristiger und regional differenzierter Vergleich des durchschnittlichen
Heiratsalters. Häufig wird auch eine Art Ehefähigkeit gefordert, die
wirtschaftlich und/oder biologisch definiert sein kann. Dadurch werden zumindest
mittelbar Geburtenraten in der einen oder anderen Richtung beeinflußt.
(Ebd., S. 148). - WanderungspolitikDa
die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung nicht zuletzt von ihrem Anteil an Zeugungs-
und Gebärfähigen abhängt, kann sie durch eine entsprechende Wanderungspolitik
beeinflußt werden. Je nachdem, ob die Ab- oder Zuwanderung von Zeugungs-
und Gebärfähigen gefördert oder behindert wird, steigt oder fällt
die Fruchtbarkeit der Bevölkerung. (Ebd., S. 148).
Überblick über die wichtigsten Bevölkerungstheorien
 | | Klassiker:
Adam Smith, Thomas Robert Malthus, David Ricardo, John Stewart Mill. Sozialisten:
Karl Marx, Ferdinand Lassalle, Heinrich Soetbeer, Erich Unshelm. Biologisten:
Herbert Spencer, L. Adolphe J. Quételet, P. F. Verhulst, Raymond Pearl,
Lowell J. Reed. Optimumtheoretiker: L. Robbins, S. S. Cohen.
Wohlstandstheoretiker: Ludwig Josef Brentano, Oscar Wingen,
Paul Mombert, Gustav Schmoller, A. H. G. Wagner. Gesinnungstheoretiker:
Werner Sombart, Max Weber, Max Scheler, Julius Wolf, Roderich von Ungern-Sternberg.
Sozio-kulturelle Theoretiker: Gunther Ipsen, Hans Linde, Gerhard
Mackenroth, F. W. Notestein, Kingsley Davis, Judith Blake, Ronald Freedman, Hermann
Schubnell, Karl Martin Bolte, Josef Schmid, Franz-Xaver Kaufmann, Rainer Mackensen,
Peter Marschalck, Karl Schwarz, Charlotte Höhn, Max Wingen. Sozio-ökonomische
Theoretiker: Ansley Coale, Edgar M. Hoover, Simon Kuznets, Stephen Enke,
Harvey Leibenstein, Gary S. Becker, Richard A. Easterlin, Valery K. Oppenheimer,
Hilde Wander, Klaus F. Zimmermann. Sozial-psychologische Theoretiker:
Günther Oppitz, Lutz von Rosenstiel, P. K. Welpton, C. V. Kiser,
F. G. Mishler, C. F. Westoff, J. T. Fawcett, F. Arnold, R. P. Bagozzi, M. F. van
Loo, Rodolfo A. Bulatao, Herwig Birg. |
| Das
Schaubild zeigt noch einmal in schematischer Form das Netzwerk der wichtigsten
Bevölkerungstheorien während der zurückliegenden 220 Jahre. Das
Schema deutet an, daß alle diese Theorien miteinander verbunden, zum Teil
voneinander abgeleitet und mitunter bloße Erweiterungen und Ergänzungen
früherer Erklärungen sind. In seiner vertikalen Gliederung verdeutlicht
das Schema, daß sich die Theorien in Abhängigkeit von den Phasen der
Bevölkerungsentwicklung wandeln. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts trotz
zunehmenden Massenwohlstands die Geburtenraten in den hochindustrialisierten Ländem
zunächst stagnieren und dann sogar sinken, verlieren alle jene Theorien ihre
empirische Fundierung, die Bevölkerungs- und Wohlstandsentwicklung positiv
miteinander verknüpfen: die der Klassiker und - mit Einschränkungen
- die der Sozialisten, Biologisten und Optimumtheoretiker. An ihre Stelle treten
die Wohlstandstheoretiker, die zwar gleichfalls einen engen Zusammenhang zwischen
Bevölkerungs- und Wohlstandsentwicklung sehen. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern
kehren sie jedoch die Kausalität zwischen Wohlstand und menschlicher Fruchtbarkeit
um. Meinen ihre Vorgänger, die Drosselung der Kinderzahl wirke unter bestimmten
Voraussetzungen wohlstandsmehrend, so vertreten sie die Auffassung, Wohlstand
drossele die Kinderzahl. Doch obwohl die Wohlstandstheoretiker bereits viele der
Argumente zusammentragen, die bis heute die Diskussion über das generative
Verhalten von Bevölkerungen beeinflussen, hat auch ihre Theorie keinen dauerhaften
Bestand. Sie wird unter dem Eindruck eines immer drastischeren Verfalls der Geburtenraten
in hochindustrialisierten Ländem vor allem in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts von sozio-kulturellen, sozio-ökonomischen und sozial-psychologischen
Theorien verdrängt. Diese neuen Theorien stützen sich oft auf Vorarbeiten
der Gesinnungstheoretiker. In seiner horizontalen Gliederung läßt das
Schema des Schaubilds erkennen, daß sich im Ablauf der Phasen der Bevölkerungsentwicklung
auch die wissenschaftliche Orientierung der sie erklärenden Theorien verändert.
Während der Phase beschleunigten und schnellen Bevölkerungswachstums
dominieren ökonomische Sichtweisen. In der Phase mäßigen Bevölkerungswachstums
tritt neben die unverändert ökonomische Sichtweise der Wohlstandstheoretiker
die Lehre der Gesinnungstheoretiker, die zwar ebenfalls noch Elemente der Ökonomie
enthält, darüber hinaus aber unverkennbar soziologische Züge trägt.
In der Phase der Bevölkerungsstagnation und des Rückgangs schließlich
treten neben die bis dahin dominierenden ökonomischen Sichtweisen soziologische
und sozial-psychologische Theorien. Zugleich verschieben sich, wie ebenfalls dem
Schaubild zu entnehmen ist, die methodischen Ansätze vom Makro- in den Mikrobereich,
von der Volkswirtschaft und Gesamtbevölkerung zum Privathaushalt, der Kleingruppe
und dem Einzelnen. Makroökonomische und -soziologische Erklärungen des
generativen Verhaltens von Menschen verlieren spätestens seit der Mitte dieses
Jahrhunderts an Einsichtigkeit und werden durch Theorien im Mikrobereich verdrängt.
Durch diese Verlagerung der wissenschaftlichen Forschung vom Makro- in den Mikrobereich
ist es einerseits möglich, das Verhalten von Einzelnen und Kleingruppen immer
genauer zu erfassen, zu beschreiben und zu erklären. Andererseits wird mangels
ausreichender Systematisierungs- und Verallgemeinerungsfähigkeit dieser Einzelfall-
und Kleingruppenanalysen die Bildung eigentlicher Theorien zunehmend schwierig.
Mangels einer Theorie kann die Wissenschaft jedoch nur noch bedingt handlungsweisend
wirken. Diese Entwicklung hat nicht nur bei ihr, sondern auch in der Praxis zu
einer gewissen Resignation geführt. Da die Fülle angeblicher Ursachen
generativen Verhaltens fast unüberschaubar geworden ist, erscheinen Aussagen
über künftige Verhaltensweisen und deren Beeinflußbarkeit gewagt.
Wohl heißt es, das generative Verhalten »postmoderner Gesellschaften«
führe irreversibel zur Alterung und Schrumpfung dieser Gesellschaften, doch
es heißt auch, daß die Geburtenfreudigkeit selbst dieser Gesellschaften
wieder zunehmen könne, wenn nur die Kinder wieder wirtschaftlich profitabel
würden oder zumindest die ökonomische Belastung der Eltern minimiert
würde. Die derzeitige Diskussion über generatives Verhalten und Bevölkerungsentwicklung
leidet jedoch nicht nur unter derartigen Widersprüchen, sondern auch unter
den seit langem bestehenden Unsicherheiten bei der Unterscheidung zwischen Ursachen
und Wirkungen. Wird in der Vergangenheit darüber gestritten, ob durch sinkende
Kinderzahlen der Wohlstand steigt oder durch steigenden Wohlstand die Zahl der
Kinder sinkt, so wird nun darüber gestritten, ob der abnehmende gesellschaftliche
Status der Ehe, veränderte Lebensentwürfe, die Emanzipation der Frau,
eine verbreitete individuelle und gesellschaftliche Orientierungslosigkeit, Zukunftsängste
und viele weitere Faktoren den Rückgang der Geburtenrate bewirken oder umgekehrt
der gesellschaftliche Status der Ehe abnimmt, Lebensentwürfe verändert
werden u.s.w., weil die Geburtenrate zurückgeht. Bei genauerer Prüfung
des Disputs zeigt sich, daß angebliche Ursachen des Geburtenrückgangs
in hochindustrialisierten Ländern und der Geburtenrückgang selbst zumeist
eine logische Einheit bilden, die angeblichen Ursachen und ihre Wirkungen also
miteinander verschmolzen sind. Im einzelnen sind die Theorien, mit denen bisher
die Ursachen des Geburtenrückgangs erklärt wurden, in der Literatur
so oft und ausführlich behandelt worden, daß sich ihre abermalige Darstellung
erübrigt. Im folgenden sollen nur einige ihrer Aspekte verdeutlicht werden.
Formal ist zwischen zwei Gruppen zu unterscheiden: Theorien, die im 18. und 19.
Jahrhundert während der Phasen beschleunigten und schnellen Bevölkerungswachstums
in Europa entstehen, und Theorien, die im späten 19. und im 20. Jahrhundert
während der Phasen nur noch mäßigen Bevölkerungswachstums
oder gar zahlenmäßigen Bevölkerungsrückgangs entwickelt werden.
In den Theorien der ersteren Gruppe wird der Geburtenrückgang nur als Möglichkeit
gesehen, den mitunter als bedrohlich empfundenen Anstieg der Bevölkerungszahl
zu bremsen. Nur insoweit interessieren die Ursachen eines derartigen Rückgangs.
