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Meinhard Miegel (*1939)
- Wege aus der Arbeitslosigkeit (1978) -
- Die programmierte Krise. Alternativen zur staatlichen Schuldenpolitik (1979) -
- Arbeitsmarktpolitik auf Irrwegen. Ausländerbeschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland (1984) -
- Spät am Start, früh am Ziel (1989) -
- Megastadt Berlin (1991) -
- Die Rolle Deutschlands und Europas in den Migrationen des 20. Jahrhunderts (1991) -
- Wirtschafts- und arbeitskulturelle Unterschiede in Deutschland (1991) -
- Die Ursachen des Geburtenrückgangs in Deutschland (1993) -
- Das Ende des Individualismus. Die Kultur des Westens zerstört sich selbst (1993) -
- Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen (2002) -
- Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft? (2005) -
- Gemeinde im Aufbruch. Selbsthilfe in der Epochenwende (2007) -
- Globalisierung. Und was dann? (2008)

Miegel-Zitate. Da ich Meinhard Miegel für einen der seriösesten Sozialforscher halte, möchte ich ihm eine
separate Seite widmen und aus folgenden seiner Werke zitieren: 

- Das Ende des Individualismus (1993) -
- Die deformierte Gesellschaft (2002) -
- Epochenwende (2005) -
- Meinhard Miegel im Gespräch mit Moritz Schwarz und Jörg Fischer (2006) -

[Quellen bzw. Sekundärliteratur]

 

 

Das Ende des Individualismus. Die Kultur des Westens zerstört sich selbst. (1993)
Ko-Autor: Stefanie Wahl

 – Worum es geht (S. 13-14)
 – Von der Natur- zur Kulturordnung (S. 15-39)
 – Die individualistischen Kulturen (S. 41-65)
 – Demographische Wirkungen der Individualisierung (S- 67-95)
 – Folgen des zahlenmäßigen Bevölkerungsrückgangs (S. 97-115)
 – Bevölkerungspolitische Optionen (S. 117-140)
 – Fazit: Das große Dilemma (S. 141-145)
    Anhang:

 – Instrumente der Steuerung des Geburtenverhaltens (S. 147-149)
 – Überblick über die wichtigsten Bevölkerungstheorien (S. 150-160)

Worum es geht
„Vorliegendem Buch liegt eine umfassende Untersuchung über die Ursachen der Geburtenarmut in Deutschland zugrunde, die die Verfasser im Auftrag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie erstellt haben. In dieser Untersuchung gelangen sie zu dem Ergebnis, daß sich die Bevölkerungen hochindustrialisierter Länder, unter ihnen Deutschlands, in einer demographischen Zwickmühle befinden, die leicht zum Verlust ihrer kulturellen Identitäten führen könnte. Denn halten diese Bevölkerungen an ihrem seit langem geübten Geburtenverhalten fest, werden sie binnen kurzem stark altern und zahlenmäßig zügig abnehmen oder von so vielen Zuwanderern durchsetzt werden, daß deren Integration sehr schwer fallen dürfte. Ursächlich für diese Zwickmühle sind nach Auffassung der Verfasser die individualistischen Kulturen, die die Bevölkerungen dieser Länder in Jahrhunderten verinnerlicht haben. Kennzeichen dieser Kulturen ist die extreme Betonung der Interessen des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft. Zwar verbessern sich durch diese Betonung die individuellen Lebensbedingungen, was unter anderem die Lebenserwartung und mit ihr zunächst auch die Bevölkerungszahl steigen läßt. Zugleich verschlechtem sich jedoch die Voraussetzungen rur Gemeinschaften. Sie aber sind Grundlage für den dauerhaften physischen Bestand der Gemeinwesen, insbesondere für ausreichende Geburtenzahlen.“ (Ebd., S. 13).

„Wollen also Bevölkerungen ihre physische Existenz sichern, müssen sie entweder auf die Maximen »individualistischer« Kulturen (die individualistischste Kultur aller Kulturen ist eindeutig das Abendland; Anm. HB) weitgehend verzichten oder zumindest - im Rahmen dieser Kulturen (d.h. für die Kultur des Westens, also für das Abendland: im Rahmen der eigenen Kultur; Anm. HB) - die tradierten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Ordnungen nachhaltig umgestalten. (Richtig, denn andernfalls werden die Abendländer auf passive Weise erleben, wie diese Ordnungen von Angehörigen einer fremden Kultur umgestaltet werden; Anm. HB). .... Stets muß sich die Bevölkerung in praktisch allen Lebensbereichen neu orientieren. Ist sie dazu nicht willens oder in der Lage, ist der Verlust ihrer kulturellen Identität nur eine Frage der Zeit. .... Der Bevölkerungspolitik ist in diesen Ländern, namentlich auch in Deutschland, künftig ein hoher Rang einzuräumen. Bevölkerungspolitische Abstinenz ist mit Sicherheit kein Ausweg aus der Zwickmühle.“ (Ebd., S. 13).

Von der Natur- zur Kulturordnung
„Zunehmende Individualisierung –› steigende Lebenserwartung –› abnehmende Fruchtbarkeit. — Die Lebensordnung der Natur ist gekennzeichnet von massenhaftem Entstehen und Vergehen, großer Fruchtbarkeit und großer Sterblichkeit. Viele Lebewesen sterben, noch ehe sie zu individueller Fortpflanzung gelangen. Nur eine Minderheit vermag ihre physiologischen Möglichkeiten auszuschöpfen und ihre biologisch vorgegebene Lebensspanne zu durchlaufen. Individuelles Leben ist dem Leben der Gattung nachgeordnet. Diese Ordnung hat sich in einer langen Entwicklung bewährt. Das gilt auch für die längste Zeit der Menschheitsgeschichte. Der Einzelne ist der Gemeinschaft nachrangig. Die Gemeinschaft ist nicht nur Voraussetzung , sondern auch Seinsgrund individueller Existenz. Als wesenhafter Bestandteil der Gemeinschaft geht der Einzelne in ihr auf. Erst in historisch neuerer Zeit beginnt er langsam, sich seiner Individualität bewußt zu werden, fängt er an, sein Ich zu entdecken. Mit der Entdeckung seines Ichs entsteht beim Individuum der Wunsch, es zu erhalten. Nach und nach wird individuelles menschliches Leben dem Leben der Gemeinschaft gleichrangig und schließlich sogar vorrangig. Entsprechend greift der Mensch immer entschlossener in die natürliche Ordnung massenhaften Entstehens und Vergehens ein. Stück für Stück ersetzt er die Naturordnung durch eine von ihm selbst erdachte Kulturordnung, in der sein individuelles Leben größeren Bestand haben soll. Dabei fördert er mit dem schrittweisen Aufbau der Kulturordnung seine weitere Individualisierung. (Auf diesen Zusammenhang wird schon in der Bibel mit der Geschichte des Turmbaus zu Babel hingewiesen; vgl. Genesis, 11, 1-9). Denn mit der Verwirklichung dieser Kulturordnung entfaltet sich der Mensch in seiner Geistigkeit. Nur in seiner Geistigkeit kann er nämlich die Kulturordnung schaffen, kann er aus der Naturordnung heraustreten. Doch in seiner Geistigkeit ist der Mensch spezifisch, individuell, unterscheidet er sich von der ihn umgebenden Gemeinschaft. Sein individuelles Ich ist die Schöpfung seines Geistes. Je weiter er in seiner Individualisierung voranschreitet, desto größer werden wiederum seine Fähigkeiten, die Naturordnung durch die Kulturordnung zu verdrängen. Die Folge hiervon ist der zunächst sehr zögerliche, dann aber zunehmend meßbare Anstieg der individuellen Lebenserwartung. Eine wachsende Zahl von Geborenen gelangt zu individueller Fortpflanzung, die Bevölkerung nimmt zahlenmäßig zu. Zugleich beginnt der Mensch allerdings auch, sein Geburtenverhalten bewußt zu steuern. Anders als in der Naturordnung schöpft er in der Kulturordnung seine physiologischen Fortpflanzungsmöglichkeiten abnehmend aus. Schon in recht frühen Epochen und in auch heute noch naturnahen Bevölkerungen wird zumeist nur etwa die Hälfte der physiologisch möglichen Zahl von Kindern geboren. (Gesunde Frauen müßten bei Ausschöpfung ihrer physiologischen Möglichkeiten im Laufe ihres Lebens 10 bis 12 Kinder gebären. Dies ist z.B. bei den aus Deutschland stammenden strenggläubigen Hutterern in Nordamerika der Fall). Das Nicht-Ausschöpfen der physiologischen Fortpflanzungsmöglichkeiten ist geradezu Kennzeichen der Kulturordnung wie menschlichen Verhaltens überhaupt. Die Ziele, die mit der Steuerung des Geburtenverhaltens verfolgt werden, sind nicht nur im Zeitablauf, sondern auch von Region zu Region, von Bevölkerung zu Bevölkerung, von Gruppe zu Gruppe und selbst von Individuum zu Individuum unterschiedlich. Dennoch ist ein Grundmuster zu erkennen. Befinden sich Einzelne, Gruppen oder Bevölkerungen am Rande des Existenzminimums, ist in der Regel dessen Sicherung vorrangiges Ziel der Steuerung ihrer Fruchtbarkeit. Diese Steuerung hat noch Ähnlichkeit mit Verhaltensweisen, die auch im Tierreich zu beobachten sind. (Bei höher entwickelten Tieren wird ebenfalls - wenn auch instinktbedingt - die Fortpflanzung von der ausreichenden Ernährung der erwachsenen Tiere beeinflußt). Ist das physische Existenzminimum gesichert, gewinnen andere Steuerungsziele an Bedeutung. (Dies verkennt der englische Bevölkerungswissenschaftler Thomas Robert Malthus, wenn er meint, die geschlechtliche Leidenschaft des Menschen lasse die Bevölkerung stets solange zahlenmäßig zunehmen, bis die Obergrenze des Nahrungsmittelstroms erreicht sei). Zu ihnen zählen einmal die Dauerhaftigkeit des Einklangs zwischen Bevölkerungszahl und Lebensgrundlagen und zum anderen die Verbesserung materieller Lebensbedingungen über das bloße Existenzminimum hinaus. Sind auch diese Ziele gesichert, eröffnen sich weitere Perspektiven, die vornehmlich im immateriellen Bereich liegen. Denn mit der Befriedigung materieller steigt die Bedeutung immaterieller Bedürfnisse. Ist der Mensch in seiner Körperlichkeit bestrebt, - ähnlich wie Tiere - seine natürliche Existenz zu sichern und zu entfalten, so erstrebt er in seiner Geistigkeit das gleiche für seine kulturelle Existenz. (Zur Unterscheidung des Menschen in Natur- und Kulturwesen (vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940, S. 35ff.). Sowohl seine natürliche als auch seine kulturelle Existenz sollen durch sein Geburtenverhalten möglichst gefordert, keinesfalls aber beeinträchtigt werden. Diese Doppelfunktion der Steuerung menschlicher Fruchtbarkeit ist ebenfalls schon in recht frühen Epochen und in auch heute noch naturnahen Bevölkerungen zu beobachten. Zur Steuerung ihres Geburtenverhaltens haben die Menschen seit langem eine Vielzahl von Instrumenten entwickelt. (Vgl. Anhang, S. 147-149). Mit Hilfe dieser Instrumente gelingt es ihnen, wenn auch erst in jüngster Zeit, ihre Fruchtbarkeit ihrer gesunkenen Sterblichkeit anzunähern. Wie in der Naturordnung stehen nunmehr auch in der Kulturordnung Fruchtbarkeit und Sterblichkeit im Gleichgewicht. Das zahlenmäßige Wachstum der Bevölkerung kommt wieder zum Stillstand. In Bevölkerungen, in denen die Individualisierung besonders weit fortgeschritten ist, das heißt in Bevölkerungen, die sich von der Naturordnung besonders weit entfernt und diese durch die Kulturordnung weitgehend ersetzt haben, sinkt die Fruchtbarkeit sogar unter die Sterblichkeit. Die Zahl der Sterbefälle ist also höher als die Zahl der Geburten, die Bevölkerung nimmt zahlenmäßig ab. Dieser Zusammenhang von zunehmender Individualisierung, Entfaltung der Kulturordnung, vorübergehendem Anstieg der Bevölkerungszahl aufgrund steigender Lebenserwartung bei gleichzeitigem Rückgang der Fruchtbarkeit und schließlichern Rückgang der Bevölkerungszahl ist in der europäischen Geschichte, vor allem in der europäischen Ideologiengeschichte, gut zu erkennen. Das Individuum rückt im Laufe der Geschichte immer stärker in das Zentrum der jeweils herrschenden Ideologie, bis es schließlich im Individualismus selbst zum Mittelpunkt und zugleich - gemessen an seinen physiologischen Möglichkeiten - biologisch unfruchtbar wird. Dieser Zusammenhang zwischen Individualisierung, Kulturordnung und Fruchtbarkeit läßt sich darüber hinaus auch in gruppen- und einzelbiographischen Entwicklungen aufzeigen.“ (Ebd., S. 15-17).

„(Antike/Griechenland). - In der Frühphase der griechischen Antike befindet sich die Individualisierung des Einzelnen noch im Anfangsstadium. Der Einzelne weist kaum eigenständige Züge auf, sondern verkörpert einen Typus. Als solcher ist er Träger kollektiv definierter Eigenschaften, von Tugenden und Lastern. An ihm interessiert vor allem das Generelle, nicht das Individuelle. Das Menschenbild dieser Epoche ist weitgehend statisch. Idealiter füllt der Einzelne einen von der Gemeinschaft gesetzten Rahmen, der von objektiven Kriterien wie Weisheit, Mut, Mäßigkeit und Gerechtigkeit bestimmt ist. Der Mensch ist nicht individuell beseelt, sondern hat nur Teil an einem allgemeinen Lebensgeist, der Psyche. Neigungen zur Individualität werden als Stolz gegenüber den Göttern und damit als frevelhaft angesehen. Der Begriff der Freiheit, soweit er überhaupt schon gedacht wird, steht nur für den menschlichen Handlungsraum innerhalb göttlicher Gesetze, die das Schicksal aller bestimmen. Nicht Freiheit, sondern Glückseligkeit durch Beachtung dieser Gesetze ist das Ziel menschlichen Strebens. Die Gemeinschaft, namentlich die Familie und darüber hinaus die Polis, ist der zentrale gesellschaftliche und religiöse Wert. Die Ehe dient vorrangig der Fortpflanzung, die nicht nur als sittliche, sondern sogar als religiöse Pflicht angesehen wird. Der Einzelne versteht sich als Glied einer lebendigen Kette, die es zu erhalten gilt. Diese Obliegenheit hat er gegenüber Vor- und Nachfahren. Um die Ahnenreihe zu erhalten, muß die Frau gebären. Dies ist ihre vornehmste Aufgabe. In dieses statische Welt-, Gesellschafts- und Menschenbild gerät erst in der sogenannten klassischen Periode, während des 6. bis 4. vorchristlichen Jahrhunderts, ein wenig Bewegung. Zwar gibt es schon vorher bei Homer (ca. 8. Jh. v. Chr.) erste Andeutungen, daß Eigennutz vor Gemeinnutz gehen könne. Aber erst jetzt finden sich in der Literatur vermehrt Gestalten, die sich vom Stamm und seinen Traditionen zu emanzipieren versuchen, auch wenn sie dabei - bezeichnenderweise - fast immer scheitern. (Eine Ausnahme bildet beim Griechischen Dichter Homer die Figur Odysseus). Der Begriff der Freiheit erfährt einen wichtigen Bedeutungswandel. Freiheit wird zunehmend zum Anspruch des Einzelnen gegenüber Gemeinschaft und Göttern auf ein eigenes Ich. Die Durchsetzung dieses Anspruchs ist oft Ansporn zu besonderen individuellen Leistungen. Der Einzelne will sich gegenüber Gemeinschaft und Göttern beweisen. In der Literatur finden sich erste Versuche, Wege einer individuell sinnvollen Lebensführung aufzuzeigen. In einem oft mühsamen Lernprozeß erkennen die Menschen die Chancen und Risiken persönlicher Freiheit. Diese Freiheit eröffnet ihnen einerseits Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung. Ihr Schicksal erscheint ihnen nicht mehr unabänderlich. Andererseits wächst die Last persönlicher Verantwortung.31 Doch das Ringen um individuelle Freiheit geht weiter. Mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft lernen zunächst die Bauern, den Wert dieser Freiheit zu schätzen, mit dem Aufkommen der Tyrannis auch der Adel. Die PerserKriege (500-479) lassen schließlich auch bei der städtischen Bevölkerung die Bewahrung individueller Freiheit zu einem zündenden Ideal werden. (Vgl. Hans Schaefer, Politische Ordnung und individuelle Freiheit im Griechentum, 1969, S. 153). Im 5. Jahrhundert v. Chr. ist das Streben nach persönlicher Freiheit zum Lebensprinzip eines großen Teils der Bevölkerung geworden. Es hat das Streben nach Glückseligkeit durch Beachtung göttlicher Gesetze in den Hintergrund gedrängt. Gesellschaftliche Traditionen und göttliche Gesetze, die den Einzelnen gestützt und geschützt, zugleich aber auch in seiner individuellen Entfaltung behindert haben, sind zerbrochen. Die Menschen suchen nach individuellen Formen der Lebensgestaltung und entwickeln dabei zunehmend die Fähigkeit, ihre individuellen Potentiale zu erkennen. Die Philosophie jener Zeit spiegelt diese Entwicklung wider. Bereits Heraklit (550-480) erlaubt die Durchbrechung gesellschaftlicher Gesetze, wenn dies individuellen Erfolg verspricht. Für Sokrates (470-390) ist nicht mehr die Gemeinschaft, sondern der Einzelne das höchste Ideal. .... Auch Platon (427-347) betont die Stellung des Einzelnen in der Gemeinschaft, obwohl er zugleich auch auf die wechselseitige Abhängigkeit, die Notwendigkeit eines Gleichgewichts zwischen individueller Freiheit und Gemeinschaftsbindung verweist. Aristoteles (383-322) sieht dies ähnlich, meint aber, die Gemeinschaft müsse jedem die Chance geben zu leben, wie er wolle. Nach Karel Mácha (Individuum und Gesellschaft, 1964, S. 47) ergänzt und vervollkommnet Aristoteles »die Voraussetzungen, auf denen die individualistische Menschenkonzeption entstanden ist«. In der hellenistischen Epoche ... rückt das Individuum endgültig in den Mittelpunkt des philosophischen Interesses. Für die Stoiker gibt es für den Menschen nicht mehr zu suchen und zu finden als sich selbst. Für die Sophisten wird der Mensch gar zum Maß aller Dinge. Epikuräer und Kyniker - und das ist im antiken Denken neu - beziehen auch Frauen in den Prozeß der Individualisierung ein. Im Hellenismus (Zeitraum von ca. 360 v. Chr. bis ca. 80 n. Chr.), eindrucksvoll verkörpert in der Gestalt Alexander des Großen (356-323), tritt das Individuum für jedermann sichtbar aus der Gemeinschaft heraus. Dieses Heraustreten des Individuums aus der Gemeinschaft hat weitreichende Folgen. Der Einzelne ist gezwungen, mit anderen zu konkurrieren. Dies spornt ihn zu Leistungen in Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft an, zu denen er als Teil der Gemeinschaft nicht imstande gewesen wäre. Gerade deshalb beginnt er aber auch, die Gemeinschaft als Behinderung bei der Entfaltung seiner individuellen Fähigkeiten zu empfinden. Die gemeinschaftsbezogenen Ideale von einst werden vom Verlangen nach der Befriedigung individueller Bedürfnisse überlagert. Ehe und Familie, vormals heilig, werden zunehmend als Last angesehen. Insbesondere wächst die Abneigung gegen Kinder. Gibt es im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. noch einen beträchtlichen Bevölkerungsüberschuß, nimmt die Bevölkerung im 2. Jahrhundert v. Chr. zügig ab, ohne daß dafur äußere Gründe wie Kriege, Seuchen oder Hungersnöte erkennbar wären. Vielmehr verstärkt sich die Neigung der Griechen zur freiwilligen Kinderlosigkeit. Ein- und Zweikindfamilien, früher die Ausnahme, werden jetzt zur Regel. (So ist ... die Ein-Kind-Familie zum Zwecke der Konzentration von Wohlstand und Macht gerade in begüterten Bevölkerungskreisen keine Seltenheit. Beispielsweise haben 79 Familien, die zwischen 228 und 220 v. Chr. das milesische Bürgerrecht erhalten, insgesamt nur 146 Kinder. 32 dieser Familien haben ein Kinde und 31 Familien zwei Kinder. Die durchschnittliche Kinderzahl beläuft sich zu dieser Zeit auf höchstens zwei Kinder pro Familie, wobei bevorzugt Söhne Dgroßgezogen werden. Auch gilt es im antiken Griechenland und Rom als sittliche Pflicht des Familienoberhauptes, durch eine Beschränkung der Kinderzahl die wohl durchaus nicht nur wirtschaftlich z uverstehende Leistungsfähigkeit seiner Familie zu gewährleisten. (Vgl. Heleni Koch / Andreas Tewinkel, Bevölkerungspolitik in Geschichte und Gegenwart, 1985, S. 23ff..). Dies reicht zur Bestandserhaltung der griechischen Bevölkerung nicht aus. Sarah Pomeroy (Frauenleben im klassischen Altertum, 1985) zufolge schmilzt die Bevölkerung der griechischen Städte aufgrund der Heiratsunwilligkeit der Männer und des Brauchs, ungewollte Kinder einfach auszusetzen, besorgniserregend zusammen. Versuche des Staates, diesen Trend zu wenden, bleiben weitgehend erfolglos. Die Menschen, so klagt der griechische Geschichtsschreiber Polybios (201-120), frönen lieber ihrer Habgier und Prunksucht, anstatt Kinder großzuziehen. Um 100 v. Chr. ist die Entvölkerung griechischer Städte so weit fortgeschritten, daß in großer Zahl Fremde zur Aufrechterhaltung lebenswichtiger Funktionen aufgenommen werden müssen. Trotzdem verlischt Griechenlands Macht. Rom füllt das entstandene Vakuum.“ (Ebd., S. 17-19).

„(Antike/Rom). - Mit einer zeitlichen Verzögerung ... wiederholt sich im antike Rom die ... demographische Entwicklung Griechenlands mit bemerkenswerter Parallelität. In der frühen Republik ... haben die Interessen der Gemeinschaft noch unbedingten Vorrang vor den Interessen des Einzelnen. Der Einzelne verschwindet zwar nicht in der Masse, und die Gemeinschaft ist sich wohl bewußt, daß sie aus Einzelgliedern besteht. Aber die Einzelnen wissen auch um ihre existentielle Abhängigkeit von der Gemeinschaft. Ganz ähnlich wie die Griechen der frühen Periode sehen sich auch die Römer der frühen Republik als Glieder einer Kette. Römer zu sein heißt, einer römischen Ahnenreihe anzugehören. (Vgl. Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Band 1, 1854, S. 62). Familienbande werden intensiv gepflegt. »Eigenes Haus und Kindersegen erscheinen dem römischen Bürger als das Ziel und der Kern des Lebens«, schreibt Theodor Mommsen (ebd., 1854, S. 56). Viele Kinder zu haben gereicht der Frau zur Ehre. Das ändert sich gegen Ausgang des 3. Jahrhunderts, vor allem aber im 2. Jahrhundert v. Chr.. In dieser Zeit nimmt der Einfluß des Hellenismus auf die römische Gesellschaft erheblich zu und mit ihm das Streben nach individueller Freiheit und »Selbstverwirklichung« (Anführungszeichen von mir: HB), nach Gleichheit und Teilhabe an der politischen Macht. (Vgl. Theodor Mommsen, ebd., 1854, S. 304; Sarah Pomeroy, Frauenleben im klassischen Altertum, 1985, S. 227). Bildung, Kunst und Wissenschaft beginnen zu blühen. Sich in den Künsten zu bilden wird für die Angehörigen gehobener Schichten zur Selbstverständlichkeit. Anders als in Griechenland gilt dies auch für Frauen, die sich nicht nur bilden, sondern auch am öffentlichen Leben teilnehmen. Vor allem Frauen der Oberschicht besuchen Theater und Gastmähler, und das »Trachten nach Macht und Einfluß kann unter ihnen nicht anders als sehr verbreitet gewesen sein« (Vgl. Ludwig Friedländer, Sittengeschichte Roms, 1957, S. 258). Viele Frauen pflegen einen höchst individuellen und mitunter ausschweifenden Lebensstil, an dem schon damals manche Zeitgenossen Anstoß nehmen. (Vgl. Ludwig Friedländer, ebd., 1957, S. 249f.). Die Zahl von Dichterinnen und Rednerinnen ist beträchtlich, und selbst der Zugang zur Kaiserwürde ist Frauen nicht verschlossen. (Vgl. Ludwig Friedländer, ebd., 1957, S. 258). Zugleich verfallen die tradtionsreichen Institutionen Ehe und Familie. Die Manus-Ehe wird abgeschafft, Ehescheidungen werden erleichtert. (In der Manus-Ehe wird die Frau bei der Heirat Mitglied der Familie des Ehemannes und damit seiner Autorität unterworfen. Das Vermögen der Frau geht an die Familie des Ehemannes über. Die Ehefrau hat dagegen auf das Eigentum des Mannes nur geringe Rechtsansprüche. (Vgl. Karl Christ, Die Römer, 1979, S. 103f., S. 104; Ludwig Friedländer, ebd., 1957, S. 245f.; Sarah Pomeroy, ebd., 1985, S. 232ff., S. 236f. und 141ff.). Besonders in wohlhabenden Kreisen sind Ehescheidungen und Wiederverheiratungen häufig. (Vgl. Karl Christ, ebd., 1979, S. 103f.). Männer und Frauen genießen ein hohes Maß an sexueller Freizügigkeit. Dabei geht die Geburtenrate zunächst bei der wohlhabenden, dann auch bei der übrigen Bevölkerung ständig zurück. (Vgl. Sarah Pomeroy, ebd., 1985, S. 253f.). Maßnahmen der Empfängnisverhütung und Abtreibung sind weithin praktizierte Mittel der Geburtenkontrolle. Im 2. vorchristlichen Jahrhundert ist der Wunsch, kinderlos zu bleiben, unter den Römern so verbreitet, daß sich der Staat zum Eingriffen genötigt sieht. (Vgl. Sarah Pomeroy, ebd., 1985, S. 253ff.). Doch alle Versprechungen und Bestrafungen bewirken wenig. Der Widerstand der Bevölkerung gegen die Belebung altrömischer Traditionen ist beträchtlich. Vor allem die Jugend besteht auf einem Höchstmaß an Bindungslosigkeit. Das Leben in Rom ist nach Ludwig Friedländer geprägt durch Genußsucht und dem Streben nach Besitz, von dem Rang, Stand, Ehre und Ansehen abhängen. (Vgl. Ludwig Friedländer, ebd., 1957, S. 217). Um die Zeitenwende muß der Staat seine Bürger geradezu zur Ehe verpflichten, was allerdings deren Fruchtbarkeit nicht erhöht. (Mit der Lex Julia de maritandis aus dem Jahr 18 v. Chr. und der Lex Papia Poppaea aus Jahr 9 v. Chr. wurden unter der Herrschaft Kaiser Augustus Kinderlosen hohe Ämter verwehrt. Außerdem wurden Kinderreiche durch das Erbrecht bevorzugt. (Vgl. John T. Noonan, Contracception, 1965, S. 21f.; Sarah Pomeroy, ebd., 1985, S. 254.). Gesellschaftlich angesehener als der Verheiratete oder gar Kinderreiche ist der Ledige. Dies nicht zuletzt deshalb, weil einige hoffen, ihn beerben zu können, und daher ständigen Umgang mit ihm pflegen. Doch auch unabhängig davon ist für viele Römer dieser Epoche Ehe- und Kinderlosigkeit gleichbedeutend mit einem gemächlichen und sorgenfreien Leben. (Vgl. Ludwig Friedländer, ebd., 1957, S. 218ff.) An dieser Auffassung vermag der Staat kaum etwas zu ändern. Wichtiger als Kinder sind den Römern die Verschönerung ihrer Städte, gute Verkehrswege, Einrichtungen der Hygiene wie Wasser- und Abwasseranlagen sowie ein umfassendes Versorgungs-, namentlich Gesundheitssystem. Für diese Zwecke treiben sie einen hohen Aufwand. Aber auch Mittellose werden großzügig unterstützt. Während langer Perioden ist die öffentliche Verwaltung korrekt und effektiv. Die Gesellschaft ist im historischen Vergleich freizügig und weltoffen, tolerant und zunehmend human. Der Einzelne und sein Schicksal werden immer bedeutungsvoller. Im wachsenden Bewußtsein seines Eigenwertes sprengt er »Schritt für Schritt die Bande der Gemeinschaft und (läßt) an die Stelle der Hingabe für das gemeine Wohl die Ausrichtung auf die persönlichen Interessen und den eigenen Vorteil treten« (Franz Hampl, Probleme der römischen Geschichte und antiken Historigraphie sowie ein grundsätzlicher Rückblick, 1979, S. 97). Diese Verhaltensänderungen bleiben wiederum nicht ohne Rückwirkungen auf das Bevölkerungsgefüge. Im 2. Jahrhundert n. Chr. kommt - abermals ohne erkennbare äußere Gründe - das Bevölkerungswachstum in der besonders entwickelten Westhälfte Roms zum Stillstand, im 3. Jahrhundert nimmt die Bevölkerung vor allem in den Städten ab, und im 4. Jahrhundert verwaisen ganze Landstriche. Die immer großzügigere Gewährung von Bürgerrechten vermag hieran nichts zu ändern. In den Stürmen der Völkerwanderung erlischt auch Rom ähnlich wie Griechenland, nicht zuletzt wegen des anhaltenden Rückgangs seiner Bevölkerung. Zu den Folgen des Rückgangs der römischen Bevölkerung gehörta uch die Zunahme von Nichtrömern im römischen Heer. Nichtrömer bilden schließlich die Mehrheit. Der weströmische Kaiser gerät immer stärker in Abhängigkeit von dieser Mehrheit und ist kaum noch in der Lage, römische Interessen surchzusetzen.“ (Ebd., S. 20-21).

