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Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900)

Friedrich Wilhelm Nietzsche, 1869
1869

NACH OBEN Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten. Sechs, im Auftrag der „Academischen Gesellschaft“ in Basel gehaltene, öffentliche Reden, 1872 Nietzsche

 1. Vortrag (16. Januar 1872) 
 2. Vortrag (6. Februar 1872) 
 3. Vortrag (27. Februar 1872) 
 4. Vortrag (3. März 1872) 
 5. Vortrag (23. März 1872) 
 6. Vortrag

 

Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten 1. Vortrag (16. Januar 1872)

„»Ich will Ihnen nichts verbergen, mein Lehrer«, sagte hier der Begleiter. »Ich ... will Ihnen gern beschreiben, welche Signatur ich an den jetzt so lebhaft und zudringlich sich bewegenden Bildungs- und Erziehungsfragen vorgefunden habe. Es schien mir, daß ich zwei Hauptrichtungen unterscheiden müsse – zwei scheinbar entgegengesetzte, in ihrem Wirken gleich verderbliche, in ihren Resultaten endlich zusammenfließende Strömungen beherrschen die Gegenwart unsrer Bildungsanstalten: einmal der Trieb nach möglichster Erweiterung und Verbreitung der Bildung, dann der Trieb nach Verringerung und Abschwächung der Bildung selbst. Die Bildung soll aus verschiedenen Gründen in die allerweitesten Kreise getragen werden – das verlangt die eine Tendenz. Die andere mutet dagegen der Bildung selbst zu, ihre höchsten, edelsten und erhabendsten Ansprüche aufzugeben und sich im Dienste irgendeiner andern Lebensform, etwa des Staates, zu bescheiden. Ich glaube bemerkt zu haben, von welcher Seite aus der Ruf nach möglichster Erweiterung und Ausbreitung der Bildung am deutlichsten erschallt. Diese Erweiterung gehört unter die beliebten national- ökonomischen Dogmen der Gegenwart. Möglichst viel Erkenntnis und Bildung – daher möglichst viel Produktion und Bedürfnis – daher möglichst viel Glück – so lautet etwa die Formel. Hier haben wir den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn. Die Bildung würde ungefähr von dieser Richtung aus definiert werden als die Einsicht, mit der man sich »auf der Höhe seiner Zeit« hält, mit der man alle Wege kennt, auf denen am leichtesten Geld gemacht wird, mit der man alle Mittel beherrscht, durch die der Verkehr zwischen Menschen und Völkern geht. Die eigentliche Bildungsaufgabe wäre demnach, möglichst »courante« Menschen zu bilden, in der Art dessen, was man an einer Münze »courant« nennt. Je mehr es solche courante Menschen gäbe, um so glücklicher sei ein Volk: und gerade das müsse die Absicht der modernen Bildungsinstitute sein, jeden so weit zu fördern, als es in seiner Natur liegt, »courant« zu werden, jeden derartig auszubilden, daß er von seinem Maß von Erkenntnis und Wissen das größtmögliche Maß von Glück und Gewinn hat. Ein jeder müsse sich selbst genau taxieren können, er müsse wissen, wie viel er vom Leben zu fordern habe. Der »Bund von Intelligenz und Besitz«, den man nach diesen Anschauungen behauptet, gilt geradezu als eine sittliche Anforderung. Jede Bildung ist hier verfaßt, die einsam macht, die über Geld und Erwerb hinaus Ziele steckt, die viel Zeit verbraucht: man pflegt wohl solche andere Bildungstendenzen als »höheren Egoismus«, als »unsittlichen Bildungsepikureismus« abzutun. Nach der hier geltenden Sittlichkeit wird freilich etwas Umgekehrtes verlangt, nämlich eine rasche Bildung, um schnell ein geldverdienendes Wesen werden zu können, und doch eine so gründliche Bildung, um ein sehr viel Geld verdienendes Wesen werden zu können. Dem Menschen wird nur so viel Kultur gestattet als im Interesse des Erwerbs ist, aber so viel wird auch von ihm gefordert. Kurz: die Menschheit hat einen notwendigen Anspruch auf Erdenglück – darum ist die Bildung notwendig – aber auch nur darum!«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 190-192 bzw. 898-900).

„»Hier will ich etwas einschalten«, sagte der Philosoph. »Bei dieser nicht undeutlich charakterisierten Anschauung entsteht die große, ja ungeheure Gefahr, daß die große Masse irgendwann einmal die Mittelstufe überspringt und direkt auf dieses Erdenglück losgeht. Das nennt man jetzt die »soziale Frage«. Es möchte nämlich dieser Masse so scheinen, daß demnach die Bildung für den größten Teil der Menschen nur ein Mittel für das Erdenglück der wenigsten sei: die »möglichst allgemeine Bildung« schwächt die Bildung so ab, daß sie gar keine Privilegien und gar keinen Respekt mehr verleihen kann. Die allerallgemeinste Bildung ist eben die Barbarei. Doch ich will deine Erörterung nicht unterbrechen.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 192 bzw. 900).

