Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste
der Musik, 1872
Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft
gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren
Sicherheit der Anschauung gekommen sind, daß die Fortentwickelung der Kunst
an die Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden
ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter,
bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung,
abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen
Geheimlehren ihrer Kunstanschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich
deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen.
(Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 20).An
ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntnis,
daß in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und
Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen
Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedne Triebe gehen
nebeneinander her, zumeist im offnen Zwiespalt miteinander und sich gegenseitig
zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes
Gegensatzes zu perpetuieren, den das gemeinsame Wort »Kunst« nur scheinbar
überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des
hellenischen »Willens«, miteinander gepaart erscheinen und in dieser
Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen
Tragödie erzeugen. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 20).Um uns jene beiden Triebe näherzubringen,
denken wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des Traumes
und des Rausches; zwischen welchen physiologischen Erscheinungen ein entsprechender
Gegensatz wie zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist.
Im Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des Lukretius, die herrlichen Göttergestalten
vor die Seelen der Menschen, im Traume sah der große Bildner den entzückenden
Gliederbau übermenschlicher Wesen, und der hellenische Dichter, um die Geheimnisse
der poetischen Zeugung befragt, würde ebenfalls an den Traum erinnert und
eine ähnliche Belehrung gegeben haben, wie sie Hans Sachs in den Meistersingern
gibt:»Mein
Freund, das grad ist Dichters Werk, daß er sein Träumen deut' und
merk'. Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn wird ihm im Traume aufgetan: all
Dichtkunst und Poeterei ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.« | Der
schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler
ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden,
einer wichtigen Hälfte der Poesie. Wir genießen im unmittelbaren Verständnisse
der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es gibt nichts Gleichgültiges und
Unnötiges. Bei dem höchsten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir
doch noch die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins: wenigstens ist
dies meine Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität, ich
manches Zeugnis und die Aussprüche der Dichter beizubringen hätte. Der
philosophische Mensch hat sogar das Vorgefühl, daß auch unter dieser
Wirklichkeit, in der wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen liege,
daß also auch sie ein Schein sei; und Schopenhauer bezeichnet geradezu die
Gabe, daß einem zuzeiten die Menschen und alle Dinge als bloße Phantome
oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen philosophischer Befähigung.
Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhält sich der künstlerisch
erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn
aus diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt
er sich für das Leben. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 20-21).Und so möchte von Apollo in einem exzentrischen
Sinne das gelten, was Schopenhauer von dem im Schleier der Maja befangenen Menschen
sagt, Die Welt als Wille und Vorstellung 1, § 63, S. 368-369: »Wie
auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegrenzt, heulend Wellenberge
erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend;
so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt
und vertrauend auf das principium individuationis.« Ja es wäre
von Apollo zu sagen, daß in ihm das unerschütterte Vertrauen auf jenes
principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck
bekommen habe, und man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild
des principii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und
Blicken die ganze Lust und Weisheit des »Scheines« samt seiner Schönheit,
zu uns spräche. An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen
geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnisformen
der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgendeiner seiner Gestaltungen,
eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung
hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis
aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so tun wir einen
Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie
des Rausches gebracht wird. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 22-23).Der Grieche kannte und empfand die Schrecken
und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, mußte
er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes ungeheure
Mißtrauen gegen die titanischen Mächte der Natur, jene über allen
Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira, jener Geier des großen Menschenfreundes
Prometheus, jenes Schreckenslos des weisen Ödipus, jener Geschlechtsfluch
der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt, kurz jene ganze Philosophie des
Waldgottes, samt ihren mythischen Exempeln, an der die schwermütigen Etrurier
zugrunde gegangen sind wurde von den Griechen durch jene künstlerische
Mittelwelt der Olympier fortwährend von neuem überwunden, jedenfalls
verhüllt und dem Anblick entzogen. (Ebd., 1872, in: Werke in drei
Bänden, 1. Band, S. 30).Um leben zu können, mußten
die Griechen diese Götter, aus tiefster Nötigung, schaffen: welchen
Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, daß aus der ursprünglichen
titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen apollinischen Schönheitstrieb
in langsamen Übergängen die olympische Götterordnung der Freude
entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie anders
hätte jenes so reizbar empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leiden
so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht
dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt
worden wäre. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1.
Band, S. 30-31).Derselbe Trieb, der die Kunst ins Leben ruft, als
die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins,
ließ auch die olympische Welt entstehen, in der sich der hellenische »Wille«
einen verklärenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das
Menschenleben, indem sie es selbst leben die allein genügende Theodizee!