„(Antike/Christentum). - Das Christentum dürfte den Rückgang der römischen Bevölkerung noch beschleunigt haben. Mit ihm verinnerlichen die Römer seit dem 2. Jahrhundert eine Religion, die ihre ohnehin vorhandene Abneigung gegen Ehe und Familie ethisch rechtfertigt und metaphysisch überhöht. In den Worten des heiligen Hieronymus (345-420) retten Ehe- und Kinderlosigkeit nunmehr nicht mehr nur »vor Sodom und schmerzhaften Schwangerschaften und brüllenden Kindern und Haushaltssorgen und den Qualen der Eifersucht« (Will Durant, Weltreiche des Glaubens, 1977, S. 296), sondern sie ebnen auch den Weg in den Himmel (vgl. Matthaüs, 19,12). Die Vorbehalte gegen Ehe und Familie wurzeln im jungen Christentum tief. Das Vorbild ist Jesus von Nazareth. Nach der Überlieferung hat er seine Eltern und Verwandten verlassen, ohne eine eigene Familie zu gründen. Stattdessen erwählt er sich Jünger, von denen er Gleiches verlangt. Auch sie müssen sich von ihren Familien trennen. (Vgl. Matthäus, 4, 18-22). Wer hierzu nicht bereit ist, ist seiner nicht wert. (Vgl. Lukas, 14, 12-18). Wer jedoch »um des Reiches Gottes willen Haus oder Frau, Brüder, Eltern oder Kinder verlassen hat, wird dafür schon in dieser Zeit das Vielfache erhalten und in der kommenden Welt das ewige Leben« (Lukas, 18, 28-30). Die Familie Jesu ist keine Gemeinschaft »im Fleisch«, sondern »im Geist«. Bruder und Schwester sind ihm jene, die sein Wort hören und befolgen. (Vgl. Matthäus, 12, 46-50). Nehmen im Alten Testament Ehe, Familie und Volk einen hohen Rang ein, so findet sich hiervon im Neuen Testament, aber auch bei den Kirchenvätern nichts mehr. Ergeht im Alten Testament an die Menschen der Aufruf, fruchtbar zu sein und sich zu mehren (vgl. Genesis, 1, 22), so fordert das Neue Testament dazu auf, in die Welt zu gehen, um zu lehren und zu taufen. (Vgl. Matthäus, 5,19; 10, 7-9). Doch der durch die Taufe Erlöste lebt nicht in seinen Kindern fort, sondern in seiner eigenen, unsterblichen Seele. Folglich sind für Christen eigene Kinder kein Anliegen. Sie wollen nicht selbst gebären, sondern in Erwartung des jüngsten Gerichts dazu beitragen, daß möglichst viele im Wasser und Geiste wiedergeboren werden und dadurch ewiges Leben empfangen. Nicht Nachkommenschaft so zahlreich wie die Sterne des Himmels ist ihr Ziel (vgl. Genesis, 15, 5f.), sondern die Erlösung derer, die bereits geboren sind. In sie soll der Geist Gottes einziehen, ihre Leiber sollen zu Gottes Tempeln werden, und der Heilige Geist soll in ihnen wohnen. (So der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther; vgl. 1. Korinther, 3, 16). Hiermit sind Ehe und Familie nur schwer zu vereinbaren. Das junge Christentum läßt keinen Zweifel, daß die neue Zweckbestimmung des Menschen, seine Vergeistigung in der Kindschaft Gottes ohne eheliche und familiäre Bindungen, leichter zu verwirklichen ist. Die völlige Hingabe an Gott ist dem bindungslos, jungfräulich lebenden Menschen eher möglich, und diese Menschen sind es, die aus der Sicht der jungen Christengemeinde als erste erlöst werden. (Vgl. Matthäus, 19, 10-12; 22, 29-31). In dieser Gewißheit verlassen in der Frühphase des Christentums zahllose Menschen ihre Ehepartner, Kinder und Eltern, um weltabgeschieden nach individueller Vervollkommnung und Erlösung zu streben. (Vgl. Will Durant, ebd., 1977, S. 320). Zeitweise drängen so viele in die Klöster, daß die junge Kirche nach und nach eine verständnisvollere Haltung gegenüber der Ehe einnimmt und diese schließlich sogar zum Sakrament erhebt. Dennoch ist ein großer Teil Europas durch die Lehren des Christentums nachhaltig verändert. Besonders die Vorstellung ihrer individuellen Beseelung fasziniert die Menschen. Sie sind beglückt, einmalige, unverwechselbare und unsterbliche Geschöpfe zu sein. Diese Beseelung macht sie nicht mehr nur zu körperlichen, sondern auch zu geistigen Individuen. Im Christentum erfährt ihre geistige Individualität erstmals grundsätzliche Beachtung. Das Christentum legt auf das »kleine Ich«, wie Sören Kierkegaard (1813-1855) später feststellt, ein ganz anderes Gewicht. (Vgl. Hermann Krings / Hans Michael Baumgartner / Christoph Wild, Handbuch der philosophischen Grundbegriffe, Band 2, 1973, S. 731). Das so entstandene Körper-Geist-Individuum wird zumindest idealiter zum Maß allen gesellschaftlichen und religiösen Handelns. Diese Individualisierung bedeutet allerdings auch eine Belastung, die in der Menschheitsgeschichte neu ist. Denn der Einzelne trägt nunmehr unmittelbar Verantwortung für beides: sein irdisches Schicksal und sein ewiges Heil. Jeder geht seinen individuellen Heilsweg. Niemand ist mehr eingebettet in die Familie, die Gemeinschaft oder das Volk. Am Jüngsten Tag erwartet jeder sein individuelles Gericht und sein individuelles Urteil. Die Idee der Selbsterhaltung, der Bewahrung des Ichs wird nach Auffassung Max Horkheimers auf diese Weise in ein metaphysisches Prinzip überführt. (Vgl. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 1967, S. 131). Das Streben des Menschen nach Individualität wird dadurch unermeßlich gestärkt. Anders als die überindividuelle Psyche der antiken Philosophie wirkt die individuelle Seele des Christentums wie ein »inneres Licht«, das dem Menschen Persönlichkeit verleiht. Zugleich wird der Begriff der Freiheit abermals neu bestimmt. Individuelle Freiheit ist nicht mehr nur, wie in der Antike, Möglichkeit zur Gestaltung des irdischen Lebens, sondern unverzichtbare Voraussetzung für menschliche Selbstbestimmung, die ihrerseits Voraussetzung für eigenverantwortliches und mithin sittlich relevantes Handeln ist. Nur für sittlich relevantes Handeln kann der Mensch jedoch zur Rechenschaft gezogen werden - Bedingung seiner ewigen Seligkeit oder Verdammnis. Diese kühne, gerade aber deshalb für viele Zeitgenossen auch beängstigende Gedankenführung wird in der Völkerwanderung von einer Vielzahl zuwandernder Bevölkerungen aufgenommen und mit deren zumeist noch sehr naturnahen Denk- und Anschauungsweisen verschmolzen. Die geistige Überwölbung, die das Individuum im Christentum erfahren hat, stürzt in großen Teilen wieder zusammen. Als ... die Antike endet, haben die christlichen Lehren viel von ihrer ursprünglichen Radikalität eingebüßt. Das Christentum ist zu einer gesellschaftlichen Ordnungsmacht geworden, die den Gemeinschaftsbedürfnissen und -neigungen der Menschen weit entgegenkommt. Die der Gemeinschaft abträglichen Ideen von körperlich-geistiger Individualität und Freiheit verblassen. Doch ganz in Vergessenheit geraten sie nicht.“ (Ebd., S. 21-23).

„(Abendland/Christentum). - Etwa seit dem 5. Jahrhundert tritt das Individuum wieder in den Hintergrund des gesellschaftlichen Bewußtseins. Ähnlich wie in der frühgriechischen und frührömischen Zeit Phase dominieren erneut Gemeinschaftsorientierungen. Die Gemeinschaft, die sich als naturgesetzlich versteht und daraus auch ihre politische Ordnung ableitet, garantiert den Menschen einem »geordneten, final ausgerichteten Lebenszusamenhang« (Claudia Honegger, Die Hexen der Neuzeit, 1978, S. 90). Der Einzelne, die Gemeinschaft und die Natur bilden im mittelalterlichen Denken eine unauflösliche Einheit. »Der Mensch aber«, schreibt Jacob Burckhardt (Die Kultur der Renaissance in Italien, 1860, S. 97), »erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen«. Auch in der Kunst jener Zeit ist der Mensch nie Individuum, sondern nur Symbolträger jenes Allgemeinen, Erst gegen Ende des Mittelalters wird von Scholastikern wie Albertus Magnus (= Albert von Bollstädt; 1193-1280), Thomas von Aquin (1225-1274) oder Bonaventura (1221-1274) der Versuch unternommen, die Idee der Individualität des Menschen wieder zu beleben. Ihre Erfoge sind allerdings mäßig. Die Fruchtbarkeit dieser gemeinschaftsorientierten Bevölkerung ist ganz wie in der frühgriechsichen und -römischen bemerkenswert hoch.“ (Ebd., S. 24).

„(Abendland/Renaissance-Humanismus-Reformation-Aufklärung). - Die umwälzenden Veränderungen fangen ... in Italien an und breiten sich von dort über große Teile des Kontinents aus. Im Zuge dieser Veränderungen zerbricht die bis dahin unauflöslich scheindende Einheit von Einzelnen, Gemeinschaft und Natur, und es beginnt ein prozeß, in dem nach Agnes Heller (Der Mensch in der Renaissanse, 1982, S. 10) »die Anfänge des Kapitalismus das natürliche Verhältnis zwischen Mensch und Natur zunichte machen, die natürlichen Bindungen des Menschen an seine Familie, seinen Stand, an seinen ›vorgegebenen‹ Platz in der Gesellschaft zersetzen, die Hierarchie, die Stabilität erschüttern und die gesellschaftlichen Verhältnisse in Fluß bringen«. Wieder tritt der Einzelne aus der Gemeinschaft heraus, wobei er nicht nur erneut sein ich entdeckt, sondern dieses auch bewußt annimt. Diese bewußte Individualisierung ist für Jacob Burckhardt das wichtigste Merkmal der Renaissance. (Vgl. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, 1860, S. 97ff.). .... Der Mensch ist nicht mehr nur Maß aller Dinge, sondern Mittelpunkt der Welt. Nach Gott dreht sich alles um ihn. Von dieser Individualisierungswoge sind zwar noch immer nicht alle, aber doch breitere Bevölkerungsschichten als in der Antike (der entsprechenden Zeit: ca. 7. und 6. Jh. v. Chr.; Anm. HB) erfaßt. Besonders spürbar verändert sich die Stellung der Frau. Obgleich sie von »Emanzipation« (Anführungszeichen von mir: HB) im heutigen Sinne weit entfernt bleibt (vgl. Hanna-Barbara Gerl, Frauenbilder in der Geschichte, 1988, S. 6), spielt sie nicht nur im Familienkreis, sondern auch im wirtschaftlichen ... und mitunter sogar politischen Leben ... eine zunehmend bedeutende Rolle. (Vgl. Claudia Honegger, Die Hexen der Neuzeit, 1978, S. 48ff.). Gegen Ende der Renaissance werden (laut Meinung einiger Autoren: HB) sogar erstmals in der abendländischen Geschichte Kinder als eigenständige Wesen entdeckt, die nicht nur liebes-, sondern auch erziehungsfähig und -bedürftig sind. (Vgl. Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, 1960, S. 554f. und 560ff.). .... Der Mensch soll und will sein irdisches Schicksal selbst bestimmen. Sein Schicksal wird als Folge dessen angesehen, was er aus sich machen konnte und aus sich gemacht hat. (Vgl. Agnes Heller, ebd., S. 16). Diese Vorstellung setzt erhebliche Energien frei. Ihre Triebfeder ist ein zunächst werk-, dann auch personenbezogener schöpferischer Egoismus, der darauf abzielt, der Welt den eigenen Stempel aufzudrücken. Selbstbewußt zerreißt der Renaissancemensch die Fesseln, die ihm die feudale und klerikale Ordnung des Mittelalters angelegt hat. Seine Neugier ist grenzenlos. Von allem Unbekannten ist er angetan. Kunst und Wissenschaft lassen sich nicht länger durch den Glauben binden. Die Folge ist eine Fülle von Entdeckungen und Neuerungen. (Hierzu gehören z.B. die Entwicklung der Brille, vor allem aber die Erfindung der Buchdruckkunst durch Johannes Gutenberg [1397-1468], die Entwicklung des Erdglobus durch Martin Behaim [1459-1506], die Entdeckung fremder Erdteile, die Entwicklung der Taschenuhr durch Peter Henlein [1480-1542], die vielen Entdeckungen von Leonardo da Vinci [1452-1519] oder Andreas Vesal [1514-1564] u.v.a.). Dadurch steigt die Produktivität .... Die gesteigerte Produktion schafft große Räume für gesellschaftliche Vielseitigkeit, wobei - .... Marx zufolge - individuelle und gesellschaftliche Vielseitigkeit in enger Beziehung miteinander stehen. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist der immer härtere Wettbewerb zwischen Individuen und Gruppen. In diesem Wettbewerb erscheinen auch Ehe und Familie zunehmend als Belastung. .... Der Einzelne muß seinen eigenen Weg gehen. Allerdings kann es dabei geschehen, daß »der sich von den Göttern und der Gemeinschaft absondernde Mensch ... in Weltangst und Deformation« (Wieland Schmied, 1973, S. 16) gerät. Mitunter flüchtet er sich dann in Sekten, die während dieser Zeit in großer Zahl antstehen. (Vgl. Claudia Honegger, ebd., 1978, S. 35ff. und 42). Orientierungslosigkeit ist ein weiteres Merkmal dieser Epoche, auch wenn eine welt- und menschenbejahende Grundhaltung vorherrschend ist. Der härter werdende Wettbewerb, verbunden mit einem immer ausgeprägteren Wertepluralismus verändert auch die Rolle des Staates. Er ist seiner naturgesetzlichen Fundierung verlustig gegangen. An ihre Stelle ist positives Recht getreten. Das aber ist in einer wertepluralen Gesellschaft nicht frei von Willkür. Um so notwendiger ist die feste Einbindung des Individuums in staatliche Ordnungs- und Regelsysteme. (Die Ideale dieser Zeit sind streng heirarchisch organisierte, auf ein Zentrum ausgerichtete staatliche Ordnungssysteme, wie sie u.a. in Johann Calvins »Gottesstaat« oder Thomas Campanellas »Sonnenstaat« beschrieben werden.). Der Staat muß die Verfolgung individueller Interessen durch Solidarangebote zähmen. Die Regelementierung des Wettbewerbs wird zu einer seiner wichtigsten Aufgaben. Zunehmend übernimmt der Staat Aufgaben, die früher Gemeinschaften erfüllt haben. .... Die Überwindung des Mittelalters durch Rückgriff auf antike Vorbilder leisten in der Philosophie die sogenannten Humanisten .... In Italien sind es vor allem Gelehrte wie Marsilio Ficino (1433-1499), Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) oder Pietro Pomponazzi (1462-1525), in Deutschland Gelehrte wie Johannes Reuchlin (1455-1522), Erasmus von Rotterdam (1469-1536) oder Ulrich von Hutten (1488-1523), die sich bemühen, antike Philosophie mit christlicher Theologie zusammenzuführen. Doch so wichtig die Arbeiten der Humanisten für den Individualisierungsprozeß auch sind, noch folgenreicher ist das Wirken der sogenannten Reformatoren, namentlich Martin Luther (1483-1546), Ulrich Zwingli (1484-1531) und Johann Calvin (1509-1564). Trotz vieler Unterschiede im Detail sind sie sich einig in der Absage an die Amtskirche, deren Ersetzung durch das Priesteramt aller Gläubigen und der religiösen Selbstverantwortung jedes einzelnen Christen. Nach Luther steht der Mensch Gott unmittelbar gegenüber. In jedem Einzelnen wirkt der Heilige Geist. Auch Zwingli meint, Gott offenbare sich dem Menschen direkt, und der Mensch könne ihn direkt erkennen. Äußerer Hilfsmittel bedürfe es nicht zum Glauben. (Vgl. Wilhelm Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, postum, S. 64f.). Am radikalsten ist Calvin. Für ihn muß der Mensch seine Straße einsam ziehen. Nichts und niemand kann ihm helfen, die Gnade Gottes zu erlangen - kein Priester und kein Sakrament. Gott hat den Menschen entweder zu ewigem Heil auserwählt oder zu ewiger Verdammnis bestimmt. Dieses Uretil ist unabänderlich. (Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 1919-1920, S. 94f.). Da sich Gott und Mensch nach Auffassung der Reformatoren unmittelbar gegenüberstehen, lehnen sie jede Bevormundung von Glauben und Gewissen ab. »Über die Seele kann und will Gott niemand lassen regieren, denn sich selbst allein«, schreibt Luther und fährt an anderer Stelle fort: »Darum mich niemand darf fragen, ob er dies oder das tun soll, sondern er sehe zu, prüfe selbst sein Gewissen, was er glauben und tun wolle oder möge. Ich kann ihm nicht raten noch weiter heißen«. Damit ist auch die letzte Bindung des Einzelnen an die Gemeinschaft gelöst, dem Individualismus auch im Bereich der Religion Tür und Tor geöffnet. Nach Luther bedarf der wahre Christ weder kirchlicher Autorität noch des Staates noch der Gesetze. Jeder ist seine eigene Autorität. Wenn dennoch eine obrigkeitliche Ordnung anzuerkennen ist, dann nur, um die Freiheit des Evangeliums zu sichern. Der Mensch erfährt seine Rechtfertigung vor Gott nicht durch ein gottwohlgefälliges Verhalten, sondern allein aus dem Glauben. Deshalb bedarf er auch keiner Sakramente mehr. Das gilt nicht zuletzt für das Sakrament der Ehe. Die Ehe wird wieder zu einer weltlichen Einrichtung. Allerdings wird die Mutterrolle erneut zum ethisch höchsten Ideal der Frau erhoben. Die Auffassungen, die namentlich Luther hier vertritt, knüpfen durchaus an mittelalterliche Sichtweisen an. Im Unterschied zum Mittelalter offenbart sich für ihn die Mütterlichkeit der Frau jedoch nicht vorrangig in der Zahl der Kinder, die sie gebärt, sondern in der Zuwendung, die sie ihnen zuteil werden läßt. Diese Sichtweise trägt in der Folgezeit zu einer nachhaltigen Veränderung der Familienstrukturen bei. Die Zahl der Kinder, die nunmehr geboren werden, wird maßgeblich von den wirtschaftlichen Verhältnissen der Eltern bestimmt. Dadurch zieht in die Familien eine bis dahin unbekannte Rechenhaftigkeit ein. Die protestantische Ethik, die die Durchrationalisierung aller Lebensbereiche fördert, spart auch Ehe und Familie nicht aus. Das ebnet den Weg zur bürgerlichen Kleinfamilie, in der ungleich privatere Lebensformen möglich sind als sie in der Großfamilie des Mittelalters gepflegt werden. Die Kleinfamilie wird zum Hort von Intimität und Identität. .... Was immer am Ende von Renaissance, Humanismus und Reformation an tradierten, gemeinschaftsformierenden und -stabilisierenden Institutionen noch vorhanden ist, wird während des 17. und 18. Jahrhunderts ... einer kritischen Überprüfung unterzogen. Bestand soll nur noch haben, was den Anforderungen der menschlichen Vernunft genügt. Normen, Konventionen und Traditionen, die diesen Anforderungen nicht genügen, sollen hingegen beseitigt werden. Hiervon erwartet Immanuel Kant (1724-1804) das Erwachen des Menschen aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit. Obwohl ... das Denken der Aufklärer keineswegs einheitlich ist, ist ein gemeinsamer Ausgangs- und Zielpunkt zu erkennen. (Insbesondere stehen sich mit dem Empirismus in Großbritannien, vertreten durch Francis Bacon [1561-1626], Thomas Hobbes [1588-1679], John Locke [1632-1704] und David Hume [1711-1776], und dem Rationalismus in Frankreich, vertreten durch René Descartes [1596-1650], Nicolas Malbranche [1638-1715] und François Marie Voltaire [1694-1778] zwei recht unterschiedliche Denkrichtungen gegenüber. Der Niederländer Hugo Grotius [1583-1655] sowie die Deutschen Johannes Alhusius [1557-1638], Jacob Thomaisus [1622-1684], Samuel von Pufendorf [1632-1694], Christian Wolff [1679-1754] und vor allem Immanuel Kant [1724-1804] vertreten hingegen eher vermittelnde Positionen). Ausgangspunkt ist die Befreiung des Menschen von der tradierten, auf Offenbarung gegründeten christlichen Religion und der mit ihr verbundenen gesellschaftlichen und politischen Ordnung. An ihre Stelle soll eine »vernünftige« Religion und Ordnung treten. Zielpunkt ist hingegen die Emanzipation weiterer Bevölkerungskreise von jeglicher Bevormundung und nicht zuletzt dadurch die Förderung menschlichen Fortschritts. Dieser Fortschritt wird aus der Sicht der Aufklärer nur von der Erkenntnisfähigkeit menschlicher Vernunft begrenzt, die gleichzeitig einzige und höchste Instanz ist, über Wahrheit und Irrtum sowie Normen des ethischen, politischen und sozialen Handelns zu entscheiden. Grundlage der »vernünftigen« Gesellschaft ist »das denkende Individuum«. Dabei unterstellen die Aufklärer für alle Individuen die gleiche Erkenntnisfähigkeit: »Alle Menschen sind von Natur sich gleich« (Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, S. 187). Daraus folgt für sie: Jedes Individuum muß zum einen frei sein, seine Meinung zu äußern, und zum anderen bereit sein, die Meinung anderer zu tolerieren. Im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Diskurs dieser Meinungen sollen zusätzliche Erkenntnisse gewonnen werden. In diesem Diskurs spricht jeder nur für sich selbst. Niemand spricht für eine Gruppe. Von dieser Vorgehensweise profitiert vor allem die Wissenschaft. Fast alle Wissensgebiete werden beträchtlich erweitert. In den Naturwissenschaften werden bahnbrechende Erkenntnisse gewonnen (so z.B. [1602-1686] das Gravitationsgesetz von Isaac Newton [1643-1727], das Grundgesetz der Elastizität von Robert Hooke [1635-1703] oder die Entdeckung elektrischer Funken durch den u.a. auch eine Multipliziermaschine entwickelnden Gottfried Wilhelm Leibniz [1646-1716]), aber auch die Geisteswissenschaften, namentlich die Theologie, werden vorangetrieben. Wurde das Leben im Zuge der Reformation rechenhafter, so setzt jetzt seine Verwissenschaftlichung ein. Die Erweiterung des Wissens führt allerdings auch zu dessen Fraktionierung. Damit geht ein weiteres verbindendes Element in der Bevölkerung verloren. Weitere praktische Folgen der Aufklärung sind humanitäre, soziale und politische Reformen. Zumindest im Westen Europas beginnt die Periode des aufgeklärten Absolutismus bis hin zum Konstitutionalismus. Im Ergebnis bewirken alle diese Reformen die Stärkung der Stellung des Einzelnen, besonders aber der bürgerlichen Schichten.“ (Ebd., S. 24-30).

„(Abendland/Liberalismus-Sozialismus-Individualismustriumph). - So ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert der Liberalismus die eigentliche Ideologie des aufstrebenden Bürgertums. Wieder geht es um das Individuum oder genauer: das bürgerliche Individuum. Nach Max Horkheimer (Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 1967, S. 133) ist der Individualismus »der innerste Kern der Theorie und Praxis des bürgerlichen Liberalismus«, wobei »das bürgerliche Individuum ... sich nicht notwendig im Gegensatz zum Kollektiv (sah), sondern glaubte, ...es gehöre einer Gesellschaft an, die den höchsten Grad von Harmonie einzig durch die unbeschränkte Konkurrenz individueller Interessen erreichen könne«. Um diese Konkurrenz zu ermöglichen, besteht das Bürgertum auf der Beseitigung auch der letzten Reste obrigkeitlicher Bevormundung in der Wirtschaft und Wissenschaft, aber auch der Kultur und Politik. Wo dieser Forderung nicht nachgekommen wird, wird ihr - wie 1789 in Frankreich - blutig Nachdruck verliehen. Das bürgerliche Individuum will sein Schicksal selbst bestimmen und sich ungehindert entfalten können. Diesem Ziel dienen die individuellen Freiheitsrechte, die als allgemeine Bürger- und Menschenrechte verankert werden. Jeder soll frei sein, seine Meinung zu äußern, Vereinigungen zu bilden und vieles andere mehr. Zugleich umgibt sich das Individuum mit einem umfassenden Rechtsschutz. Jedwede tatsächliche oder vermeintliche Beeinträchtigung seiner Entfaltungsmöglichkeiten soll von Gerichten überprüft und gegebenenfalls geahndet werden können. Die individuellen Freiheitsrechte werden so zu Schranken der öffentlichen Gewalt. Diesen Rechten stehen kaum noch Pflichten gegenüber. Das gilt besonders für das Eigentumsrecht. Es ist seiner ursprünglich religiös-fundierten Gemeinwohlbindung weitgehend entkleidet. Der schon in der Renaissance aufblühende Egoismus wird in höchster Vollendung kultiviert. Der Staat soll sich aus den Belangen des Einzelnen weitestgehend heraushalten. (Gemäß den Grundsätzem ungehinderter Erwerbs- und Wettbewerbsfreiheit des englischen Philosophen Adam Smith [1723-1790] wird vor allem in England eine Laissez-faire-Politik entwickelt, die die Initiative des Einzelnen fördert und den Staat auf die Bereisttellung der wirtschaftlciehn Rahmenbedingungen beschränkt.). Auch in das Verhältnis von Arheitgebern und -nehmern soll er sich nicht einmischen. .... Eigentum und Bildung sind die tragenden Säulen der bürgerlichen Schichten. Beide stehen in der Regel auf individueller Leistung. Soziale Bezugssysteme ... befinden sich nicht nur im Widerspruch zum bürgerlichen Selbstverständnis, sondern auch zum individuellen Leistungsprinzip, das zum Wettbewerb mit anderen und damit zum Verlassen der Gemeinschaft zwingt. .... Die Schwäche sozialer Bezugssysteme wirkt sich auch auf die Familie aus. .... Ehe und Familie sind eine ausschließlich private Angelegenheit. Die Fruchtbarkeit dieser bürgerlichen Familie ist vergelichsweise gering. .... Zugleich steigt ... die Produktivität der von der Industrialisierung erfaßten Bevölkerungsschichten steil an. (Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg steigt das raele Volkseinkommen in Deutschland um das Fünffache, im Vereinigten Königreich um das Vierfache und in Frankreich und Italien um das Doppelte). .... Immer breitere Scchichten der Bevölkerung leben und verhalten sich wie in früheren Perioden nur Teile des Bürgertums. Die Gesellschaft verbürgerlicht, was zugleich bedeutet, daß der Individualisierungsprozeß rasch voranschreitet. Ehe, Familie und Fruchtbarkeit bleiben hiervon nicht unberührt. Wie zuvor nur im Bürgertum sinkt die Geburtenrate weitester Bevölkerungskreise. (Vgl. Hans Linde, Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung von 1800 bis 2000, 1984, S. 84). Dadurch nimmt die Fruchtbarkeit der Gesamtbevölkerung ab. Doch wiederum steigt auch die Produktivität und mit ihr der Wohlstand breitester Schichten. Erneut zeigt sich die Verzahnung von Individualisierung, Wettbewerb, steigender Produktivität und sinkender Fruchtbarkeit. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelangen mehrere europäische Länder unter den Einfluß totalitärer und faschistischer Ideologien. .... Eines ihrer wichtigsten Ziele ist die Beendigung und Umkehr des jahrhundertelangen Individualisierungsprozesses in Europa. Das Individuum soll sich nicht mehr frei entfalten, sondern Teil einer »Volksgemeinschaft« werden, deren Interessen unbedingten Vorrang vor Individualinteressen haben. Gemeinnutz soll wieder vor Eigennutz gehen. Entsprechend werden Ehe, Familie und Fruchtbarkeit gefördert. (So werden in den 1930er Jahren z.B. in Deutschland jungverheiratete Paare mit zinslosen Darlehen unterstützt und die Darlehensschuld für jedes Kind um ein Viertel gekürzt. Kinderreiche Mütter werden mit dem »Ehrenkreuz der deutschen Mütter« ausgezeichnet. Zugleich werden die gesetzlichen Bestimmungen gegen Abtreibungen verschärft, um die Zahl der Abtreibungen, die vor 1933 in Deutschland auf jährlich 600000 bis 800000 geschätzt wird, zu senken.). Die Geburtenraten steigen auch. Ob dieser Trend angehalten hätte, ist jedoch ungewiß. denn die Dauer dieser Regime ist kurz. .... Die großen Denkrichtungen Europas ... münden im Individualismus, der - regional wiederum recht unterschiedlich - um die Mitte des 20. Jahrhunderts zur vorherrschenden Ideologie wird. .... Da (laut dieser Ideologie! Anm. HB) der Einzelne als der Gemeinschaft vorgegeben und als Träger »vor-gesellschaftlicher« Rechte angesehen wird (vgl. Günter Hartfiel, Wörterbuch der Soziologie, 1972, S. 289 *), haben seine Interessen und Bedürfnisse Vorrang vor den Interessen und Bedürfnissen der Gemeinschaft. Das gilt um so mehr, als (geglaubt wird, daß) die Gemeinschaft keine eigene Qualität hat, sondern nur die Summe Einzelner ist. Subjekt ist daher (d.h.: laut dieser Ideologie) nur der Einzelne. Folglich (d.h.: dieser Ideologie folgend) kann auch nur der Einzelne Rechte haben. Die Gemeinschaft hat (laut dieser Ideologie) nur dienende Funktion. Sie hat (laut dieser Ideologie) die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sich der Einzelne allseitig entfalten kann. Hierauf hat er (laut dieser Ideologie) einen Anspruch. Seine individuelle Entfaltung ist (laut dieser Ideologie) nicht nur sein höchstes Ziel, sondern zugleich auch Ziel der Gemeinschaft. Um die Erreichung dieses Ziels zu fördern, darf (laut dieser Ideologie) das Ich des Einzelnen dem Wir der Gemeinschaft nicht unter- oder auch nur eingeordnet werden. Diese unbedingte Vorrangstellung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft führt zur Vereinzelung, die wiederum Grundlage eines ausgeprägten Wettbewerbs zwischen den Einzelnen ist. .... Zugleich sinkt die Fruchtbarkeit dieser individualistischen Bevölkerungen so tief, daß diese ihren Bestand nicht erhalten können.“ (Ebd., S. 30-33).