„»Verminderung der Bildung. Man pflegt sich etwas von dieser Weise in allen gelehrten Kreisen ins Ohr zu flüstern: die allgemeine Tatsache, daß mit der jetzt angestrebten Ausnützung des Gelehrten im Dienste seiner Wissenschaft die Bildung des Gelehrten immer zufälliger und unwahrscheinlicher werde. Denn so in die Breite ausgedehnt ist jetzt das Studium der Wissenschaften, daß, wer bei guten, wenngleich nicht extremen Anlagen, noch in ihnen etwas leisten will, ein ganz spezielles Fach betreiben wird, um alle übrigen dann aber unbekümmert bleibt. Wird er nun schon in seinem Fach über dem vulgus stehen, in allem übrigen gehört er doch zu ihm, das heißt in allen Hauptsachen. So ein exklusiver Fachgelehrter ist dann dem Fabrikarbeiter ähnlich, der sein Leben lang nichts anderes macht als eine bestimmte Schraube oder Hand- habe zu einem bestimmten Werkzeug oder zu einer Maschine, worin er dann freilich eine unglaubliche Virtuosität erlangt. In Deutschland, wo man versteht, auch solchen schmerzlichen Tatsachen einen gloriosen Mantel des Gedankens überzuhängen, bewundert man wohl gar diese enge Fachmäßigkeit unserer Gelehrten und ihre immer weitere Abirrung von der rechten Bildung als ein sittliches Phänomen: die »Treue im Kleinen«, die »Kärrnertreue« wird zum Prunkthema, die Unbildung jenseits des Fachs wird als Zeichen edler Genügsamkeit zur Schau getragen.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 193 bzw. 901).

„»Es sind Jahrhunderte vergangen, in denen es sich von selbst verstand, daß man unter einem Gebildeten den Gelehrten und nur den Gelehrten begriff; von den Erfahrungen unserer Zeit aus würde man sich schwerlich zu einer so naiven Gleichstellung veranlaßt fühlen. Denn jetzt ist die Ausbeutung eines Menschen zugunsten der Wissenschaften die ohne Anstand überall angenommene Voraussetzung: wer fragt sich noch, was eine Wissenschaft wert sein mag, die so vampyrartig ihre Geschöpfe verbraucht? Die Arbeitsteilung in der Wissenschaft strebt praktisch nach dem gleichen Ziele, nach dem hier und da die Religionen mit Bewußtsein streben: nach einer Verringerung der Bildung, ja nach einer Vernichtung derselben. Was aber für einige Religionen, gemäß ihrer Entstehung und Geschichte, ein durchaus berechtigtes Verlangen ist, dürfte für die Wissenschaft irgendwann einmal eine Selbstverbrennung herbeiführen. Jetzt sind wir bereits auf dem Punkte, daß in allen allgemeinen Fragen ernsthafter Natur, vor allem in den höchsten philosophischen Problemen der wissenschaftliche Mensch als solcher gar nicht mehr zu Worte kommt: wohingegen jene klebrige verbindende Schicht, die sich jetzt zwischen die Wissenschaften gelegt hat, die Journalistik, hier ihre Aufgabe zu erfüllen glaubt und sie nun ihrem Wesen gemäß ausführt, das heißt wie der Name sagt, als eine Tagelöhnerei.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 193-194 bzw. 901-902).

„»In der Journalistik nämlich fließen die beiden Richtungen zusammen: Erweiterung und Verminderung der Bildung reichen sich hier die Hand; das Journal tritt geradezu an die Stelle der Bildung, und wer, auch als Gelehrter, jetzt noch Bildungsansprüche macht, pflegt sich an jene klebrige Vermittlungsschicht anzulehnen, die zwischen allen Lebensformen, allen Ständen, allen Künsten, allen Wissenschaften die Fugen verkittet und die so fest und zuverlässig ist wie eben Journalpapier zu sein pflegt. Im Journal kulminiert die eigentümliche Bildungsabsicht der Gegenwart: wie ebenso der Journalist, der Diener des Augenblicks, an die Stelle des großen Genius, des Führers für alle, Zeiten, des Erlösers vom Augenblick, getreten ist. Nun sagen Sie mir selbst, mein ausgezeichneter Meister, was ich mir für Hoffnungen machen sollte, im Kampfe gegen eine überall erreichte Verkehrung aller eigentlichen Bildungsbestrebungen, mit welchem Mute ich, als einzelner Lehrer, auftreten dürfte, wenn ich doch weiß, wie über jede eben gestreute Saat wahrer Bildung sofort schonungslos die zermalmende Walze dieser Pseudo-Bildung hinweggehn würde? Denken Sie sich, wie nutzlos jetzt die angestrengteste Arbeit des Lehrers sein muß, der etwa einen Schüler in die unendlich ferne und schwer zu ergreifende Welt des Hellenischen, als in die eigentliche Bildungsheimat zurückführen möchte: wenn doch derselbe Schüler in der nächsten Stunde nach einer Zeitung oder nach einem Zeitroman oder nach einem jener gebildeten Bücher greifen wird, deren Stilistik schon das ekelhafte Wappen der jetzigen Bildungsbarbarei an sich trägt.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 194-195 bzw. 902-903).