In den Theorien der letzteren Gruppe ist hingegen der Geburtenrückgang bereits
erklärungsbedürftige Wirklichkeit. Entsprechend werden auch Überlegungen
angestellt, den veränderten Trend zu wenden. (Ebd., S. 150-152).Die
wichtigsten Theorien der Phase
des beschleunigten und schnellen Bevölkerungswachstums können im
wesentlichen vier Denkrichtungen zugeordnet werden, die herkömmlich mit Klassikern,
Biologisten, Optimumtheoretikern und Sozialisten bezeichnet werden. Jede dieser
Denkrichtungen besteht ihrerseits aus mitunter recht unterschiedlichen Einzelpersönlichkeiten
und Schulen. Trotz deren Eigenständigkeiten weisen alle Theorien dieser Phasen
fundamentale Übereinstimmungen auf. Sie unterstellen mehr oder minder explizit
ein generatives Verhalten des Menschen, das dem des Tieres ähnelt. Verbessern
sich seine materiellen Lebensbedingungen, steigt seine Fruchtbarkeit, verschlechtern
sie sich, sinkt sie. Das generative Verhalten des Menschen ist also mit seiner
wirtschaftlichen Lage positiv gekoppelt. Strittig ist lediglich, ob sich Menschen
in Überschätzung ihrer wirtschaftlichen Lage so stark vermehren können,
daß sie verelenden. Dies wird von Klassikern und Sozialisten für möglich
gehalten, von Biologisten und Optimumtheoretikern, die beide von natürlichen
Steuerungsmechanismen ausgehen, jedoch bezweifelt. Geburtenrückgang wird
damit nach gemeinsamer Auffassung von wirtschaftlichen Begrenzungen verursacht,
die entweder - so die Klassiker und Sozialisten - durch Verelendung, Zwang oder
Einsicht oder - so die Biologisten und Optimumtheoretiker - durch unsichtbare
biologische bzw. ökonomische Steuerungsmechanismen wirksam werden.
(Ebd., S. 153).- Die Klassiker.
- Am eindeutigsten kommt die positive Kopplung von materiellen Lebensbedingungen
und menschlicher Fruchtbarkeit in den Lehren der Klassiker wie Adam Smith (1723-1790),
David Ricardo (1772-1823), John Stuart Mill (1806-1873), vor allem aber Thomas
Robert Malthus (1766-1834) zum Ausdruck. Verbessern sich die Lebensbedingungen,
nimmt nicht nur die Lebenserwartung zu, sondern zugleich wird früher und
häufiger geheiratet, und die Kinderzahl steigt. Umgekehrt gilt Entsprechendes.
Dabei strebt der Mensch üblicherweise nur nach der Sicherung seines Existenzminimums,
Scheint dieses gewährleistet, vermehrt er sich, bis seine Lebensgrundlage
erschöpft ist. Zwar räumen die Klassiker ein, daß die Bemessung
des Existenzminimums von Region zu Region und im Zeitablauf verschieden sein kann.
Doch sehen sie die Gültigkeit ihres Grundsatzes hiervon nicht berührt.
Die zutreffende Einschätzung wirtschaftlicher Kapazitätsgrenzen ist
für die Klassiker eine der wichtigsten individuellen und gesellschaftlichen
Aufgaben. Unterlaufen hier Fehler, können Individuen und Gesellschaft in
existentielle Gefahr geraten. Um solche Gefahren abzuwenden, darf auch zum Beispiel
vom Staat ein generatives Verhalten erzwungen werden, das den wirtschaftlichen
Gegebenheiten entspricht. (Ebd., S. 153).- Die Sozialisten.
- Obgleich die Sozialisten, denen so unterschiedliche Persönlichkeiten wie
Heinrich Soetbeer und Erich Unshelm, aber auch Ferdinand Lassalle (1825-1864)
und Karl Marx (1818-1883) zugerechnet werden, erheblich später lehren als
die Klassiker und diese auch nachdrücklich kritisieren, bestehen dennoch
zwischen beiden Denkrichtungen bemerkenswerte Parallelen. Auch wenn aus der Sicht
der Sozialisten die europäischen Bevölkerungen insgesamt nicht mehr
in der Gefahr stehen, durch zu viele Kinder zu verelenden, schließen sie
dies für die Arbeiterklasse nicht aus. Denn die Arbeiterklasse neigt dazu,
so viele Kinder großzuziehen, wie dies bei Wahrung eines bloßen Existenzminimums
möglich ist. Dieses Verhalten führt dazu, daß bei steigenden Löhnen
auch die Zahl der Kinder steigt, was mittelfristig wiederum zu einem Überangebot
an Arbeitskräften und dieses zu einem Rückgang der Löhne führt.
So lebt die Arbeiterklasse immer an der Elendsgrenze - entweder weil ihr Lohn
zu niedrig oder die Zahl ihrer Kinder zu groß ist. Folgerichtig plädieren
die Sozialisten dafür, die Arbeiterklasse möge aufgrund besserer Einsicht
ihre Geburtenrate senken und durch die so bewirkte Verknappung des Faktors Arbeit
dessen Marktwert erhöhen. (Ebd., S. 154).- Die Biologisten:
Nach Auffassung der Biologisten wie Herbert Spencer (1820-1903) 13, L. Adolphe
J. Quételet (1796-1874), P.F. Verhulst, Raymond Pearl und Lowell J. Reed
ist eine solche bewußte Einsicht in den Zusammenhang zwischen generativem
Verhalten und materiellen Lebensbedingungen, wie sie von den Sozialisten postuliert
wird, nicht erforderlich. Jede Bevölkerung füllt nämlich den ihr
zur Verfügung stehenden Raum nur nach Maßgabe seiner konkreten Möglichkeiten.
Daher sind fruchtbare Gebiete dicht, weniger fruchtbare dünner besiedelt.
Nähert sich eine Bevölkerung den Kapazitätsgrenzen ihres Raums,
werden wie bei manchen Tierarten biologische Mechanismen wirksam, die das Bevölkerungswachstum
verlangsamen und gegebenenfalls anhalten. Dadurch werden Verelendung oder gar
existentielle Katastrophen mit einer gewissen Automatik vermieden. Im übrigen
wird das generative Verhalten des Menschen vom Trieb der Arterhaltung gesteuert.
Ist die Art bedroht, steigt die Geburtenrate. Ohne Bedrohung bleibt sie konstant
oder sinkt. (Ebd., S. 154).- Die Optimumtheoretiker.
- Diese Erwägungen, die noch recht deutlich agrargesellschaftliche Prägungen
aufweisen, werden von den Optimumtheoretikern wie L. Robbins und S. S. Cohen unter
Bedingungen von Industriegesellschaften weitergeführt. Nach ihrer Auffassung
steigt bei einer gegebenen Kapitalausstattung der individuelle und kollektive
Wohlstand bis zu einem bestimmten Punkt der Bevölkerungsvermehrung. Wird
der optimale Schnittpunkt von Kapitalausstattung und Bevölkerungszahl überschritten,
sinkt der Wohlstand wieder. Das bewahrt die Bevölkerung davor, sich über
die Begrenzungen ihrer Lebensgrundlage hinaus zu vermehren. Ähnlich wie die
Biologisten glauben also auch die Optimumtheoretiker an einen Steuerungsmechanismus,
den sie allerdings, im Unterschied zu den Biologisten, nicht biologisch, sondern
ökonomisch erklären. (Ebd., S. 154-155).Die Theorien
der nächsten beiden Phasen, der Phase
des mäßigen Bevölkerungswachstums und der Phase
von Bevölkerungsstagnation und Bevölkerungsrückgang, können
nur noch in der ersten Halfte dieses Jahrhunderts und auch dann nur mit erheblichen
Einschränkungen bestimmten Denkrichtungen oder Schulen zugeordnet werden.
Üblicherweise werden die beiden wichtigsten Richtungen als Wohlstands- und
Gesinnungstheoretiker bezeichnet. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts
lassen sich die Beitrage zur wissenschaftlichen Diskussion noch weniger bündeln.
Im wesentlichen handelt es sich um Theorien von Einzelpersönlichkeiten. Kennzeichnend
für die Theorien dieser Phasen, die sich im westlichen Europa mit zwei markanten
Rückgangen der Geburtenrate, einmal um die Jahrhundertwende und zum anderen
in den 1960er Jahren, auseinanderzusetzen haben, ist ihr komplexer wissenschaftlicher
Ansatz. Das gilt vor allem für die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts,
in der die meisten Theorien in sozio-ökonomischen, sozio-kulturellen und
sozial-psychologischen Denkansatzen wurzeln. Der Geburtenrückgang wird nach
allen diesen Theorien von einer Vielzahl von Faktoren verursacht, die im Einzelnen
schwierig zu gewichten sind und deren Verhältnis zueinander nur wenig geklärt
ist. Entsprechend schwierig sind diesen Theorien zufolge Aussagen über die
Beeinflußbarkeit dieser Ursachen. (Ebd., S. 155).-
Die Wohlstandstheoretiker.
- Die Entkopplung von Wohlstands- und Bevölkerungsmehrung, die in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts immer augenscheinlicher wird, zwingt die Wissenschaft
zu einer Umorientierung. Erste Anzeichen dieser Umorientierung finden sich bereits
bei den Biologisten, unter denen beispielsweise Thomas A. Doubleday, aber auch
andere die Ansicht vertreten, daß eine Verbesserung der Ernahrung einen
Rückgang der Fruchtbarkeit bewirken könne. Was Doubleday nur als Möglichkeit
ansieht, ist aufgrund der sich weiter erhartenden empirischen Evidenz für
die Wohlstandstheoretiker wie Ludwig Josef Brentano (1844-1931), Paul Mombert
(1876-1938) oder Oscar Wingen Gewißheit. (Weiterführende Überlegungen
werden im Verein für Sozialpolitik entwickelt, der 1872 von Gustav
Schmoller [1838-1917], Ludwig Josef Brentano und A. H. G. Wagner gegründet
wird). Sie kehren deshalb den lange Zeit gültigen Lehrsatz: Steigender materieller
Wohlstand bewirkt Bevölkerungswachstum um und behaupten nunmehr: Steigender
materieller Wohlstand, verbunden mit kulturellem und sozialem Fortschritt, bewirkt
einen Rückgang der Geburtenrate bis hin zu Bevölkerungsstagnation oder
-rückgang. Je wohlhabender und fortschrittlicher ein Volk ist, so lautet
die neue Lehre, um so niedriger ist seine Geburtenrate. Gleiches gilt für
Bevölkerungsgruppen und -schichten. Dieser Wandel im generativen Verhalten
der Menschen wird von den Wohlstandstheoretikern mit dem Überschreiten eines
kritischen Punktes im Prozeß der Wohlstandsmehrung erklärt. Erhöht
sich der Wohlstand, so die Argumentation, nur mäßig, dann reagiert
der Mensch hierauf gewissermaßen animalisch, das heißt durch Vergrößerung
seiner Zahl. Erhöht er sich jedoch sprunghaft, wie dies im Zuge der Industrialisierung
geschieht, dann eröffnen sich für immer größere Bevölkerungskreise
wirkliche Optionen. Sie können ernsthaft zwischen verschiedenen Lebensentwürfen
wählen: entweder ein materiell weiterhin karges Leben mit zahlreichen Kindern
oder ein Leben mit wenigen Kindern, das jedoch recht auskömmlich ist und
eine ganze Reihe von materiellen und immateriellen Genüssen bereithält.