* „Der politisch-anthropologische Individualismus interpretiert das Individuum als vor-gesellschaftliches Einzelwesen, als Träger verstaatlichter und vor-gesellschaftlicher Rechte (-› Grundrechte), betrachtet es als Selbstzweck und erkennt in seiner allseitigen (nur durch die Lebensrechte anderer Individuen begrenzten) Entfaltung das höchste irdische Lebensziel. Staat und Gesellschaft gelten hier lediglich als Plattform und Hilfsmittel zum Erreichen dieses Ziels.“ (Günter Hartfiel, Wörterbuch der Soziologie, 1972, S. 289).

„Der seit Jahrhunderten zu beobachtende Prozeß der Individualisierung breitet sich in den verschiedenen Regionen Europas unterschiedlich intensiv und schnell aus. Am kräftigsten wirkt er in West- und Nordeuropa (hierzu gehören: Belgien, Dänemark, Deutschland, England, Finnland, Frankreich, Irland, Island, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Schottland, Schweden, die Schweiz, Wales).“ (Ebd., S. 34).

Städte - Hochburgen der Individualisierung. - Innerhalb von Regionen ist der Grad der Individualisierung in dicht besiedelten, urbanen Räumen meßbar höher als in ländlichen Gebieten. Ggenläufig hierzu läuft die Fruchtbarkeit der Bevölkerung. Sie ist auf dem Lande höher als in der Stadt und nimmt mit wachsender Bevölkerungsdichte ab. In dieses Land-Stadt-Gefälle sind alle Schichten einbezogen. Sowohl Selbständige als auch abhängig Beschäftigte, sowohl Erwerbstätige in der Landwirtschaft als auch im verarbeitenden Gewerbe haben im allgemeinen auf dem Land mehr Kinder als in der Stadt. Dies zeigen z.B. Untersuchungen des Geburtenverhaltens in Deutschland für die 2. Hälfte der 1920er Jahre von Hans Linde. Danach ist die Geburtenrate von Selbständigen, die in Städten mit über 100000 Einwohnern wohnen, nur reichlich halb so hoch wie die Geburtenrate von Selbständigen auf dem Land. Arbeiter in der Stadt haben lediglich reichlich 60 v.H. der Geburten von nicht landwirtschaftlich tätigen Arbeitern im ländlichen Raum. (Vgl. Hans Linde, Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung von 1800 bis 2000, 1984, S. 84). An diesem traditionellen Land-Stadt-Gefälle hat sich auch in neuerer Zeit tendenziell kaum etwas geändert. zwar sind die geburtenraten überall zurückgegangen, doch ist der relative Abstand zwischen Standt und Land gleich geblieben. (Vgl. Hansjörg Bucher / Hans-Peter Gatzweiler / Irmgard Schmalenbach, Das regionale Bevölkerungsprognosenmodell der BfLR, 1984, S. 1149ff.. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Herwig Birg, demzufolge die Nettoreproduktionsrate in Hanover 1983 rund 55 v.H. der Nettoreproduktionsrate im Landkreis Borken beträgt. (Vgl. Herwig Birg, Biographische Theorie der demographischen Reproduktion, 1991, S. 150.).“ (Ebd., S. 34).

Bildung individualisiert. - Der Prozeß der Individualisierung erfaßt aber nicht nur die verschiedenen Teile Europas sowie die ländlichen und urbanen Gebiete, sondern auch gesellschaftliche Schichten mit unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit. Das wird besonders deutlich im 19. Jahrhundert, als der Individualisierungsgrad des Bürgertums wesentlich höher ist als jener anderer gesellschaftlicher Schichten. (Vgl. S. 30f.). Aber auch in früheren und späteren Epochen bestehen zwischen gesellschaftlichen Schichten mitunter markante Individualisierungsunterschiede. Dabei fällt der Zusammenhang zwischen Bildung und Individualisierung auf. Überdurchschnittlich gebildete gesellschaftliche Gruppen und Schichten neigen stärker dazu, sich gemeinschaftsbildenden und -festigenden Konformitäten zu entziehen und sich individualistischer zu verhalten als weniger gebildete Teile der Bevölkerung. Zugleich ist die Fruchtbarkeit dieser gebildeteren und sich individualistischer verhaltenden Gruppen und Schichten insgesamt niedriger als die der übrigen Bevölkerung. Ein Beispiel hierfur ist wiederum der große Fruchtbarkeitsunterschied zwischen den bürgerlichen Schichten einerseits und den adeligen, bäuerlichen und proletarischen Schichten andererseits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. (Vgl. S. 31f.). Aber auch heute noch bestehen enge Beziehungen zwischen Bildungs- und damit Individualisierungsgrad und Fruchtbarkeit. Je weiter die Individualisierung innerhalb einer Gruppe oder Schicht vorangeschritten ist, desto niedriger ist in der Regel deren Fruchtbarkeit. (Vgl. Hans Linde, Theorie der säkularen Nachwuchsbeschränkung von 1800 bis 2000, 1984, S. 84; Herwig Birg, Biographische Theorie der demographischen Reproduktion, 1991, S. 350.).“ (Ebd., S. 35).

Religionen wirken gemeinschaftsbildend . - Anders als das Frühchristentum, das erheblich zur Individualisierung beiträgt (vgl. S. 21f.), wirken die heute in Europa vorherrschenden christlichen Konfessionen eher gemeinschaftsbildend und -erhaltend. Nur so können sie auf Dauer Bestand haben. Ihr gemeinschaftserhaltender Konformitätsdruck bewirkt jedoch zugleich eine Verminderung der Individualisierung konfessionell Gebundener. Diese sind Teil einer Gemeinschaft und können als solche ihre Individualisierung nur gemeinschaftskonform verwirklichen. Die Fruchtbarkeit dieser gemeinschaftskonformen, konfessionell Gebundenen ist deutlich höher als die der konfessionell Ungebundenen, wobei die Fruchtbarkeit mit dem Grad der Gebundenheit steigt. So liegt nach Herwig Birg die durchschnittliche Kinderzahl konfessionell gebundener Frauen zu einem bestimmten Zeitpunkt etwa doppelt so hoch wie die Fruchtbarkeit konfessionell ungebundener Frauen, und die Fruchtbarkeit konfessionell stark gebundener ist reichlich ein Drittel höher als die Fruchtbarkeit schwach gebundener. (Vgl. Herwig Birg, Biographische Theorie der demographischen Reproduktion, 1991, S. 156). Besonders hoch ist die Fruchtbarkeit religiöser Gruppen, die nicht nur eine Gemeinschaftsorientierung anstreben, sondern der Gemeinschaft unbedingten Vorrang vor dem Einzelnen einräumen. Zu solchen Gruppen zählen beispielsweise die Amish und die Hutterer, die heute in den USA und Kanada religiöse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Enklaven inmitten individualistischer Bevölkerungen bilden. Die religiöse Fundierung dieser Gruppen, die im 16. Jahrhundert als bewußte Gegenbewegung zu den stark individualistisch orientierten Lehren Calvins und Zwinglis (vgl. S. 27f.) entstehen, ist ihre Überzeugung, daß der Einzelne - anders als dies die Reformatoren lehren (!) - nur in der Gemeinschaft der Gläubigen zum Heil gelangen kann. Die Gemeinschaft ist für den Heilsweg jedes einzelnen verantwortlich. Sie wird von Gott solidarisch zur Rechenschaft gezogen. Aus dieser Verantwortung der Gemeinschaft für das Heil ihrer Glieder folgt, daß sich jeder Einzelne ihr zu fügen hat. Der Einzelne muß sich der Gemeinschaft unterwerfen, wie er sich Gott unterwirft, und völlig in ihr aufgehen. Die Gemeinschaft ist ein Tempel Gottes, in dem sich der Einzelne als lebendiger Stein, gleichmäßig behauen, fugenlos einzupassen hat. (Vgl. Michael Holzach, Das vergessene Volk - Ein Jahr bei den deutschen Hutterern in Kanada, 1980, S. 85). Moralisch gut handelt deshalb nur derjenige, der keinen eigenen Willen hat und nicht sein eigener Herr sein will. (Vgl. ebd.). Dieser Vorrang der Gemeinschaft gilt aber nicht nur im Verhältnis zum Einzelnen, sondern auch zur Familie. Vor allem bei den Hutterern hat die Familie als soziales Beziehungssystem von Mann, Frau und Kindern nur untergeordnete Bedeutung. Sie wird überlagert und durchdrungen von anderen Beziehungssystemen, die eine Abkapselung der Familie gegenüber der Gemeinschaft verhindern. Das ständige Zusammensein mit Menschen, die keine Familienangehörigen sind, gehört zu den wichtigsten Grundsätzen dieser religiösen Gruppen. Um möglichen Individualisierungsneigungen vorzubeugen, darf in diesen Gruppen auch niemand seinen eigenen wirtschaftlichen Vorteil erstreben. Privateigentum ist ausgeschlossen, über die individuelle Arbeitskraft verfügt die Gemeinschaft. Jeder arbeitet da, wo ihn die Gemeinschaft am dringendsten benötigt. Entsprechend gering ist die berufliche Differenzierung. Von allen werden vielfältige Fertigkeiten erwartet und zumeist auch erbracht. (Vgl. Werner Enniger / Karl-Heinz Wandt, Zur Beziehung zwischen religiösen, sozialen und ökonomischen Faktoren in einem Old Order Amish Isolat, 1980, S. 379). Alle genießen den gleichen Lebensstandard, den die Gemeinschaft in der Regel durch sächliche Zuwendungen gewährt. Da nach Auffassung besonders der Hutterer das Erdenelend aus dem Wunsch nach Wissen und Klugheit herrührt, ist auch der Stellenwert schulischer Bildung gering. Sie soll keine eigenständig denkenden Menschen hervorbringen, sondern Menschen, die sich problemlos in die Gemeinschaft einfügen. Diese Gemeinschaft ist streng hierarchisch gegliedert. Die Jüngeren gehorchen den Älteren, die Frauen den Männern, diese den Ältesten der Gemeinschaft, die wiederum durch die Männer legitimiert werden. Diese so geordenten Gemeinschaften haben aufgrund ihrer hohen Fruchtbarkeit das schnellste Bevölkerungswachstum in der Welt. Ende der 1970er Jahre werden in einer Amishehe durchschnittlich etwa sieben Kinder geboren, in jeder zweiten Huttererehe sogar mehr als zehn Kinder. Diese Kinderzahl entspricht im allgemeinen dem Wunsch der Mutter. Anzeichen für einen Rückgang dieser hohen Fruchtbarkeit gibt es nicht, solange keine individuellen Außenkontakte bestehen. Mehren sich jedoch solche Kontakte, sinkt auch bei den Amish und Hutterern die individuelle Geburtenrate.“ (Ebd., S. 35-37).

Prominenz verhält sich individualistisch. - Der Zusammenhang zwischen hoher und niedriger Fruchtbarkeit, derin historischen und gruppenbiographischen Entwicklungen sichtbar wird, ist auch in Einzelbiographien zu beobachten. Wie eine Auswahl von 106 nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Lebensläufen prominenter europäischer Künstler, Dichter und Gelehrter (der letzten rund 2000 Jahre; Anm. HB) zeigt, führen diese - erwartungsgemäß - nicht nur einen betont individualistischen Lebenswandel. Zugleich liegt auch ihre Fruchtbarkeit im Durchschnitt bei nur knapp der Hälfte ihres jeweiligen gesellschaftlichen Umfeldes und damit erheblich unter der Bestandserhaltungsrate. Insgesamt hat dieser Personenkreis nur etwa 173 Kinder. Der gesellschaftlichen Norm hätten etwa 360 entsprochen. Dabei hat die Hälfte überhaupt keine Kinder. Nur reichlich ein Drittel hat - dem Geburtenverhalten ihrer Epoche entsprechend - drei und mehr Kinder. Das verbleibende Siebentel hat mit einem oder zwei Kindern eine deutlich unterdurchschnittliche Kinderzahl. Von der Hälfte der ausgewählten Personen, die Kinder hat, kümmert sich nur ein knappes Drittel mehr oder minder regelmäßig um diese. Ein weiteres Fünftel kümmert sich zwar um seine Kinder, fühlt sich aber dadurch in seiner eigenen Entwicklung nachhaltig beeinträchtigt. Mehr als die Hälfte kümmert sich jedoch entweder gar nicht oder nur gelegentlich um ihre Kinder. Von einigermaßen harmonischen und stabilen Eltern-Kind-Beziehungen kann also bei nur etwa einem Zehntel des insgesamt untersuchten Personenkreises ausgegangen werden. Wie die Auswertung von Lebensläufen prominenter Künstler, Dichter und Gelehrter ferner zeigt, betrachtet die Mehrheit von ihnen jedoch nicht nur Kinder und Familien als belastend, sondern auch dauerhafte Partnerschaften. Lebenslange Bindungen werden daher in vielen Fällen bewußt vermieden. Bindungslosigkeit wird als - mitunter schmerzlich empfundene - Voraussetzung für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit angesehen. Eine Alternative hierzu sind allenfalls Partner, die sich kompromißlos anpassen oder unterordnen. Gleichberechtigte Partnerschaften sind die Ausnahme.“ (Ebd., S. 37-38).

Am Ende eines weiten Wegs. - In der europäischen Ideologiengeschichte spiegelt sich ebenso wie in gruppen- und einzelbiographischen Entwicklungen die Individualisierung des Menschen im Zuge des Auf- und Ausbaus der Kulturordnung wider. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob diese Individualisierung als in der Natur des Menschen liegend gewissermaßen biologisch erfolgt oder ob sie »nicht einfach von Natur gegeben, sondern etwas aus dem biologischen Rohmaterial im Laufe eines gesellschaftlichen Prozesses Entwickeltes« ist, wie Norbert Elias meint. (Vgl. Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, 1987, S. 191). Entscheidend ist, daß in der Naturordnung der Mensch in der Gemeinschaft aufgeht und erst in der Kulturordnung seine Individualität entdeckt. Dieser Prozeß der Individualisierung verläuft nicht geradlinig. Vielmehr kommt er immer wieder zum Stillstand und erfährt auch Rückschläge. (Mit anderen Worten: er ist zyklisch, er ist wiederkehrend, er ist eine historische Konstante; vgl. hierzu z.B. Goethes Konzept der Spiraltendenz, Nietzsches Konzept der ewigen Wiederkehr, Spenglers v.a. von Goethe und Nietzsche beeinflußtes Konzept und Miegels Konzept; Anm. HB). Doch insgesamt ist die Richtung eindeutig: Zuerst sind es nur einzelne, dann kleine Gruppen, Minderheiten und Mehrheiten und schließlich ganze Bevölkerungen, die den Prozeß der Individualisierung mit allen seinen Konsequenzen durchlaufen. Der sich seiner Individualität bewußt werdende, der »erkennende« Mensch (vgl. Genesis, 3, 4-7), verläßt seine naturgegebene Gemeinschaft, die ihn sowohl begrenzt als auch beschützt, und tritt in eine zunehmend von ihm selbst geschaffene Welt ein. Diesen Schritt empfindet er zwar als Verlust des Paradieses, aber auch als unumkehrbar. (Vgl. Genesis, 3, 23f.). Teil dieser geschaffenen Welt ist die gesteuerte menschliche Fruchtbarkeit. Diese Steuerung wird um so zielstrebiger, je individualistischer der Mensch wird. .... Die Verdrängung der ... individualistischen Kultur durch weniger individualistische, »primitive« Kulturen führt zu einem erneuten Anstieg menschlicher Fruchtbarkeit. .... Gegenläufig zum Anstieg der Individualisierung - historisch, regional, schichten- und gruppenspezifisch sowie individuell - entwickelt sich die menschliche Fruchtbarkeit. Von Ausnahmen abgesehen, wo hochgradig individualisierte einzelne oder Gruppen als Ausdruck ihrer Individualität zahlreiche Kinder haben, bedeutet Individualisierung verstärkte Zuwendung zum eigenen Ich und damit auch Abwendung von anderen (Menschen; Anm. HB), einschließlich eigenen Kindern.“ (Ebd., S. 38-39).

Die individualistischen Kulturen
- Der Prozeß der Individualisierung und seine Folgen (schematische Darstellung) -
Individualisierung wird zum Selbstzweck. - Wie die Ideologiengeschichte zeigt, verselbständigt sich in Europa die Individualisierung des Menschen, die mit der Entfaltung der Kulturordnung einhergeht, und wird zum Selbstzweck. Damit verändert sie ihre Qualität. Sie ist nicht mehr nur Voraussetzung und Folge der Kulturordnung, sondern ideelle Vorgabe aller individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Als ideelle Vorgabe wird sie aktiv erstrebt. Der Mensch erkennt sich nicht nur als Individuum und nimmt sich als solches an, sondern er fördert und pflegt bewußt individuelle und zunehmend individualistische Neigungen und Verhaltensweisen. Sie erscheinen ihm im Vergleich zu gemeinschaftsorientierten höherwertig. Im Laufe der Zeit verdichten sich diese individualistischen Neigungen und Verhaltensweisen zu regional und schichtenspezifisch unterschiedlichen Kulturen, die ihrerseits im Handeln der Menschen und dessen Folgen empirisch erfaßbar werden. Dabei sind das Handeln der Menschen und dessen Folgen nicht das Ende der Wirkungskette. Vielmehr wirken beide auf Neigungen und Verhaltensweisen und möglicherweise sogar auf die dahinterstehenden geschichtlichen Entwicklungen zurück. Dadurch entstehen - wie das Schaubild in schematischer Form verdeutlicht - sich selbst verstärkende Kreisläufe, in denen geschichtliche Entwicklungen, Ideologien, Neigungen und Verhaltensweisen, Kulturen sowie das Handeln der Menschen und dessen Folgen jeweils sowohl Ursache als auch Wirkung sind. Die in diese Kreisläufe eingebetteten individualistischen Kulturen sind spezifische Erscheinungsformen der unspezifischen menschlichen Kulturordnung.“ (Ebd., S. 41).

Verstädterung verstärkt Vereinzelung. - Die Individualisierung wird weiter durch die Verstädterung gefördert. Stadtluft befreit (vgl. Paul Schütze, Die Entstehung des Rechtssatzes: Stadtluft macht frei, 1903) zu Beginn der Neuzeit nicht nur von Leibeigenschaft und Unmündigkeit, sondern auch von den Bindungen dörflicher Gemeinschaft. In der Stadt ist der Zusammenhalt der Gruppe geringer. Der Einzelne kann leichter aus ihr heraustreten. Er lebt anonymer. Damit nehmen seine individuellen Entfaltungsmöglichkeiten zu. Die Stadt bietet ... den idealen Nährboden für den Individualisierungsprozeß.“ (Ebd., S. 46).

Autorität wird abgelehnt. - ....“ (Ebd., S. 55).

Religiöse Bindungen nehmen ab. - ....“ (Ebd., S. 55-56).

Individualrechte gegen Gemeinschaftsrechte. - .... Ferner wird dem Einzelnen eine Fülle von Rechten gegenüber der Gemeinschaft eingeräumt, die in der Regel nicht mit entsprechenden Pflichten verbunden ist. Ihm wird auch ein Entscheidungsraum zugestanden, der größer ist als seine Fähigkeit, für die Folgen seiner Entscheidungen einzustehen. .... Schließlich wird in individualistischen Kulturen die Rechtsordnung, zum Beisspiel das Steuerrecht, immer weiter differenziert, um den Belangen des Einzelnen so weit wie möglich Rechnung zu tragen. Konkrete Beispiele für die fortschreitende Individualisierung der Rechtsordnung sind aus neuester Zeit die rechtliche Annäherung nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften an die Ehe sowie die in Deutschland geplante Reform des ehelichen Namensrechts und des Unterhaltsrechts zwischen Eltern und Kindern bzw. Kindern und Eltern. (Der 59. Juristentag hat vorgeschlagen, die Unterhaltspflicht von Eltern gegenüber Kindern mit deren 27. Lebensjahr enden zu lassen und die Unterhaltspflicht von Kindern gegenüber Eltren ganz abzuschaffen.) Alle diese Maßnahmen zielen darauf ab, rechtlich zwingende Organisationsformen von Gemeinschaften und deren Symbole, wie gemeinschaftliche Familiennamen, zugunsten individualistischer Gestaltungsformen aufzulösen. Der Einzelne soll durch die Rechtsordnung nach Möglichkeit nicht an eine Geminschaft gebunden werden: an einen Ehepartner, an seine Kinder, an seine Eltern oder gar sein Volk. Der Schutz seiner Individualität hat in der Rechtsordnung im Zweifel immer Vorrang.“ (Ebd., S. 57).

Zwischenmenschliche Beziehungen werden lockerer - ....“ (Ebd., S. 58-59).

Frauen und Kinder emanzipieren sich. - ....“ (Ebd., S. 59-60).

Ehe und Familie im Konflikt mit den Maximen individualistischer Kultur. - Die Maximen individualistischer Kulturen, die die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen erheblich beeinflussen, stehen im Widerspruch zur Ehe, vor allem aber zur Familie. Denn diese Institutionen sind nur insoweit voluntaristisch, als es dem Einzelnen frei steht, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen oder nicht. .... Der Konflikt zwischen individueller Freiheit und Genußstreben auf der einen und den Zwängen der Ehe auf der anderen Seite schlägt sich in nüchternen Zahlen nieder. .... Parallel zum Rückgang der Eheneigung verringert sich die Stabilität der Ehegemeinschaft.“ (Ebd., S. 60-62).

Individualistische Kulturen sind kinderarm. -Noch geringer als der Stellenwert der Ehe ist in individualistischen Kulturen der Stellenwert der Familie. .... Kinder fügen sich offenbar schlecht in individualistische Kulturen. Biologisch-kulturelle Voraussetzung ihrer Existenz und Entwicklung ist nämlich Gemeinschaft und nicht Individualität. Gemeinschaft kann jedoch in individualistischen Kulturen - logisch zwingend - nur begrenzt, vor allem aber kaum dauerhaft gewährleistet werden. In diesen Kulturen ist der Einzelne so mit der Entfaltung seiner selbst beschäftigt, daß er sich Dritten nur begrenzt zuwenden und mit ihnen dauerhafte Gemeinschaften bilden kann. Kinder zwingen jedoch zu derartigen Gemeinschaften und erschweren so eine bedingungslose Ich-Entfaltung. Deshalb sind sie in individualistischen Kulturen nur bedingt gewollt. Entsprechend wenig leiden die Kinderlosen unter ihrem Zustand. Fünf Sechstel von ihnen beschäftigen sich kaum oder auch gar nicht mit dieser Frage. Das gilt besonders, wenn sie einem interessanten Beruf nachgehen. Für ihn wird Kinderlosigkeit bereitwillig in Kauf genommen. Der Beruf, die Bevorzugung eines bestimmten Lebensstils und eine allgemein ablehnende Haltung zu Kindern sind die mit großem Abstand wichtigsten Gründe filr Kinderlosigkeit. Weit abgeschlagen folgen materielle Gründe. Die Familie kann mit Erwerbsarbeit nur schwer konkurrieren. Die Tätigkeit einer Hausfrau oder eines Hausmanns ist im Vergleich zu beruflichen Tätigkeiten filr viele wenig reizvoll. Mit »Hausfrau« verbinden sie Begriffe wie Gebundenheit, Kontaktarmut, Sackgasse oder niedriges Ansehen. Mit »Berufstätigkeit« hingegen Begriffe wie Selbstbewußtsein, Bereicherung, viele Kontakte, Zufriedenheit, hohes Ansehen und ähnliches. Diese Sichtweise hat für die Familie erhebliche Rückwirkungen. .... Im europäischen und weltweiten Vergleich scheinen westdeutsche Familien besonders starken Spannungen unterworfen zu sein.“ (Ebd., S. 62-64).

„Individualistische Kulturen zerstören sich selbst. - Bedingt durch den logisch zwingenden Gegensatz zwischen Individualismus und Kinderreichtum sinkt in individualistischen Kulturen die menschliche Fruchtbarkeit. Dies ist der eigentliche und zugleich einzige Grund für die Geburtenarmut in Ländern der individualistischen Kulturen. Weiterer Begründungen bedarf es nicht.“ (Ebd., S. 64).

„Individualistische Kulturen wirken mithin ambivalent. Einerseits fördern sie durch die Zurückdrängung der Gemeinschaft die geistig-kulturelle Entwicklung des Menschen, die tief in dessen Individuellem wurzelt. Dadurch werden nicht zuletzt wohlstandsfördende Kreativitäts- und Innovationspotentiale freigesetzt. Andererseits hemmen sie durch die Zurückdrängung der Gemeinschaft die körperlich-biologische Entwicklung des Menschen, die eben diese Gemeinschaft zur Voraussetzung hat. Dadurch wird die physische Stabilität einer Bevölkerung untergraben. (Das heißt: Weil die Gemeinschaft die Voraussetzung für jeden Einzelnen ist, kann auch nur sie verhindern, was der Individualismus in der Konsequenz bedeutet: Vereinzelung, Vereinsamung, Unfruchtbarkeit, Aussterben, Tod! Anm. HB).“ (Ebd., S. 64).

„Das aber heißt, individualistische Kulturen zerstören sich selbst. Denn entweder hält eine Bevölkerung an den Maximen solcher Kulturen fest. Dann wird sie zahlenmmäßig solange abnehmen, bis sie als Träger dieser Kultur ausfällt. Oder die Bevölkerung will ihre physische Existenz sichern. Dann muß sie die Maximen individualistischer Kulturen aufgeben. Oder ihr kulturell bedingter zahlenmäßiger Schwund wird fortwährend durch Zuwanderungen ausgeglichen. Dann wird ihre individualistische Kultur nach und nach durch weniger individualistische Kulturen verdrängt.“ (Ebd., S. 64).

„Das Ergebnis ist immer das gleiche: Die jeweilige individualistische Kultur wird früher oder später durch gemeinschaftsorientierte und damit biologisch stabilere Kulturen ersetzt. Diese Entwicklung liegt im Wesen individualistischer Kulturen. Sie ist deshalb unvermeidlich. Möglich ist allenfalls eine zeitliche Streckung dieser Entwicklung und eine Milderung ihrer Folgen.“ (Ebd., S. 64).