 

Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten 2. Vortrag (6. Februar 1872)

„Darauf hatte er, zu seiner Entschuldigung, die allgemeine Signatur dieses Bildungswesens so beschrieben, daß der Philosoph nicht umhin konnte, mit mitleidiger Stimme ihm ins Wort zu fallen und ihn so zu beruhigen. .... »Daß aber trotzdem es nirgends zur vollen Ehrlichkeit kommt, hat seine traurige Ursache in der pädagogischen Geistesarmut unserer Zeit; es fehlt gerade hier an wirklich erfinderischen Begabungen, es fehlen hier die wahrhaft praktischen Menschen, das heißt diejenigen, welche gute und neue Einfälle haben und welche wissen, daß die rechte Genialität und die rechte Praxis sich notwendig im gleichen Individuum begegnen müssen: während den nüchternen Praktikern es gerade an Einfällen und deshalb wieder an der rechten Praxis fehlt. Man mache sich nur einmal mit der pädagogischen Literatur dieser Gegenwart vertraut; an dem ist nichts mehr zu verderben, der bei diesem Studium nicht über die allerhöchste Geistesarmut und über einen wahrhaft täppischen Zirkeltanz erschrickt. Hier muß unsere Philosophie nicht mit dem Erstaunen, sondern mit dem Erschrecken beginnen: wer es zu ihm nicht zu bringen vermag, ist gebeten, von den pädagogischen Dingen seine Hände zu lassen. Das Umgekehrte war freilich bisher die Regel; diejenigen, welche erschraken, liefen wie du, mein armer Freund, scheu davon, und die nüchternen Unerschrocknen legten ihre breiten Hände recht breit auf die allerzarteste Technik, die es in einer Kunst geben kann, auf die Technik der Bildung. Das wird aber nicht lange mehr möglich sein; es mag nur einmal der ehrliche Mann kommen, der jene guten und neuen Einfälle hat und zu deren Verwirklichung mit allem Vorhandenen zu brechen wagt, er mag nur einmal an einem großartigen Beispiel es vormachen, was jene bisher allein tätigen breiten Hände nicht nachzumachen vermögen – dann wird man wenigstens überall anfangen zu unterscheiden, dann wird man wenigstens den Gegensatz spüren und über die Ursachen dieses Gegensatzes nachdenken können, während jetzt noch so viele in aller Gutmütigkeit glauben, daß die breiten Hände zum pädagogischen Handwerk gehören.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 196-198 bzw. 904-906).

„»Ich möchte, mein geehrter Lehrer«, sagte hier der Begleiter, »daß Sie mir an einem einzelnen Beispiele selbst zu jener Hoffnung verhülfen, die aus Ihnen so mutig zu mir redet. Wir kennen beide das Gymnasium; glauben Sie zum Beispiel auch in Hinsicht auf dieses Institut, daß hier mit Ehrlichkeit und guten, neuen Einfällen die alten zähen Gewohnheiten aufgelöst werden könnten? Hier schützt nämlich, scheint es mir, nicht eine harte Mauer gegen die Sturmböcke eines Angriffs, wohl aber die fatalste Zähigkeit und Schlüpfrigkeit aller Prinzipien. Der Angreifende hat nicht einen sichtbaren und festen Gegner zu zermalmen: dieser Gegner ist vielmehr maskiert, vermag sich in hundert Gestalten zu verwandeln und in einer derselben dem packenden Griffe zu entgleiten, um immer von neuem wieder durch feiges Nachgeben und zähes Zurückprallen den Angreifenden zu verwirren. Gerade das Gymnasium hat mich zu einer mutlosen Flucht in die Einsamkeit gedrängt, gerade weil ich fühle, daß, wenn hier der Kampf zum Siege führt, alle anderen Institutionen der Bildung nachgeben müssen, und daß, wer hier verzagen muß, überhaupt in den ernstesten pädagogischen Dingen verzagen muß. Also, mein Meister, belehren Sie mich über das Gymnasium: was dürfen wir für eine Vernichtung des Gymnasiums, was für eine Neugeburt desselben hoffen?«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 198 bzw. 906).