Nach Auffassung der Wohlstandstheoretiker haben die sogenannten bürgerlichen
Schichten, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend Vorbild für die gesamte
Bevölkerung, vor allem aber die Arbeiter werden, schon frühzeitig ihre
Wahl getroffen und sich für materiellen Wohlstand und gegen eine größere
Zahl von Kindern entschieden. Dem eifern die Arbeiter nach, die nun ebenfalls
»standesgemäß«, das heißt wie die bürgerlichen
Schichten leben wollen. Die Verbürgerlichung der Bevölkerung wird beschleunigt
durch deren Verstädterung. Die Verstädterung ist, worauf vor allem A.
Dumont und P. Leroy-Beaulieu hinweisen, ein wirksamer Ansporn, wirtschaftlich
und sozial aufzusteigen, was für die meisten nur unter der Bedingung einer
geringen Kinderzahl möglich ist. Erschwerend kommt hinzu, daß in der
Stadt die Unterhaltskosten für eine Familie, insbesondere die Wohnkosten,
deutlich höher sind als auf dem Land. Die Stadt, so die Wohlstandstheoretiker
weiter, weckt mit ihren vielfältigen Angeboten und Verlockungen aber auch
zuvor unbekannte Bedürfnisse. Besonders empfänglich hierfür sind
Frauen. Kinderglück allein vermag sie nicht mehr zu befriedigen. Sie stellen
zusätzliche materielle und immaterielle Ansprüche, und wo diese vom
Mann nicht erfüllt werden können, wächst ihre Bereitschaft, selbst
einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dadurch sinkt die Geburtenrate weiter,
zumal durch die Verstädterung auch der Familienverband so weit gelockert
ist, daß die Großelterngeneration oder enge Verwandte kaum noch unterstützend
tätig werden können. (Ebd., S. 155-156).- Die Gesinnungstheoretiker.
- Die Gesinnungstheoretiker, zu denen Gelehrte wie Max Scheler (1874-1928), Max
Weber (1864-1920), Werner Sombart (1863-1941), Julius Wolf (1862-1937) und vor
allem Roderich von Ungern-Sternberg (1885-1965) gehören, teilen in weiten
Bereichen die Ansichten der Wohlstandstheoretiker. In einer entscheidenden Frage
unterscheiden sie sich jedoch von ihnen. Für sie ist der Rückgang der
Geburtenrate zu Beginn dieses Jahrhunderts nicht Folge der allgemeinen Wohlstandsentwicklung,
sondern Wohlstandsentwicklung und Rückgang der Geburtenrate haben eine gemeinsame
Drittursache, die sie in der ökonomisch-rationalistischen Gesinnung ihrer
Zeit sehen. Diese Gesinnung bestimmt alle Lebensbereiche, die Wirtschaft ebenso
wie Ehe und Familie. Wirtschaftlicher Erfolg hat höchste Priorität.
Dadurch wird die wirtschaftliche Entwicklung beflügelt. Zugleich geraten
Ehe, Familie und Kinder in den Hintergrund. Durch diese neuartige Sichtweise öffnen
die Gesinnungstheoretiker die bislang vorwiegend ökonomisch geprägte
Diskussion des generativen Verhaltens auch für soziokulturelle und sozial-psychologische
Denkansätze. Seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts konkurrieren diese
Denkansätze mit den sozio-ökonomischen, wobei es allerdings immer wieder
zu Überschneidungen und Verflechtungen kommt. (Ebd., S. 156).-
Sozio-ökonomische
Theorien. - Ähnlich wie für die Wohlstandstheoretiker steht auch
für die Vertreter der neueren sozio-ökonomischen Theorien wie Ansley
Coale, Edgar M. Hoover, Sirnon Kuznets, Stephen Enke, Harvey Leibenstein, Gary
S. Becker und die Chikagoer Schule, Richard A. Easterlin, Valery K. Oppenheimer,
Hilde Wander, Klaus Zimmermann und andere das generative Verhalten von Menschen
in enger Abhängigkeit von deren wirtschaftlicher Situation. Doch während
für die Wohlstandstheoretiker diese Abhängigkeit mehr auf der Ebene
von Gesamtbevölkerung und Volkswirtschaft, also der Makroebene besteht, sehen
die Vertreter der neueren sozio-ökonomischen Theorien diese Abhängigkeit
mehrheitlich auf der Mikroebene des Familienverbandes und Individuums. Den neueren
sozio-ökonomischen Theorien zufolge müssen makroökonomische Einfüsse
zunächst den Filter kleingruppenspezifischer bzw. individueller Sicht- und
Empfindungsweisen passieren, ehe sie für das generative Verhalten wirksam
werden. Da jedoch diese Sicht- und Empfindungsweisen unterschiedlich vorgeprägt
sind, können die Reaktionen auf gleichartige makroökonomische Einfüsse
ebenfalls unterschiedlich sein. So dürften Menschen, die in materiellem Wohlstand
aufgewachsen sind, vorrangig versuchen, diesen Wohlstand für sich zu sichern.
Erst danach dürften sie an eigene Kinder denken. Umgekehrt dürften Menschen,
die materiellen Wohlstand nicht schätzengelernt haben, eher ihre Kinderwünsche
erfüllen. Was im Einzelfall geschieht, hängt von einer höchst individuellen
oder kleingruppenspezifischen Präferenzstruktur ab. Allerdings haben sich
in hochindustrialisierten Ländern diese Präferenzstrukturen im allgemeinen
zugunsten der Erfüllung von materiellen und immateriellen Wünschen und
zuungunsten der Erfüllung von Kinderwünschen entwickelt. Denn der Mensch
ist ein homo oeconomicus, der auch bei Kindern sorgfältig zwischen
deren Kosten und Nutzen abwägt. Dabei erkennt er, daß in hochindustrialisierten
Ländern der wirtschaftliche Nutzen von Kindern erheblich abgenommen hat und
ihre Kosten beträchtlich gestiegen sind. Unter Gesichtspunkten ihres wirtschaftlichen
Nutzens spielen Kinder für die Alters- und Krankensicherung ihrer Eltern nur noch
eine geringe Rolle. Die Lasten, die sie hier einmal zu tragen hatten, sind weitgehend
von kollektiven Sicherungssystemen übernommen worden. Auch als Arbeitskräfte
haben sie für den Familienverband an Wert verloren. Allenfalls in bäuerlichen
oder handwerklich tätigen Familien haben sie noch als Arbeitskräfte
Bedeutung. Selbst das Sozialprestige, das früher mit Kindern oft verbunden
war, hat abgenommen. Kinderreiche Familien genießen in hochindustrialisierten
Ländern keineswegs mehr besondere Achtung. Damit bleibt auf der Nutzenseite
nur die Chance subjektiver Freude, die von Kindern ausgehen kann. Ob und in welchem
Umfang diese Chance jedoch realisiert wird, hängt nicht zuletzt von Faktoren
ab, die sich der Steuerung der Betroffenen weitgehend entziehen. Diesem vagen
immateriellen Nutzen stehen handfeste materielle Kosten gegenüber, die in
hochindustrialisierten Ländern tendenziell zunehmen. Das gilt sowohl für
die direkten als auch für die indirekten Kosten. Unter den direkten Kosten
summieren sich die Ausgaben für Nahrung, Kleidung, Wohnung, Ausbildung und anderes
mehr, die Eltern für ihre Kinder tätigen müssen. Diese Ausgaben
steigen nicht zuletzt wegen ihrer immer längeren wirtschaftlichen Abhängigkeit.
Nicht minder bedeutsam als die direkten sind die indirekten Kosten, die vor allem
durch den Verzicht eines Elternteils, zumeist der Mutter, auf ein Erwerbseinkommen
entstehen. Diese sogenannten Opportunitäts- oder Alternativkosten sind umso
höher, je größer die Erwerbschancen der Eltern sind. Da diese
wiederum häufig vom Bildungs- und Qualifikationsgrad bestimmt werden, wachsen
in der Regel die Opportunitätskosten mit der beruflichen Qualifikation der
Eltern. Beruflich qualifizierte Eltern werden deshalb tendenziell weniger Kinder
haben. Gerade sie bestimmen nämlich ihre Kinderzahl aufgrund ökonomisch
rationaler Erwägungen über die optimale Verteilung knapper Ressourcen
wie Zeit und Geld. Dennoch glauben einige Vertreter der neueren sozio-ökonomischen
Theorien, so Becker, ähnlich wie die Klassiker, an einen positiven Zusammenhang
zwischen der Mehrung materiellen Wohlstands und dem Aufziehen von Kindern. Nur
meinen sie, daß dieser Zusammenhang nicht mehr quantitativ durch eine größere
Kinderzahl, sondern qualitativ zum Beispiel durch die bessere Ausbildung weniger
Kinder zum Ausdruck kommt. Auch dies ist Ergebnis eines ökonomisch rationalen
Verhaltens, da das Handlungsziel der Menschen die bestmögliche ... Lebensgestaltung
ist. (Ebd., S. 157-158).- Sozio-kulturelle
Theorien. - Die zahlreichen und vielgestaltigen sozio-kulturellen Theorien,
u.a. von Gunther Ipsen, Hans Linde, Gerhard Mackenroth (1903-1955), F.W. Notestein,
Kingsley Davis und Judith Blake, Ronald Freedman, Hermann Schubnell, Karl Martin
Bolte, Josef Schmid, Franz-Xaver Kaufmann, Rainer Mackensen, Peter Marschalck,
Karl Schwarz, Charlotte Höhn und Max Wingen wurzeln in der gemeinsamen Grundannahme,
daß das generative Verhalten des Menschen entscheidend von sozio-kulturellen
und -strukturellen oder kurz: gesellschaftlichen Faktoren bestimmt wird, die ständig
Veränderungen unterworfen sind. Zu diesen Faktoren zählen auch wirtschaftliche
Bedingungen. Doch ist deren Bedeutung den sozio-kulturellen Theorien zufolge deutlich
geringer als dies von den Vertretern sozio-ökonomischer Denkansätze
angenommen wird. Diese gesellschaftlichen Faktoren können sowohl auf der
Ebene einer ganzen Bevölkerung als auch begrenzt auf der Ebene einer Bevölkerungsschicht
oder -gruppe wirksam werden. Auf allen diesen Ebenen können unterschiedliche
Normvorstellungen, beispielsweise von der Größe einer Familie, bestehen,
die - zusammen mit anderen Faktoren - das generative Verhalten des Einzelnen bestimmen.