Das Dasein unter dem hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das an
sich Erstrebenswerte empfunden, und der eigentliche Schmerz der homerischen
Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem auf das baldige Abscheiden:
so daß man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen
könnte, »das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das
Zweitschlimmste, überhaupt einmal zu sterben.« Wenn die Klage einmal
ertönt, so klingt sie wieder vom kurzlebenden Achilles, von dem blättergleichen
Wechsel und Wandel des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit.
Es ist des größten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben
zu sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. So ungestüm verlangt, auf der
apollinischen Stufe, der »Wille« nach diesem Dasein, so eins fühlt
sich der homerische Mensch mit ihm, daß selbst die Klage zu seinem Preisliede
wird. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 31).Hier
muß nun ausgesprochen werden, daß diese von den neueren Menschen so
sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit der Natur,
für die Schiller das Kunstwort »naiv« in Geltung gebracht hat,
keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher
Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Kultur, als einem Paradies der Menschheit
begegnen müßten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den
Emil Rousseaus sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen
solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte.
Wo uns das »Naive« in der Kunst begegnet, haben wir die höchste
Wirkung der apollinischen Kultur zu erkennen: welche immer erst ein Titanenreich
zu stürzen und Ungetüme zu töten hat und durch kräftige Wahnvorspiegelungen
und lustvolle Illusionen über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung
und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger geworden sein muß. (Ebd.,
1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 31-32).Vielleicht
gewinnen wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung hinstelle,
daß sich der Satyr, das fingierte Naturwesen, zu dem Kulturmenschen in gleicher
Weise verhält, wie die dionysische Musik zur Zivilisation. Von letzterer
sagt Richard Wagner, daß sie von der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein
vom Tageslicht. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band,
S. 50).Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige
und zum zartesten und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, der mit
schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten
Weltgeschichte, ebenso wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Gefahr
ist, sich nach einer buddhistischen Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet
die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich das Leben. (Ebd.,
1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 51).Die
leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückselige Ödipus,
ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der zum Irrtum und zum
Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein ungeheures
Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich ausübt, die noch über
sein Verscheiden hinaus wirksam ist. Der edle Mensch sündigt nicht, will
uns der tiefsinnige Dichter sagen: durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche
Ordnung, ja die sittliche Welt zugrunde gehen, eben durch dieses Handeln wird
ein höherer magischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf
den Ruinen der umgestürzten alten gründen. (Ebd., 1872, in: Werke
in drei Bänden, 1. Band, S. 60).Es ist eine unanfechtbare
Überlieferung, daß die griechische Tragödie in ihrer ältesten
Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte, und daß der längere
Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war. Aber mit der
gleichen Sicherheit darf behauptet werden, daß niemals bis auf Euripides
Dionysus aufgehört hat, der tragische Held zu sein, sondern daß alle
die berühmten Figuren der griechischen Bühne, Prometheus, Ödipus
usw. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Daß hinter
allen diesen Masken eine Gottheit steckt, das ist der eine wesentliche Grund für
die so oft angestaunte typische »Idealität« jener berühmten
Figuren. Es hat -ich weiß nicht wer - behauptet, daß alle Individuen
als Individuen komisch und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen wäre,
daß die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen Bühne
nicht ertragen konnten. In der Tat scheinen sie so empfunden zu haben:
wie überhaupt jene platonische Unterscheidung und Wertabschätzung der
»Idee« im Gegensatze zum »Idol«, zum Abbild, tief im hellenischen
Wesen begründet liegt. Um uns aber der Terminologie Platos zu bedienen, so
wäre von den tragischen Gestalten der hellenischen Bühne etwa so zu
reden: der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer Vielheit der Gestalten,
in der Maske eines kämpfenden Helden und gleichsam in das Netz des Einzelwillens
verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, ähnelt
er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und daß er überhaupt
mit dieser epischen Bestimmtheit und Deutlichkeit erscheint, ist die Wirkung
des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen dionysischen Zustand durch jene
gleichnisartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener Held der leidende
Dionysus der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende
Gott, von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen
zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt werde:
wobei angedeutet wird, daß diese Zerstückelung, das eigentlich dionysische
Leiden, gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, daß
wir also den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens,
als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten. Aus dem Lächeln
dieses Dionysus sind die olympischen Götter, aus seinen Tränen die Menschen
entstanden. In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur
eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmütigen Herrschers.