„»Auch ich«, sagte der Philosoph, »denke von der Bedeutung des Gymnasiums so groß wie du: an dem Bildungsziele, das durch das Gymnasium erstrebt wird, müssen sich alle anderen Institute messen, an den Verirrungen seiner Tendenz leiden sie mit, durch die Reinigung und Erneuerung desselben werden sie sich gleichfalls reinigen und erneuern. Eine solche Bedeutung als bewegender Mittelpunkt kann jetzt selbst die Universität nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die, bei ihrer jetzigen Formation, wenigstens nach einer wichtigen Seite hin nur als Ausbau der Gymnasialtendenz gelten darf; wie ich dir dies später deutlich machen will (). Für jetzt betrachten wir das mit einander, was in mir den hoffnungsvollen Gegensatz erzeugt, daß entweder der bisher gepflegte, so buntgefärbte und schwer zu erhaschende Geist des Gymnasiums völlig in der Luft zerstieben wird oder daß er von Grund aus gereinigt und erneuert werden muß: und damit ich dich nicht mit allgemeinen Sätzen erschrecke, denken wir zuerst an eine jener Gymnasialerfahrungen, die wir alle gemacht haben und an denen wir alle leiden. Was ist jetzt, mit strengem Auge betrachtet, der deutsche Unterricht auf dem Gymnasium? Ich will dir zuerst sagen, was er sein sollte. Von Natur spricht und schreibt jetzt jeder Mensch so schlecht und gemein seine deutsche Sprache, als es eben in einem Zeitalter des Zeitungsdeutsches möglich ist: deshalb müßte der heranwachsende edler begabte Jüngling mit Gewalt unter die Glasglocke des guten Geschmacks und der strengen sprachlichen Zucht gesetzt werden: ist dies nicht möglich, nun so ziehe ich nächstens wieder vor, lateinisch zu sprechen, weil ich mich einer so verhunzten und geschändeten Sprache schäme. Was für eine Aufgabe hätte eine höhere Bildungsanstalt in diesem Punkte, wenn nicht gerade die, autoritativ und mit würdiger Strenge die sprachlich verwilderten Jünglinge zurechtzuleiten und ihnen zuzurufen: »Nehmt eure Sprache ernst! Wer es hier nicht zu dem Gefühl einer heiligen Pflicht bringt, in dem ist auch nicht einmal der Keim für eine höhere Bildung vorhanden. Hier kann sich zeigen, wie hoch oder wie gering ihr die Kunst schätzt und wie weit ihr verwandt mit der Kunst seid, hier in der Behandlung eurer Muttersprache. Erlangt ihr nicht soviel von euch, vor gewissen Worten und Wendungen unserer journalistischen Gewöhnung einen physischen Ekel zu empfinden, so gebt es nur auf, nach Bildung zu streben: denn hier, in der allernächsten Nähe, in jedem Augenblick eures Sprechens und Schreibens habt ihr einen Prüfstein, wie schwer, wie ungeheuer jetzt die Aufgabe des Gebildeten ist und wie unwahrscheinlich es sein muß, daß viele von euch zur rechten Bildung kommen.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 198-199 bzw. 906-907).

„Im Sinne einer solchen Anrede hätte der deutsche Lehrer am Gymnasium die Verpflichtung, auf tausende von Einzelheiten seine Schüler aufmerksam zu machen und ihnen mit der ganzen Sicherheit eines guten Geschmacks den Gebrauch von solchen Worten geradezu zu verbieten, wie zum Beispiel von »beanspruchen«, »vereinnahmen«, »einer Sache Rechnung tragen«, »die Initiative ergreifen«, »selbstverständlich« – und so weiter cum taedio in infinitum. Derselbe Lehrer würde ferner an unseren klassischen Autoren von Zeile zu Zeile zeigen müssen, wie sorgsam und streng jede Wendung zu nehmen ist, wenn man das rechte Kunstgefühl im Herzen und die volle Verständlichkeit alles dessen, was man schreibt, vor Augen hat. Er wird immer und immer wieder seine Schüler nötigen, denselben Gedanken noch einmal und noch besser auszudrücken, und wird keine Grenze seiner Tätigkeit finden, bevor nicht die geringer Begabten in einen heiligen Schreck vor der Sprache, die Begabteren in eine edle Begeisterung für dieselbe geraten sind.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 199-200 bzw. 907-908).

„Nun, hier ist eine Aufgabe für die sogenannte formelle Bildung und eine der allerwertvollsten: und was finden wir nun am Gymnasium, an der Stätte der sogenannten formellen Bildung? – Wer das, was er hier gefunden hat, unter die richtigen Rubriken zu bringen versteht, wird wissen, was er von dem jetzigen Gymnasium als einer angeblichen Bildungsanstalt zu halten hat: er wird nämlich finden, daß das Gymnasium nach seiner ursprünglichen Formation nicht für die Bildung, sondern nur für die Gelehrsamkeit erzieht, und ferner, daß es neuerdings die Wendung nimmt, als ob es nicht einmal mehr für die Gelehrsamkeit, sondern für die Journalistik erziehn wolle. Dies ist an der Art, wie der deutsche Unterricht erteilt wird, wie an einem recht zuverlässigen Beispiele zu zeigen.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 200 bzw. 908).