Aufgrund dieser Unterschiede kann das generative Verhalten von Bevölkerungen,
Schichten und Gruppen trotz gleichen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstandes
erheblich voneinander abweichen. Allerdings sind sich die Vertreter der sozio-kulturellen
Theorien weitgehend darin einig, daß sich die Mehrzahl der gesellschaftlichen
Faktoren im Zuge des Übergangs von der agrarischen zur industriellen und
vereinzelt postindustriellen Gesellschaft in einer bestimmten Richtung entwickelt.
Sozio-kulturelle Einfüsse, die von der Industrialisierung und Urbanisierung
sowie von Veränderungen ausgehen, die schlagwortartig mit »Sakularisierung«,
»Individualisierung« oder »Emanzipation der Frau« umschrieben
werden können, verstärken sich, während traditionelle Einfüsse
wie Religion, Beruf oder Standeszugehörigkeit an Bedeutung verlieren. Insgesamt
begünstigen sozio-kulturelle Faktoren, die in industriellen und mehr noch
postindustriellen Gesellschaften vorrangig wirksam sind, die Pluralisierung von
Wertvorstellungen und Lebensformen, die Anonymisierung gesellschaftlicher Beziehungen
und individualistisch-zweckrationales Verhalten. Letzteres wird - und hierin stimmen
die Vertreter der sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Theorien wiederum
überein - durch moderne Antikonzeptiva wesentlich erleichtert. Nicht zuletzt
diese Antikonzeptiva ermöglichen erstmals eine verläßliche Familienplanung,
deren Eckdaten - und auch hier sind sich die Vertreter der sozio-ökonomischen
und sozio-kulturellen Theorien einig - maßgeblich von dem Nutzen und den
Kosten von Kindern bestimmt werden. Diese Kosten-Nutzen-Abwägung erfolgt
jedoch - in Abweichung von den sozio-ökonomischen Theorien - nicht in erster
Linie unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern durchaus auch nach nichtwirtschaftlichen
Kriterien, wobei gesellschaftliches Normverhalten von besonderer Bedeutung ist.
Doch wird in den sozio-kulturellen Theorien eingeräumt, daß die Umkehr
des Einkommensstroms, der in Agrargesellschaften von den Kindern zu den Eltern,
in Industriegesellschaften hingegen von den Eltern zu den Kindern fließt,
eine deutliche Veränderung des generativen Verhaltens bewirkt haben dürfte.
Alle diese Faktoren haben generative Strukturen, das heißt Heirats-, Fortpflanzungs-
und selbst Sterbeverhalten entstehen lassen, die im Ergebnis zu einem deutlichen
Rückgang der Geburtenrate geführt haben. (Gerhard Mackenroth ist der
erste Wissenschaftler, der mittels Theorie der historisch-soziologischen Bevölkerungsweise
die Wirkungen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse auf das generative
Verhalten systematisch anlysiert und daraus Rückschlüssen auf das künftige
Geburtenverhalten zieht; vgl. Gerhard Mackenroth, Bevölkerungslehre -
Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung, 1953). Postindustrielle
Gesellschaften, die nach Ansicht einiger Beobachter derzeit besonders weit entwickelte
Industriegesellschaften ablösen, weisen sogar generative Strukturen auf,
die keine bestandserhaltenden Geburtenraten mehr ermöglichen. Dadurch steigt
nicht nur das Durchschnittsalter dieser Gesellschaften stark an, sondern zugleich
nehmen sie auch zahlenmäßig ab. (Ebd., S. 158-159).-
Sozial-psychologische
Theorien. - Wie die Vertreter der neueren sozio-ökonomischen Theorien
die makro-ökonomischen Denkansatze der Wohlstandstheoretiker auf die Mikroebene
übertragen, übertragen die Vertreter der sozial-psychologischen Theorien,
u.a. P. K. Welpton und C.V. Kiser, E.G.Mishler und C.F. Westoff, J.T. Fawcett,
F. Arnold, Lutz von Rosenstiel, Gunther Oppitz, R.P. Bagozzi und M.F. Van Loo,
Rodolfo A. Bulatao und besonders Herwig Birg, die gesellschaftlichen Sichtweisen,
die die sozio-kulturellen Theorien auszeichnen, auf Kleingruppen und »Individuen«
(Anführungszeichen von mir: HB). Sie sehen sich
hierzu durch die Beobachtung veranlaßt, daß makro-ökonomische
und -soziologische Faktoren immer nur auf der Ebene der Kleingruppe oder des »Individuums«
Bedeutung für das generative Verhalten erlangen können, Kleingruppen
und »Individuen« durch unterschiedliche Einfüsse aber verschiedenartig
geprägt sind. Aus dieser verschiedenartigen Prägung folgern sie, daß
Kleingruppen und »Individuen« auch in ihrem generativen Verhalten
auf gleiche makro-ökonomische und -soziologische Faktoren unterschiedlich
reagieren können. Die Einfüsse, die verschiedenartige Prägungen
von Kleingruppen und »Individuen« bewirken, können »individuell«
oder kollektiv sein. »Individuelle« Einfüsse sind beispielsweise
Erfahrungen, die ein Mensch in seiner Kindheit mit Eltern und Geschwistern und
später mit Partnern, engen Bezugspersonen, Freunden, Nachbarn und nicht zuletzt
den eigenen Kindern sammelt. Kollektive Einfüsse gehen hingegen von Religionen
und Konfessionen oder gesellschaftlichen Ständen und Berufen aus. Solche
kollektiven Einfüsse können zu Kleingruppen- und »individual«-übergreifenden
Prägungen führen, aufgrund derer dann auch Großgruppen und möglicherweise
sogar Bevökerungen in ihrem generativen Verhalten üreinstimmend auf
makro-ökonomische und -soziologische Faktoren reagieren. An dieser Stelle
ist der Übergang zwischen sozio-kulturellen und sozial-psychologischen Theorien
fließend. Diese Prägungen von Kleingruppen und »Individuen«
verdichten sich den sozial-psychologischen Theorien zufolge zu Präferenzstrukturen,
die jedoch - wie die Prägungen selbst - nur bedingt stabil sind. Sie können
sich nicht nur im Laufe der Zeit allmählich ändern, sondern auch abrupt,
zum Beispiel durch einschneidende Veränderungen in einer Partnerschaftsbeziehung,
einen Berufs- oder Wohnortswechsel. Dabei bestehen zwischen den Präferenzstrukturen
von Kleingruppen und »Individuen« und den gesellschaftlichen Normen
Wechselbeziehungen, wobei sich auch hier sozio-kulturelle und sozialpsychologische
Theorien berühren. Solche nur bedingt stabilen Präferenzstrukturen steuern
das generative Verhalten von Menschen, das bei Vorhandensein moderner Antikonzeptiva
stets rational ist. Gemäß ihrer jeweiligen Praferenzen wägen Menschen
ab: einerseits zwischen den materiellen Kosten eines Kindes, dem physischen und
psychischen Aufwand, der mit ihm einhergeht, dem Verlust an Freizeit, der zusätzlichen
Verantwortung, den Selbstverwirklichungschancen und vielem anderen mehr und andererseits
dem Gefühl, durch ein Kind erst erwachsen zu werden, gegen emotionale Frustration
gefeit zu sein, eine Partnerschaft zu stabilisieren, Abwechslung zu bekommen,
noch einmal die eigene Kindheit und Jugend nacherleben zu können oder auch
ein Lebenswerk zu krönen. Dabei ist der Kinderwunsch um so größer,
je größer die wahrgenommene Instrumentalität von Kindern für
die Erreichung eigener Lebensziele ist. Umgekehrt gilt Entsprechendes. (Ebd.,
S. 159-160).
Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen.
(2002)
Insgesamt hat die Zuwanderung
... mehr den Zuwanderern als den Deutschen genutzt. (Ebd., S. 42).Denn
im Unterschied zu den europäischen Auswanderern müssen viele der asiatischen
oder afrikanischen Zuwanderer erst ausgebildet und integriert werden (und
das übrigens auch noch: immer häufiger ohne Erfolg, immer mehr gegen
ihren Willen; HB), um in einer modernen Volkswirtschaft produktiv eingesetzt
und der ihnen zugedachten Aufgabe gerecht werden zu können. Wenn aber die
Zuwanderer mit erheblichen Aufwand zunächst qualifiziert werden müssen,
können die Bevölkerungen Europas ebenso gut ihre eigenen Kinder großziehen.
Das ist einfacher und weniger aufwendig. Der Zweck ihres derzeitigen Zeugungsverhaltens,
die Verminderung der Kinderlast, wird so ad absurdum geführt. Sie
müssen für Zuwander leisten, was sie für die eigenen Kinder nicht
zu leisten bereit waren. Was sie nicht individuell erbringen wollten, müssen
sie kollektiv erbringen. Ob das die Bürde leichter macht, ist zweifelhaft.