„Durch den von ihnen bewirkten Bevölkerungsschwund zerstören individualistische Kulturen jedoch nicht nur sich selbst. Durch eben diesen Bevölkerungsschwund wird auch die ethnische kulturelle Identität von Bevölkerungen zerstört, die individualistische Kulturen verinnerlicht haben. Diese ethnische und kulturelle Identität geht über die individualistische Kultur einer Bevölkerung hinaus, auch wenn zwischen beiden enge Wechselbeziehungen bestehen. Anders als die individualistische Kultur gehört die ethnische und kulturelle Identität einer Bevölkerung zu deren wichtigsten Seinsgründen. Sie umfaßt deren Sprache, Traditionen und Bräuche ebenso wie deren Bauwerke, Musik, Malerei oder Dichtkunst. Zwar werden alle diese Elemente von der individualistischen Kultur mehr oder minder geprägt. Doch sind sie nicht mit dieser identisch. Individualistische Kultur und kulturelle Identität sind durchaus zu trennen. Solange sie verknüpft bleiben, erfahren sie jedoch das gleiche Schicksal: Mit dem Schwund der sie verkörpenden Bevölkerungen erlöschen sie.“ (Ebd., S. 64-65).

Demographische Wirkungen der Individualisierung
„Die fünf Phasen der Bevölkerungsentwicklung. — Weitgehend abhängig vom Grad der Individualisierung kann in der bisherigen quantitativen Entwicklung der Weltbevölkerung zwischen fünf Phasen unterschieden werden. Auf eine sehr lange Phase geringen Bevölkerungswachstums folgt eine Phasen beschleunigten Bevölkerungswachstums. Diese geht über in eine Phase schnellen Bevölkerungswachstums, die ihrerseits abgelöst wird von einer Phase mäßigen Bevölkerungswachstums. Diese mündet ein in eine Phase zahlenmäßigen Bevölkerungsrückgangs. Zur Zeit befindet sich die Menschheit in jeder dieser Phasen.“ (Ebd., S. 67).

(1) Naturnahe Lebensformen - die Bevölkerung wächst nur geringfügig.“ (Ebd., S. 67).

(2) Zunehmende Individualisierung - das Bevölkerungswachstum beschleunigt sich.“ (Ebd., S. 67).

(3) Fortschreitende Individualisierung - die Bevölkerung wächst schnell.“ (Ebd., S. 68).

(4) Individualisierung der Massen - die Bevölkerung wächst nur noch mäßig.“ (Ebd., S. 80).

(5) Der Individualismus - die Bevölkerung nimmt zahlenmäßig ab.“ (Ebd., S. 84).

„In der Phase des zahlenmäßigen Bevölkerungsrückgangs ist die Naturordnung fast völlig durch individualistische Erscheinungsformen der Kulturordnung ersetzt. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist hoch. Ihr weiterer Anstieg liegt ausschließlich in fortgeschrittenem Alter. Da schon in der vorangegangenen Phase die Geburtenrate nicht mehr bestandserhaltend war, sinkt die Zahl gebärfähiger Frauen. Zugleich bleibt die Geburtenrate weiter unter der Bestandserhaltungsrate. Dadurch übersteigt die Zahl der Sterbefälle die Zahl der Geburten.“ (Ebd., S. 84).

„In der deutschen Bevölkerung übersteigt übersteigt - wie das Schaubild verdeutlicht - die Zahl der Sterbefälle die Zahl der Geburten seit Anfang der siebziger Jahre. Deutschland befände sich damit seit diesem Zeitpunkt in der Phase zahlenmäßigen Bevölkerungsrückgangs, wen der Schwund der deutschen Bevölkerung nicht durch Zuwanderer fortlaufend kompnesiert und überkompensiert würde. Nur deshalb geht die Bevölkerung in Deutschland seit Anfang der siebziger Jahre zahlenmäßig nicht zurück, sondern erhöht sich sogar.“ (Ebd., S. 84).

„Wie Schaubild A (**) ferner verdeutlicht, schwankt die jährliche Differenz zwischen Geburten und Sterbefällen der deutschen Bevölkerung beträchtlich. Im langjährigen Mittel unterschreitet die Zahl der Geburten die Zahl der Sterbefälle jedoch um beachtliche 150000 im Jahr. Dadurch nimmt die deutschen Bevölkerung von Anfang der siebziger bis Anfang der neunziger Jahre um 3 Millionen Menschen von rund 75 Millionen auf etwa 72 Millionen ab. (Wenn die deutsche Bevölkerung 1992 dennoch wieder fast 75 Millionen zählt, ist dies ausschleißlich auf die Zuwanderung deutschstämmiger Aussiedler aus Mittel- bzw. Ostmittel- und Osteuropa zurückzuführen). Das entspricht einem jährlichen Bevölkerungsschwund von durchschnittlich 0,2 v.H..“ (Ebd., S. 84).

Schaubild A Demographie                       Schaubild B Demographie

„Dieser Bevölkerungsschwund ist die Folge eines langfristigen stabilen Trends. Wie Schaubild B (**) zeigt, werden die letzten Jahrgänge, die sich in der Zahl ihrer Kinder voll ersetzen, bereits vor rund 100 Jahren geboren. Kein einziger Jahrgang, der nach 1892 geboren wird, zeugt und gebärt noch die Zahl von Kindern, die seiner eigenen Zahl entspricht. In die gleiche Richtung weist Schaubild C (**), wonach Ehen, die nach 1920 geschlossen werden, keine bestandserhaltenden Kinderzahlen mehr aufweisen.“ (Ebd., S. 84-87).

Schaubild C Demographie                       Schaubild D Demographie

„Ursächlich hierfür ist - wie Schaubild D (**) verdeutlicht - die abnehemende Zahl kinderreicher Familien. In den um 1920 geschlossenen Ehen, in denen letzmals eine bestandserhaltende Zahl von Kindern geboren wird, hatten 21 v.H. der Paare vier und mehr Kinder, 15 v.H. drei Kinder, 24 v.H. zwei Kinder, 23 v.H. ein Kind. Demgegenüber haben in den um 1970 geschlossenen Ehen nur noch 5 v.H. der Paare vier und mehr und 10 v.H. drei Kinder. 43 v.H. beschränken sich hingegen auf zwei und 27 v.H. auf ein Kind. Die Zahl der kinderlosen Paare ist mit 15 v.H. fast gleichgeblieben.“ (Ebd., S. 87).

„Seitdem hat sich das Geburtenverhalten der deutschen Bevölkerung nur wenig verändert.“ (Ebd., S. 87).

„Geburtenrate (zusammengefaßte Geburtenziffer) in Deutschland von 1871/1880 bis 1989.“ (Ebd., S. 89).
JahrDeutschlandWest nach 1945Ost (DDR) nach 1945
insgesamtDeutscheinsgesamtDeutscheinsgesamt
durchschnittliche Kinderzahl pro 1000 Frauen **
1871/18804,700    
1881/18904,680    
1891/19004,570    
1901/19104,170    
19133,890    
19202,860    
19252,470    
19311,790    
19352,080    
19402,440    
19451,430    
1950... 2,091  
1951... 2,060  
19522,137 2,071 2,399
19532,111 2,046 2,370
19542,146 2,095 2,350
19552,154 2,102 2,347
19562,221 2,198 2,303
19572,284 2,294 2,249
19582,274 2,284 2,241
19592,368 2,362 2,386
19602,353 2,360 2,328
19612,447 2,451 2,435
19622,439 2,436 2,452
19632,512 2,513 2,505
19642,538 2,537 2,542
19652,481 2,502 2,483
19662,508 2,530 2,424
19672,453 2,485 2,338
19682,360 2,377 2,297
19692,216 2,210 2,236
19702,0522,0522,0122,0102,193
19711,9631,9491,9171,8942,131
19721,7271,6901,7101,6611,796
19731,5481,4981,5411,4741,577
19741,5161,4571,5101,4321,540
19751,4721,4051,4491,3651,542
19761,4931,4461,4531,3881,637
19771,5001,4651,4021,3521,851
19781,4911,4631,3791,3341,899
19791,4881,4601,3771,3331,895
19801,5001,5221,4431,3971,942
19811,5231,4981,4341,3931,854
19821,5021,4891,4061,3801,858
19831,4281,4271,3301,3201,790
19841,3831,3881,2891,2871,735
19851,3761,3811,2801,2771,734
19861,4491,4211,3441,3391,700
19871,4451,4191,3671,3271,740
19881,468 1,411 1,670
19891,430 1,394 1,572
** „Deutschland und West/Deutsche: bezogen auf Frauen im Alter von 15 bis unter 50 Jahren;
     West insgesamt: bezogen auf Frauen im Alter von 15 bis unter 45 Jahren;
     Ost (DDR): bezogen auf Frauen im Alter von 14 bis unter 45 Jahren;
     Quellen:
     Deutschland und West/Deutsche: Statistische Bundesamt;
     Ost: Hartmut Wendt, Territorial-Analyse der Fruchtbarkeitsentwicklung in der DDR, Heft 2;
     Berechnungen des IWG Bonn.“ (Ebd., S. 89).

„Deutschland als Vorreiter.“ (Ebd., S. 93).

Folgen des zahlenmäßigen Bevölkerungsrückgangs
Die Bevölkerung vergreist und stirbt aus. - ....“ (Ebd., S. 97).

Die Zahl Auszubildender nimmt ab. - Im Bereich schulischer und beruflicher Bildung wird Bevölkerungsschwund aufgrund rückläufiger Geburtenzahlen am unmittelbarsten und schnellsten wirksam.“ (Ebd., S. 100).

Reaktionen des Arbeitsmarktes sind ungewiß. - Weniger unmittelbar und schnell als im Bereich schulischer und beruflicher Bildung wirkt Bevölkerungsschwund auf dem Arbeitsmarkt. .... Der Arbeitsmarkt hat also in der Regel genügend Zeit, um sich auf demographische Veränderungen einzustellen. Allerdings muß diese Zeit vorausschauend genutzt werden. In der Vergangenheit ist dies kaum jemals geschehen. So war geraume Zeit absehbar, daß aufgrund kriegs- und nachkriegsbedingter Ereignisse die Erwerbsfähigenquote Westdeutschlands in den sechziger Jahren deutlich zurückgehen und mit Beginn der siebziger Jahre wieder kräftig ansteigen würde. Deshalb hätte zum Beispiel das arbeitsmarktpolitische Instrument der Arbeitszeitverkürzung in den sechziger Jahren behutsam und umgekehrt in den siebziger Jahren offensiv eingesetzt werden müssen. Geschehen ist genau das Gegenteil. In den sechziger Jahren nutzten die Gewerkschaften ihre durch den Arbeitskräftemangel gestärkte Verhandlungsposition, um die Arbeitszeit zügig zu verkürzen. Die Folge war eine empfindliche Verschärfung des Arbeitskräftemangels, die zur Anwerbung von Millionen ausländischer Arbeitskräfte führte. Umgekehrt verschleppten die Arbeitgeber in den ... siebziger und ... achtziger Jahren sinnvolle Arbeitszeitverkürzungen, als sich durch die demographiebedingte Zunahme des Arbeitskräfteangebots ihre Verhandlungsposition wieder verbesserte. Dadurch vergrößerte sich der Arbeitskräfteüberschuß und mit ihm die Arbeitslosigkeit ....“ (Ebd., S. 103-104).

- Soziallastquoten in Deutschland von 1900 bis 2030* (*Vorausberechnung; vgl. Statistisches Bundesamt [Hrsg.], Statistisches Jahrbuch 1992 für die Bundesrepublik Deutschland, 1992) -

Die Soziallast steigt. - Funktions- und Leistungsfähigkeit der bestehenden Systeme der gesetzlichen Alters-, Kranken- und Pflegeversicherung sind in hohem Maße vom Altersaufbau der Bevölkerung abhängig. Je höher der Anteil der Erwerbsfähigen an der Wohnbevölkerung ist, desto leichter sind diese Systeme - bei angemessener Erwerbstätigkeit - zu finanzieren. Im umgekehrten Falle wird ihre Finanzierung zum Problem.“ (Ebd., S. 104).

„1900 standen 100 Personen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren 109 Personen gegenüber, von denen 93 jünger als 20 Jahre und 16 älter als 60 Jahre waren. 130 Jahre später, um 2030, dürfte die Soziallast insgesamt genauso hoch sein wie 1900. 100 Personen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren dürften wiederum 109 Personen gegenüberstehen, von denen jedoch nur 36 jünger als 20, aber 73 älter als 60 Jahre sein dürften. Das zahlenmäßige Verhältnis von jung zu alt dürfte sich also von 6 zu 1 um 1900 auf 1 zu 2 um 2030 verschieben.“ (Ebd., S. 106).

„Besonders hervorzuheben ist dabei der starke Anstieg des Anteils der Über-80-Jährigen. .... Bis 2030 dürfte etwa jeder Fünfte in der Gruppe der Über-60-Jährigen der Gruppe der Über-80-Jährigen angehören.“ (Ebd., S. 106).

„Das bedeutet für die sozialen Sicherungssysteme:
- Im Bereich der gesetzlichen Alterssicherung müssen ohne erneute nachhaltige Eingriffe in das bestehende System bis 2030 die relativen Lasten der jeweils Erwerbstätigen auf ungefähr das 1,7fache ihrer derzeitigen Lasten steigen, die ... Rentenversicherungsbeiträge also von derzeit rund 18 v.H. auf reichlich 30 v.H. der Bruttoarbeitsentgelte angehoben werden.
- Auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung müssen ohne tiefgreifende Veränderungen erheblich höhere Beiträge geleistet werden, da ältere Menschen einen weit überproportionalen Anteil an Krankenkosten verursachen, im bestehenden System aber nur einen unterproportionalen Anteil an diesen Kosten tragen. Über-60-Jährige belasten die gesetzliche Krankenkasse ungefähr doppelt so stark wie Versicherte im Erwerbsfähigenalter (soll heißen: 20-bis-60-Jährige), zahlen jedoch nur halb so hohe Beiträge wie diese. Ohne einschneidende Eingriffe in die gesetzliche Krankenversicherung dürfte der Beitrag von heute 13 v.H. bis zum Jahr 2030 auf über 20 v.H. des durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts steigen.
- Schließlich muß aufgrund des Anstiegs des Anteils Hochbetagter mit einer raschen Zunahme der Beiträge für die geplante Pflegeversicherung gerechnet werden.“ (Ebd., S. 106-107).

„Ob die Erwerbsfähigen bereit sein werden, diese steigenden Lasten in vollem Umfang zu tragen, ist ungewiß. Sie könnten sich ihnen zumindest teilweise entziehen. Sozialabgaben in einer Größenordnung von weit über 50 v.H. der Bruttoarbeitsentgelte dürften politisch nicht durchsetzbar und ethisch kaum vertretbar sein. Schon aus sozialpolitischen Gründen dürften mithin die sozialen Sicherungssysteme in absehbarer Zeit der Umgestaltung bedürfen. Eine Umgestaltung dürfte aber auch aus ordnungspolitischen Gründen erforderlich sein. Als Kinder- und Jugendlast ist nämlich die Soziallast in erster Linie eine Individuallast, die fast ausschließlich von den privaten Haushalten getragen wird. Als Alterslast ist sie hingegen bei der derzeitigen Organisation der Altersversorgung vor allem eine Kollektivlast, für die eine gesetzlich organisierte Versichertengemeinschaft, faktisch also der Staat, aufzukommen hat. Mit der Verlagerung der Soziallast von einer Kinder- und Jugendlast zu einer Alterslast nimmt deshalb die soziale Bedeutung des Staates fortlaufend zu, was zu folgenreichen Veränderungen im Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Individuum fuhren dürfte. Bei Fortsetzung der gegenwärtigen Organisation der Altersversorgung dürften Individuum und Gesellschaft in immer höherem Maße vom Staat abhängig werden.“ (Ebd., S. 107).

Die Wirtschaftskraft sinkt. - Die Wirkungen, die von einer zahlenmäßig schrumpfenden, alternden und zunehmend von Zuwanderern durchsetzten Bevölkerung auf den wirtschaftlichen Wachstumstrend ausgehen, sind nicht geklärt. Empirische Erfahrungen ... gibt es nicht. Die Modellannahmen der Wissenschaft sind spärlich und wenig aussagekräftig. Als gesichert kann nur angenommen werden, daß es kritische Untergrenzen der Bevölkerungsdichte und -homogenität gibt, unterhalb derer wirtschaftliches Wachstum zum Stillstand kommt oder sich auch in einen Schrumpfungsprozeß verkehrt.“ (Ebd., S. 107).

Traditionelle Vermögenswerte verfallen. - Hätte die Bevölkerung in Deutschland seit Anfang der siebziger Jahre eine bestandserhaltende Geburtenrate gehabt, müßte sie derzeit nicht nur reichlich 17 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter zwischen null und zwanzig Jahren unterhalten, sondern knapp 25 Millionen. Je nachdem, wie hoch die privaten Unterhaltungskosten von Kindern und Jugendlichen veranschlagt werden, bedeutet dies Minderaufwendungen von rund 100 Milliarden DM im Jahr. (Die durchschnittlichen Unterhaltskosten pro Kind werden 1992 auf rund 11000 DM pro Jahr und 220000 DM insgesamt veranschlagt.) Aufgrund dieser Minderaufwendungen für die Bestandserhaltung der Bevölkerung stehen zusätzliche Mittel für den Konsum von Gütern und Diensten sowie die Vermögensbildung zur Verfügung. Nicht zuletzt deshalb erfreut sich heute die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung bei vergleichsweise viel Freizeit eines hohen Konsums und einer beachtlichen Vermögensbildung. - Zur Freizeit: Mit durchschnittlich 1567 Stunden pro Jahr arbeitet der westdeutsche Arbeitnehmer im Verarbeitenden Gewerbe 1990 6 v.H. weniger als sein französischer und sogar ein Viertel weniger als sein japanischer Kollege. Zum Konsum: Mit über 23000 DM pro Jahr nimmt der westdeutsche private Pro-Kopf-Verbrauch 1992 im internationalen Vergleich eine Spitzenplatz ein. Zur Vermögensbildung: Mit knapp 13 v.H. seines verfügbaren Einkommens spart der deutsche Haushalt 1992 ein Drittel mehr als der französische und doppelt so viel wie der us-amerikanische Haushalt.“ (Ebd., S. 108-109).

„Das individuelle Wohlstandsniveau steigt weiter durch ergiebige Erbgänge, die in nächster Zeit im jahresdurchschnittlichen Volumen von etwa 100 Milliarden DM für Millionen von Deutschen anstehen. Dabei wird die Zahl der Erblasser schon bald die Zahl der Erben übersteigen, so daß sich die angesammelten Vermögen auf einen kleiner werdenden Personenkreis konzentrieren. Dies hat zur Folge, daß beispielsweise die Wohneigentumsquote sowie die Ausstattung weiter Bevölkerungskreise mit langlebigen Gütern ohne eigene Leistungen zügig zunehmen. Schließlich kann der individuelle Wohlstand in der Anfangsphase der Bevölkerungsschrumpfung, in der die Kinderlast gering und die Alterslast noch nicht drückend ist, aufgrund vergleichsweise geringer Belastungen der Bevölkerung durch die öffentliche Hand zusätzlich gemehrt werden. Denn auch die öffentliche Hand spart bei geringen Kinder- und Jugendzahlen Mittel, die sie sonst z.B. für Kindergärten, Schulen, Sporteinrichtungen und ähnliches hätte aufwenden müssen. Allerdings dürfte dieser Zustand nicht von Dauer sein. In einer fortgeschrittenen Phase des Bevölkerungsschwundes ist vielmehr mit einem zunehmenden Verfall der Vermögenswerte zu rechnen. Viele alte Menschen könnten gezwungen sein, zu beinahe jedem Preis Leistungen bei einem klein gewordenen Kreis von Erwerbsfähigen und -willigen nachzufragen. Die Übertragung einer Immobilie könnte dann beispielsweise durchaus als angemessenes Entgelt für einige Jahre der Betreuung und Pflege eines alten Menschen angesehen werden. Möglich ist ferner, daß sich in einer zahlenmäßig schrumpfenden, vor allem aber altemden Bevölkerung wirtschaftliche Prioritäten und Zielsetzungen verändern. So könnte z.B. ein stark steigendes Gesundheits- und Umweltbewußtsein dazu beitragen, daß Produktivitätssteigerungen durch erhöhten Kapitaleinsatz und/oder arbeitssparende Techniken zu ressourcen- und umweltbelastend politisch verworfen werden. Zwar könnte durch diesen Bewußtseinswandel die Umwelt möglicherweise geschont werden, zugleich wäre jedoch aufgrund der abnehmenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ein Verfall traditioneller Vermögenswerte wahrscheinlich. Insgesamt dürften sich schrumpfende und altemde Bevölkerungen darauf einzurichten haben, daß auf eine Phase vergleichsweise rascher und leichter Vermögensbildung eine Phase nicht minder raschen Vermögensverzehrs folgt. Die zahlenmäßig stagnierenden oder schrumpfenden Bevölkerungen befinden sich gegenwärtig ausnahmslos in der ersteren, vergleichsweise angenehmen Phase. Sie wird jedoch schon in wenigen Jahrzehnten durch die zweite Phase abgelöst werden.“ (Ebd., S. 109-110).

Anforderungen an die Wirtschafts- und Infrastruktur ändern sich. - ....“ (Ebd., S. 110-111).

Das internationale Wettbewerbsgefüge verschgiebt sich. - Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit beruht im wesentlichen auf der hohen Qualität seiner Güter und Dienste. Diese wiederum ist die Frucht einer bestimmte Wirtschafts- und Arbeitskultur, die sich in langen Zeiträumen entwickelt hat. (Vgl. Meinhard Miegel, Wirtschafts- und arbeitskulturelle Unterschiede in Deutschland - Zur Wirkung außerökonomischer Faktoren auf die Beschäftigung, 1991.) Daher kommt es für die künftige Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands entscheidend auf die Wirkungen an, die demographische Veränderungen auf die historsich gewachsene Wirtschafts- und Arbeitskultur haben. Gesicherte Erkenntnisse hierüber gibt es nicht. Doch dürften abnehmende Bevölkerungszahlen und steigendes Durchschnittsalter die Wirtschafts- und Arbeitskultur kaum berühren. Unklar sind hingegen die Wirkungen die von den Zuwanderern ausgehen. Möglicherweise übernehmen diese die wirtschafts- und arbeitskulturellen Einstellungen, die im Laufe vieler Generationen in Deutschland entstanden sind. Möglicherweise halten sie aber auch an den Einstellungen fest, die sich in ihren eigenen Kulturkreisen entwickelt haben. Letzteres ist um so wahrscheinlicher, je größer und geschlossener die Gruppen von Zuwanderern sind.“ (Ebd., S. 111).

Regionale Unterschiede nehmen zu - .... In den dicht besiedelten Räumen ist das Durchschnittsalter der Bevölkerung und folglich deren Sterblichkeit überdurchschnittlich hoch. Die Geburtenrate liegt hingegen bei nur reichlich 50 v.H. der Bestandserhaltungsrate. Der Wanderungssaldo der 30-bis-50-Jährigen ist negativ. Die Bevölkerung dicht besiedelter Räume nimmt daher zahlenmäßig zügig ab. In den dünn beseidelten Räumen sind demgegenüber Surchschnittsalter und Sterblichkeit deutlich geringer als in den dicht besiedelten Räumen. Auch liegt die Geburtenrate weit überdurchschnittlich bei 90 v.H. der Bestandserhaltungsrate. An sich könnte also die Bevölkerung dünn besiedelter Räume noch lange Zeit stationär sein. Doch steht dem die starke Abwanderungsneigung junger Menschen entgegen. Sie läßt die Bevölkerung dünn besiedelter Räume noch zügiger schwinden als die Bevölkerung dicht besiedelter Räume. Nutznießer dieser Binnenwanderung sind die mäßig dicht besiedelten Räume, also die Umlandregionen großer Städte und Mittelstädte. Durch diese Wanderungen wird das Geburtendefizit dieser Räume bisher noch immer mehr oder minder ausgeglichen. Ihre Bevölkerung ist daher verhältnismäßig stationär, was für geraume Zeit die Attraktivität dieser Räume gegenüber dicht und dünn besiedelten Räumen weiter erhöhen dürfte. .... In den derzeit mäßig dicht besiedelten Räumen dürften sich ... die Probleme der Bevölkerungsabnahme und -alterung erst mit einiger zeitlicher Verzögerung stellen.“ (Ebd., S. 112-113).

Gesellschaftliche Institutionen verlieren an Bedeutung. - Die wichtigste strukturelle Veränderung kinderarmer, zahlenmäßig schrumpfender und alternder Bevölkerungen dürfte der Bedeutungsverfall von Ehe und Familie sein. .... Noch um die Jahrhundertwende ist die Ehe in der Regel die juristische und gesellschaftliche Grundlegung eines Fünf- bis Sechs-Peronenhaushaltes, von dem existenzsichernde wirtschaftliche und soziale Leistungen erwartet und im allgemeinen auch erbracht werden. Zugleich ist er der wichtigste Ort der Sozialisierung. Nur ein Zehntel der Ehen ist - fast immer aus physiologischen Gründen - kinderlos und ein weieteres Zehntel hat - ebenfalls oft aus physiologischen Gründen - lediglich ein Kind. In vier von fünf Ehen werden hingegen mindestens zwei und häufig mehr Kinder großgezogen. Demgegenüber wird in jeder fünften Ehe, die in der ersten Hälfte der siebziger Jahre geschlossen wird, bislang kein Kind und in einem weiteren Drittel nir ein Kind geboren. Aus fast der Hälfte dieser Ehen sntstehen also lediglich Kleinst- und Kleinhaushalte, und nur die andere Hälfte bildet etwas größere, ausnahmsweise auch große Haushalte. Die Erwartungen an die wirtschaftlichen und sozialen Leistungen dieser Haushalte begrenzt. Jedenfalls steht die Gemeinschaft in ständiger Bereitschaft, bei den nicht seltenen wirtschaftlichen und sozialen Ausfällen der priavten Haushalte einzugreifen. Besonders deutlich ist der Bedeutungsverfall der Familie als Or der Sozialisierung. Die Sozialisierung findet zunehmend in Kindergärten, Schulen und im Beruf statt und ist der Familie weitgehend entzogen. Allerdings sind die heutigen Stätten der Sozialisierung häufig nicht ausreichend auf ihre Aufgabe vorbereitet, oder sie lehnen die Erfüllung dieser Aufgabe sogar ausdrücklich ab. Dies ist um so problematischer, als seit den siebziger Jahren ein Viertel der Kinder als Einzelkinder aufwachsen. Ihre sozialen Fähigkeiten und ihr Solidarverhalten gelten als unterdurchschnittlich, individualistische Sichtweisen hingegen als überdurchschnittlich entwickelt.“ (Ebd., S. 113-114).

„Eine absehbare Folge der Kinderarmut ist die Abnahme verwandtschaftlicher Verflechtungen. Die Zahl älterer Menschen ohne nahe Verwandte nimmt schon heute rasch zu.“ (Ebd., S. 107).

Die Abhängigkeit vom Staat wächst. - .... Aufgrund des Bedeutungsverlustes des Familienverbandes könnte der Staat zunehmend traditionelle Aufgaben der Familie übernehmen, wodurch diese weiter geschwächt werden dürfte. (Kinder für den Staat! Dem Staat könnte also im 21. Jh. endlich das gelingen, was ihm im 20. Jh. trotz großer Anstrengungen noch nicht gelungen ist! Was für ein Führerstaat! Was für ein Verführerstaat ! Anm. HB.) Auch hier könnte ein sich selbst verstärkender Kreislauf entstehen, der unter anderem zum Anstieg der Staatsquote beitragen könnte. In die gleiche Richtung dürfte die sich möglicherweise immer weiter entsolidarisiernde Gesellschaft wirken. Durch den Verfall natürlicher Solidarbindungen in der Familie und die abnehmende soziale Konditionierung der Bevvölkerung im Familienverband könnte sich der Staat gezwungen sehen, durch eigenes Handeln fehlende gesellschaftliche Solidarität zu ersetzen. Hierduch könnte eine wachsende Zahl von Menschen in unmittelbare Abhängigkeit vom Staat geraten. Ob Menschen aus dieser Abhängigkeit heraus die Träger staatlicher Funktionen noch demokratisch legitimieren und kontrollieren können, ist fraglich. Sollte dies nicht möglich sein, würde die Demokratie als politische Ordnung in Gefahr geraten. Die Demokratie als politische Ordnung könnte aber auch durch einen zunehmenden Generationenkonflikt gefährdet werden. Bis 2030 dürfte die Hälfte der Wähler älter als 55 Jahre sein und somit Interessen des alten Bevölkerungsteils vertreten. Der Durchsetzung dieser Interessen, die nicht zuletzt hohe Sozialleistungen umfassen dürften, dürfte sich die andere Hälfte der Wähler, die diese Leistungen zu erbringen hätte, mehr oder minder entschlossen entgegenstellen. Dadurch könnte der Staat zu einer politischen Gratwanderung genötigt werden, die seine Handlungsfähigkeit beträchtlich einschränkt. Die Folge dieser beschränkten Handlungsfähigkeit könnte eine wachsende Verdrossenheit der bevölkerung mit der politischen Ordnung insgesamt sein.“ (Ebd., S. 114-115).