„An Stelle jener rein praktischen Instruktion, durch die der Lehrer seine Schüler an eine strenge sprachliche Selbsterziehung gewöhnen sollte, finden wir überall die Ansätze zu einer gelehrt-historischen Behandlung der Muttersprache: das heißt, man verfährt mit ihr, als ob sie eine tote Sprache sei, und als ob es für die Gegenwart und Zukunft dieser Sprache keine Verpflichtungen gäbe. Die historische Manier ist unserer Zeit bis zu dem Grade geläufig geworden, daß auch der lebendige Leib der Sprache ihren anatomischen Studien preisgegeben wird: hier aber beginnt gerade die Bildung, daß man versteht, das Lebendige als lebendig zu behandeln, hier beginnt gerade die Aufgabe des Bildungslehrers, das überall her sich aufdrängende »historische Interesse« dort zu unterdrücken, wo vor allen Dingen richtig gehandelt, nicht erkannt werden muß. Unsere Muttersprache aber ist ein Gebiet, auf dem der Schüler richtig handeln lernen muß: und ganz allein nach dieser praktischen Seite hin ist der deutsche Unterricht auf unsern Bildungsanstalten notwendig. Freilich scheint die historische Manier für den Lehrer bedeutend leichter und bequemer zu sein, ebenfalls scheint sie einer weit geringeren Anlage, überhaupt einem niedrigeren Fluge seines gesamten Wollens und Strebens zu entsprechen. Aber diese selbe Wahrnehmung werden wir auf allen Feldern der pädagogischen Wirklichkeit zu machen haben: das Leichtere und Bequemere hüllt sich in den Mantel prunkhafter Ansprüche und stolzer Titel: das eigentlich Praktische, das zur Bildung gehörige Handeln, als das im Grunde Schwerere, erntet die Blicke der Mißgunst und Geringschätzung: weshalb der ehrliche Mensch auch dieses Quidproquo sich und anderen zur Klarheit bringen muß.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 200-201 bzw. 908-909).

„Was pflegt nun der deutsche Lehrer, außer diesen gelehrtenhaften Anregungen zu einem Studium der Sprache, sonst noch zu geben? Wie verbindet er den Geist seiner Bildungsanstalt mit dem Geist der wenigen wahrhaft Gebildeten, die das deutsche Volk hat, mit dem Geiste seiner klassischen Dichter und Künstler? Dies ist ein dunkles und bedenkliches Bereich, in das man nicht ohne Schrecken hineinleuchten kann: aber auch hier wollen wir uns nichts verhehlen, weil irgendwann einmal hier alles neu werden muß. In dem Gymnasium wird die widerwärtige Signatur unserer ästhetischen Journalistik auf die noch ungeformten Geister der Jünglinge geprägt: hier werden von dem Lehrer selbst die Keime zu dem rohen Mißverstehen-wollen unserer Klassiker ausgesät, das sich nachher als ästhetische Kritik gebärdet und nichts als vorlaute Barbarei ist. Hier lernen die Schüler von unserm einzigen Schiller mit jener knabenhaften Überlegenheit zu reden, hier gewöhnt man sie, über die edelsten und deutschesten seiner Entwürfe, über den Marquis Posa, über Max und Thekla zu lächeln – ein Lächeln, über das der deutsche Genius ergrimmt, über das eine bessere Nachwelt erröten wird.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 200 bzw. 908).

„Das letzte Bereich, auf dem der deutsche Lehrer am Gymnasium tätig zu sein pflegt, und das nicht selten als die Spitze seiner Tätigkeit, hier und da sogar als die Spitze der Gymnasialbildung betrachtet wird, ist die sogenannte deutsche Arbeit. Daran, daß auf diesem Bereiche sich fast immer die begabtesten Schüler mit besonderer Lust tummeln, sollte man erkennen, wie gefährlich-anreizend gerade die hier gestellte Aufgabe sein mag. Die deutsche Arbeit ist ein Appell an das Individuum: und je stärker bereits sich ein Schüler seiner unterscheidenden Eigenschaften bewußt ist, um so persönlicher wird er seine deutsche Arbeit gestalten. Dieses »persönliche Gestalten« wird noch dazu in den meisten Gymnasien schon durch die Wahl der Themata gefordert: wofür mir immer der stärkste Beweis ist, daß man schon in den niedrigeren Klassen das an und für sich unpädagogische Thema stellt, durch welches der Schüler zu einer Beschreibung seines eignen Lebens, seiner eignen Entwicklung veranlaßt wird. Nun mag man nur einmal die Verzeichnisse solcher Themata an einer größeren Anzahl von Gymnasien durchlesen, um zu der Überzeugung zu kommen, daß wahrscheinlich die allermeisten Schüler für ihr Leben an dieser zu früh geforderten Persönlichkeitsarbeit, an dieser unreifen Gedankenerzeugung, ohne ihr Verschulden, zu leiden haben: und wie oft erscheint das ganze spätere literarische Wirken eines Menschen wie die traurige Folge jener pädagogischen Ursünde wider den Geist!“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 201-202 bzw. 909-910).