Nicht auszuschließen ist auch, daß dieser »Kinderersatz«
zum Ziel von Aversionen, vielleicht sogar von Aggressionen wird. (Ebd.,
S. 50).Von den knapp siebenhunderttausend Stunden, die derzeit
ein Menschenleben im statistischen Mittel in Deutschland währt, bringen Erwerbstätige
rund sechzigtausend Stunden mit Erwerbsarbeit zu. Das sind acht Prozent ihres
Lebens. Noch vor hundert Jahren lag dieser Anteil bei zwanzig Prozent. Dennoch
erwirtschaftete ein Erwerbstätiger im Jahr 2000 im Vergleich zu 1900 gut
die sechsfache Menge an Gütern und Diensten. Pro Arbeitsstunde produzierte
er sogar das Zwölffache. Dabei ereignete sich der entscheidende Produktivitätsschub
wiederum in der zweiten Jahrhunderthälfte. Von 1950 bis 2000 erhöhte
sich in Westdeutschland die Wirtschaftsleistung pro Erwerbstätigen auf das
Fünffache und pro Arbeitsstunde auf das 7,6fache. Ähnlich verlief die
Entwicklung in allen anderen früh industrialisierten Ländern. Überall
stieg dank einer historisch einzigartigen Erhöhung des Einsatzes von Wissen
und Kapital die Produktivität. Nur in wenigen Ländern, wie den USA,
wurden zugleich auch noch zusätzliche Arbeitsstunden pro Kopf der Bevölkerung
erbracht. In der Regel ging der Arbeitseinsatz deutlich zurück. Wissen und
Kapital ist es zuzuschreiben, daß die Erwerbsbevölkerungen heute in
kürzerer Zeit ein Vielfaches der früheren Güter- und Dienstleistungsmenge
erwirtschaften. Besonders hoch ist der Wissens- und Kapitaleinsatz in Deutschland,
insbesondere in Westdeutschland. Hier stieg das verwendete Kapital - im gleichen
Geldwert - von 1950 bis 2000 pro Erwerbstätigen auf das Fünffache und
pro Erwerbstätigenstunde auf das Siebenfache. Im Jahr 2000 kam auf jeden
Erwerbstätigen in Deutschland ein Kapitalstock - Fabrikgebäude, Maschinen,
Patente, Lizenzen und so weiter - von durchschnittlich 260000 Euro. Kaum ein anderes
Land hat einen ähnlich hohen Kapitaleinsatz. In den meisten Ländern
ist er sogar deutlich niedriger. Aufgrund dieser hohen Kapitalintensität
werden in Deutschland Güter und Dienste mit einer im internationalen Vergleich
besonders geringen Arbeitsmenge erwirtschaftet. Nirgends werden mit so wenig Arbeit
so große Werte geschaffen. Zwar ist in Ländern wie der Schweiz, Japan
oder den USA das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt größer als hierzulande,
aber dieses Mehr ist hart erarbeitet. 1998 war nach OECD-Angaben die in der Schweiz
erbrachte Arbeitsmenge pro Kopf der Bevölkerung um 22 Prozent, in Japan und
den USA sogar um vierzig Prozent höher als in Deutschland. (Vgl. OECD, Employment
Outlook, Juni 2000, S. 219). Das war vor allem in Japan und den USA weit mehr
als das zusätzlich erwirtschaftete Bruttoinlandsprodukt. Mit seiner Stundenproduktivität
lag Deutschland weit vorn. Doch im Grundsatz wenden alle früh industrialisierten
Länder das gleiche Rezept an: viel Kapital, noch mehr Wissen und immer weniger
Arbeit. (Ebd., S. 122-124).Was aber ist dieses Wissen und
Kapital, das sich in der technischen Entwicklung und vielen anderen Formen des
Fortschritts niederschlägt und dadurch die Produktivität steigert?
Beide sind die Früchte bereits erbrachter Arbeit, wobei der Zeitpunkt ihrer
Erbringung Tage, Jahre und Jahrhunderte zurückliegen kann. Das heutige Wissen
wurde über sehr lange Zeiträume hinweg angesammelt. In dieser Hinsicht
stehen wir auf den Schultern ungezählter Generationen, auch wenn erst in
neuer und neuester Zeit jene Wissensexplosion stattgefunden hat, die die Produktivität
in früher unvorstellbare Höhen katapultiert hat. Über einen wesentlich
kürzeren Zeitraum erstreckt sich die Bildung von Kapital. Aber auch hier
haben Generationen Stein auf Stein gefügt. So gesehen, ruhen entwickelte
Volkswirtschaften auf Arbeit, die bereits erbracht worden ist, und von der Verfügbarkeit
dieser Arbeit hängt ihre Produktivität ab. (Ebd., S. 124).Wenn
überhaupt, wird allenfalls die relative Höhe des Lohns von der individuell
erbrachten Arbeitsleistung bestimmt. Ein Erwerbstätiger, der besonders qualifiziert,
geschickt und fleißig ist, verdient vielleicht doppelt so viel wie einer,
der geringere Fähigkeiten hat. Ob dieses Doppelte aber viel oder wenig ist,
ob es dreihundert oder dreitausend Euro sind, hängt nicht so sehr von seinem
Geschick und Fleiß ab, sondern von der Wissens- und Kapitalintensität
seines Arbeitsplatzes im Besonderen und der Volkswirtschaft im Allgemeinen. Wissen
und Kapital bestimmen die absolute Höhe des Einkommens. Damit wird das hehre
Postulat »gleicher Lohn für gleiche Arbeit« zur hohlen Phrase.
(Ebd., S. 126).Wissen und Kapital gehören damit zu den wichtigsten
Instrumenten bei der Bewältigung der demographischen Herausforderung. Aber
werden sie den Aufgaben gewachsen sein? .... In zwanzig bis dreißig Jahren
benötigt der drastisch schrumpfende Anteil Erwerbstätiger ... wesentlich
ergiebigere Wissens- und Kapitalquellen, wenn die Wirtschaft weiter florieren
soll. Was dieser Ausbau des Wissens- und Kapitalstocks bedeutet, können sich
wiederum viele kaum vorstellen. Verlangt ist auch hier eine nachhaltige Veränderung
tief verinnerlichter und lieb gewonnenener Verhaltensweisen. Um Wissen als Frucht
menschlicher Arbeit ernten zu können, müssen zunächst Menschen
qualifiziert und motiviert werden, diese Arbeit zu erbringen. In
der Vergangenheit hat Deutschland auf diesem Gebiet Hervorragendes geleistet.
Seine Schulen, Hochschulen und Universitäten sowie sein System der Berufsbildung
hatten für viele Länder Modellchararkter. (Sie
waren neidisch auf Deutschland, weil Deutschland in allen Bereichen Weltmeister
war; Anm. HB). Die Zahl der Nobelpreisträger und großen Erfinder
war, gemessen an seiner Bevölkerung, außerordentlich hoch. (Deutschland
hatte pro Jahr mehr Nobelpreisträger als der Rest der Welt zusammen! Die
wissenschaftliche Literatur der Welt erschien zu über 80 v.H. in deutscher
Sprache! Anm. HB) ... (Ebd., S. 133).Für
die Herrschenden ist entscheidend, das Verhältnis von Leistungen und Gegenleistungen
zu verschleiern. Die Bürger müssen glauben gemacht werden, sie würden
vom Sozialstaat mehr erhalten, als sie geben. Daß das schon aus Gründen
der Logik unmöglich ist, darf nicht bewußt werden. Noch stärker
tabuisiert ist die Frage, wieviel eigentlich bei der sozialstaatlichen Umverteilung
versickert und wie groß der sozialstaatliche Herrschafts- und Verwaltungsaufwand
ist, den die Bürger zu tragen haben. Fänden diese Beiträge Eingang
in die Bilanz, zeigte sich, was ohnehin selbstverständlich ist: Der Sozialstaat
nimmt den Bürgern mehr, als er ihnen gibt. Um mit diesem Befund nicht konfrontiert
zu werden, hat die Politik phantasievolle Finanzierungskonstruktionen ersonnen.
So werden wichtige Sicherungssysteme wie die Renten- oder Arbeitslosenversicherung
gleichzeitig durch Beiträge und Steuern finanziert. Hierfür gibt es
nachvollziehbare Argumente. Sie wiegen jedoch leicht im Vergleich zu dem einen:
Beim Bürger soll sich der Eindruck festsetzen, daß er diese Systeme
ausschließlich mit seinen Beiträgen speist und gemessen daran die Gegenleistung
eindrucksvoll ist. Rentenbeiträge und Renten beispielsweise - das scheint
sich zu rechnen. Werden aber auch jene Summen berücksichtigt, welche die
Versicherten beim Betanken ihrer Automobile oder beim Kauf von Waren für
die gesetzliche Alterssicherung aufbringen, rechnet es sich nicht mehr. Doch diese
Summen, mit denen derzeit immerhin ein Drittel der Rentenausgaben bestritten werden,
sind den Blicken der Versicherten entzogen. Steuern fließen in einen großen
Topf hinein und wieder aus ihm heraus. Sie in beliebige Richtungen zu lenken ist
leicht, was nicht heißt, daß dies bei Beiträgen viel schwieriger
ist; auch bei ihnen sind dem politischen Einfallsreichtum kaum Grenzen gesetzt.
Die Politik möchte aber gern den schönen Schein wahren und flutet deshalb
die Schleusen des Sozialstaats lieber mit Steuern als mit Beiträgen. Ein
aktuelles Beispiel hierfür sind die Projektionen der Bundesregierung zur
Entwicklung des Rentenversicherungsbeitrags bis zum Jahr 2030. Angeblich soll
er 22 Prozent des Bruttolohns nicht übersteigen. Das erscheint im Blick auf
die bevorstehende Umwälzung im Bevölkerungsaufbau nicht nur hinnehmbar,
sondern bemerkenswert günstig. Doch in Wirklichkeit hat diese Zahl keinerlei
Aussagekraft. Der Bürger erfahrt nämlich nicht, was er sonst noch alles
zahlen muß, um die Rentenversicherung über Wasser zu halten. Er kann
nur vermuten, daß das viel und im Lauf der Zeit immer mehr sein wird. (Werden
die Steuersätze zur Rentenversicherung zu den Beiträgen addiert, beträgt
die Belastung heute bereits 28 Prozent des Bruttolohns. 2030 werden es zwischen
32 und 40 Prozent sein. Vgl. Reinhold Schnabel, Die Rentenreform 2001,
2001, S. 19). Allerdings reicht die Vermischung von Steuern und Beiträgen
noch nicht aus, um die Bürger ruhig zu stellen. Auch der Beitragssatz selbst
muß optisch verkleinert werden. Zu diesem Zweck werden die Versicherungsbeiträge
an die Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung aufgespalten in
einen sogenannten Arbeitnehmer- und einen Arbeitgeberanteil. Zur Begründung
heißt es, die Arbeitgeber sollen sich an der sozialen Sicherung der Arbeitnehmer
beteiligen. Warum sie das tun sollen, bleibt unklar. Und im Ergebnis tun sie es
auch nicht, weil die Arbeitnehmer auch den Arbeitgeberanteil erarbeitet haben.
Hätten sie es nicht getan, wären sie ihren Lohn nicht wert gewesen.
Wenn sie aber auch die zweite Hälfte der Sozialabgaben erarbeitet haben,
warum dürfen sie diese dann nicht selber abführen? Sie dürfen
nicht, weil die Politik befürchtet, daß viele, wenn sie die Summe von
Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen schwarz auf weiß zu Gesicht
bekämen und an die Versicherungsträger überweisen müßten,
das System als zu teuer empfänden und sich von ihm abwenden würden.