Bevölkerungspolitische Optionen
Beste Bevölkerungsentwicklung für Deutschland (1989)
Antwortin v.H.
Zunahme am besten
Abnahme am besten
Status quo am besten
Summe
    37
      9
    54
  100
Sample*2614
* Nur West-Deutschland
Folgen der Verringerung der Geburtenzahl (1989)
Antwortin v.H.
Eher positive Folgen
Eher negative Folgen
Wohl keine Folgen
Summe
      9
    69
    22
  100
Sample*2780
* Nur West-Deutschland
Viele Ausländer in Deutschland (1992)
Antwortin v.H.
 West-DeutscheOst-Deutsche
finden in Ordnung
finden nicht in Ordnung
weiß nicht
Summe
   47
   53
     -
  100
   46
   51
     3
  100
Sample26142614
Regelung der Zuzugsmöglichkeiten (1992)
 von EG-
Arbeitnehmern
von Nicht-EG-
Arbeitnehmern
von
Asylanten
AntwortW in v.H.O in v.H.W in v.H.O in v.H.W in v.H.= in v.H.
keine Einschränkung
mit Einschränkungen
völlige Unterbindung
Summe
    35
    56
      9
  100
    13
    63
    24
  100
    10
    62
    28
  100
     6
    58
    36
  100
    13
    63
    24
  100
    15
    67
    18
  100
Sample: je ca. 2000 in West-Deutschland (W) und Ost-Deutschland (O)
Der Bürger hat die Wahl. - .... Repräsentativen Umfragen zufolge begrüßt nur knapp ein Zehntel (des deutschen Volkes; Anm. HB) einen möglichen Rückgang der Bevölkerungszahl Deutschlands. Rund die Hälfte wünscht hingegen keine zahlenmäßigen Veränderungen, während knapp ein Fünftel sogar ein weiteres Wachstum der Bevölkerung für erstrebenswert halten. Über zwei Drittel der Bevölkerung erwarten den gleichen Umfragen zufolge von einem Geburtenrückgang mehr Nachteile als Vorteile. Für nur rund ein Fünftel halten sich Vor- und Nachteile eines Geburtenrückgangs die Waage. Und wiederum nur knapp ein Zehntel vermag in einem Rückgang der Geburten in Deutschland eher Vor- als Nachteile zu erkennen. Ähnlich eindeutig sind die Antworten auf die Frage nach einem Anstieg des Zuwandereranteils. Mehr als die Hälfte hält den Zuwandereranteil bereits jetzt für zu hoch. (Vgl. IPOS, 1992, S. 80). Die Deutschen vertreten damit die gleiche Einstellung wie der Durchschnitt der EG-Bürger. (Vgl. Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen [ZUMA], 1993, S. 1.) Neun Zehntel wollen den weiteren Zuzug von Nicht-EG-Arbeitnehmern, sieben Zehntel auch von EG-Arbeitnehmern unterbinden oder einschränken.“ (Ebd., S. 119).

„Das stellt die Politik vor einzigartige Herausforderungen. Um diese bewältigen zu können, müssen die Bevölkerungen von Ländern wie Deutschland erkennen, daß aufgrund ihrer individualistischen Kulturen ihre physische Existenz und damit auch ihre ethnische und kulturelle Identität gefährdet sind. Politik und Wissenschaft müssen dieses Bewußtsein wecken, damit die Bevölkerungen entscheiden können (vorausgesetzt, daß ein Parteienstaat wie der unsrige ein wenig Demokratie erlaubt! Anm. HB), ob sie
auf die Maximen individualistischer Kultur verzichten wollen, um so ihre physische Existenz und mit ihr einen Teil ihrer kulturellen Identität zu sichern, *
oder
an den Maximen individualistischer Kultur festhalten und nur deren demographische Folgen mildern wollen, indem sie nach Möglichkeit
die Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung erhöhen und/oder
Zuwanderer umfassend integrieren (oder keine Zuwanderer mehr zulassen, ja vielleicht sogar eine Rückwanderung früherer Zuwanderer betreiben ! Anm. HB) und/oder
Vorbereitungen für eine zahlenmäß abnehmende und alternde Bevölkerung treffen
oder
an den Maximen individualistischer Kultur festhalten und möglichst nichts unternehmen wollen.
Noch stehen der Bevölkerung Deutschlands alle diese Optionen offen. (Ja, wirklich ?  Es ist doch wohl eher so, daß unser Parteienstaat mit all seinen diktatorischen Mitteln die Demokratie weiterhin verbietet! Anm. HB.) Die bevölkerungspolitischen Gestaltungsräume verengen sich jedoch mit wachsender Geschwindigkeit. Entscheidungen können deshalb nicht beliebig hinausgeschoben werden.“ (Ebd., S. 120).

* Bei einem Verzicht auf die Maximen individualistischer Kulturen kann nur ein Teil der kulturellen Identität gewahrt werden, weil zu dieser eben auch die individualistische Kultur gehört.

„Gemeinschaftsbezogen handeln. - Der Verzicht auf die Maximen individualistischer Kultur oder zumindest deren nachhaltige Einschränkung und die Hinwendung zu einer gemeinschaftsorientierten Kultur dürften die Geburtenrate in Ländern mit individualistischen Kulturen - auf welchem Niveau auch immer - am ehesten wieder auf eine bestandserhaltende Höhe steigen lassen, so daß die physische Existenz der Bevölkerung und deren ethnische und kulturelle Identität gesichert wären. Im Mittelpunkt dieser Umorientierung stünde die Neubestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft. Das Individuuum wäre der Gemeinschaft nicht mehr über-, sondern gleichgeordnet, wobei im Konfliktfall seine Interessen denen der Gemeinschaft sogar nachgeordnet wären. Die Rechte des Individuums müßten im Vergleich zu individualistischen Kulturen ab-, die der Gemeinschaft zunehmen. Der Grad individualistischer Emanzipation von der Gemeinschaft würde erheblich vermindert. Gemeinwohlorientierung und gemeinschaftsverträgliches Handeln und nicht individuelle Freiheit und Unabhängigkeit wären das individuelle und gesellschaftliche Leitbild. Die Maßstäbe sittlichen Handelns setzte nicht mehr der Einzelne weitgehend selbst, sondern sie würden von der Gemeinschaft - vom Familienverband bis hin zum Staat - gesetzt werden. Anders als in individualistischen Kulturen wären diese Gemeinschaften recht hierarchisch und autoritär. Ehe und Familie nähmen in der Rechtsordnung, mehr aber noch im Bewußtsein des Einzelnen und der Gemeinschaft einen hohen Rang ein. Das Handeln des Einzelnen wäre in erheblichem Maße von Familien- und Gemeinschaftsinteressen bestimmt. Entsprechend hoch wäre der Stellenwert von Kindern. Sie hätten einen gesellschaftlichen, vor allem aber kulturellen Wert und würden unabhängig von wirtschaftlichen Erwägungen wesentlich zur Lebensqualität des Einzelnen und der Gemeinschaft beitragen. Im Bildungswesen wäre das vorrangige Ziel die Eingliederung des Einzelnen in die Gemeinschaft und nicht dessen individuelle Entfaltung. Die schulische und berufliche Qualifikation würde mehr von den Bedürfnissen der Gemeinschaft und weniger von den Neigungen des Einzelnen geleitet. Das würde auch für die Kommunikation und Information gelten. Sie müßten gemeinschaftsfördernd sein. Gemeinschaftsunabhängige Informations- und Kommunikationsformen würden zugunsten unmittelbarer, zwischenmenschlicher Kommunikation an Bedeutung einbüßen. Die Bedingungen für die Mehrung materiellen Wohlstands würden sich verschlechtern. Das in die Gemeinschaft eingebundene Individuum würde weniger gefordert, im Wettbewerb mit anderen seine individuellen Kreativitäts- und Innovationspotentiale zu entfalten. Einen gewissen Ausgleich hierfür könnte allenfalls der erneute zahlenmäßige Anstieg des jungen kreativen Bevölkerungsteils bieten. Insgesamt dürfte jedoch die internationale Wettbewerbsposition beeinträchtigt werden, was zu Wohlstandseinbußen führen würde. Allerdings könnte diesen Einbußen durch sparsamere Formen des Konsums begegnet werden. Denn in gemeinschaftsorientierten Kulturen können zahlreiche Güter und Dienste, die in individualistischen Kulturen jeweils nur einer nutzen kann, problemlos von mehreren genutzt werden. Darüber hinaus würden mit sinkender Bedeutung materiellen Wohlstands im individuellen und kollektiven Wertgefüge objektive Wohlstandseinbußen subjektiv weniger einschneidend empfunden werden. .... Das Leben in der Gemeinschaft würde für den Einzelnen überschaubarer sein als in individualistischen Kulturen und ihm ein erhebliches Maß an Sicherheit geben. Er könnte sich weniger verletzlich fühlen und deshalb auch weniger Angst vor der Zukunft haben. Seine Lebesngrundlagen könnten ihm in gemeinschaftsorientierten Kulturen stabiler erscheinen als in individualistischen.“ (Ebd., S. 120-122).

„Mehr Kinder haben. - In fast allen individualistischen Kulturen bemühen sich Staat, Kirchen und ähnliche Institutionen, (manche nur angeblich, andere vorgeblich, jedenfalls fast alle vergeblich; Anm. HB) die Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung zu heben oder zumindest nicht weiter sinken zu lassen. Deshalb haben sie Maßnahmen ergriffen, die darauf abzielen, Eltern trotz ihrer Kinder ein hohes Maß individualistischer Lebensführung zu ermöglichen. Die Maßnahmen sollen gewährleisten, daß Kinder die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten ihrer Eltern möglichst wenig beeinträchtigen und sie insbesondere nicht zu eng in die Familie einbinden. Dadurch soll die Bereitschaft des Einzelnen gefördert werden, auch unter den Bedingungen individualistischer Kultur eine Familie zu gründen und Kinder zu haben. Mit diesem Ziel werden
die Familie teilweise durch Staat und ähnliche Institutionen ersetzt,
die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit verbessert,
die finanziellen Lasten von Kindern für deren Eltern vermindert.
Um in individualistischen Kulturen die verminderte soziale Bereitschaft von Familien, Nachbarschaften und dergleichen auszugleichen, gibt es in fast allen hochindustrialisierten Ländern staatliche, halbstaatliche und private Familiensubstitute ....“  (Ebd., S. 123).

„Insgesamt sind die Erfolge der Maßnahmen, die in individualistischen Kulturen zur Hebung oder zumindest Stabilisierung der Geburtenraten wirksam sind, bescheiden (und das ist noch harmlos ausgedrückt; Anm. HB). Nirgendwo gelingt es, mit Hilfe dieser Maßnahmen bestandserhaltende Geburtenraten zu erreichen. Die Hoffnung, diesen Befund durch den Ausbau dieser Maßnahmen nachhaltig bessern zu können, dürfte trügerisch sein (was nicht heißt und auch nicht heißen darf, daß man es auch gar nicht mehr versuchen sollte; Anm. HB).“ (Ebd., S. 126).

„Um zum Beispiel die deutsche Bevölkerung auf ihrem gegenwärtigen Stand zu halten, müßte die demnächst zeugungs- und geburtsfähige Generation nicht nur sich selbst zahlenmäßig ersetzen, sondern auch das Geburtendefizit seit Anfang der siebziger Jahre ausgleichen. Dazu müßte sie zum Beispiel zu einem Geburtenverhalten wie vor dem Ersten Weltkrieg zurückkehren. Damals hatte ein Drittel der zeugungs- und gebärfähigen Paare fünf und mehr Kinder, und jeweils rund ein Fünftel ein, zwei bzw. drei Kinder.“ (Ebd., S. 126).

„Offenbar beeinflussen die Finanzleistungen des Staates das Geburtenverhalten weniger stark als zum Beispiel intakte Familienverbände (und genau die gehen im abendländischen Kulturkreis immer weiter unter; Anm. HB).“ (Ebd., S. 127).

„Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, daß in individualistischen Kulturen der weitere Ausbau scheinbar familienfreundlicher Maßnahmen auf Dauer kontraproduktiv wirkt. Denn durch diesen Ausbau könnte die ohnehin bestehende Neigung der Individuen, sich immer individualistischer zu verhalten, weiter gefördert und dadurch die Auflösung von Gemeinschaften noch beschleunigt werden.“ (Ebd., S. 127).

Zuwanderer umfassend integrieren. -“  (Ebd., S. 128).

Auf eine zahlenmäßig abnehmende und alternde Bevölkerung vorbereiten. -“  (Ebd., S. 131).

Erwachsenenbildung ausbauen. -“  (Ebd., S. 132).

Erwerbstätigkeit und Produktivität steigern. -“  (Ebd., S. 133).

Private Vorsorge verbessern. -“  (Ebd., S. 134).

„Jugend- und Altersphase an die Lebenserwartung anpassen. - .... Eine solche dynamische Anpasung dürfte nicht nur lebensnäher sein als die derzeit vorherrschende statische Sichtweise. Zugleich nähme durch die Verlängerung der Jugend- und das Hinausschieben der Altersphase der Anteil junger Menschen an der Bevölkerung wesentlich langsamer ab und der Anteil alter Menschen langsamer zu.“ (Ebd., S. 136).

„Werden das Ende der Jugend- und der Beginn der Altersphase in dieser Weise an die Entwicklung der Lebenserwartung angepaßt, ist das zahlenmäßige Verhältnis von Jungen und Alten deutlich ausgewogener und seine Entwicklung wesentlich gleichförmiger als bei der üblichen statischen Sichtweise.“ (Ebd., S. 136).

- Modifizierte Soziallastquoten der Bevölkerung in Deutschland von 1900 bis 2030* (*Vorausberechnung; vgl. Statistisches Bundesamt [Hrsg.], Statistisches Jahrbuch 1992 für die Bundesrepublik Deutschland, 1992) -

„Besonders folgenreich wäre diese dynamische Anpassung für den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme. Auch 2030 wäre der Erwerbsfähigenanteil, der sich bei statischer Sichtweise erheblich verringert, nur wenig anders als heute. Allerdings wären diese Erwerbsfähigen im statistischen Mittel recht alt. Die Bedingungen des Arbeitsmarktes müßten also auch bei einer dynamischen Anpassung der Altersstruktur erheblich verändert werden. Aufgrund des sich nur wenig verändernden Erwerbsfähigenanteils steigen auch die Soziallasten nur mäßig. Laut Schaubild ist die Gesamtzahl von Jungen (Unter-20-J.; Anm. HB) und Alten (Über-60-J.; Anm. HB) zu keinem Zeitpunkt größer als die Zahl der Erwerbsfähigen (20-bis-60-J.; Anm. HB). Selbst um 2030 ist die Soziallast bei einer dynamischen Anpassung der Altersstruktur nur reichlich halb so hoch wie bei statischer Sichtweise. Dadurch, daß die Zahl junger Menschen immer weit höher bleibt als die Zahl alter Menschen, wird auch die Soziallast in geringerem Umfang kollektiviert und mithin die Rolle des Staates weniger tiefgreifend verändert. Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß die Bevölkerung - entsprechend der Zunahme ihrer Lebenserwartung und der sich mit ihr ändernden objektiven und subjektiven Lebensbedingungen - schrittweise für einen länger werdenden Zeitraum individuelle Verantwortung für sich übernimmt.“ (Ebd., S. 136-139).

Maßnahmen zur Milderung der demographischen Folgen individualistischer Kulturen verbinden. - Jedes der Maßnahmenbündel zur Milderung der demographischen Folgen individualistischer Kulturen hat seine spezifischen Stärken und Schwächen. Keines von ihnen ist leicht zu verwirklichen. Auch dürfte keines allein ausreichen, das angestrebte Ziel zu erreichen. Vielmehr dürfte es erforderlich sein, alle ... Optionen miteinander zu verknüpfen, das heißt die Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung ... zu erhöhen und gleichzeitig trotz Anpassung der Altersphasen an die Entwicklung der Lebenserwartung Vorbereitungen auf eine zahlenmäßig abnehmende und alternde Bevölkerung zu treffen. Dies dürfte die wirklichkeitsnäheste und deshalb vermutlich erfolgsversprechendste Bevölkerungspolitik im Rahmen einer individualistischen Kultur sein.“ (Ebd., S. 139).

„Einfach ist allerdings auch dieser Weg nicht zu gehen. Selbst wenn die Bevölkerung im großen und ganzen an der von ihr verinnerlichten individualistischen Kultur festhalten kann, muß sie sich in vielen Bereichen radikal vom gewohnten abwenden.“ (Ebd., S. 139-140).

Wenn nichts geschieht. - Sollte die Bevölkerung bewußt und in Kenntnis der Folgen an den Maximen individualistischer Kultur festhalten und zugleich nicht bereit sind, Maßnahmen zur Milderung dieser Folgen zu ergreifen, dürfte es erhebliche Schwierigkeiten bereiten, sie politisch vorausschauend von diesem Kurs abzubringen. .... Möglicherweise ändert die Bevölkerung ihre Einstellung erst, wenn sich aufgrund ihrer zahlenmäßigen Abnahme, ihrer Überalterung und des zahlenmäßigen Anstiegs nicht integrierter Zuwanderer ihre Lebensbedingungen drastisch verschlechtern. Ob dann allerdings noch Korrekturen des demographischen Gefüges möglich sind, ist ungewiß. .... Sollten demographische Korrekturen nicht mehr möglich sein, würde die ethnische und kulturelle Identität dieser Bevölkerung erlöschen. Ohne Veränderung der derzeitigen Trends dürfte dieser Zeitpunkt in etwa einem Jahrhundert erreicht sein.“ (Ebd., S. 140).

Fazit: Das große Dilemma
„Nicht weniger beschwerlich als diese Veränderungen hinzunehmen sind die Bemühungen, sie abzuwenden. Denn ihre Ursache, der Rückgang der Geburtenrate unter das bestandserhaltende Niveau, ist ... Wesensbestandteil hochindustrialisierter Länder. Dieser Rückgang der Geburtenrate und die durch ihn bewirkte existentielle Gefährdung der Bevölkerung entspringen derselben Quelle wie die hohe wirtschaftliche und kulturelle Produktivität dieser Länder und der aus ihr erwachsende materielle und immaterielle Wohlstand. Geburtenarmut, Hochindustrialisierung und vieles andere sind Erscheinungsformen ein und desselben: einer spezifischen Kultur - individualistischer Kultur.“ (Ebd., S. 142).

„Diese individualistische Kultur ist ... die einzige und alles erklärende Ursache für die Geburtenarmut dieser Länder .... Weitere Ursachen gibt es in diesen Ländern nicht. Die Verfasser (Meinhard Miegel und Stefanie Wahl; Anm. HB) widersprechen damit ausdrücklich der derzeit in der Wissenschaft mehrheitlich vertretenen Auffassung, die Geburtenarmut hochindustrialisierter Länder sei nur mit einer Vielzahl von Ursachen wie der Industrialisierung, der Verstädterung, der Emanzipation der Frau, wirtschaftlichen Erwägungen und anderem mehr zu erklären (s. Anhang, S. 150ff.). Diese angeblichen Ursachen sind nach Auffassung der Verfasser nichts anderes als weitere Erscheinungsformen individualistischer Kulturen, die die Geburtenarmut hochindustrialisierter Länder nicht erklären, sondern mit dieser auf einer Stufe stehen.“ (Ebd., S. 142).

„Individualistische Kulturen sind mittelbar das Ergebnis geschichtlicher Entwicklungen. .... Trotz vielfältiger Hemmnisse treibt und drängt alles in der europäischen Geistesgeschichte zur Emanzipation des Individuums, zu individueller Freiheit und Unabhängigkeit, zu individueller Entafltung und Selbstverwirklichung.“ (Ebd., S. 142).

„Diese individualistischen Ideologien prägen die Neigungen und Verhaltensweisen von Individuen und Gemeinwesen und durchdringen deren Selbstverständnis sowie deren Verständnis von gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen. Die individualistischen Neigungen und Verhaltensweisen wiederum beeinflussen das Handeln der Menschen und zeitigen bestimmte Folgen. (Vgl. Schaubild). Bildung, Kommunikation und Information, Erwerbsarbeit und materieller Wohlstand, Siedlungsstrukturen und gesellschaftliche Ordnungen, von der Religion über die Politik bis zum Recht, werden in den Dienst des Einzelnen und seiner Selbstverwirklichung gestellt. Das Individuum und seine Bedürfnisse sind der allein verbindliche Maßstab. An ihm hat sich alles auszurichten.“ (Ebd., S. 142-143).

„Diese Individualisierung erlaubt nicht nur, sondern zwingt den Einzelnen geradezu, aus der Gemeinschaft heraus und in den Wettbewerb mit anderen zu treten. Einerseits fördert das die Entfaltung seiner kreativen und innovativen Potentiale. .... Andererseits lockern sich jedoch zwischenmenschliche Beziehungen. Gemeinschaften lösen sich auf. Gesellschaftliche Institutionen zerbrechen. .... Denn da in diesen Kulturen alles im Dienste des Einzelnen steht, kann er Gemeinschaften nicht ein- oder gar untergeordnet sein. .... Individuen wollen Gemeinschaft nur, wenn sie ihnen bei der Verwirklichung ihrer individualistischen Ziele nutzt. Nutzt sie ihnen nicht mehr oder behindert sie gar, wollen Individuen sie nicht mehr. Damit verliert die Gemeinschaft ihren Seinsgrund. Gemeinschaften sind in individualistischen Kulturen voluntaristisch. Bestimmte Gemeinschaften sperren sich allerdings gegen diesen Voluntarismus. Die wichtigste von ihnen ist die Gemeinschaft von Eltern und Kindern. Zwar steht es Eltern frei, diese Gemeinschaft zu zeugen. Haben sie sie aber gezeugt, können sie sie - gleichgültig ob sie ihnen nützlich ist oder hinderlich ist - nur unter Beschädigung ihrer selbst, vor allem aber ihrer Kinder beenden. Damit sind Familien nur bedingt voluntaristisch, oder umgekehrt, sie sind in gewisser Weise Zwangsgemeinschaften, die als solche in Widerspruch zu den Maximen indivdualistischer Kultur stehen. Die einsichtige Folge: Gemeinschaften mit Kindern werden in individualistischen Kulturen gemieden, es sei denn, sie entsprechen den individualistischen Neigungen von Einzelnen. Das aber ist - wie alle Empirie zeigt - nicht die Regel. Nur Minderheiten verhalten sich in individualistischen Kulturen heute so, daß der Bestand der Bevölkerung gewährleistet ist. Viele haben kein oder allenfalls ein Kind. Deshalb sind individualistische Kulturen insgesamt unfruchtbar oder richtiger: Ihre Fruchtbarkeit ist janusköpfig. Ihrer großen kulturellen, insbesondere wirtschaftskulturellen Stärke steht eine große biologische Schwäche gegenüber. .... Durch die Auflösung von Gemeinschaft sinkt in individualistischen Kulturen die menschliche Fruchtbarkeit. Der kulturell hochgradig entfaltenen Bevölkerung droht so der Verlust ihrer physischen Existenz.“ (Ebd., S. 143-144).

„Aufgrund der Ungleichzeitigkeit der zahlenmäßigen Bevölkerungsentwicklung können nämlich in absehbarer Zukunft ganze Kulturen zerstört werden - das Dilemma hochindustrialisierter Länder.“ (Ebd., S. 144).

„In Anbetracht dieser Entwicklungen haben die Bevölkerungen hochindustrialisierter folgende Optionen:
Sie können die Maximen individualistischer Kultur aufgeben und sich gemeinschaftsorientierten Kulturformen zuwenden. Dann dürfte ihre Geburtenrate wieder steigen und wahrscheinlich auch ein bestandserhaltendes Niveau erreichen.
Sie können an den Maximen individualistischer Kultur festhalten und versuchen, deren demographische Folgen zu mildern. Dazu müßten sie die Geburtenrate wenigstens mäßig erhöhen ... und sich gleichzeitig auf eine zahlenmäßig abnehmende und alternde Bevölkerung einrichten. Auf diese Weise könnten sie die demographischen Verwerfungen und die Gefährdung ihrer kulturellen Identität noch einige Generationen lang meistern.
Sie können an den Maximen individualistischer Kultur festhalten und Versuche unterlassen, deren demographische Folgen zu mildern. Dann dürften voraussichtlich rasch wachsende Bevölkerungsverluste durch ebenso rasch wachsende Zuwandererzahlen quantitativ ausgeglichen, ihre ethnische und kulturelle Identität jedoch früher oder später marginalisiert werden und erlöschen.
Alle diese Optionen verlangen den Bevölkerungen hochindustrialisierter Länder mit Deutschland an der Spitze erhebliche Opfer ab. Unübersehbar befinden sich diese Länder in einer demographischen Zwickmühle. Ihr zu entkommen ist schwierig. Soll dies überhaupt gelingen, muß Bevölkerungspolitik künftig einen hohen Rang einnehmen. Dies gilt besonders für Deutschland.“  (Ebd., S. 144-145).

Anhang:
 – Instrumente der Steuerung des Geburtenverhaltens (S. 147-149)
 – Überblick über die wichtigsten Bevölkerungstheorien (S. 150-160)

Instrumente der Steuerung des Geburtenverhaltens
„Ähnlich wie die Ziele sind die Instrumente der Steuerung des generativen Verhaltens im Zeitablauf, regional, aber auch von Individuum zu Individuum unterschiedlich. Dabei kann grundsätzlich zwischen zwei Gruppen unterschieden werden: biologischen und gesellschaftlichen Steuerungsinstrumenten.“ (Ebd., S. 147).

Zu den biologischen (und also auch: biopolitischen; Anm. HB) Steuerungsinstrumenten gehören
- Sexuelle Enthaltsamkeit
„Vor der Verbreitung künstlicher Methoden der Empflingnisverhütung ist sexuelle Enthaltsamkeit ein wichtiges Instrument der Geburtenbeschränkung. Selbst innerhalb der Ehe werden beispielsweise im mittelalterlichen Europa von der Kirche lange Perioden der Enthaltsamkeit empfohlen und wohl auch eingehalten. (So fordert die Kirche eheliche Entahltsamkeit in der ersten oder in den ersten drei Nächten nach der Trauung, während der Advents. und fastenzeit, in den zwei wochen vor un der Woche nach Pfingsten, an den als Bußtagen geltenden Wochentagen Mittwoch und Freitag sowie in den Nächten vor Sonn- und hohen Feiertagen. (Vgl. Edith Ennen, Frauen im Mittelalter, 1984.) Menschen, die freiwillig enthaltsam leben, genießen bis heute in vielen Kulturen besondere Hochachtung.“ (Ebd., S. 147).

- Stillzeiten
„Vor allem in naturnahen Bevölkerungen wird die Unfruchtbarkeit der Frau während der Stillphase eines Kindes als Instrument zur Vermeidung von Schwangerschaften genutzt, indem diese Phase solange wie möglich ausgedehnt wird. Auf diese Weise können Schwangerschaften bis zu einigen Jahren vermieden werden. (Vgl. Arthur Imhof, Einführung in die Historische Demographie, 1981, S. 179f.) Mitunter wird während der Stillphase noch zusatzlich sexuelle Enthaltsamkeit geübt.“ (Ebd., S. 147).

- Empfängnisverhütung
„Natürliche und künstliche Methoden der Empflingnisverhütung sind seit langem bekannt. Erst seit der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts sind jedoch künstliche Methoden der Empfängnisverhütung recht zuverlässig wirksam, verhältnismäßig problemlos anwendbar und gesellschaftlich weitgehend akzeptabel. (Hierbei handelt es sich in erster Linie um um hormonale Kontrazeptiva, z.B. Antibabypille). Dies hat zu ihrer weiten Verbreitung geführt. Künstliche Methoden der Empängnisverhütung sind heute das wichtigste Instrument zur Steuerung des generativen Verhaltens. Einer Umfrage von 1992 zufolge sind 69 v.H. der westdeutschen Frauen der Auffasung, daß es heute genügend wirksame Verhütungsmöglichkeiten gibt. Unter den verschiednen künstlichen Verhütungsmitteln wird die Antibabypille mit Abstand am »positivsten« (Anführungszeichen von mir: HB) beurteilt. (Vgl. Allensbacher Institut für Demoskopie).“ (Ebd., S. 147).