„Man muß nur denken, was in einem solchen Alter, bei der Produktion einer solchen Arbeit, vor sich geht. Es ist die erste eigne Produktion; die noch unentwickelten Kräfte schießen zum ersten Male zu einer Kristallisation zusammen; das taumelnde Gefühl der geforderten Selbständigkeit umkleidet diese Erzeugnisse mit einem allerersten, nie wiederkehrenden berückenden Zauber. Alle Verwegenheiten der Natur sind aus ihrer Tiefe hervorgerufen, alle Eitelkeiten, durch keine mächtigere Schranke zurückgehalten, dürfen zum ersten Male eine literarische Form annehmen: der junge Mensch empfindet sich von jetzt ab als fertig geworden, als ein zum Sprechen, zum Mitsprechen befähigtes, ja aufgefordertes Wesen. Jene Themata nämlich verpflichten ihn, sein Votum über Dichterwerke abzugeben oder historische Personen in die Form einer Charakterschilderung zusammenzudrängen oder ernsthafte ethische Probleme selbständig darzustellen oder gar, mit umgekehrter Leuchte, sein eignes Werden sich aufzuhellen und über sich selbst einen kritischen Bericht abzugeben: kurz, eine ganze Welt der nachdenklichsten Aufgaben breitet sich vor dem überraschten, bis jetzt fast unbewußten jungen Menschen aus und ist seiner Entscheidung preisgegeben.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 202 bzw. 910).

„Nun vergegenwärtigen wir uns, diesen so einflußreichen ersten Originalleistungen gegenüber, die gewöhnliche Tätigkeit des Lehrers. Was erscheint ihm an diesen Arbeiten als tadelnswert? Worauf macht er seine Schüler aufmerksam? Auf alle Exzesse der Form und des Gedankens, das heißt auf alles das, was in diesem Alter überhaupt charakteristisch und individuell ist. Das eigentlich Selbständige, das sich, bei dieser allzufrühzeitigen Erregung, eben nur und ganz allein in Ungeschicklichkeiten, in Schärfen und grotesken Zügen äußern kann, also gerade das Individuum wird gerügt und vom Lehrer zugunsten einer unoriginalen Durchschnittsanständigkeit verworfen. Dagegen bekommt die uniformierte Mittelmäßigkeit das verdrossen gespendete Lob: denn gerade bei ihr pflegt sich der Lehrer aus guten Gründen sehr zu langweilen.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 202-203 bzw. 910-911).

„Vielleicht gibt es noch Menschen, die in dieser ganzen Komödie der deutschen Arbeit auf dem Gymnasium nicht nur das allerabsurdeste, sondern auch das allergefährlichste Element des jetzigen Gymnasiums sehen. Hier wird Originalität verlangt, aber die in jenem Alter einzig mögliche wiederum verworfen: hier wird eine formale Bildung vorausgesetzt, zu der jetzt überhaupt nur die allerwenigsten Menschen im reifen Alter kommen. Hier wird jeder ohne weiteres als ein literaturfähiges Wesen betrachtet, das über die ernstesten Dinge und Personen eigne Meinungen haben dürfte, während eine rechte Erziehung gerade nur daraufhin mit allem Eifer streben wird, den lächerlichen Anspruch auf Selbständigkeit des Urteils zu unterdrücken und den jungen Menschen an einen strengen Gehorsam unter dem Zepter des Genius zu gewöhnen. Hier wird eine Form der Darstellung in größerem Rahmen vorausgesetzt, in einem Alter, in dem jeder gesprochne oder geschriebene Satz eine Barbarei ist. Nun denken wir uns noch die Gefahr hinzu, die in der leicht erregten Selbstgefälligkeit jener Jahre liegt, denken wir an die eitle Empfindung, mit der der Jüngling jetzt zum ersten Male sein literarisches Bild im Spiegel sieht – wer möchte, alle diese Wirkungen mit einem Blick erfassend, daran zweifeln, daß alle Schäden unserer literarisch-künstlerischen Öffentlichkeit hier dem heranwachsenden Geschlecht immer wieder von neuem aufgeprägt werden, die hastige und eitle Produktion, die schmähliche Buchmacherei, die vollendete Stillosigkeit, das Ungegorene und Charakterlose oder Kläglich-Gespreizte im Ausdruck, der Verlust jedes ästhetischen Kanons, die Wollust der Anarchie und des Chaos, kurz die literarischen Züge unsrer Journalistik ebenso wie unseres Gelehrtentums.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 203 bzw. 911).