Wie begründet diese Befürchtung ist, zeigen einschlägige Befragungen.
Sie offenbaren erstens, daß über ein Fünftel der deutschen Erwerbsbevölkerung
überhaupt keine Vorstellung von der Höhe der Sozialbeiträge hat
und daß von denen, die eine Meinung dazu haben, knapp die Hälfte die
Beitragssätze wesentlich zu niedrig einschätzt. Sie offenbaren zweitens,
daß die Bevölkerungsmehrheit die zu erwartenden Leistungen erheblich
zu hoch veranschlagt. Und sie offenbaren drittens, daß die Zustimmung insbesondere
zur gesetzlichen Rentenversicherung mit steigendem Wissen um deren Funktionsweise
abnimmt. Unwissen der Bevölkerung ist für alle diese Systeme Voraussetzung
ihres Bestands. Die Politik müht sich deshalb, dieses Unwissen aufrechtzuerhalten.
Aber nicht nur Aufwand und Ertrag, sondern auch Richtung und Verlauf der Mittelströme
werden bewußt im Dunkeln gehalten. Auch das gehört zum System.
(Ebd., S. 216-219).
Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft? (2005)
Die Europäer
haben zu dieser Entwicklung nach Kräften beigetragen - teils gewollt, mehr
aber noch ungewollt. Hätten sie den großen Vorsprung, den sie seit
Generationen genießen, länger aufrechterhalten wollen, hätten
sie ihn wohl vor den Habenichtsen dieser Welt ein wenig abgeschirmt und nicht
versucht, diese mit Almosen abzuspeisen. Wie es im privaten Leben klug und rücksichtsvoll
ist, mit Reichtum nicht zu protzen und Bedürftige daran zu beteiligen, ist
es auch unter Völkern ein Gebot von Klugheit und Rücksichtnahme, weit
übertragende Wirtschaftskraft nicht demonstrativ zur Schau zu stellen und
den Schwächeren eine faire Chance zu geben. Die Europäer haben dieses
Gebot selten befolgt. Wo immer sich eine Gelegenheit bot, führten sie der
Welt ihre Stärke vor. Zugleich achteten sie peinlich darauf, daß ihre
Märkte den wirtschaftlich Schwächeren immer nur so weit offen standen,
wie es ihnen selbst von Nutzen war. Die Interessen der anderen waren in aller
Regel nachrangig. Noch weniger klug und rücksichtsvoll verhielten und verhalten
sich ihre überseeischen Verwandten. Als diese nach dem Zweiten Weltkrieg
das Ruder übernahmen, rasteten und ruhten sie nicht, ihre Lebensart als einzig
mögliche und menschengemäße zu propagieren. Bis in den tiefsten
afrikanischen Busch und die entlegenste nepalesische Hochlandhütte sangen
sie das Hohelied vom (US-)American Way of Life,
begleitet von Büchern, Filmen und Warenproben. (Ebd., S. 33-34). Besonders
problematisch ist, daß sich die USA vor allem im Ausland verschulden. Während
sich die europäischen Regierungen das Geld zumeist noch bei ihren eigenen
Bürgern borgen, pumpt die US-Regierung die Bürger anderer Länder
an. Bei den US-Amerikanem selbst ist nicht mehr viel zu holen. Seit den 1990er
Jahren sank deren im internationalen Vergleich ohnehin niedrige Sparquote auf
nunmehr 3,8 Prozent ihrer verfügbaren Einkommen - ein Bruchteil dessen, was
Europäer oder Japaner auf die hohe Kante legen. Ohne deren Ersparnisse könnten
die USA ihren Kapitalbedarf auch nicht annähernd decken. Um ihr Wirtschafts-
und Finanzmodell aufrechterhalten zu können, sind sie dringend auf fremde
Hilfe angewiesen. .... Eine Zeit lang kann ein so hoher Kapitalimport als Zeichen
des Ansehens gewertet werden, das die USA weltweit genießen. Doch irgendwann
tauchen Fragen auf: Was ist der US-Dollar noch wert? Ist der us-amerikanische
Wohlstand nicht ein Wohlstand auf Pump? Hängt diese Volkswirtschaft
nicht am Tropf anderer? Und zugleich wächst weltweit die Furcht, der
Glaube an die Wirtschaftskraft und die militärische Stärke der USA könnte
in nicht allzu ferner Zukunft der Einsicht weichen, daß beide zu erheblichen
Teilen nur geliehen sind. Wenn sich diese Erkenntnis verbreitet, könnte die
Weltwirtschaft schwer erschüttert werden. (Ebd., S. 134-135).Auch
hier marschieren die US-Amerikaner an vorderster Front. Obwohl auch sie steuerlich
geförderte Sparprogramme haben, will ihre Regierung, daß sie konsumieren
und nicht sparen. Mit dem Geld, das übrig bleibt, sollen sie den Aktien-,
Anleihen- und Immobilienmarkt aufpumpen. Das hat aus Sicht der Regierung die vorteilhafte
Nebenwirkung, daß sich viele Bürger wohlhabender dünken, als sie
in Wirklichkeit sind. Solche Wohlstandsillusionen sind wichtiger Bestandteil der
Verbrauchsstrategie. Und diejenigen, die kein Geld haben, sollen es sich borgen.
Billig genug ist es ja bei einer Realverzinsung von knapp über null Prozent.
Das Wichtigste ist, daß das Geld rasch umgeschlagen wird. .... Hätten
beispielsweise die Deutschen - für die meisten anderen frühindustrialisierten
Länder gilt Ähnliches - im Jahre 2004 ihre Einkommen genauso hemmungslos
ausgegeben wie die US-Amerikaner und nicht 10,9, sondern wie diese nur 3,8 Prozent
gespart, hätten sie rund 100 Milliarden Euro zusätzlich in den Konsum
fließen lassen können. Das sind knapp fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukt.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wären die Wachstumsraten
kräftig gestiegen und wohl auch die Beschäftigtenzahlen. Und dann?
Dann hätte über kurz oder lang das Geld für Investitionen gefehlt,
ohne die Wachstum ebenso wenig möglich ist wie ohne Nachfrage, und die Zinsen
wären steil nach oben geschossen. Ein hochloderndes Strohfeuer wäre
rasch in sich zusammengefallen. Hätten alle frühindustrialisierten Länder
dem us-amerikanischen Beispiel nachgeeifert, befanden sie sich mittlerweile in
einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Die USA können sich nur verhalten, wie
sie sich verhalten, weil sich die anderen nicht so verhalten. Anlaß für
Lobpreisungen der us-amerikanischen Wirtschafts- und Finanzpolitik ist das nicht.
(Ebd., S. 137-138).Also doch sparen? Ernsthaft kann diese
Frage nicht gestellt werden. Individuen und Volkswirtschaften, die immer nur von
der Hand in den Mund leben, sind arm dran. Für den Einzelnen bedeutet Sparen
die Bildung individueller Vermögen - großer oder kleiner. Individuelle
Vermögen schaffen ein Mehr an Sicherheit und Unabhängigkeit. Für
die Wirtschaft eines Landes bedeutet Sparen, daß Kapital bereitgestellt
wird - viel oder wenig. Kapital ist eine tragende Säule jeder produktiven,
wettbewerbsfähigen Volkswirtschaft. Wo kein oder nur wenig Kapital ist, reicht
die Wirtschaftskraft allenfalls aus, um die Menschen am Leben zu erhalten. Mehr
nicht. Darüber hinaus erschließt Kapital - individuell und kollektiv
- den Zugang zu den Volkswirtschaften, die jetzt an der Reihe sind, kräftig
zu expandieren. Denn Kapital ist weltweit knapp. Nichts brauchen die aufstrebenden
Länder dringlicher. Deshalb ist es richtig, in den frühindustrialisierten
Ländern die Vermögensbildung breitester Bevölkerungsschichten anzuregen
und zu fördern. Kein einziges dieser Länder leidet unter zu hohen Ersparnissen
und erst recht nicht die Gemeinschaft aller. Der Appell, mehr zu konsumieren,
kann allenfalls kurzfristig sinnvoll sein. Politik, die auf Nachhaltigkeit setzt,
wird sich in der Regel solcher Appelle enthalten und statt dessen die Bürger
zum Sparen ermutigen. Eine forcierte Konsumpolitik ist im Grunde eine Politik
des »Nach uns die Sintflut«. Die Menschheitserfahrung ist hier wiederum
eindeutig. Umso bedenklicher ist es, daß sich die frühindustrialisierten
Länder unter Führung der USA in ebendiese Richtung bewegen. (Ebd.,
S. 138).Ein immer höherer Anteil der Wertschöpfung -
des Kapitals, des Wissens und der Arbeitskraft - dient in den frühindustrialisierten
Ländern einzig und allein dazu, Menschen Dinge schmackhaft zu machen, denen
sie ohne diesen Zuckerguß nicht näher treten würden. Der Befriedigung
manifseter Bedürfnisse dient ein immer kleinerer Anteil der Güterwelt.
Für vieles müssen die Bedürfnisse erst aufwendig geweckt und dann
ebenso aufwendig am Leben gehalten werden. Das ist das Wesen reifer Volkswirtschaften
und materiell wohlhabender Gesellschaften: Sie haben einen Entwicklungsstand erreicht,
wo die Weckung von Bedürfnissen der Befriedigung von Bedürfnissen um
nichts nachsteht. Dabei werden sogar solche Bedürfnisse erzeugt, deren Befriedigung
den Menschen schadet. Konsum wird hier zur Perversion. (Ebd., S. 145-146).Gesellschaften
sind Organismen. Sie sind so so leistungsfähig oder -schwach wie ihre
schwächsten Teile. Ein Arzt, der bei einem Patienten eine kranke Leber diagnostiziert,
wird diesen kaum mit der Bemerkung nach Hause schicken, daß mit dem Blick
auf seine kräftigen Schenkel und Oberarme kein Anlaß zur Beunruhigung
bestehe. Vielmehr wird er diesem Patienten ein hohes Maß an Aufmerksamkeit
widmen. Dabei fehlt den Gesellschaften der frühindustrialisierten Länder
mehr als diesem Patienten. Ihnen fehlt das vermutlich Wichtigste: der feste innere
Zusammenhalt. Ihre noch immer dominierende expansive Prägung hat ihn empfindlich
gelockert. (Ebd., S. 163).In Deutschland beispielsweise wurde
von 1974 bis 2004 das sogenannte Kindergeld real, das heißt unter Berücksichtigung
der Geldentwertung, stufenweise verzehnfacht. (Vgl. Ulrich Pfeiffer & Reiner
Braun, Private Lebensökonomie und staatlicher Einfluß - Neue Strategien
zur Vermögensbildung, 2004, S. 45. Das Geburtenverhalten hat sich dadurch
nicht verändert. Dann hätte das Kindergeld eben verzwanzig- oder verdreißigfacht
werden müssen, meinen manche. Vielleicht hätte sich dadurch die Geburtenrate
tatsächlich erhöht. Sicher ist das jedoch nicht. Die betroffenen Jahrgänge
erklären nämlich mehrheitlich, es seien nicht vorrangig wirtschaftliche
Gründe, die sie davon abhielten, mehr oder überhaupt Kinder zu haben.