Die Hoffnung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir
jetzt als das Ende der Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben: diesem kommenden
dritten Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser
Hoffnung gibt es einen Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in
Individuen zertrümmerten Welt: wie es der Mythus durch die in ewige Trauer
versenkte Demeter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder sich freut, als
man ihr sagt, sie könne den Dionysus noch einmal gebären. In den angeführten
Anschauungen haben wir bereits alle Bestandteile einer tiefsinnigen und pessimistischen
Weltbetrachtung und zugleich damit die Mysterie nlehre der Tragödie zusammen:
die Grunderkenntnis von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation
als des Urgrundes des Übels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß
der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten
Einheit. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S.
66-67).»Wenn ich etwas Trauriges sage, füllen
sich meine Augen mit Tränen; ist aber das, was ich sage, schrecklich und
entsetzlich, dann stehen die Haare meines Hauptes vor Schauder zu Berge, und mein
Herz klopft.« Hier merken wir nichts mehr von jenem epischen Verlorensein
im Scheine, von der affektlosen Kühle des wahren Schauspielers, der, gerade
in seiner höchsten Tätigkeit, ganz Schein und Lust am Scheine ist. Euripides
ist der Schauspieler mit dem klopfenden Herzen, mit den zu Berge stehenden Haaren;
als sokratischer Denker entwirft er den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler
führt er ihn aus. Reiner Künstler ist er weder im Entwerfen noch im
Ausführen. So ist das euripideische Drama ein zugleich kühles und feuriges
Ding, zum Erstarren und zum Verbrennen gleich befähigt; es ist ihm unmöglich,
die apollinische Wirkung des Epos zu erreichen, während es andererseits sich
von den dionysischen Elementen möglichst gelöst hat und jetzt, um überhaupt
zu wirken, neue Erregungsmittel braucht, die nun nicht mehr innerhalb der beiden
einzigen Kunsttriebe, des apollinischen und des dionysischen, liegen können.
Diese Erregungsmittel sind kühle paradoxe Gedanken an Stelle
der apollinischen Anschauungen und feurige Affekte an Stelle
der dionysischen Entzückungen und zwar höchst realistisch nachgemachte,
keineswegs in den Äther der Kunst getauchte Gedanken und Affekte. (Ebd.,
1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 79).Haben
wir demnach so viel erkannt, daß es Euripides überhaupt nicht gelungen
ist, das Drama allein auf das Apollinische zu gründen, daß sich vielmehr
seine undionysische Tendenz in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt
hat, so werden wir jetzt dem Wesen des ästhetischen Sokratismus schon
näher treten dürfen, dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet:
»Alles muß verständig sein, um schön zu sein«; als
Parallelsatz zu dem sokratischen »nur der Wissende ist tugendhaft«.
(Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 79).Das,
was Sophokles von Äschylus gesagt hat, er tue das Rechte, obschon unbewußt,
war gewiß nicht im Sinne des Euripides gesagt: der nur soviel hätte
gelten lassen, daß Äschylus, weil er unbewußt schaffe,
das Unrechte schaffe. .... Euripides unternahm es, wie es auch Plato unternommen
hat, das Gegenstück des »unverständigen« Dichters der Welt
zu zeigen, sein ästhetischer Grundsatz »alles muß bewußt
sein, um schön zu sein«, ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem
sokratischen »alles muß bewußt sein, um gut zu sein«.
Demgemäß darf uns Euripides als der Dichter des ästhetischen Sokratismus
gelten. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 82).Daß
Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zu Euripides habe, entging dem gleichzeitigen
Altertume nicht; und der beredteste Ausdruck für diesen glücklichen
Spürsinn ist jene in Athen umlaufende Sage, Sokrates pflege dem Euripides
im Dichten zu helfen. Beide Namen wurden von den Anhängern der »guten
alten Zeit« in einem Atem genannt, wenn es galt, die Volksverführer
der Gegenwart aufzuzählen: von deren Einflusse es herrühre, daß
die alte marathonische vierschrötige Tüchtigkeit an Leib und Seele immer
mehr einer zweifelhaften Aufklärung, bei fortschreitender Verkümmerung
der leiblichen und seelischen Kräfte, zum Opfer falle. .... m berühmtesten
ist aber die nahe Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakelspruche,
welcher Sokrates als den Weisesten unter den Menschen bezeichnete, zugleich aber
das Urteil abgab, daß dem Euripides der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit
gebühre. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band,
S. 83).Während doch bei allen produktiven
Menschen der Instinkt gerade die schöpferisch-affirmative Kraft ist, und
das Bewußtsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates
der Instinkt zum Kritiker, das Bewußtsein zum Schöpfer eine
wahre Monstrosität per defectum! (Ebd., 1872, in: Werke in
drei Bänden, 1. Band, S. 85).Wirklich
hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen Kunstform gegeben,
das Vorbild des Romans: der als die unendlich gesteigerte äsopische
Fabel zu bezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichen Rangordnung
zur dialektischen Philosophie lebt, wie viele Jahrhunderte hindurch dieselbe Philosophie
zur Theologie: nämlich als ancilla. Dies war die neue Stellung der
Poesie, in die sie Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte.
(Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 88).Schon
bei Sophokles zeigt sich jene Verlegenheit in betreff des Chors ein wichtiges
Zeichen, daß schon bei ihm der dionysische Boden der Tragödie zu zerbröckeln
beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem Chor den Hauptanteil der Wirkung anzuvertrauen,
sondern schränkt sein Bereich dermaßen ein, daß er jetzt fast
den Schauspielern koordiniert erscheint, gleich als ob er aus der Orchestra in
die Szene hineingehoben würde: womit freilich sein Wesen völlig zerstört
ist, mag auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chors seine Beistimmung
geben. Jene Verrückung der Chorposition, welche Sophokles jedenfalls durch
seine Praxis und, der Überlieferung nach, sogar durch eine Schrift anempfohlen
hat, ist der erste Schritt zur Vernichtung des Chors, deren Phasen in Euripides,
Agathon und der neueren Komödie mit erschreckender Schnelligkeit aufeinanderfolgen.
Die optimistische Dialektik treibt mit der Geißel ihrer Syllogismen die
Musik aus der Tragödie: d.h. sie zerstört das Wesen der Tragödie,
welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustände,
als sichtbare Symbolisierung der Musik, als die Traumwelt eines dionysischen Rausches
interpretieren läßt. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 89-90).Haben wir also sogar eine
schon vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz anzunehmen, die nur in ihm
einen unerhört großartigen Ausdruck gewinnt: so müssen wir nicht
vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung wie die
des Sokrates deute (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1.
Band, S. 90).Haben wir also sogar eine schon
vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz anzunehmen, die nur in ihm einen
unerhört großartigen Ausdruck gewinnt: so müssen wir nicht vor
der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung wie die des
Sokrates deute .... (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1.
Band, S. 90).An diesem ausgeführten historischen
Beispiel haben wir klarzumachen gesucht, wie die Tragödie an dem Entschwinden
des Geistes der Musik ebenso gewiß zugrunde geht, wie sie aus diesem Geiste
allein geboren werden kann. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden,
1. Band, S. 97).Im Gegensatz zu allen denen,
welche beflissen sind, die Künste aus einem einzigen Prinzip, als dem notwendigen
Lebensquell jedes Kunstwerks, abzuleiten, halte ich den Blick auf jene beiden
künstlerischen Gottheiten der Griechen, Apollo und Dionysus, geheftet und
erkenne in ihnen die lebendigen und anschaulichen Repräsentanten zweier in
ihrem tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten.
(Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 98).Apollo
steht vor mir als der verklärende Genius des principii individuationis,
durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: während
unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt
wird und der Weg zu den Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge
offenliegt. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band,
S. 98).Dieser ungeheure Gegensatz, der sich zwischen
der plastischen Kunst als der apollinischen und der Musik als der dionysischen
Kunst klaffend auftut, ist einem einzigen der großen Denker in dem Maße
offenbar geworden, daß er, selbst ohne jene Anleitung der hellenischen Göttersymbolik,
der Musik einen verschiedenen Charakter und Ursprung vor allen anderen Künsten
zuerkannte, weil sie nicht, wie jene alle, Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar
Abbild des Willens selbst sei und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische,
zu aller Erscheinung das Ding an sich darstelle. (Vgl. Arthur Schopenhauer, Die
Welt als Wille und Vorstellung, I, S. 310.) Auf diese wichtigste Erkenntnis
aller Ästhetik, mit der, in einem ernsteren Sinne genommen, die Ästhetik
erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen Wahrheit
seinen Stempel gedrückt, wenn er im »Beethoven« feststellt, daß
die Musik nach ganz anderen ästhetischen Prinzipien als alle bildenden Künste
und überhaupt nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen sei
.... (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 98).Es
gibt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sklavenstand, der seine Existenz
als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für
sich, sondern für alle Generationen Rache zu nehmen. (Ebd., 1872, in:
Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 112).Das
ist ja das Merkmal jenes »Bruches«, von dem jedermann als von dem
Urleiden der modernen Kultur zu reden pflegt, daß der theoretische Mensch
vor seinen Konsequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt, sich dem
furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen: ängstlich läuft er
am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen
Grausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische Betrachten verzärtelt.
(Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 114).Genug,
wenn wir erkannt haben, wie der eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser
neuen Kunstform in der Befriedigung eines gänzlich unästhetischen Bedürfnisses
liegt, in der optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich, in der Auffassung
des Urmenschen als des von Natur guten und künstlerischen Menschen: welches
Prinzip der Oper sich allmählich in eine drohende und entsetzliche Forderung
umgewandelt hat, die wir, im Angesicht der sozialistischen Bewegungen der Gegenwart,
nicht mehr überhören können. Der »gute Urmensch« will
seine Rechte: welche paradiesischen Aussichten! (Ebd., 1872, in: Werke
in drei Bänden, 1. Band, S. 117).Der
kunstohnmächtige Mensch erzeugt sich eine Art von Kunst, gerade dadurch,
daß er der unkünstlerische Mensch an sich ist. (Ebd., 1872, in:
Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 118).Aus
dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die
mit den Urbedingungen der sokratischen Kultur nichts gemein hat und aus ihnen
weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Kultur als
das Schrecklich-Unerklärliche, als das Übermächtig-Feindselige
empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen
Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.
(Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 122).Vor
der deutschen Musik aber mag sich der Lügner und Heuchler in acht nehmen:
denn gerade sie ist, inmitten aller unserer Kultur, der einzig reine, lautere
und läuternde Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des
großen Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen:
alles, was wir jetzt Kultur, Bildung, Zivilisation nennen, wird einmal vor dem
untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen. (Ebd., 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 122-123).Erinnern
wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen strömenden Geiste der deutschen
Philosophie, durch Kant und Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedne
Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen,
zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernstere Betrachtung
der ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die
in Begriffe gefaßte dionysische Weisheit bezeichnen können:
wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der deutschen Musik und
der deutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Daseinsform, über deren
Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahnend unterrichten können?
(Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 123).Ja,
meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt
der Tragödie. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1.
Band, S. 122).Die Musik ist die eigentliche
Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild
derselben. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S.
133).Das Drama ... erreicht als Ganzes
eine Wirkung, die jenseits aller apollinischen Kunstwirkungen liegt. In
der Gesamtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische wieder das Übergewicht;
sie schließt mit einem Klange, der niemals von dem Reiche der apollinischen
Kunst her tönen könnte. Und damit erweist sich die apollinische Täuschung
als das, was sie ist, als die während der Dauer der Tragödie anhaltende
Umschleierung der eigentlichen dionysischen Wirkung: die doch so mächtig
ist, am Schluß das apollinische Drama selbst in eine Sphäre zu drängen,
wo es mit dionysischer Weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst und seine
apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich das schwierige Verhältnis
des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund
beider Gottheiten zu symbolisieren: Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo
aber schließlich die Sprache Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie
und der Kunst überhaupt erreicht ist. (Ebd., 1872, in: Werke in
drei Bänden, 1. Band, S. 134-135).Ohne
Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig:
erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung
zur Einheit ab. (Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band,
S. 140).Und gerade nur so viel ist ein
Volk wie übrigens auch ein Mensch wert, als es auf seine Erlebnisse
den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht
und zeigt seine unbewußte innerliche Überzeugung von der Relativität
der Zeit und von der wahren, d.h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das
Gegenteil davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen
und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern: womit gewöhnlich
eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch mit der unbewußten Metaphysik
seines früheren Daseins, in allen ethischen Konsequenzen, verbunden ist.
(Ebd., 1872, in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 143).Wir
halten so viel von dem reinen und kräftigen Kerne des deutschen Wesens, daß
wir gerade von ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder Elemente
zu erwarten wagen und es für möglich erachten, daß der deutsche
Geist sich auf sich selbst zurückbesinnt. Vielleicht wird mancher meinen,
jener Geist müsse seinen Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen beginnen:
wozu er eine äußerliche Vorbereitung und Ermutigung in der siegreichen
Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten Krieges erkennen dürfte, die innerliche
Nötigung aber in dem Wetteifer suchen muß, der erhabenen Vorkämpfer
auf dieser Bahn, Luthers ebensowohl als unserer großen Künstler und
Dichter, stets wert zu sein. Aber nie möge er glauben, ähnliche Kämpfe
ohne seine Hausgötter, ohne seine mythische Heimat, ohne ein »Wiederbringen«
aller deutschen Dinge, kämpfen zu können! Und wenn der Deutsche zagend
sich nach einem Führer umblicken sollte, der ihn wieder in die längst
verlorne Heimat zurückbringe, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt
so mag er nur dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der
über ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will. (Ebd., 1872,
in: Werke in drei Bänden, 1. Band, S. 144).Kultur ist,
vor allem, die Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen
eines Volkes. (Ebd., 1872). |