„Davon wissen jetzt die wenigsten etwas, daß vielleicht unter vielen Tausenden kaum einer berechtigt ist, sich schriftstellerisch vernehmen zu lassen, und daß alle anderen, die es auf ihre Gefahr versuchen, unter wahrhaft urteilsfähigen Menschen als Lohn für jeden gedruckten Satz ein homerisches Gelächter verdienen – denn es ist wirklich ein Schauspiel für Götter, einen literarischen Hephäst heranhinken zu sehn, der uns nun gar etwas kredenzen will. Auf diesem Bereiche zu ernsten und unerbittlichen Gewöhnungen und Anschauungen zu erziehn, das ist eine der höchsten Aufgaben der formellen Bildung, während das allseitige Gewährenlassen der sogenannten »freien Persönlichkeit« wohl nichts anderes als das Kennzeichen der Barbarei sein möchte. Daß aber wenigstens bei dem deutschen Unterricht nicht an Bildung, sondern an etwas anderes gedacht wird, nämlich an die besagte »freie Persönlichkeit«, dürfte aus dem bis jetzt Berichteten wohl deutlich geworden sein. Und so lange die deutschen Gymnasien in der Pflege der deutschen Arbeit der abscheulichen gewissenlosen Vielschreiberei vorarbeiten, so lange sie die allernächste praktische Zucht in Wort und Schrift nicht als heilige Pflicht nehmen, so lange sie mit der Muttersprache umgehen, als ob sie nur ein notwendiges Übel oder ein toter Leib sei, rechne ich diese Anstalten nicht zu den Insitutionen wahrer Bildung.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 204 bzw. 912).

„Wir vermochten am deutschen Unterricht nichts zu erkennen, was irgendwie an das klassisch-antike Vorbild, an die antike Großartigkeit der sprachlichen Erziehung erinnerte: die »formale Bildung« aber, die durch den besagten deutschen Unterricht erreicht wird, erwies sich als das absolute Belieben der »freien Persönlichkeit«, das heißt als Barbarei und Anarchie; und was die Heranbildung zur Wissenschaft als Folge jenes Unterrichtes betrifft, so werden unsre Germanisten mit Billigkeit abzuschätzen haben, wie wenig zur Blüte ihrer Wissenschaft gerade jene gelehrtenhaften Anfänge auf dem Gymnasium, wie viel die Persönlichkeit einzelner Universitätslehrer beigetragen hat. – In Summa: das Gymnasium versäumt bis jetzt das allererste und nächste Objekt, an dem die wahre Bildung beginnt, die Muttersprache: damit aber fehlt ihm der natürliche fruchtbare Boden für alle weiteren Bildungsbemühungen. Denn erst auf Grund einer strengen, künstlerisch sorgfältigen sprachlichen Zucht und Sitte erstarkt das richtige Gefühl für die Größe unserer Klassiker, deren Anerkennung von seiten des Gymnasiums bis jetzt fast nur auf zweifelhaften ästhetisierenden Liebhabereien einzelner Lehrer oder auf der rein stofflichen Wirkung gewisser Tragödien und Romane ruht: man muß aber selbst aus Erfahrung wissen, wie schwer die Sprache ist, man muß nach langem Suchen und Ringen auf die Bahn gelangen, auf der unsre großen Dichter schritten, um nachzufühlen, wie leicht und schön sie auf ihr schritten, und wie ungelenk oder gespreizt die andern hinter ihnen dreinfolgen.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 205-206 bzw. 913-914).

„Erst durch eine solche Zucht bekommt der junge Mensch jenen physischen Ekel vor der so beliebten und so gepriesenen »Eleganz« des Stils unsrer Zeitungsfabrik-Arbeiter und Romanschreiber, vor der »gewählten Diktion« unserer Literaten, und ist mit einem Schlage und endgültig über eine ganze Reihe von recht komischen Fragen und Skrupeln hinausgehoben ....“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 206 bzw. 914).