Auf die Frage, warum sie sich nicht vorstellen könnten, ein Kind zu bekommen,
erklärten im Oktober 2004 in Deutschland 44 Prozent der Befragten: Weil ich
keinen geeigneten Partner habe, und ebenfalls 44 Prozent: Weil ich auch ohne Kinder
mit meinem Leben zufrieden bin. Wirtschaftliche Erwägungen folgten erst an
sechster Steller. Sie waren kaum gewichtiger als Begründungen wie: Weil diese
Welt immer weniger lebenswert ist, oder: Weil mir die Verantwortung für ein
Kind zu groß ist. (Vgl. Britta Pohl, Mehr Kinder. Mehr Leben. Ergebnisse
einer repräsentativen Forsa-Befragung im Auftrag von »Eltern«
und »E.f.F.«, 2004, S. 43). Daß nicht vorrangig wirtschaftliche
Gründe für das Geburtenverhalten maßgeblich sind, erhellt auch
die Tatsache, daß in praktisch allen frühindustrialisierten Ländern
die wirtschaftlich schwächsten Bevölkerungskreise zwar noch immer nicht
viele, aber doch deutlich mehr Kinder haben als die wirtschaftlich stärkeren.
Es gibt keinen positiven Zusammenhang zwischen Einkommenshöhe und Kinderzahl,
wenn von einer kleinen Gruppe sehr Reicher abgesehen wird, die eine große
Familie mitunter als Statussymbol betrachten. Die Nichterfüllung des Wunsches
nach Kindern beruht in den frühindustrialisierten Ländern in den seltensten
Fällen auf objektiv wirtschaftlicher Bedürftigkeit. Wenn wirtschaftliche
Erwägungen gegen ein Kind sprechen, sind zumeist Verschiebungen im westlichen
Wertessystem ursächlich. Materielle Güter haben eine ständige Aufwertung
erfahren, während der Wert von Menschen abgenommen hat. Das zeigt sich im
historischen Vergleich. Hätten die jungen Menschen vor vierzig Jahren materielle
Güter ähnlich hoch bewertet wie die heute Jungen - in zahlreichen frühindustrialisierten
Ländern wären schon jetzt die Straßen und Plätze ziemlich
menschenleer. .... Die heute Jungen mögen sich einmal die Lohnzettel ihrer
Eltern und Großeltern zeigen lassen, die dort vermerkten Nettobeträge
in ihren heutigen Geldwert umrechnen und dann entscheiden, ob das für eine
Familie reicht. .... In keinem einzigen frühindustrialisierten Land fehlen
heute die materiellen Voraussetzungen, um eine bestandserhaltende Zahl von Kindern
großzuziehen - weder individuell noch kollektiv. Was fehlt, ist der Wille,
das zu tun. (Ebd., S. 176).Wirtschaft
ist auf das Innigste verwoben mit Gesellschaft. Genau genommen sind Probleme der
Wirtschaft sogar nur ein Widerschein gesellschaftlicher Probleme einschließlich
der Bevölkerungsentwicklung. Zu häufig wird in der öffentlichen
Debatte übersehen, daß die Wirtschaft nichts Eigenständiges ist.
Sie ist eine Manifestation, also ein Offenbarwerden gesellschaftlich geleiteten
individuellen und kollektiven Handelns. Nicht mehr und nicht weniger. Um die Wirtschaft
zu sehen und zu verstehen, muß deshalb die Gesellschaft in den Blick genommen
werden. (Ebd., S. 183). Gesellschaften,
die ... ihr Wohl und Wehe vom Wirtschaftswachstum abhängig machen, sind schon
gescheitert, ehe der globale Wettstreit richtig begonnen hat. .... Expansive Volkswirtschaften
sind das Spiegelbild expansiver Gesellschaften. (Ebd., S. 238).
Eine besondere Herausforderung ist die voraussichtliche Verbindung von steigendem
Anteil mit sinkender Wirtschaftskraft (wegen der Schrumpfung
der einheimischen Bevölkerung; Anm. HB). .... Bisher ... wird in Verkennung
der wahrscheinlichen Entwicklung die Lösung der hieraus erwachsenden Probleme
noch immer in anhaltenden, dynamischen Wirtschaftswachstum gesehen. Diese Lösung
wäre zweifellos bequem. .... Doch darauf darf sich eine verantwortungsvolle
Politik nicht verlassen. ... Wahrscheinlicher ist, daß die staatlich organisierten
Leistungen im Alter sowie Krankheits- und Pflegefall auf breiter Front sinken
werden, wenn schon nicht nominal, so doch real, das heißt gemessen an ihrer
Kaufkraft. In einigen Ländern, u.a. auch in Deutschland (hier sank die reale
Kaufkraft der Nettostandardrente zwischen 1991 und 2004 um mehr als 4%; in der
Pflegeversicherung verringerte sich der Wert der Leistungssätze, gemessen
am Verbraucherpreisindex, von 1995 bis 2004 sogar um knapp 12%), ist diese Entwicklung
im vollen Gange. (Ebd., S. 261). Zwei Bevölkerungsgruppen
sind von ihr allerdings weit weniger betroffen als andere: die wirtschaftlich
Starken - kaum überraschend -, aber auch die wirtschaftlich Schwachen. Die
wirtschaftlich Starken sind aufgrund der immensen Wohlstandsmehrung in den frühindustrialisierten
Ländern zu einer beachlichen gesellschaftlichen Schicht herangewachsen, die,
objektiv betrachtet, auf die sozialen Sicherungssysteme nicht oder nicht länger
angewiesen ist. Mitunter sind sie sich dessen noch gar nicht bewußt. Aber
mit jeder weiteren Erschütterung dieser Systeme wird den wirtschaftlich Starken,
zu denen im Durchschnitt der frühindustrialisierten Länder schätzungsweise
ein Zehntel der Bevölkerungzu zählen ist (in Deutschland z.B. bringen
10% der steuerpflichtigen Personen über die Hälfte des Einkommensteueraufkommens
auf; vgl. Bundesministerium der Finanzen, Datensammlung zur Steuerpolitik,
2004, S. 21), bewußter werden, daß sie das alles nur am Rande berührt.
(Ebd., S. 262). Dabei ist absehbar, daß die Wohlhabenheit
der Wohlhabenden künftig noch zunehmen wird. Vor allem diejenigen, die über
substantielles Geldvermögen verfügen, haben Möglichkeiten zu seiner
Vermehrung, die früheren Generationen verschlossen waren. Kapital ist weltweit
begehrt, und entsprechend herzlich werden seine Eigner überall willkommen
geheißen. Für die sozialen Sicherungssysteme bedeutet dies, daß
sich eine immer größer werdende gesellschaftliche Schicht, der zunehmend
auch abhängig Beschäftigte angehören, zumindest mental von ihnen
löst. Die sozialen Sicherungssysteme als schützendes Dach für (fast)
alle - das ist nichtmehr die Lebenswirklichkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
(Ebd., S. 262). Das gilt freilich nicht für die wirtschaftlich
Schwachen. Sie brauchen dieses Dach auch künftig. Da sie aber ohnehin nicht
viel zu verlieren haben, berührt auch sie der Umbau der sozialen Sicherungssysteme
nur mäßig. Denn was immer aus diesen Systemen werden wird - das Existenzminimum
werden sie nach menschlichem Ermessen auch in Zukunft zur Verfügung stellen.
Das aber ist alles, was für die wirtschaftlich Schwachen zählt. Zwar
ist nicht auszuschließen, daß dieses Minimum gegenüber heute
noch ein wenig abgesenkt werden wird. Aber am Lebensstandard der wirtschaftlich
Schwachen dürfte sich dadurch nur wenig ändern. (Ebd., S. 262).
Ganz anders ist die Lage der etwa drei Viertel der Bevölkerung, die
zwischen den Bedürftigen auf der einen und den Gutbetuchten auf der anderen
Seite stehen. Sie müssen sich darauf einstellen, daß die sozialen Sicherungssysteme
auch ihnen - ähnlich wie den wirtschaftlich Schwachen - künftig nur
noch eine Grundversorgung im Alter sowie bei Krankheit, Pflegebedürftigkeit
und Arbeitslosigkeit gewähren werden (das heißt:
mindestens 75% der Bevölkerung sind Verlierer! Anm. HB). Länder
wie Deutschland, in denen die Bevölkerung daran gewöhnt ist, in allen
Lebenslagen umfassend vom Staat versorgt zu werden, trifft das hart. Hier sind
erst noch die Lektionen zu lernen, die beispielsweise Briten und US-Amerikaner
bereits vor Jahren gelernt haben. (Ebd., S. 263). Um einen
stark steigenden Anteil Transferberechtigter wie bisher zu versorgen ..., müßten
z.B. die Deutschen um das Jahr 2035 weit mehr als die Hälfte ihrer Bruttoarbeitsentgelte
an die sozialen Sicherungssysteme abführen (vgl. Kommission »Soziale
Sicherung«, Bericht zur Reform der sozialen Sicherungssysteme, 29.09.2003,
S. 59). Und das unter Bedingungen voraussichtlich stagnierender oder sogar sinkender
Arbeitseinkommen! Die Politik soll gar nicht erst den Versuch unternehmen, dies
zu erzwingen. Das Leben eines Volkes umfaßt mehr als die Sicherung tradierter
Sozialsysteme. (Ebd., S. 263). Die Sanierung der öffentlichen
Haushalte sowie der sozialen Sicherungssysteme ist ein Wert an sich. Sie zeigt
der Bevölkerung die Grundlagen und Grenzen ihres Handelns auf und vermindert
zugleich Zukunftslasten. Beides ist geeignet, Kräfte freizusetzen. Ebenso
wichtig ist jedoch, daß mit dieser Sanierung ein Beitrag zur Wiederherstellung
und Festigung des empfindlich gelockerten gesellschaftlichen Zusammenhalts geleistet
wird. (Ebd., S. 264). Verblendet von dem historisch
einzigartigen Wohlstandsniveau und im Vertrauen auf das alles durchdringende Geflecht
von Zwangssolidaritäten, meinen viele in den frühindustrialisierten
Ländern, auf die Gemeinschaft nicht mehr angewiesen zu sein und ihr Leben
nach höchst individuellen Vorstellungen gestalten zu können. Ein Frank
Sinatra hat es ihnen tausendmal vorgesungen: I did it my way. (Ebd.,
S. 264). Dabei sind nur Minderheiten aus eigener Kraft zumindest
wirtschaftlich unabhängig. Die größte Mehrheit der Menschen verläßt
sich darauf, daß irgendwelche anderen, gegebenfalls das Sozialamt, ihren
Lebensunterhalt bestreiten. Darauf glauben sie einen Anspruch zu haben. Umgekehrt
sind sie davon überzeugt, selbst niemandem etwas zu schulden, weder ihren
Eltern noch ihren Lehrern noch ihren Freunden - so sie denn welche haben. Sie
kennen kaum Pflichten. Ihre Welt besteht aus Rechten gegenüber anderen.