- Abtreibung
„Auch die Abtreibung ist seit langem eine Methode zur Beschränkung der Geburtenzahl. Allerdings stellt sie bis heute nicht nur einen erheblichen medizinischen Eingriff dar. Sie wird von der Gesellschaft auch immer noch ethisch und moralisch sehr unterschiedlich bewertet. Die Bewertungen erstrecken sich von ihrer weitgehenden Tolerierung bis zu ihrem völligen Verbot. Dennoch wird Abtreibung verbreitet praktiziert. 1991 wurden in Westdeutschland rund 750000 legale Abtreibungen vorgenommen. In der ehemaligen DDR war 1989 die Zahl gemessen an der Bevölkerung fast viermal so hoch. (Vgl. Statistisches Budesamt, Statistisches Jahrbuch 1992 für die Bundesrepublik Deutschland, 1992, S, 452).“ (Ebd., S. 147).

- Kindestötung
„Obgleich die Tötung von Neugeborenen kein eigentliches Instrument der Steuerung generativen Verhaltens ist, spielt sie in früheren Epochen und in sehr naturnahen Bevölkerungen zum Teil auch noch heute eine gewisse Rolle bei der Beschränkung der individuellen Kinderzahl und einer bestimmten Population. Insoweit muß auch die Kindestötung als eine zwar extreme und sehr archaische, aber dennoch als eine Form der Kontrolle menschlicher Fruchtbarkeit angesehen werden.“ (Ebd., S. 147).

Zu den gesellschaftlichen (und also auch: gesellschaftspolitischen; Anm. HB) Steuerungsinstrumenten gehören
- Diskrepanz zwischen natürlicher und gesellschaftlich akzeptierter Zeugungs- und Gebärphase
In den meisten Bevölkerungen ist die gesellschaftlich akzeptierte Zeugungs- und Gebärphase deutlich kürzer als die natürliche. Oft ist der Höhepunkt natürlicher Fruchtbarkeit bereits überschritten, wenn Zeugen und Gebären gesellschaftlich akzeptiert werden. Dies zeigt der langfristige und regional differenzierte Vergleich von natürlicher Fruchtbarkeit und den Zeitpunkten der Geburten im Lebenszyklus von Frauen. In hochindustrialisierten Ländern ist die Diskrepanz zwischen der Phase natürlicher Fruchtbarkeit und der Gebärphase von Frauen besonders groß. Während die Phase natürlicher Fruchtbarkeit in den letzten 100 jahren von 19 auf 39 Jahre gestiegen sit, ist die Gebärphase von durchschnittlich 11,8 auf 4,5 Jahre zurückgegangen. Damit erstreckt sich die Gebärphase heute (1993) nur noch auf 11,5 v.H. der fruchtbaren Phase gegenüber 40,7 v.H. vor 100 Jahren. (Vgl. Arthur Imhof, Einführung in die Historische Demographie, 1981, S. 165ff.).“ (Ebd., S. 148).

- Diskriminierung lediger Eltern und ihrer Kinder
In vielen Gesellschaften werden ledige Mutter - seltener auch ledige Väter - und ihre Kinder gesellschaftlich wirksam diskriminiert. Diese Diskriminierung zielt darauf ab, Kinder möglichst nur innerhalb einer Ehe zu gebären. Nichtverheiratete sollen davon abgehalten werden, Kinder zu haben. Erst in neuerer Zeit ist in Deutschland wie in anderen hochindustrialisierten Ländern die Zahl nichtehelich Geborener angestiegen. 1990 wurden in Deutschland rund 140000 Kinder, das sind 15,5 v.H. aller Lebendgeborenen, von ledigen Müttern geboren.“ (Ebd., S. 148).

- Einwirkungen auf die Ehe
Zwar dienen gesellschaftliche Einwirkungen auf die Ehe nicht nur der Beeinflussung des Geburtenverhaltens. Gewollt oder ungewollt führen sie jedoch, insbesondere in Verbindung mit der gesellschaftlichen Diskriminierung lediger Eltern und ihrer Kinder, zu einer zumindest mittelbaren Beeinflussung des Geburtenverhaltens. Zum einen wirkt die Gesellschaft über das Heiratsalter auf die Ehe ein. Das gesellschaftlich akzeptierte Heiratsalter schwankt mit dem gesellschaftlichen Interesse an Geburten. Früheres oder späteres Heiraten wird je nach gesellschaftlicher Interessenlage benachteiligt oder begünstigt. Häufig liegt jedoch das gesellschaftlich akzeptierte Heiratsalter erheblich später als der Beginn der natürlichen Fruchtbarkeit. Die gesellschaftlichen Einwirkungen auf das Heiratsalter zeigt ein langfristiger und regional differenzierter Vergleich des durchschnittlichen Heiratsalters. Häufig wird auch eine Art Ehefähigkeit gefordert, die wirtschaftlich und/oder biologisch definiert sein kann. Dadurch werden zumindest mittelbar Geburtenraten in der einen oder anderen Richtung beeinflußt.“ (Ebd., S. 148).

- Wanderungspolitik
„Da die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung nicht zuletzt von ihrem Anteil an Zeugungs- und Gebärfähigen abhängt, kann sie durch eine entsprechende Wanderungspolitik beeinflußt werden. Je nachdem, ob die Ab- oder Zuwanderung von Zeugungs- und Gebärfähigen gefördert oder behindert wird, steigt oder fällt die Fruchtbarkeit der Bevölkerung.“ (Ebd., S. 148).

Überblick über die wichtigsten Bevölkerungstheorien
Theorien
Klassiker: Adam Smith, Thomas Robert Malthus, David Ricardo, John Stewart Mill.
Sozialisten:
Karl Marx, Ferdinand Lassalle, Heinrich Soetbeer, Erich Unshelm.
Biologisten: Herbert Spencer, L. Adolphe J. Quételet, P. F. Verhulst, Raymond Pearl, Lowell J. Reed.
Optimumtheoretiker: L. Robbins, S. S. Cohen.
Wohlstandstheoretiker: Ludwig Josef Brentano, Oscar Wingen, Paul Mombert, Gustav Schmoller, A. H. G. Wagner.
Gesinnungstheoretiker: Werner Sombart, Max Weber, Max Scheler, Julius Wolf, Roderich von Ungern-Sternberg.
Sozio-kulturelle Theoretiker: Gunther Ipsen, Hans Linde, Gerhard Mackenroth, F. W. Notestein, Kingsley Davis, Judith Blake, Ronald Freedman, Hermann Schubnell, Karl Martin Bolte, Josef Schmid, Franz-Xaver Kaufmann, Rainer Mackensen, Peter Marschalck, Karl Schwarz, Charlotte Höhn, Max Wingen.
Sozio-ökonomische Theoretiker: Ansley Coale, Edgar M. Hoover, Simon Kuznets, Stephen Enke, Harvey Leibenstein, Gary S. Becker, Richard A. Easterlin, Valery K. Oppenheimer, Hilde Wander, Klaus F. Zimmermann.
Sozial-psychologische Theoretiker: Günther Oppitz, Lutz von Rosenstiel, P. K. Welpton, C. V. Kiser, F. G. Mishler, C. F. Westoff, J. T. Fawcett, F. Arnold, R. P. Bagozzi, M. F. van Loo, Rodolfo A. Bulatao, Herwig Birg.
„Das Schaubild zeigt noch einmal in schematischer Form das Netzwerk der wichtigsten Bevölkerungstheorien während der zurückliegenden 220 Jahre. Das Schema deutet an, daß alle diese Theorien miteinander verbunden, zum Teil voneinander abgeleitet und mitunter bloße Erweiterungen und Ergänzungen früherer Erklärungen sind. In seiner vertikalen Gliederung verdeutlicht das Schema, daß sich die Theorien in Abhängigkeit von den Phasen der Bevölkerungsentwicklung wandeln. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts trotz zunehmenden Massenwohlstands die Geburtenraten in den hochindustrialisierten Ländem zunächst stagnieren und dann sogar sinken, verlieren alle jene Theorien ihre empirische Fundierung, die Bevölkerungs- und Wohlstandsentwicklung positiv miteinander verknüpfen: die der Klassiker und - mit Einschränkungen - die der Sozialisten, Biologisten und Optimumtheoretiker. An ihre Stelle treten die Wohlstandstheoretiker, die zwar gleichfalls einen engen Zusammenhang zwischen Bevölkerungs- und Wohlstandsentwicklung sehen. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern kehren sie jedoch die Kausalität zwischen Wohlstand und menschlicher Fruchtbarkeit um. Meinen ihre Vorgänger, die Drosselung der Kinderzahl wirke unter bestimmten Voraussetzungen wohlstandsmehrend, so vertreten sie die Auffassung, Wohlstand drossele die Kinderzahl. Doch obwohl die Wohlstandstheoretiker bereits viele der Argumente zusammentragen, die bis heute die Diskussion über das generative Verhalten von Bevölkerungen beeinflussen, hat auch ihre Theorie keinen dauerhaften Bestand. Sie wird unter dem Eindruck eines immer drastischeren Verfalls der Geburtenraten in hochindustrialisierten Ländem vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von sozio-kulturellen, sozio-ökonomischen und sozial-psychologischen Theorien verdrängt. Diese neuen Theorien stützen sich oft auf Vorarbeiten der Gesinnungstheoretiker. In seiner horizontalen Gliederung läßt das Schema des Schaubilds erkennen, daß sich im Ablauf der Phasen der Bevölkerungsentwicklung auch die wissenschaftliche Orientierung der sie erklärenden Theorien verändert. Während der Phase beschleunigten und schnellen Bevölkerungswachstums dominieren ökonomische Sichtweisen. In der Phase mäßigen Bevölkerungswachstums tritt neben die unverändert ökonomische Sichtweise der Wohlstandstheoretiker die Lehre der Gesinnungstheoretiker, die zwar ebenfalls noch Elemente der Ökonomie enthält, darüber hinaus aber unverkennbar soziologische Züge trägt. In der Phase der Bevölkerungsstagnation und des Rückgangs schließlich treten neben die bis dahin dominierenden ökonomischen Sichtweisen soziologische und sozial-psychologische Theorien. Zugleich verschieben sich, wie ebenfalls dem Schaubild zu entnehmen ist, die methodischen Ansätze vom Makro- in den Mikrobereich, von der Volkswirtschaft und Gesamtbevölkerung zum Privathaushalt, der Kleingruppe und dem Einzelnen. Makroökonomische und -soziologische Erklärungen des generativen Verhaltens von Menschen verlieren spätestens seit der Mitte dieses Jahrhunderts an Einsichtigkeit und werden durch Theorien im Mikrobereich verdrängt. Durch diese Verlagerung der wissenschaftlichen Forschung vom Makro- in den Mikrobereich ist es einerseits möglich, das Verhalten von Einzelnen und Kleingruppen immer genauer zu erfassen, zu beschreiben und zu erklären. Andererseits wird mangels ausreichender Systematisierungs- und Verallgemeinerungsfähigkeit dieser Einzelfall- und Kleingruppenanalysen die Bildung eigentlicher Theorien zunehmend schwierig. Mangels einer Theorie kann die Wissenschaft jedoch nur noch bedingt handlungsweisend wirken. Diese Entwicklung hat nicht nur bei ihr, sondern auch in der Praxis zu einer gewissen Resignation geführt. Da die Fülle angeblicher Ursachen generativen Verhaltens fast unüberschaubar geworden ist, erscheinen Aussagen über künftige Verhaltensweisen und deren Beeinflußbarkeit gewagt. Wohl heißt es, das generative Verhalten »postmoderner Gesellschaften« führe irreversibel zur Alterung und Schrumpfung dieser Gesellschaften, doch es heißt auch, daß die Geburtenfreudigkeit selbst dieser Gesellschaften wieder zunehmen könne, wenn nur die Kinder wieder wirtschaftlich profitabel würden oder zumindest die ökonomische Belastung der Eltern minimiert würde. Die derzeitige Diskussion über generatives Verhalten und Bevölkerungsentwicklung leidet jedoch nicht nur unter derartigen Widersprüchen, sondern auch unter den seit langem bestehenden Unsicherheiten bei der Unterscheidung zwischen Ursachen und Wirkungen. Wird in der Vergangenheit darüber gestritten, ob durch sinkende Kinderzahlen der Wohlstand steigt oder durch steigenden Wohlstand die Zahl der Kinder sinkt, so wird nun darüber gestritten, ob der abnehmende gesellschaftliche Status der Ehe, veränderte Lebensentwürfe, die Emanzipation der Frau, eine verbreitete individuelle und gesellschaftliche Orientierungslosigkeit, Zukunftsängste und viele weitere Faktoren den Rückgang der Geburtenrate bewirken oder umgekehrt der gesellschaftliche Status der Ehe abnimmt, Lebensentwürfe verändert werden u.s.w., weil die Geburtenrate zurückgeht. Bei genauerer Prüfung des Disputs zeigt sich, daß angebliche Ursachen des Geburtenrückgangs in hochindustrialisierten Ländern und der Geburtenrückgang selbst zumeist eine logische Einheit bilden, die angeblichen Ursachen und ihre Wirkungen also miteinander verschmolzen sind. Im einzelnen sind die Theorien, mit denen bisher die Ursachen des Geburtenrückgangs erklärt wurden, in der Literatur so oft und ausführlich behandelt worden, daß sich ihre abermalige Darstellung erübrigt. Im folgenden sollen nur einige ihrer Aspekte verdeutlicht werden. Formal ist zwischen zwei Gruppen zu unterscheiden: Theorien, die im 18. und 19. Jahrhundert während der Phasen beschleunigten und schnellen Bevölkerungswachstums in Europa entstehen, und Theorien, die im späten 19. und im 20. Jahrhundert während der Phasen nur noch mäßigen Bevölkerungswachstums oder gar zahlenmäßigen Bevölkerungsrückgangs entwickelt werden. In den Theorien der ersteren Gruppe wird der Geburtenrückgang nur als Möglichkeit gesehen, den mitunter als bedrohlich empfundenen Anstieg der Bevölkerungszahl zu bremsen. Nur insoweit interessieren die Ursachen eines derartigen Rückgangs. In den Theorien der letzteren Gruppe ist hingegen der Geburtenrückgang bereits erklärungsbedürftige Wirklichkeit. Entsprechend werden auch Überlegungen angestellt, den veränderten Trend zu wenden.“ (Ebd., S. 150-152).

„Die wichtigsten Theorien der Phase des beschleunigten und schnellen Bevölkerungswachstums können im wesentlichen vier Denkrichtungen zugeordnet werden, die herkömmlich mit Klassikern, Biologisten, Optimumtheoretikern und Sozialisten bezeichnet werden. Jede dieser Denkrichtungen besteht ihrerseits aus mitunter recht unterschiedlichen Einzelpersönlichkeiten und Schulen. Trotz deren Eigenständigkeiten weisen alle Theorien dieser Phasen fundamentale Übereinstimmungen auf. Sie unterstellen mehr oder minder explizit ein generatives Verhalten des Menschen, das dem des Tieres ähnelt. Verbessern sich seine materiellen Lebensbedingungen, steigt seine Fruchtbarkeit, verschlechtern sie sich, sinkt sie. Das generative Verhalten des Menschen ist also mit seiner wirtschaftlichen Lage positiv gekoppelt. Strittig ist lediglich, ob sich Menschen in Überschätzung ihrer wirtschaftlichen Lage so stark vermehren können, daß sie verelenden. Dies wird von Klassikern und Sozialisten für möglich gehalten, von Biologisten und Optimumtheoretikern, die beide von natürlichen Steuerungsmechanismen ausgehen, jedoch bezweifelt. Geburtenrückgang wird damit nach gemeinsamer Auffassung von wirtschaftlichen Begrenzungen verursacht, die entweder - so die Klassiker und Sozialisten - durch Verelendung, Zwang oder Einsicht oder - so die Biologisten und Optimumtheoretiker - durch unsichtbare biologische bzw. ökonomische Steuerungsmechanismen wirksam werden.“ (Ebd., S. 153).

„- Die Klassiker. - Am eindeutigsten kommt die positive Kopplung von materiellen Lebensbedingungen und menschlicher Fruchtbarkeit in den Lehren der Klassiker wie Adam Smith (1723-1790), David Ricardo (1772-1823), John Stuart Mill (1806-1873), vor allem aber Thomas Robert Malthus (1766-1834) zum Ausdruck. Verbessern sich die Lebensbedingungen, nimmt nicht nur die Lebenserwartung zu, sondern zugleich wird früher und häufiger geheiratet, und die Kinderzahl steigt. Umgekehrt gilt Entsprechendes. Dabei strebt der Mensch üblicherweise nur nach der Sicherung seines Existenzminimums, Scheint dieses gewährleistet, vermehrt er sich, bis seine Lebensgrundlage erschöpft ist. Zwar räumen die Klassiker ein, daß die Bemessung des Existenzminimums von Region zu Region und im Zeitablauf verschieden sein kann. Doch sehen sie die Gültigkeit ihres Grundsatzes hiervon nicht berührt. Die zutreffende Einschätzung wirtschaftlicher Kapazitätsgrenzen ist für die Klassiker eine der wichtigsten individuellen und gesellschaftlichen Aufgaben. Unterlaufen hier Fehler, können Individuen und Gesellschaft in existentielle Gefahr geraten. Um solche Gefahren abzuwenden, darf auch zum Beispiel vom Staat ein generatives Verhalten erzwungen werden, das den wirtschaftlichen Gegebenheiten entspricht.“ (Ebd., S. 153).

„- Die Sozialisten. - Obgleich die Sozialisten, denen so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Heinrich Soetbeer und Erich Unshelm, aber auch Ferdinand Lassalle (1825-1864) und Karl Marx (1818-1883) zugerechnet werden, erheblich später lehren als die Klassiker und diese auch nachdrücklich kritisieren, bestehen dennoch zwischen beiden Denkrichtungen bemerkenswerte Parallelen. Auch wenn aus der Sicht der Sozialisten die europäischen Bevölkerungen insgesamt nicht mehr in der Gefahr stehen, durch zu viele Kinder zu verelenden, schließen sie dies für die Arbeiterklasse nicht aus. Denn die Arbeiterklasse neigt dazu, so viele Kinder großzuziehen, wie dies bei Wahrung eines bloßen Existenzminimums möglich ist. Dieses Verhalten führt dazu, daß bei steigenden Löhnen auch die Zahl der Kinder steigt, was mittelfristig wiederum zu einem Überangebot an Arbeitskräften und dieses zu einem Rückgang der Löhne führt. So lebt die Arbeiterklasse immer an der Elendsgrenze - entweder weil ihr Lohn zu niedrig oder die Zahl ihrer Kinder zu groß ist. Folgerichtig plädieren die Sozialisten dafür, die Arbeiterklasse möge aufgrund besserer Einsicht ihre Geburtenrate senken und durch die so bewirkte Verknappung des Faktors Arbeit dessen Marktwert erhöhen.“ (Ebd., S. 154).

„- Die Biologisten: Nach Auffassung der Biologisten wie Herbert Spencer (1820-1903) 13, L. Adolphe J. Quételet (1796-1874), P.F. Verhulst, Raymond Pearl und Lowell J. Reed ist eine solche bewußte Einsicht in den Zusammenhang zwischen generativem Verhalten und materiellen Lebensbedingungen, wie sie von den Sozialisten postuliert wird, nicht erforderlich. Jede Bevölkerung füllt nämlich den ihr zur Verfügung stehenden Raum nur nach Maßgabe seiner konkreten Möglichkeiten. Daher sind fruchtbare Gebiete dicht, weniger fruchtbare dünner besiedelt. Nähert sich eine Bevölkerung den Kapazitätsgrenzen ihres Raums, werden wie bei manchen Tierarten biologische Mechanismen wirksam, die das Bevölkerungswachstum verlangsamen und gegebenenfalls anhalten. Dadurch werden Verelendung oder gar existentielle Katastrophen mit einer gewissen Automatik vermieden. Im übrigen wird das generative Verhalten des Menschen vom Trieb der Arterhaltung gesteuert. Ist die Art bedroht, steigt die Geburtenrate. Ohne Bedrohung bleibt sie konstant oder sinkt.“ (Ebd., S. 154).

„- Die Optimumtheoretiker. - Diese Erwägungen, die noch recht deutlich agrargesellschaftliche Prägungen aufweisen, werden von den Optimumtheoretikern wie L. Robbins und S. S. Cohen unter Bedingungen von Industriegesellschaften weitergeführt. Nach ihrer Auffassung steigt bei einer gegebenen Kapitalausstattung der individuelle und kollektive Wohlstand bis zu einem bestimmten Punkt der Bevölkerungsvermehrung. Wird der optimale Schnittpunkt von Kapitalausstattung und Bevölkerungszahl überschritten, sinkt der Wohlstand wieder. Das bewahrt die Bevölkerung davor, sich über die Begrenzungen ihrer Lebensgrundlage hinaus zu vermehren. Ähnlich wie die Biologisten glauben also auch die Optimumtheoretiker an einen Steuerungsmechanismus, den sie allerdings, im Unterschied zu den Biologisten, nicht biologisch, sondern ökonomisch erklären.“ (Ebd., S. 154-155).

„Die Theorien der nächsten beiden Phasen, der Phase des mäßigen Bevölkerungswachstums und der Phase von Bevölkerungsstagnation und Bevölkerungsrückgang, können nur noch in der ersten Halfte dieses Jahrhunderts und auch dann nur mit erheblichen Einschränkungen bestimmten Denkrichtungen oder Schulen zugeordnet werden. Üblicherweise werden die beiden wichtigsten Richtungen als Wohlstands- und Gesinnungstheoretiker bezeichnet. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts lassen sich die Beitrage zur wissenschaftlichen Diskussion noch weniger bündeln. Im wesentlichen handelt es sich um Theorien von Einzelpersönlichkeiten. Kennzeichnend für die Theorien dieser Phasen, die sich im westlichen Europa mit zwei markanten Rückgangen der Geburtenrate, einmal um die Jahrhundertwende und zum anderen in den 1960er Jahren, auseinanderzusetzen haben, ist ihr komplexer wissenschaftlicher Ansatz. Das gilt vor allem für die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts, in der die meisten Theorien in sozio-ökonomischen, sozio-kulturellen und sozial-psychologischen Denkansatzen wurzeln. Der Geburtenrückgang wird nach allen diesen Theorien von einer Vielzahl von Faktoren verursacht, die im Einzelnen schwierig zu gewichten sind und deren Verhältnis zueinander nur wenig geklärt ist. Entsprechend schwierig sind diesen Theorien zufolge Aussagen über die Beeinflußbarkeit dieser Ursachen.“ (Ebd., S. 155).

„- Die Wohlstandstheoretiker. - Die Entkopplung von Wohlstands- und Bevölkerungsmehrung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer augenscheinlicher wird, zwingt die Wissenschaft zu einer Umorientierung. Erste Anzeichen dieser Umorientierung finden sich bereits bei den Biologisten, unter denen beispielsweise Thomas A. Doubleday, aber auch andere die Ansicht vertreten, daß eine Verbesserung der Ernahrung einen Rückgang der Fruchtbarkeit bewirken könne. Was Doubleday nur als Möglichkeit ansieht, ist aufgrund der sich weiter erhartenden empirischen Evidenz für die Wohlstandstheoretiker wie Ludwig Josef Brentano (1844-1931), Paul Mombert (1876-1938) oder Oscar Wingen Gewißheit. (Weiterführende Überlegungen werden im Verein für Sozialpolitik entwickelt, der 1872 von Gustav Schmoller [1838-1917], Ludwig Josef Brentano und A. H. G. Wagner gegründet wird). Sie kehren deshalb den lange Zeit gültigen Lehrsatz: Steigender materieller Wohlstand bewirkt Bevölkerungswachstum um und behaupten nunmehr: Steigender materieller Wohlstand, verbunden mit kulturellem und sozialem Fortschritt, bewirkt einen Rückgang der Geburtenrate bis hin zu Bevölkerungsstagnation oder -rückgang. Je wohlhabender und fortschrittlicher ein Volk ist, so lautet die neue Lehre, um so niedriger ist seine Geburtenrate. Gleiches gilt für Bevölkerungsgruppen und -schichten. Dieser Wandel im generativen Verhalten der Menschen wird von den Wohlstandstheoretikern mit dem Überschreiten eines kritischen Punktes im Prozeß der Wohlstandsmehrung erklärt. Erhöht sich der Wohlstand, so die Argumentation, nur mäßig, dann reagiert der Mensch hierauf gewissermaßen animalisch, das heißt durch Vergrößerung seiner Zahl. Erhöht er sich jedoch sprunghaft, wie dies im Zuge der Industrialisierung geschieht, dann eröffnen sich für immer größere Bevölkerungskreise wirkliche Optionen. Sie können ernsthaft zwischen verschiedenen Lebensentwürfen wählen: entweder ein materiell weiterhin karges Leben mit zahlreichen Kindern oder ein Leben mit wenigen Kindern, das jedoch recht auskömmlich ist und eine ganze Reihe von materiellen und immateriellen Genüssen bereithält. Nach Auffassung der Wohlstandstheoretiker haben die sogenannten bürgerlichen Schichten, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend Vorbild für die gesamte Bevölkerung, vor allem aber die Arbeiter werden, schon frühzeitig ihre Wahl getroffen und sich für materiellen Wohlstand und gegen eine größere Zahl von Kindern entschieden. Dem eifern die Arbeiter nach, die nun ebenfalls »standesgemäß«, das heißt wie die bürgerlichen Schichten leben wollen. Die Verbürgerlichung der Bevölkerung wird beschleunigt durch deren Verstädterung. Die Verstädterung ist, worauf vor allem A. Dumont und P. Leroy-Beaulieu hinweisen, ein wirksamer Ansporn, wirtschaftlich und sozial aufzusteigen, was für die meisten nur unter der Bedingung einer geringen Kinderzahl möglich ist. Erschwerend kommt hinzu, daß in der Stadt die Unterhaltskosten für eine Familie, insbesondere die Wohnkosten, deutlich höher sind als auf dem Land. Die Stadt, so die Wohlstandstheoretiker weiter, weckt mit ihren vielfältigen Angeboten und Verlockungen aber auch zuvor unbekannte Bedürfnisse. Besonders empfänglich hierfür sind Frauen. Kinderglück allein vermag sie nicht mehr zu befriedigen. Sie stellen zusätzliche materielle und immaterielle Ansprüche, und wo diese vom Mann nicht erfüllt werden können, wächst ihre Bereitschaft, selbst einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dadurch sinkt die Geburtenrate weiter, zumal durch die Verstädterung auch der Familienverband so weit gelockert ist, daß die Großelterngeneration oder enge Verwandte kaum noch unterstützend tätig werden können.“ (Ebd., S. 155-156).

„- Die Gesinnungstheoretiker. - Die Gesinnungstheoretiker, zu denen Gelehrte wie Max Scheler (1874-1928), Max Weber (1864-1920), Werner Sombart (1863-1941), Julius Wolf (1862-1937) und vor allem Roderich von Ungern-Sternberg (1885-1965) gehören, teilen in weiten Bereichen die Ansichten der Wohlstandstheoretiker. In einer entscheidenden Frage unterscheiden sie sich jedoch von ihnen. Für sie ist der Rückgang der Geburtenrate zu Beginn dieses Jahrhunderts nicht Folge der allgemeinen Wohlstandsentwicklung, sondern Wohlstandsentwicklung und Rückgang der Geburtenrate haben eine gemeinsame Drittursache, die sie in der ökonomisch-rationalistischen Gesinnung ihrer Zeit sehen. Diese Gesinnung bestimmt alle Lebensbereiche, die Wirtschaft ebenso wie Ehe und Familie. Wirtschaftlicher Erfolg hat höchste Priorität. Dadurch wird die wirtschaftliche Entwicklung beflügelt. Zugleich geraten Ehe, Familie und Kinder in den Hintergrund. Durch diese neuartige Sichtweise öffnen die Gesinnungstheoretiker die bislang vorwiegend ökonomisch geprägte Diskussion des generativen Verhaltens auch für soziokulturelle und sozial-psychologische Denkansätze. Seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts konkurrieren diese Denkansätze mit den sozio-ökonomischen, wobei es allerdings immer wieder zu Überschneidungen und Verflechtungen kommt.“ (Ebd., S. 156).

„- Sozio-ökonomische Theorien. - Ähnlich wie für die Wohlstandstheoretiker steht auch für die Vertreter der neueren sozio-ökonomischen Theorien wie Ansley Coale, Edgar M. Hoover, Sirnon Kuznets, Stephen Enke, Harvey Leibenstein, Gary S. Becker und die Chikagoer Schule, Richard A. Easterlin, Valery K. Oppenheimer, Hilde Wander, Klaus Zimmermann und andere das generative Verhalten von Menschen in enger Abhängigkeit von deren wirtschaftlicher Situation. Doch während für die Wohlstandstheoretiker diese Abhängigkeit mehr auf der Ebene von Gesamtbevölkerung und Volkswirtschaft, also der Makroebene besteht, sehen die Vertreter der neueren sozio-ökonomischen Theorien diese Abhängigkeit mehrheitlich auf der Mikroebene des Familienverbandes und Individuums. Den neueren sozio-ökonomischen Theorien zufolge müssen makroökonomische Einfüsse zunächst den Filter kleingruppenspezifischer bzw. individueller Sicht- und Empfindungsweisen passieren, ehe sie für das generative Verhalten wirksam werden. Da jedoch diese Sicht- und Empfindungsweisen unterschiedlich vorgeprägt sind, können die Reaktionen auf gleichartige makroökonomische Einfüsse ebenfalls unterschiedlich sein. So dürften Menschen, die in materiellem Wohlstand aufgewachsen sind, vorrangig versuchen, diesen Wohlstand für sich zu sichern. Erst danach dürften sie an eigene Kinder denken. Umgekehrt dürften Menschen, die materiellen Wohlstand nicht schätzengelernt haben, eher ihre Kinderwünsche erfüllen. Was im Einzelfall geschieht, hängt von einer höchst individuellen oder kleingruppenspezifischen Präferenzstruktur ab. Allerdings haben sich in hochindustrialisierten Ländern diese Präferenzstrukturen im allgemeinen zugunsten der Erfüllung von materiellen und immateriellen Wünschen und zuungunsten der Erfüllung von Kinderwünschen entwickelt. Denn der Mensch ist ein homo oeconomicus, der auch bei Kindern sorgfältig zwischen deren Kosten und Nutzen abwägt. Dabei erkennt er, daß in hochindustrialisierten Ländern der wirtschaftliche Nutzen von Kindern erheblich abgenommen hat und ihre Kosten beträchtlich gestiegen sind. Unter Gesichtspunkten ihres wirtschaftlichen Nutzens spielen Kinder für die Alters- und Krankensicherung ihrer Eltern nur noch eine geringe Rolle. Die Lasten, die sie hier einmal zu tragen hatten, sind weitgehend von kollektiven Sicherungssystemen übernommen worden. Auch als Arbeitskräfte haben sie für den Familienverband an Wert verloren. Allenfalls in bäuerlichen oder handwerklich tätigen Familien haben sie noch als Arbeitskräfte Bedeutung. Selbst das Sozialprestige, das früher mit Kindern oft verbunden war, hat abgenommen. Kinderreiche Familien genießen in hochindustrialisierten Ländern keineswegs mehr besondere Achtung. Damit bleibt auf der Nutzenseite nur die Chance subjektiver Freude, die von Kindern ausgehen kann. Ob und in welchem Umfang diese Chance jedoch realisiert wird, hängt nicht zuletzt von Faktoren ab, die sich der Steuerung der Betroffenen weitgehend entziehen. Diesem vagen immateriellen Nutzen stehen handfeste materielle Kosten gegenüber, die in hochindustrialisierten Ländern tendenziell zunehmen. Das gilt sowohl für die direkten als auch für die indirekten Kosten. Unter den direkten Kosten summieren sich die Ausgaben für Nahrung, Kleidung, Wohnung, Ausbildung und anderes mehr, die Eltern für ihre Kinder tätigen müssen. Diese Ausgaben steigen nicht zuletzt wegen ihrer immer längeren wirtschaftlichen Abhängigkeit. Nicht minder bedeutsam als die direkten sind die indirekten Kosten, die vor allem durch den Verzicht eines Elternteils, zumeist der Mutter, auf ein Erwerbseinkommen entstehen. Diese sogenannten Opportunitäts- oder Alternativkosten sind umso höher, je größer die Erwerbschancen der Eltern sind. Da diese wiederum häufig vom Bildungs- und Qualifikationsgrad bestimmt werden, wachsen in der Regel die Opportunitätskosten mit der beruflichen Qualifikation der Eltern. Beruflich qualifizierte Eltern werden deshalb tendenziell weniger Kinder haben. Gerade sie bestimmen nämlich ihre Kinderzahl aufgrund ökonomisch rationaler Erwägungen über die optimale Verteilung knapper Ressourcen wie Zeit und Geld. Dennoch glauben einige Vertreter der neueren sozio-ökonomischen Theorien, so Becker, ähnlich wie die Klassiker, an einen positiven Zusammenhang zwischen der Mehrung materiellen Wohlstands und dem Aufziehen von Kindern. Nur meinen sie, daß dieser Zusammenhang nicht mehr quantitativ durch eine größere Kinderzahl, sondern qualitativ zum Beispiel durch die bessere Ausbildung weniger Kinder zum Ausdruck kommt. Auch dies ist Ergebnis eines ökonomisch rationalen Verhaltens, da das Handlungsziel der Menschen die bestmögliche ... Lebensgestaltung ist.“ (Ebd., S. 157-158).

„- Sozio-kulturelle Theorien. - Die zahlreichen und vielgestaltigen sozio-kulturellen Theorien, u.a. von Gunther Ipsen, Hans Linde, Gerhard Mackenroth (1903-1955), F.W. Notestein, Kingsley Davis und Judith Blake, Ronald Freedman, Hermann Schubnell, Karl Martin Bolte, Josef Schmid, Franz-Xaver Kaufmann, Rainer Mackensen, Peter Marschalck, Karl Schwarz, Charlotte Höhn und Max Wingen wurzeln in der gemeinsamen Grundannahme, daß das generative Verhalten des Menschen entscheidend von sozio-kulturellen und -strukturellen oder kurz: gesellschaftlichen Faktoren bestimmt wird, die ständig Veränderungen unterworfen sind. Zu diesen Faktoren zählen auch wirtschaftliche Bedingungen. Doch ist deren Bedeutung den sozio-kulturellen Theorien zufolge deutlich geringer als dies von den Vertretern sozio-ökonomischer Denkansätze angenommen wird. Diese gesellschaftlichen Faktoren können sowohl auf der Ebene einer ganzen Bevölkerung als auch begrenzt auf der Ebene einer Bevölkerungsschicht oder -gruppe wirksam werden. Auf allen diesen Ebenen können unterschiedliche Normvorstellungen, beispielsweise von der Größe einer Familie, bestehen, die - zusammen mit anderen Faktoren - das generative Verhalten des Einzelnen bestimmen. Aufgrund dieser Unterschiede kann das generative Verhalten von Bevölkerungen, Schichten und Gruppen trotz gleichen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsstandes erheblich voneinander abweichen. Allerdings sind sich die Vertreter der sozio-kulturellen Theorien weitgehend darin einig, daß sich die Mehrzahl der gesellschaftlichen Faktoren im Zuge des Übergangs von der agrarischen zur industriellen und vereinzelt postindustriellen Gesellschaft in einer bestimmten Richtung entwickelt. Sozio-kulturelle Einfüsse, die von der Industrialisierung und Urbanisierung sowie von Veränderungen ausgehen, die schlagwortartig mit »Sakularisierung«, »Individualisierung« oder »Emanzipation der Frau« umschrieben werden können, verstärken sich, während traditionelle Einfüsse wie Religion, Beruf oder Standeszugehörigkeit an Bedeutung verlieren. Insgesamt begünstigen sozio-kulturelle Faktoren, die in industriellen und mehr noch postindustriellen Gesellschaften vorrangig wirksam sind, die Pluralisierung von Wertvorstellungen und Lebensformen, die Anonymisierung gesellschaftlicher Beziehungen und individualistisch-zweckrationales Verhalten. Letzteres wird - und hierin stimmen die Vertreter der sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Theorien wiederum überein - durch moderne Antikonzeptiva wesentlich erleichtert. Nicht zuletzt diese Antikonzeptiva ermöglichen erstmals eine verläßliche Familienplanung, deren Eckdaten - und auch hier sind sich die Vertreter der sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Theorien einig - maßgeblich von dem Nutzen und den Kosten von Kindern bestimmt werden. Diese Kosten-Nutzen-Abwägung erfolgt jedoch - in Abweichung von den sozio-ökonomischen Theorien - nicht in erster Linie unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern durchaus auch nach nichtwirtschaftlichen Kriterien, wobei gesellschaftliches Normverhalten von besonderer Bedeutung ist. Doch wird in den sozio-kulturellen Theorien eingeräumt, daß die Umkehr des Einkommensstroms, der in Agrargesellschaften von den Kindern zu den Eltern, in Industriegesellschaften hingegen von den Eltern zu den Kindern fließt, eine deutliche Veränderung des generativen Verhaltens bewirkt haben dürfte. Alle diese Faktoren haben generative Strukturen, das heißt Heirats-, Fortpflanzungs- und selbst Sterbeverhalten entstehen lassen, die im Ergebnis zu einem deutlichen Rückgang der Geburtenrate geführt haben. (Gerhard Mackenroth ist der erste Wissenschaftler, der mittels Theorie der historisch-soziologischen Bevölkerungsweise die Wirkungen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse auf das generative Verhalten systematisch anlysiert und daraus Rückschlüssen auf das künftige Geburtenverhalten zieht; vgl. Gerhard Mackenroth, Bevölkerungslehre - Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung, 1953). Postindustrielle Gesellschaften, die nach Ansicht einiger Beobachter derzeit besonders weit entwickelte Industriegesellschaften ablösen, weisen sogar generative Strukturen auf, die keine bestandserhaltenden Geburtenraten mehr ermöglichen. Dadurch steigt nicht nur das Durchschnittsalter dieser Gesellschaften stark an, sondern zugleich nehmen sie auch zahlenmäßig ab.“  (Ebd., S. 158-159).

„- Sozial-psychologische Theorien. - Wie die Vertreter der neueren sozio-ökonomischen Theorien die makro-ökonomischen Denkansatze der Wohlstandstheoretiker auf die Mikroebene übertragen, übertragen die Vertreter der sozial-psychologischen Theorien, u.a. P. K. Welpton und C.V. Kiser, E.G.Mishler und C.F. Westoff, J.T. Fawcett, F. Arnold, Lutz von Rosenstiel, Gunther Oppitz, R.P. Bagozzi und M.F. Van Loo, Rodolfo A. Bulatao und besonders Herwig Birg, die gesellschaftlichen Sichtweisen, die die sozio-kulturellen Theorien auszeichnen, auf Kleingruppen und »Individuen« (Anführungszeichen von mir: HB). Sie sehen sich hierzu durch die Beobachtung veranlaßt, daß makro-ökonomische und -soziologische Faktoren immer nur auf der Ebene der Kleingruppe oder des »Individuums« Bedeutung für das generative Verhalten erlangen können, Kleingruppen und »Individuen« durch unterschiedliche Einfüsse aber verschiedenartig geprägt sind. Aus dieser verschiedenartigen Prägung folgern sie, daß Kleingruppen und »Individuen« auch in ihrem generativen Verhalten auf gleiche makro-ökonomische und -soziologische Faktoren unterschiedlich reagieren können. Die Einfüsse, die verschiedenartige Prägungen von Kleingruppen und »Individuen« bewirken, können »individuell« oder kollektiv sein. »Individuelle« Einfüsse sind beispielsweise Erfahrungen, die ein Mensch in seiner Kindheit mit Eltern und Geschwistern und später mit Partnern, engen Bezugspersonen, Freunden, Nachbarn und nicht zuletzt den eigenen Kindern sammelt. Kollektive Einfüsse gehen hingegen von Religionen und Konfessionen oder gesellschaftlichen Ständen und Berufen aus. Solche kollektiven Einfüsse können zu Kleingruppen- und »individual«-übergreifenden Prägungen führen, aufgrund derer dann auch Großgruppen und möglicherweise sogar Bevökerungen in ihrem generativen Verhalten üreinstimmend auf makro-ökonomische und -soziologische Faktoren reagieren. An dieser Stelle ist der Übergang zwischen sozio-kulturellen und sozial-psychologischen Theorien fließend. Diese Prägungen von Kleingruppen und »Individuen« verdichten sich den sozial-psychologischen Theorien zufolge zu Präferenzstrukturen, die jedoch - wie die Prägungen selbst - nur bedingt stabil sind. Sie können sich nicht nur im Laufe der Zeit allmählich ändern, sondern auch abrupt, zum Beispiel durch einschneidende Veränderungen in einer Partnerschaftsbeziehung, einen Berufs- oder Wohnortswechsel. Dabei bestehen zwischen den Präferenzstrukturen von Kleingruppen und »Individuen« und den gesellschaftlichen Normen Wechselbeziehungen, wobei sich auch hier sozio-kulturelle und sozialpsychologische Theorien berühren. Solche nur bedingt stabilen Präferenzstrukturen steuern das generative Verhalten von Menschen, das bei Vorhandensein moderner Antikonzeptiva stets rational ist. Gemäß ihrer jeweiligen Praferenzen wägen Menschen ab: einerseits zwischen den materiellen Kosten eines Kindes, dem physischen und psychischen Aufwand, der mit ihm einhergeht, dem Verlust an Freizeit, der zusätzlichen Verantwortung, den Selbstverwirklichungschancen und vielem anderen mehr und andererseits dem Gefühl, durch ein Kind erst erwachsen zu werden, gegen emotionale Frustration gefeit zu sein, eine Partnerschaft zu stabilisieren, Abwechslung zu bekommen, noch einmal die eigene Kindheit und Jugend nacherleben zu können oder auch ein Lebenswerk zu krönen. Dabei ist der Kinderwunsch um so größer, je größer die wahrgenommene Instrumentalität von Kindern für die Erreichung eigener Lebensziele ist. Umgekehrt gilt Entsprechendes.“ (Ebd., S. 159-160).

Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen. (2002)

„Insgesamt hat die Zuwanderung ... mehr den Zuwanderern als den Deutschen genutzt.“ (Ebd., S. 42).

„Denn im Unterschied zu den europäischen Auswanderern müssen viele der asiatischen oder afrikanischen Zuwanderer erst ausgebildet und integriert werden (und das übrigens auch noch: immer häufiger ohne Erfolg, immer mehr gegen ihren Willen; HB), um in einer modernen Volkswirtschaft produktiv eingesetzt und der ihnen zugedachten Aufgabe gerecht werden zu können. Wenn aber die Zuwanderer mit erheblichen Aufwand zunächst qualifiziert werden müssen, können die Bevölkerungen Europas ebenso gut ihre eigenen Kinder großziehen. Das ist einfacher und weniger aufwendig. Der Zweck ihres derzeitigen Zeugungsverhaltens, die Verminderung der Kinderlast, wird so ad absurdum geführt. Sie müssen für Zuwander leisten, was sie für die eigenen Kinder nicht zu leisten bereit waren. Was sie nicht individuell erbringen wollten, müssen sie kollektiv erbringen. Ob das die Bürde leichter macht, ist zweifelhaft. Nicht auszuschließen ist auch, daß dieser »Kinderersatz« zum Ziel von Aversionen, vielleicht sogar von Aggressionen wird.“  (Ebd., S. 50).

„Von den knapp siebenhunderttausend Stunden, die derzeit ein Menschenleben im statistischen Mittel in Deutschland währt, bringen Erwerbstätige rund sechzigtausend Stunden mit Erwerbsarbeit zu. Das sind acht Prozent ihres Lebens. Noch vor hundert Jahren lag dieser Anteil bei zwanzig Prozent. Dennoch erwirtschaftete ein Erwerbstätiger im Jahr 2000 im Vergleich zu 1900 gut die sechsfache Menge an Gütern und Diensten. Pro Arbeitsstunde produzierte er sogar das Zwölffache. Dabei ereignete sich der entscheidende Produktivitätsschub wiederum in der zweiten Jahrhunderthälfte. Von 1950 bis 2000 erhöhte sich in Westdeutschland die Wirtschaftsleistung pro Erwerbstätigen auf das Fünffache und pro Arbeitsstunde auf das 7,6fache. Ähnlich verlief die Entwicklung in allen anderen früh industrialisierten Ländern. Überall stieg dank einer historisch einzigartigen Erhöhung des Einsatzes von Wissen und Kapital die Produktivität. Nur in wenigen Ländern, wie den USA, wurden zugleich auch noch zusätzliche Arbeitsstunden pro Kopf der Bevölkerung erbracht. In der Regel ging der Arbeitseinsatz deutlich zurück. Wissen und Kapital ist es zuzuschreiben, daß die Erwerbsbevölkerungen heute in kürzerer Zeit ein Vielfaches der früheren Güter- und Dienstleistungsmenge erwirtschaften. Besonders hoch ist der Wissens- und Kapitaleinsatz in Deutschland, insbesondere in Westdeutschland. Hier stieg das verwendete Kapital - im gleichen Geldwert - von 1950 bis 2000 pro Erwerbstätigen auf das Fünffache und pro Erwerbstätigenstunde auf das Siebenfache. Im Jahr 2000 kam auf jeden Erwerbstätigen in Deutschland ein Kapitalstock - Fabrikgebäude, Maschinen, Patente, Lizenzen und so weiter - von durchschnittlich 260000 Euro. Kaum ein anderes Land hat einen ähnlich hohen Kapitaleinsatz. In den meisten Ländern ist er sogar deutlich niedriger. Aufgrund dieser hohen Kapitalintensität werden in Deutschland Güter und Dienste mit einer im internationalen Vergleich besonders geringen Arbeitsmenge erwirtschaftet. Nirgends werden mit so wenig Arbeit so große Werte geschaffen. Zwar ist in Ländern wie der Schweiz, Japan oder den USA das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt größer als hierzulande, aber dieses Mehr ist hart erarbeitet. 1998 war nach OECD-Angaben die in der Schweiz erbrachte Arbeitsmenge pro Kopf der Bevölkerung um 22 Prozent, in Japan und den USA sogar um vierzig Prozent höher als in Deutschland. (Vgl. OECD, Employment Outlook, Juni 2000, S. 219). Das war vor allem in Japan und den USA weit mehr als das zusätzlich erwirtschaftete Bruttoinlandsprodukt. Mit seiner Stundenproduktivität lag Deutschland weit vorn. Doch im Grundsatz wenden alle früh industrialisierten Länder das gleiche Rezept an: viel Kapital, noch mehr Wissen und immer weniger Arbeit.“ (Ebd., S. 122-124).

„Was aber ist dieses Wissen und Kapital, das sich in der technischen Entwicklung und vielen anderen Formen des Fortschritts niederschlägt und dadurch die Produktivität steigert?  Beide sind die Früchte bereits erbrachter Arbeit, wobei der Zeitpunkt ihrer Erbringung Tage, Jahre und Jahrhunderte zurückliegen kann. Das heutige Wissen wurde über sehr lange Zeiträume hinweg angesammelt. In dieser Hinsicht stehen wir auf den Schultern ungezählter Generationen, auch wenn erst in neuer und neuester Zeit jene Wissensexplosion stattgefunden hat, die die Produktivität in früher unvorstellbare Höhen katapultiert hat. Über einen wesentlich kürzeren Zeitraum erstreckt sich die Bildung von Kapital. Aber auch hier haben Generationen Stein auf Stein gefügt. So gesehen, ruhen entwickelte Volkswirtschaften auf Arbeit, die bereits erbracht worden ist, und von der Verfügbarkeit dieser Arbeit hängt ihre Produktivität ab.“ (Ebd., S. 124).

„Wenn überhaupt, wird allenfalls die relative Höhe des Lohns von der individuell erbrachten Arbeitsleistung bestimmt. Ein Erwerbstätiger, der besonders qualifiziert, geschickt und fleißig ist, verdient vielleicht doppelt so viel wie einer, der geringere Fähigkeiten hat. Ob dieses Doppelte aber viel oder wenig ist, ob es dreihundert oder dreitausend Euro sind, hängt nicht so sehr von seinem Geschick und Fleiß ab, sondern von der Wissens- und Kapitalintensität seines Arbeitsplatzes im Besonderen und der Volkswirtschaft im Allgemeinen. Wissen und Kapital bestimmen die absolute Höhe des Einkommens. Damit wird das hehre Postulat »gleicher Lohn für gleiche Arbeit« zur hohlen Phrase.“ (Ebd., S. 126).

„Wissen und Kapital gehören damit zu den wichtigsten Instrumenten bei der Bewältigung der demographischen Herausforderung. Aber werden sie den Aufgaben gewachsen sein? .... In zwanzig bis dreißig Jahren benötigt der drastisch schrumpfende Anteil Erwerbstätiger ... wesentlich ergiebigere Wissens- und Kapitalquellen, wenn die Wirtschaft weiter florieren soll. Was dieser Ausbau des Wissens- und Kapitalstocks bedeutet, können sich wiederum viele kaum vorstellen. Verlangt ist auch hier eine nachhaltige Veränderung tief verinnerlichter und lieb gewonnenener Verhaltensweisen. Um Wissen als Frucht menschlicher Arbeit ernten zu können, müssen zunächst Menschen qualifiziert und motiviert werden, diese Arbeit zu erbringen. In der Vergangenheit hat Deutschland auf diesem Gebiet Hervorragendes geleistet. Seine Schulen, Hochschulen und Universitäten sowie sein System der Berufsbildung hatten für viele Länder Modellchararkter. (Sie waren neidisch auf Deutschland, weil Deutschland in allen Bereichen Weltmeister war; Anm. HB). Die Zahl der Nobelpreisträger und großen Erfinder war, gemessen an seiner Bevölkerung, außerordentlich hoch. (Deutschland hatte pro Jahr mehr Nobelpreisträger als der Rest der Welt zusammen! Die wissenschaftliche Literatur der Welt erschien zu über 80 v.H. in deutscher Sprache! Anm. HB) ...“  (Ebd., S. 133).

„Für die Herrschenden ist entscheidend, das Verhältnis von Leistungen und Gegenleistungen zu verschleiern. Die Bürger müssen glauben gemacht werden, sie würden vom Sozialstaat mehr erhalten, als sie geben. Daß das schon aus Gründen der Logik unmöglich ist, darf nicht bewußt werden. Noch stärker tabuisiert ist die Frage, wieviel eigentlich bei der sozialstaatlichen Umverteilung versickert und wie groß der sozialstaatliche Herrschafts- und Verwaltungsaufwand ist, den die Bürger zu tragen haben. Fänden diese Beiträge Eingang in die Bilanz, zeigte sich, was ohnehin selbstverständlich ist: Der Sozialstaat nimmt den Bürgern mehr, als er ihnen gibt. Um mit diesem Befund nicht konfrontiert zu werden, hat die Politik phantasievolle Finanzierungskonstruktionen ersonnen. So werden wichtige Sicherungssysteme wie die Renten- oder Arbeitslosenversicherung gleichzeitig durch Beiträge und Steuern finanziert. Hierfür gibt es nachvollziehbare Argumente. Sie wiegen jedoch leicht im Vergleich zu dem einen: Beim Bürger soll sich der Eindruck festsetzen, daß er diese Systeme ausschließlich mit seinen Beiträgen speist und gemessen daran die Gegenleistung eindrucksvoll ist. Rentenbeiträge und Renten beispielsweise - das scheint sich zu rechnen. Werden aber auch jene Summen berücksichtigt, welche die Versicherten beim Betanken ihrer Automobile oder beim Kauf von Waren für die gesetzliche Alterssicherung aufbringen, rechnet es sich nicht mehr. Doch diese Summen, mit denen derzeit immerhin ein Drittel der Rentenausgaben bestritten werden, sind den Blicken der Versicherten entzogen. Steuern fließen in einen großen Topf hinein und wieder aus ihm heraus. Sie in beliebige Richtungen zu lenken ist leicht, was nicht heißt, daß dies bei Beiträgen viel schwieriger ist; auch bei ihnen sind dem politischen Einfallsreichtum kaum Grenzen gesetzt. Die Politik möchte aber gern den schönen Schein wahren und flutet deshalb die Schleusen des Sozialstaats lieber mit Steuern als mit Beiträgen. Ein aktuelles Beispiel hierfür sind die Projektionen der Bundesregierung zur Entwicklung des Rentenversicherungsbeitrags bis zum Jahr 2030. Angeblich soll er 22 Prozent des Bruttolohns nicht übersteigen. Das erscheint im Blick auf die bevorstehende Umwälzung im Bevölkerungsaufbau nicht nur hinnehmbar, sondern bemerkenswert günstig. Doch in Wirklichkeit hat diese Zahl keinerlei Aussagekraft. Der Bürger erfahrt nämlich nicht, was er sonst noch alles zahlen muß, um die Rentenversicherung über Wasser zu halten. Er kann nur vermuten, daß das viel und im Lauf der Zeit immer mehr sein wird. (Werden die Steuersätze zur Rentenversicherung zu den Beiträgen addiert, beträgt die Belastung heute bereits 28 Prozent des Bruttolohns. 2030 werden es zwischen 32 und 40 Prozent sein. Vgl. Reinhold Schnabel, Die Rentenreform 2001, 2001, S. 19). Allerdings reicht die Vermischung von Steuern und Beiträgen noch nicht aus, um die Bürger ruhig zu stellen. Auch der Beitragssatz selbst muß optisch verkleinert werden. Zu diesem Zweck werden die Versicherungsbeiträge an die Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung aufgespalten in einen sogenannten Arbeitnehmer- und einen Arbeitgeberanteil. Zur Begründung heißt es, die Arbeitgeber sollen sich an der sozialen Sicherung der Arbeitnehmer beteiligen. Warum sie das tun sollen, bleibt unklar. Und im Ergebnis tun sie es auch nicht, weil die Arbeitnehmer auch den Arbeitgeberanteil erarbeitet haben. Hätten sie es nicht getan, wären sie ihren Lohn nicht wert gewesen. Wenn sie aber auch die zweite Hälfte der Sozialabgaben erarbeitet haben, warum dürfen sie diese dann nicht selber abführen?  Sie dürfen nicht, weil die Politik befürchtet, daß viele, wenn sie die Summe von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen schwarz auf weiß zu Gesicht bekämen und an die Versicherungsträger überweisen müßten, das System als zu teuer empfänden und sich von ihm abwenden würden. Wie begründet diese Befürchtung ist, zeigen einschlägige Befragungen. Sie offenbaren erstens, daß über ein Fünftel der deutschen Erwerbsbevölkerung überhaupt keine Vorstellung von der Höhe der Sozialbeiträge hat und daß von denen, die eine Meinung dazu haben, knapp die Hälfte die Beitragssätze wesentlich zu niedrig einschätzt. Sie offenbaren zweitens, daß die Bevölkerungsmehrheit die zu erwartenden Leistungen erheblich zu hoch veranschlagt. Und sie offenbaren drittens, daß die Zustimmung insbesondere zur gesetzlichen Rentenversicherung mit steigendem Wissen um deren Funktionsweise abnimmt. Unwissen der Bevölkerung ist für alle diese Systeme Voraussetzung ihres Bestands. Die Politik müht sich deshalb, dieses Unwissen aufrechtzuerhalten. Aber nicht nur Aufwand und Ertrag, sondern auch Richtung und Verlauf der Mittelströme werden bewußt im Dunkeln gehalten. Auch das gehört zum System.“ (Ebd., S. 216-219).

Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft?  (2005)

„Die Europäer haben zu dieser Entwicklung nach Kräften beigetragen - teils gewollt, mehr aber noch ungewollt. Hätten sie den großen Vorsprung, den sie seit Generationen genießen, länger aufrechterhalten wollen, hätten sie ihn wohl vor den Habenichtsen dieser Welt ein wenig abgeschirmt und nicht versucht, diese mit Almosen abzuspeisen. Wie es im privaten Leben klug und rücksichtsvoll ist, mit Reichtum nicht zu protzen und Bedürftige daran zu beteiligen, ist es auch unter Völkern ein Gebot von Klugheit und Rücksichtnahme, weit übertragende Wirtschaftskraft nicht demonstrativ zur Schau zu stellen und den Schwächeren eine faire Chance zu geben. Die Europäer haben dieses Gebot selten befolgt. Wo immer sich eine Gelegenheit bot, führten sie der Welt ihre Stärke vor. Zugleich achteten sie peinlich darauf, daß ihre Märkte den wirtschaftlich Schwächeren immer nur so weit offen standen, wie es ihnen selbst von Nutzen war. Die Interessen der anderen waren in aller Regel nachrangig. Noch weniger klug und rücksichtsvoll verhielten und verhalten sich ihre überseeischen Verwandten. Als diese nach dem Zweiten Weltkrieg das Ruder übernahmen, rasteten und ruhten sie nicht, ihre Lebensart als einzig mögliche und menschengemäße zu propagieren. Bis in den tiefsten afrikanischen Busch und die entlegenste nepalesische Hochlandhütte sangen sie das Hohelied vom (US-)American Way of Life, begleitet von Büchern, Filmen und Warenproben.“ (Ebd., S. 33-34).

„Besonders problematisch ist, daß sich die USA vor allem im Ausland verschulden. Während sich die europäischen Regierungen das Geld zumeist noch bei ihren eigenen Bürgern borgen, pumpt die US-Regierung die Bürger anderer Länder an. Bei den US-Amerikanem selbst ist nicht mehr viel zu holen. Seit den 1990er Jahren sank deren im internationalen Vergleich ohnehin niedrige Sparquote auf nunmehr 3,8 Prozent ihrer verfügbaren Einkommen - ein Bruchteil dessen, was Europäer oder Japaner auf die hohe Kante legen. Ohne deren Ersparnisse könnten die USA ihren Kapitalbedarf auch nicht annähernd decken. Um ihr Wirtschafts- und Finanzmodell aufrechterhalten zu können, sind sie dringend auf fremde Hilfe angewiesen. .... Eine Zeit lang kann ein so hoher Kapitalimport als Zeichen des Ansehens gewertet werden, das die USA weltweit genießen. Doch irgendwann tauchen Fragen auf: Was ist der US-Dollar noch wert?  Ist der us-amerikanische Wohlstand nicht ein Wohlstand auf Pump?  Hängt diese Volkswirtschaft nicht am Tropf anderer?  Und zugleich wächst weltweit die Furcht, der Glaube an die Wirtschaftskraft und die militärische Stärke der USA könnte in nicht allzu ferner Zukunft der Einsicht weichen, daß beide zu erheblichen Teilen nur geliehen sind. Wenn sich diese Erkenntnis verbreitet, könnte die Weltwirtschaft schwer erschüttert werden.“ (Ebd., S. 134-135).