(Ebd., S. 264). Dieser Typ Mensch, den der hochgradig individualistische
Westen innerhalb weniger Generationen hervorgebracht hat, wirkt mittlerweile gesellschaftsprägend.
Er ist so etwas wie ein Ideal, an dem sich doe Öffentlichkeit bewußt
oder unbewußt orientiert. Die Medeien fordern das. (Ebd., S.
265). Wie sehr in den westlichen Gesellschaften der Mensch vom
Menschen entwöhnt ist, zeigt sowohl die hohe Single- und Scheidungs- als
auch die niedrige Geburtenrate. (In den westeuropäischen Ländern sind
im Schnitt rund ein Drittel der Haushalte Ein-Personen-Haushalte. Iin Asisen und
Südamerika liegt dieser Anteil zumeist unter zehn Prozent. Annähernd
jede zweite Ehe wurde in der EU 2002 geschieden. Vgl. Statistisches Bundesamt,
Statistisches Jahrbuch für das Ausland, S. 44 und 230f..). Unter den
Gründen für diese Zahlen sticht nämlich einer hervor: Viele erwarten
von anderen, was sie selbst nicht zu geben bereit oder überhaupt in der Lage
sind. Oft sind menschliche Maßstäbe verloren gegangen. Vom Partner,
von der Partnerin wird ein Maß an Anpassungsfähigkeit, Genügsamkeit
und Einfühlungsvermögen, an Engagement, Fleiß und Dynamik, aber
auch an Witz, Schönheit und Ausstrahlung erwartet, wie es Menschen vielleicht
in 90-Minuten-Filmen vorgaukeln, nicht aber im wirklichen Leben erbringen können.
Die Enttäuschung ist programmiert. (Ebd., S. 265). Nicht
anders bei Kindern. Unter 30-Jährige fühlen sich zu jung, Über
34-Jährige zu alt für sie. Wird dann doch eines geboren, verfliegt häufig
der Wunsch nach einem zweiten. (Vgl. Institut für ´für Demoskopie
Alelnsbach, Einflußfaktoren auf die Geburtenrate - Ergebnisse einer Repräsentativbefragung
der 18-bis-44-Jährigen, 2004, S. 14ff.). So anstrengend und freiheitsberaubend
hatten sich die Eltern das nicht vorgestellt. Und die Großeltern spielen
oft auch nicht mehr mit. Sie wollen ihre Ruhe und Unabhängigkeit. Ist das
Kind schließlich flügge, stellt es seinerseits die Eltern, oder was
von ihnen geblieben ist, in einer Massivität in Frage, die ebenfalls gemeinschaftssprengend
wirkt. (Ebd., S. 265). Eltern wissen nicht mehr, wie
sie mit ihren Kindern, Kinder nicht, wie sie mit ihren Eltern umzugehen haben.
Die westlichen Gesellschaften können immer weniger aus sich selbst heraus
leisten. Früher Selbstverständliches müssen sie immer wieder neu
erlernen: den Umgang mit Speisen und Getränken, Arbeit und Muße, Mann
und Frau, Erwachsenen und Kindern. Sie wissen nicht mehr, mit Menschen menschengemäß
umzugehen. Deshalb über- und unterfordern sie sie ständig.
(Ebd., S. 265). Und die Menschen wissen nicht mehr, mit Gemeinschaft,
mit Gesellschaft umzugehen. Viele meinen, sie mit Füßen treten und
ausplündern zu können. Sie haben keine Vorstellung davon, wie belastbar,
aber auch empfindlich und verletzlich sie ist. (Ebd., S. 265-266).Gesellschaften
sind Organismen, die wie alle Organismen entstehen und vergehen und Voraussetzungen
ihrer Existenz haben. Aber im Unterschied zu vielen anderen Organismen bewahren
sie oft ihr äußeres Erscheinungsbild, auch wenn sie bereits ihre Vitalität
eingebüßt haben oder sogar abgestorben sind. Wie manche Bäume
können Gesellschaften versteinern und versteinert weiterexistieren. Doch
Steine leben nicht. Wie lebendig sind die westlichen Gesellschaften?
(Ebd., S. 266).Es war ein kardinaler Fehler der westlichen Völker,
davon auszugehen, daß die Vermögenden eine gewissermaßen natürliche
Verbundenheit mit der Gesellschaft haben, aus der sie hervorgegangen sind. Auf
eine solche Verbundenheit war allenfalls Verlaß, als die Zahl der Vermögenden
gering war und sie sich schon mangels Masse nicht von der übrigen Bevölkerung
absondern konnten. Aber auch das ist im Zuge der immensen materiellen Wohlstandsmehrung
und des gestiegenen Bildungsniveaus anders geworden. Die Vermögenden bilden
heute in den frühindustrialisierten Ländern eine Schicht, die das Potential
hat, sich sowohl von der eigenen Gesellschaft abzulösen als sich auch mit
ihresgleichen in anderen Ländern zusammenzuschließen. Diese Menschen
könnten durchaus Verhaltensformen entwickeln, die denen des europäischen
Hochadels früherer Epochen ähneln - der eigenen Schicht, nicht dem eigenen
Volk verpflichtet. Mit gesetzlichen Normen und gesellschaftlichen Zwängen
ist dem nicht beizukommen. Versuche vieler Politiker, diese Schicht gegen deren
Willen für das gemeine Wohl in die Pflicht zu nehmen, haben etwas Kindlich-Rührendes.
Viele mögen vor Zorn die Fäuste ballen und jene Vermögenden verwünschen:
Diese lassen sich zu solidarischem Verhalten nicht zwingen. Sie verhalten sich
nur dann uneingeschränkt und umfassend solidarisch, wenn sie in einen bestimmten
Wertekanon und eine hochentwickelte Ethik eingebunden sind oder - wenn es ihnen
nutzt. Wo Werte und Ethik fehlen, ist es schwer, wenn nicht sogar unmöglich,
den gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen Vermögenden, weniger Vermögenden
und Unvermögenden zu gewährleisten. Der im Westen weitverbreitete Glaube,
Werte und Ethik durch gesetzliche Normen ersetzen zu können, hat sich ebenfalls
als Irrglaube erwiesen. Die Verdrängung jenes ungeschriebenen »Das
gehört sich, und das gehört sich nicht« durch zahllose »Du
darfst«, »Du sollst«, »Du mußt« war falsch.
.... Die Völker des Westens werden nicht umhinkönnen, die Vermögenden
wieder für sich einzunehmen, sie zu umwerben, an sich zu binden. .... Der
Riß zwischen den Vermögenden und den weniger Vermögenden ist bereits
beängstigend breit geworden. .... Die Vermögenden ihrerseits sollten
sich nicht ungebührlich bitten lassen und daran denken, warum sie sind, was
sie sind. Warum erhält in den USA ein Trabrennfahrer unter Umständen
das 20fache einer Kellnerin, eine TV-Richterin das 130fache einer Richterin am
höchsten Gericht des Landes, ein Börsenmakler das 800fache eines Feuerwehrchefs,
ein Basketballspieler das 1200fache eines Hotelportiers oder der Gastgeber einer
Radioshow das 1500fache einer Bibliothekarin - jährlich 32 Millionen US-Dollar
(vgl. Parade Magazine, What People Earn, 14.03.2004)? Warum bekommt
eine Frau, die behauptet, mit einem bestimmten Fußballspieler eine Affäre
gehabt zu haben, für ein Zwei-Stunden-Interview 750000 Euro (vgl. Die Welt,
Zweifel an angeblicher Beckham-Geliebten, 16.04.2004)? Und warum
verfügt besagter Fußballer schon nach wenigen Jahren sportlicher Aktivitäten
über hohe Millionenbeträge? Ist es »verdient«, wenn
eine Schauspielerin für einen Film 14 Millionen US-Dollar und für Werbeauftritte
weitere 12 Millionen im Jahr bekommt (durchschnittliche Gage pro Film und jährliche
Werbeeinnahmen von Catherine Zeta-Jones; vgl. Financial Times Deutschland, Wer
ist die Reichste im Land?, 20.07.2004)? Oder wie steht es mit
dem Manager, dessen Einkommen 250mal so hoch ist wie das eines Durchschnittsverdieners
? Und was ist zu den Erben großer Vermögen zu sagen und denen,
die in sie einheiraten? Leistung oder Glück? (Ebd., S.
270-271). Oft sind es Mehrheiten, die Sonderlasten für Wohlhabende
ausdrücklich befürworten. Dabei übersehen sie allerdings, daß
durch derartige Sonderlasten der Wohlstand allenfalls kurzfristig gleichmäßiger
und vielleicht auch gemeinwohlverträglicher verteilt wird. .... »Reichensteuern«
sind in aller Regel schon nach kurzer Zeit erstaunlich unergiebig. Die Reichen,
jedenfalls die wirklich Reichen, wissen sich einzurichten. (Ebd., S. 273-274).
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