„Auch hier marschieren die US-Amerikaner an vorderster Front. Obwohl auch sie steuerlich geförderte Sparprogramme haben, will ihre Regierung, daß sie konsumieren und nicht sparen. Mit dem Geld, das übrig bleibt, sollen sie den Aktien-, Anleihen- und Immobilienmarkt aufpumpen. Das hat aus Sicht der Regierung die vorteilhafte Nebenwirkung, daß sich viele Bürger wohlhabender dünken, als sie in Wirklichkeit sind. Solche Wohlstandsillusionen sind wichtiger Bestandteil der Verbrauchsstrategie. Und diejenigen, die kein Geld haben, sollen es sich borgen. Billig genug ist es ja bei einer Realverzinsung von knapp über null Prozent. Das Wichtigste ist, daß das Geld rasch umgeschlagen wird. .... Hätten beispielsweise die Deutschen - für die meisten anderen frühindustrialisierten Länder gilt Ähnliches - im Jahre 2004 ihre Einkommen genauso hemmungslos ausgegeben wie die US-Amerikaner und nicht 10,9, sondern wie diese nur 3,8 Prozent gespart, hätten sie rund 100 Milliarden Euro zusätzlich in den Konsum fließen lassen können. Das sind knapp fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukt. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wären die Wachstumsraten kräftig gestiegen und wohl auch die Beschäftigtenzahlen. Und dann?  Dann hätte über kurz oder lang das Geld für Investitionen gefehlt, ohne die Wachstum ebenso wenig möglich ist wie ohne Nachfrage, und die Zinsen wären steil nach oben geschossen. Ein hochloderndes Strohfeuer wäre rasch in sich zusammengefallen. Hätten alle frühindustrialisierten Länder dem us-amerikanischen Beispiel nachgeeifert, befanden sie sich mittlerweile in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Die USA können sich nur verhalten, wie sie sich verhalten, weil sich die anderen nicht so verhalten. Anlaß für Lobpreisungen der us-amerikanischen Wirtschafts- und Finanzpolitik ist das nicht.“ (Ebd., S. 137-138).

„Also doch sparen?  Ernsthaft kann diese Frage nicht gestellt werden. Individuen und Volkswirtschaften, die immer nur von der Hand in den Mund leben, sind arm dran. Für den Einzelnen bedeutet Sparen die Bildung individueller Vermögen - großer oder kleiner. Individuelle Vermögen schaffen ein Mehr an Sicherheit und Unabhängigkeit. Für die Wirtschaft eines Landes bedeutet Sparen, daß Kapital bereitgestellt wird - viel oder wenig. Kapital ist eine tragende Säule jeder produktiven, wettbewerbsfähigen Volkswirtschaft. Wo kein oder nur wenig Kapital ist, reicht die Wirtschaftskraft allenfalls aus, um die Menschen am Leben zu erhalten. Mehr nicht. Darüber hinaus erschließt Kapital - individuell und kollektiv - den Zugang zu den Volkswirtschaften, die jetzt an der Reihe sind, kräftig zu expandieren. Denn Kapital ist weltweit knapp. Nichts brauchen die aufstrebenden Länder dringlicher. Deshalb ist es richtig, in den frühindustrialisierten Ländern die Vermögensbildung breitester Bevölkerungsschichten anzuregen und zu fördern. Kein einziges dieser Länder leidet unter zu hohen Ersparnissen und erst recht nicht die Gemeinschaft aller. Der Appell, mehr zu konsumieren, kann allenfalls kurzfristig sinnvoll sein. Politik, die auf Nachhaltigkeit setzt, wird sich in der Regel solcher Appelle enthalten und statt dessen die Bürger zum Sparen ermutigen. Eine forcierte Konsumpolitik ist im Grunde eine Politik des »Nach uns die Sintflut«. Die Menschheitserfahrung ist hier wiederum eindeutig. Umso bedenklicher ist es, daß sich die frühindustrialisierten Länder unter Führung der USA in ebendiese Richtung bewegen.“ (Ebd., S. 138).

„Ein immer höherer Anteil der Wertschöpfung - des Kapitals, des Wissens und der Arbeitskraft - dient in den frühindustrialisierten Ländern einzig und allein dazu, Menschen Dinge schmackhaft zu machen, denen sie ohne diesen Zuckerguß nicht näher treten würden. Der Befriedigung manifseter Bedürfnisse dient ein immer kleinerer Anteil der Güterwelt. Für vieles müssen die Bedürfnisse erst aufwendig geweckt und dann ebenso aufwendig am Leben gehalten werden. Das ist das Wesen reifer Volkswirtschaften und materiell wohlhabender Gesellschaften: Sie haben einen Entwicklungsstand erreicht, wo die Weckung von Bedürfnissen der Befriedigung von Bedürfnissen um nichts nachsteht. Dabei werden sogar solche Bedürfnisse erzeugt, deren Befriedigung den Menschen schadet. Konsum wird hier zur Perversion.“ (Ebd., S. 145-146).

Gesellschaften sind Organismen. Sie sind so so leistungsfähig oder -schwach wie ihre schwächsten Teile. Ein Arzt, der bei einem Patienten eine kranke Leber diagnostiziert, wird diesen kaum mit der Bemerkung nach Hause schicken, daß mit dem Blick auf seine kräftigen Schenkel und Oberarme kein Anlaß zur Beunruhigung bestehe. Vielmehr wird er diesem Patienten ein hohes Maß an Aufmerksamkeit widmen. Dabei fehlt den Gesellschaften der frühindustrialisierten Länder mehr als diesem Patienten. Ihnen fehlt das vermutlich Wichtigste: der feste innere Zusammenhalt. Ihre noch immer dominierende expansive Prägung hat ihn empfindlich gelockert.“ (Ebd., S. 163).

„In Deutschland beispielsweise wurde von 1974 bis 2004 das sogenannte Kindergeld real, das heißt unter Berücksichtigung der Geldentwertung, stufenweise verzehnfacht. (Vgl. Ulrich Pfeiffer & Reiner Braun, Private Lebensökonomie und staatlicher Einfluß - Neue Strategien zur Vermögensbildung, 2004, S. 45. Das Geburtenverhalten hat sich dadurch nicht verändert. Dann hätte das Kindergeld eben verzwanzig- oder verdreißigfacht werden müssen, meinen manche. Vielleicht hätte sich dadurch die Geburtenrate tatsächlich erhöht. Sicher ist das jedoch nicht. Die betroffenen Jahrgänge erklären nämlich mehrheitlich, es seien nicht vorrangig wirtschaftliche Gründe, die sie davon abhielten, mehr oder überhaupt Kinder zu haben. Auf die Frage, warum sie sich nicht vorstellen könnten, ein Kind zu bekommen, erklärten im Oktober 2004 in Deutschland 44 Prozent der Befragten: Weil ich keinen geeigneten Partner habe, und ebenfalls 44 Prozent: Weil ich auch ohne Kinder mit meinem Leben zufrieden bin. Wirtschaftliche Erwägungen folgten erst an sechster Steller. Sie waren kaum gewichtiger als Begründungen wie: Weil diese Welt immer weniger lebenswert ist, oder: Weil mir die Verantwortung für ein Kind zu groß ist. (Vgl. Britta Pohl, Mehr Kinder. Mehr Leben. Ergebnisse einer repräsentativen Forsa-Befragung im Auftrag von »Eltern« und »E.f.F.«, 2004, S. 43). Daß nicht vorrangig wirtschaftliche Gründe für das Geburtenverhalten maßgeblich sind, erhellt auch die Tatsache, daß in praktisch allen frühindustrialisierten Ländern die wirtschaftlich schwächsten Bevölkerungskreise zwar noch immer nicht viele, aber doch deutlich mehr Kinder haben als die wirtschaftlich stärkeren. Es gibt keinen positiven Zusammenhang zwischen Einkommenshöhe und Kinderzahl, wenn von einer kleinen Gruppe sehr Reicher abgesehen wird, die eine große Familie mitunter als Statussymbol betrachten. Die Nichterfüllung des Wunsches nach Kindern beruht in den frühindustrialisierten Ländern in den seltensten Fällen auf objektiv wirtschaftlicher Bedürftigkeit. Wenn wirtschaftliche Erwägungen gegen ein Kind sprechen, sind zumeist Verschiebungen im westlichen Wertessystem ursächlich. Materielle Güter haben eine ständige Aufwertung erfahren, während der Wert von Menschen abgenommen hat. Das zeigt sich im historischen Vergleich. Hätten die jungen Menschen vor vierzig Jahren materielle Güter ähnlich hoch bewertet wie die heute Jungen - in zahlreichen frühindustrialisierten Ländern wären schon jetzt die Straßen und Plätze ziemlich menschenleer. .... Die heute Jungen mögen sich einmal die Lohnzettel ihrer Eltern und Großeltern zeigen lassen, die dort vermerkten Nettobeträge in ihren heutigen Geldwert umrechnen und dann entscheiden, ob das für eine Familie reicht. .... In keinem einzigen frühindustrialisierten Land fehlen heute die materiellen Voraussetzungen, um eine bestandserhaltende Zahl von Kindern großzuziehen - weder individuell noch kollektiv. Was fehlt, ist der Wille, das zu tun.“ (Ebd., S. 176).

„Wirtschaft ist auf das Innigste verwoben mit Gesellschaft. Genau genommen sind Probleme der Wirtschaft sogar nur ein Widerschein gesellschaftlicher Probleme einschließlich der Bevölkerungsentwicklung. Zu häufig wird in der öffentlichen Debatte übersehen, daß die Wirtschaft nichts Eigenständiges ist. Sie ist eine Manifestation, also ein Offenbarwerden gesellschaftlich geleiteten individuellen und kollektiven Handelns. Nicht mehr und nicht weniger. Um die Wirtschaft zu sehen und zu verstehen, muß deshalb die Gesellschaft in den Blick genommen werden.“ (Ebd., S. 183).

„Gesellschaften, die ... ihr Wohl und Wehe vom Wirtschaftswachstum abhängig machen, sind schon gescheitert, ehe der globale Wettstreit richtig begonnen hat. .... Expansive Volkswirtschaften sind das Spiegelbild expansiver Gesellschaften.“  (Ebd., S. 238).

„Eine besondere Herausforderung ist die voraussichtliche Verbindung von steigendem Anteil mit sinkender Wirtschaftskraft (wegen der Schrumpfung der einheimischen Bevölkerung; Anm. HB). .... Bisher ... wird in Verkennung der wahrscheinlichen Entwicklung die Lösung der hieraus erwachsenden Probleme noch immer in anhaltenden, dynamischen Wirtschaftswachstum gesehen. Diese Lösung wäre zweifellos bequem. .... Doch darauf darf sich eine verantwortungsvolle Politik nicht verlassen. ... Wahrscheinlicher ist, daß die staatlich organisierten Leistungen im Alter sowie Krankheits- und Pflegefall auf breiter Front sinken werden, wenn schon nicht nominal, so doch real, das heißt gemessen an ihrer Kaufkraft. In einigen Ländern, u.a. auch in Deutschland (hier sank die reale Kaufkraft der Nettostandardrente zwischen 1991 und 2004 um mehr als 4%; in der Pflegeversicherung verringerte sich der Wert der Leistungssätze, gemessen am Verbraucherpreisindex, von 1995 bis 2004 sogar um knapp 12%), ist diese Entwicklung im vollen Gange.“ (Ebd., S. 261).

„Zwei Bevölkerungsgruppen sind von ihr allerdings weit weniger betroffen als andere: die wirtschaftlich Starken - kaum überraschend -, aber auch die wirtschaftlich Schwachen. Die wirtschaftlich Starken sind aufgrund der immensen Wohlstandsmehrung in den frühindustrialisierten Ländern zu einer beachlichen gesellschaftlichen Schicht herangewachsen, die, objektiv betrachtet, auf die sozialen Sicherungssysteme nicht oder nicht länger angewiesen ist. Mitunter sind sie sich dessen noch gar nicht bewußt. Aber mit jeder weiteren Erschütterung dieser Systeme wird den wirtschaftlich Starken, zu denen im Durchschnitt der frühindustrialisierten Länder schätzungsweise ein Zehntel der Bevölkerungzu zählen ist (in Deutschland z.B. bringen 10% der steuerpflichtigen Personen über die Hälfte des Einkommensteueraufkommens auf; vgl. Bundesministerium der Finanzen, Datensammlung zur Steuerpolitik, 2004, S. 21), bewußter werden, daß sie das alles nur am Rande berührt.“ (Ebd., S. 262).

„Dabei ist absehbar, daß die Wohlhabenheit der Wohlhabenden künftig noch zunehmen wird. Vor allem diejenigen, die über substantielles Geldvermögen verfügen, haben Möglichkeiten zu seiner Vermehrung, die früheren Generationen verschlossen waren. Kapital ist weltweit begehrt, und entsprechend herzlich werden seine Eigner überall willkommen geheißen. Für die sozialen Sicherungssysteme bedeutet dies, daß sich eine immer größer werdende gesellschaftliche Schicht, der zunehmend auch abhängig Beschäftigte angehören, zumindest mental von ihnen löst. Die sozialen Sicherungssysteme als schützendes Dach für (fast) alle - das ist nichtmehr die Lebenswirklichkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts.“ (Ebd., S. 262).

„Das gilt freilich nicht für die wirtschaftlich Schwachen. Sie brauchen dieses Dach auch künftig. Da sie aber ohnehin nicht viel zu verlieren haben, berührt auch sie der Umbau der sozialen Sicherungssysteme nur mäßig. Denn was immer aus diesen Systemen werden wird - das Existenzminimum werden sie nach menschlichem Ermessen auch in Zukunft zur Verfügung stellen. Das aber ist alles, was für die wirtschaftlich Schwachen zählt. Zwar ist nicht auszuschließen, daß dieses Minimum gegenüber heute noch ein wenig abgesenkt werden wird. Aber am Lebensstandard der wirtschaftlich Schwachen dürfte sich dadurch nur wenig ändern.“ (Ebd., S. 262).

„Ganz anders ist die Lage der etwa drei Viertel der Bevölkerung, die zwischen den Bedürftigen auf der einen und den Gutbetuchten auf der anderen Seite stehen. Sie müssen sich darauf einstellen, daß die sozialen Sicherungssysteme auch ihnen - ähnlich wie den wirtschaftlich Schwachen - künftig nur noch eine Grundversorgung im Alter sowie bei Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Arbeitslosigkeit gewähren werden (das heißt: mindestens 75% der Bevölkerung sind Verlierer! Anm. HB). Länder wie Deutschland, in denen die Bevölkerung daran gewöhnt ist, in allen Lebenslagen umfassend vom Staat versorgt zu werden, trifft das hart. Hier sind erst noch die Lektionen zu lernen, die beispielsweise Briten und US-Amerikaner bereits vor Jahren gelernt haben.“ (Ebd., S. 263).

„Um einen stark steigenden Anteil Transferberechtigter wie bisher zu versorgen ..., müßten z.B. die Deutschen um das Jahr 2035 weit mehr als die Hälfte ihrer Bruttoarbeitsentgelte an die sozialen Sicherungssysteme abführen (vgl. Kommission »Soziale Sicherung«, Bericht zur Reform der sozialen Sicherungssysteme, 29.09.2003, S. 59). Und das unter Bedingungen voraussichtlich stagnierender oder sogar sinkender Arbeitseinkommen! Die Politik soll gar nicht erst den Versuch unternehmen, dies zu erzwingen. Das Leben eines Volkes umfaßt mehr als die Sicherung tradierter Sozialsysteme.“ (Ebd., S. 263).

„Die Sanierung der öffentlichen Haushalte sowie der sozialen Sicherungssysteme ist ein Wert an sich. Sie zeigt der Bevölkerung die Grundlagen und Grenzen ihres Handelns auf und vermindert zugleich Zukunftslasten. Beides ist geeignet, Kräfte freizusetzen. Ebenso wichtig ist jedoch, daß mit dieser Sanierung ein Beitrag zur Wiederherstellung und Festigung des empfindlich gelockerten gesellschaftlichen Zusammenhalts geleistet wird.“  (Ebd., S. 264).

„Verblendet von dem historisch einzigartigen Wohlstandsniveau und im Vertrauen auf das alles durchdringende Geflecht von Zwangssolidaritäten, meinen viele in den frühindustrialisierten Ländern, auf die Gemeinschaft nicht mehr angewiesen zu sein und ihr Leben nach höchst individuellen Vorstellungen gestalten zu können. Ein Frank Sinatra hat es ihnen tausendmal vorgesungen: I did it my way.“  (Ebd., S. 264).

„Dabei sind nur Minderheiten aus eigener Kraft zumindest wirtschaftlich unabhängig. Die größte Mehrheit der Menschen verläßt sich darauf, daß irgendwelche anderen, gegebenfalls das Sozialamt, ihren Lebensunterhalt bestreiten. Darauf glauben sie einen Anspruch zu haben. Umgekehrt sind sie davon überzeugt, selbst niemandem etwas zu schulden, weder ihren Eltern noch ihren Lehrern noch ihren Freunden - so sie denn welche haben. Sie kennen kaum Pflichten. Ihre Welt besteht aus Rechten gegenüber anderen.“  (Ebd., S. 264).

„Dieser Typ Mensch, den der hochgradig individualistische Westen innerhalb weniger Generationen hervorgebracht hat, wirkt mittlerweile gesellschaftsprägend. Er ist so etwas wie ein Ideal, an dem sich doe Öffentlichkeit bewußt oder unbewußt orientiert. Die Medeien fordern das.“  (Ebd., S. 265).

„Wie sehr in den westlichen Gesellschaften der Mensch vom Menschen entwöhnt ist, zeigt sowohl die hohe Single- und Scheidungs- als auch die niedrige Geburtenrate. (In den westeuropäischen Ländern sind im Schnitt rund ein Drittel der Haushalte Ein-Personen-Haushalte. Iin Asisen und Südamerika liegt dieser Anteil zumeist unter zehn Prozent. Annähernd jede zweite Ehe wurde in der EU 2002 geschieden. Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch für das Ausland, S. 44 und 230f..). Unter den Gründen für diese Zahlen sticht nämlich einer hervor: Viele erwarten von anderen, was sie selbst nicht zu geben bereit oder überhaupt in der Lage sind. Oft sind menschliche Maßstäbe verloren gegangen. Vom Partner, von der Partnerin wird ein Maß an Anpassungsfähigkeit, Genügsamkeit und Einfühlungsvermögen, an Engagement, Fleiß und Dynamik, aber auch an Witz, Schönheit und Ausstrahlung erwartet, wie es Menschen vielleicht in 90-Minuten-Filmen vorgaukeln, nicht aber im wirklichen Leben erbringen können. Die Enttäuschung ist programmiert.“  (Ebd., S. 265).

„Nicht anders bei Kindern. Unter 30-Jährige fühlen sich zu jung, Über 34-Jährige zu alt für sie. Wird dann doch eines geboren, verfliegt häufig der Wunsch nach einem zweiten. (Vgl. Institut für ´für Demoskopie Alelnsbach, Einflußfaktoren auf die Geburtenrate - Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der 18-bis-44-Jährigen, 2004, S. 14ff.). So anstrengend und freiheitsberaubend hatten sich die Eltern das nicht vorgestellt. Und die Großeltern spielen oft auch nicht mehr mit. Sie wollen ihre Ruhe und Unabhängigkeit. Ist das Kind schließlich flügge, stellt es seinerseits die Eltern, oder was von ihnen geblieben ist, in einer Massivität in Frage, die ebenfalls gemeinschaftssprengend wirkt.“  (Ebd., S. 265).

„Eltern wissen nicht mehr, wie sie mit ihren Kindern, Kinder nicht, wie sie mit ihren Eltern umzugehen haben. Die westlichen Gesellschaften können immer weniger aus sich selbst heraus leisten. Früher Selbstverständliches müssen sie immer wieder neu erlernen: den Umgang mit Speisen und Getränken, Arbeit und Muße, Mann und Frau, Erwachsenen und Kindern. Sie wissen nicht mehr, mit Menschen menschengemäß umzugehen. Deshalb über- und unterfordern sie sie ständig.“  (Ebd., S. 265).

„Und die Menschen wissen nicht mehr, mit Gemeinschaft, mit Gesellschaft umzugehen. Viele meinen, sie mit Füßen treten und ausplündern zu können. Sie haben keine Vorstellung davon, wie belastbar, aber auch empfindlich und verletzlich sie ist.“  (Ebd., S. 265-266).

Gesellschaften sind Organismen, die wie alle Organismen entstehen und vergehen und Voraussetzungen ihrer Existenz haben. Aber im Unterschied zu vielen anderen Organismen bewahren sie oft ihr äußeres Erscheinungsbild, auch wenn sie bereits ihre Vitalität eingebüßt haben oder sogar abgestorben sind. Wie manche Bäume können Gesellschaften versteinern und versteinert weiterexistieren. Doch Steine leben nicht. Wie lebendig sind die westlichen Gesellschaften?“  (Ebd., S. 266).

„Es war ein kardinaler Fehler der westlichen Völker, davon auszugehen, daß die Vermögenden eine gewissermaßen natürliche Verbundenheit mit der Gesellschaft haben, aus der sie hervorgegangen sind. Auf eine solche Verbundenheit war allenfalls Verlaß, als die Zahl der Vermögenden gering war und sie sich schon mangels Masse nicht von der übrigen Bevölkerung absondern konnten. Aber auch das ist im Zuge der immensen materiellen Wohlstandsmehrung und des gestiegenen Bildungsniveaus anders geworden. Die Vermögenden bilden heute in den frühindustrialisierten Ländern eine Schicht, die das Potential hat, sich sowohl von der eigenen Gesellschaft abzulösen als sich auch mit ihresgleichen in anderen Ländern zusammenzuschließen. Diese Menschen könnten durchaus Verhaltensformen entwickeln, die denen des europäischen Hochadels früherer Epochen ähneln - der eigenen Schicht, nicht dem eigenen Volk verpflichtet. Mit gesetzlichen Normen und gesellschaftlichen Zwängen ist dem nicht beizukommen. Versuche vieler Politiker, diese Schicht gegen deren Willen für das gemeine Wohl in die Pflicht zu nehmen, haben etwas Kindlich-Rührendes. Viele mögen vor Zorn die Fäuste ballen und jene Vermögenden verwünschen: Diese lassen sich zu solidarischem Verhalten nicht zwingen. Sie verhalten sich nur dann uneingeschränkt und umfassend solidarisch, wenn sie in einen bestimmten Wertekanon und eine hochentwickelte Ethik eingebunden sind oder - wenn es ihnen nutzt. Wo Werte und Ethik fehlen, ist es schwer, wenn nicht sogar unmöglich, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen Vermögenden, weniger Vermögenden und Unvermögenden zu gewährleisten. Der im Westen weitverbreitete Glaube, Werte und Ethik durch gesetzliche Normen ersetzen zu können, hat sich ebenfalls als Irrglaube erwiesen. Die Verdrängung jenes ungeschriebenen »Das gehört sich, und das gehört sich nicht« durch zahllose »Du darfst«, »Du sollst«, »Du mußt« war falsch. .... Die Völker des Westens werden nicht umhinkönnen, die Vermögenden wieder für sich einzunehmen, sie zu umwerben, an sich zu binden. .... Der Riß zwischen den Vermögenden und den weniger Vermögenden ist bereits beängstigend breit geworden. .... Die Vermögenden ihrerseits sollten sich nicht ungebührlich bitten lassen und daran denken, warum sie sind, was sie sind. Warum erhält in den USA ein Trabrennfahrer unter Umständen das 20fache einer Kellnerin, eine TV-Richterin das 130fache einer Richterin am höchsten Gericht des Landes, ein Börsenmakler das 800fache eines Feuerwehrchefs, ein Basketballspieler das 1200fache eines Hotelportiers oder der Gastgeber einer Radioshow das 1500fache einer Bibliothekarin - jährlich 32 Millionen US-Dollar (vgl. Parade Magazine, What People Earn, 14.03.2004)?  Warum bekommt eine Frau, die behauptet, mit einem bestimmten Fußballspieler eine Affäre gehabt zu haben, für ein Zwei-Stunden-Interview 750000 Euro (vgl. Die Welt, Zweifel an angeblicher Beckham-Geliebten, 16.04.2004)?  Und warum verfügt besagter Fußballer schon nach wenigen Jahren sportlicher Aktivitäten über hohe Millionenbeträge?  Ist es »verdient«, wenn eine Schauspielerin für einen Film 14 Millionen US-Dollar und für Werbeauftritte weitere 12 Millionen im Jahr bekommt (durchschnittliche Gage pro Film und jährliche Werbeeinnahmen von Catherine Zeta-Jones; vgl. Financial Times Deutschland, Wer ist die Reichste im Land?,  20.07.2004)?  Oder wie steht es mit dem Manager, dessen Einkommen 250mal so hoch ist wie das eines Durchschnittsverdieners ?  Und was ist zu den Erben großer Vermögen zu sagen und denen, die in sie einheiraten?  Leistung oder Glück?“  (Ebd., S. 270-271).

„Oft sind es Mehrheiten, die Sonderlasten für Wohlhabende ausdrücklich befürworten. Dabei übersehen sie allerdings, daß durch derartige Sonderlasten der Wohlstand allenfalls kurzfristig gleichmäßiger und vielleicht auch gemeinwohlverträglicher verteilt wird. .... »Reichensteuern« sind in aller Regel schon nach kurzer Zeit erstaunlich unergiebig. Die Reichen, jedenfalls die wirklich Reichen, wissen sich einzurichten.“ (Ebd., S. 273-274).

 

Zitate: Hubert Brune, 2001 (zuletzt aktualisiert: 2009).

Von Meinhard Miegel benutzte Quellen bzw. Literatur (Sekundärliteratur) u.a.:
- Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit, 1960.
- Birg, Herwig: Biographische Theorie der demographischen Reproduktion, 1991.
- Birg, Herwig: Die demographische Zeitenwende - Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, 2001.
- Brentano, Ludwig Josef: Die Malthussche Lehre und die Bevölkerungsbewegung der letzten Dezennien, 1909.
- Christ, Karl: Die Römer, 1979.
- Christ, Karl: Der Untergang des Römischen Reiches, 1986.
- Dilthey, Wilhelm: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, in: Gesammelte Schriften, postum.
- Dumont, Arsène: Dépopulation et Civilisation, 1890.
- Gehlen, Arnold: Der Mensch - seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940.
- Hobbes, Thomas:Leviathan, 1651.
- Kaufmann, Franz-Xaver: Bevölkerungsbewegung zwischen Quantität und Qualität, 1975.
- Kant, Immanuel: Ursachen des Geburtenrückgangs und Möglichkeiten staatlicher Gegenmaßnahmen, 1990.
- Kaufmann, Franz-Xaver: Schrumpfende Gesellschaft, 2005.
- Mackenroth, Gerhard: Bevölkerungslehre, 1953.
- Machiavelli, Niccolò: Il Principe, 1532.
- Malthus, Thomas R.: Über die Bedingungen und Folgen der Volksvermehrung, 1789.
- Malthus, Thomas R.: Das Bevölkerungsgesetz, 1798.
- Marschalck, Peter: Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, 1984.
- Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie, 1859.
- Mommsen, Theodor: Römische Geschichte, 1854-1856.
- Mill, John Stuart: Principles of Political Economy, 1848.
- Scheler, Max: Bevölkerungsproblem als Weltanschauungsfrage (in: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre), 1923.
- Schmid, Josef: Einführung in die Bevölkerungssoziologie, 1976.
- Schmid, Josef: Bevölkerung und soziale Entwicklung, 1984.
- Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen, 1776.
- Sombart, Werner: Vom Menschen, 1938.
- Spencer, Herbert: A New Theory of Population Deduced from the General Law of Animal Fertility, 1852.
- Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung und Wirtschaft 1872-1972, 1972; Stataistisches Jahrbuch 1992 für die BR Deutschland, 1992
- UN: Demographic Year Book, 1989; World Population Prospects - 1996 Revision, 1998.
- Wingen, Max: Entscheidung zum Kind zwischen persönlichen Interessen, familialen Leistungen und Gemeinwohl, 1986.
- Wingen, Max: Kinder in der Industriegesellschaft, 1987.
- Wingen, Oscar: Die Bevölkerungstheorie der letzten Jahre, 1915.

- Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1919-1920.
- Wolf, Julius: Der Geburtenrückgang - Die Rationalisierung des Sexuallebens unserer Zeit, 1912.
WWW.HUBERT-BRUNE.DE
- Literaturverzeichnis -