„Hier muß es jedem ernsthaft sich Bemühenden so ergehen, wie demjenigen, der als erwachsener Mensch, etwa als Soldat, genötigt ist gehen zu lernen, nachdem er vorher im Gehen roher Dilettant und Empiriker war. Es sind mühselige Monate: man fürchtet, daß die Sehnen reißen möchten, man verliert alle Hoffnung, daß die künstlich und bewußt erlernten Bewegungen und Stellungen der Füße jemals bequem und leicht ausgeführt werden: man sieht mit Schrecken, wie ungeschickt und roh man Fuß vor Fuß setzt, und fürchtet jedes Gehen verlernt zu haben und das rechte Gehen nie zu lernen. Und plötzlich wiederum merkt man, daß aus den künstlich eingeübten Bewegungen bereits wieder eine neue Gewohnheit und zweite Natur geworden ist, und daß die alte Sicherheit und Kraft des Schrittes gestärkt und selbst mit einiger Grazie im Gefolge zurückkehrt: jetzt weiß man auch, wie schwer das Gehen ist, und darf sich über den rohen Empiriker oder über den elegant sich gebärdenden Dilettanten des Gehens lustig machen. Unsere »elegant« genannten Schriftsteller haben, wie ihr Stil beweist, nie gehen gelernt: und an unsern Gymnasien lernt man, wie unsere Schriftsteller beweisen, nicht gehen. Mit der richtigen Gangart der Sprache aber beginnt die Bildung; welche, wenn sie nur recht begonnen ist, nachher auch gegen jene »eleganten« Schriftsteller eine physische Empfindung erzeugt, die man »Ekel« nennt.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 206-207 bzw. 914-915).

„Hier erkennen wir die verhängnisvollen Konsequenzen unseres jetzigen Gymnasiums: dadurch, daß es nicht imstande ist, die rechte und strenge Bildung, die vor allem Gehorsam und Gewöhnung ist, einzupflanzen, dadurch, daß es vielmehr bestenfalls in der Erregung und Befruchtung der wissenschaftlichen Triebe überhaupt zu einem Ziele kommt, erklärt sich jenes so häufig anzutreffende Bündnis der Gelehrsamkeit mit der Barbarei des Geschmacks, der Wissenschaft mit der Journalistik. Man kann heute in ungeheurer Allgemeinheit die Wahrnehmung machen, daß unsere Gelehrten von jener Bildungshöhe abgefallen und heruntergesunken sind, die das deutsche Wesen unter den Bemühungen Goethes, Schillers, Lessings und Winckelmanns erreicht hatte: ein Abfall, der sich eben in der gröblichen Art von Mißverständnissen zeigt, denen jene Männer unter uns, bei den Literaturhistorikern ebensowohl – ob sie nun Gervinus oder Julian Schmidt heißen – als in jeder Geselligkeit, ja fast in jedem Gespräch unter Männern und Frauen, ausgesetzt sind. Am meisten aber und am schmerzlichsten zeigt sich gerade dieser Abfall in der pädagogischen, auf das Gymnasium bezüglichen Literatur. Es kann bezeugt werden, daß der einzige Wert, den jene Männer für eine wahre Bildungsanstalt haben, während eines halben Jahrhunderts und länger nicht einmal ausgesprochen, geschweige denn anerkannt worden ist: der Wert jener Männer, als der vorbereitenden Führer und Mystagogen der klassischen Bildung, an deren Hand allein der richtige Weg, der zum Altertum führt, gefunden werden kann.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 207 bzw. 915).

„Jede sogenannte klassische Bildung hat nur einen gesunden und natürlichen Ausgangspunkt, die künstlerisch ernste und strenge Gewöhnung im Gebrauch der Muttersprache: für diese aber und für das Geheimnis der Form wird selten jemand von innen heraus, aus eigner Kraft zu dem rechten Pfade geleitet, während alle anderen jene großen Führer und Lehrmeister brauchen und sich ihrer Hut anvertrauen müssen. Es gibt aber gar keine klassische Bildung, die ohne diesen erschlossenen Sinn für die Form wachsen könnte. Hier, wo allmählich das unterscheidende Gefühl für die Form und für die Barbarei erwacht, regt sich zum ersten Male die Schwinge, die der rechten und einzigen Bildungsheimat, dem griechischen Altertum zu trägt. Freilich würden wir bei dem Versuche, uns jener unendlich fernen und mit diamantenen Wällen umschlossenen Burg des Hellenischen zu nahen, mit alleiniger Hilfe jener Schwinge nicht gerade weit kommen: sondern von neuem brauchen wir dieselben Führer, dieselben Lehrmeister, unsre deutschen Klassiker, um unter dem Flügelschlage ihrer antiken Bestrebungen selbst mit hinweggerissen zu werden – dem Lande der Sehnsucht zu, nach Griechenland.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 207-208 bzw. 915-916).

„Von diesem allein möglichen Verhältnisse zwischen unseren Klassikern und der klassischen Bildung ist freilich kaum ein Laut in die altertümlichen Mauern des Gymnasiums gedrungen. Die Philologen sind vielmehr unverdrossen bemüht, auf eigne Hand ihren Homer und Sophokles an die jungen Seelen heranzubringen, und nennen das Resultat ohne weiteres mit einem unbeanstandeten Euphemismus »klassische Bil dung«. Mag sich jeder an seinen Erfahrungen prüfen, was er von Homer und Sophokles, an der Hand jener unverdrossenen Lehrer, gehabt hat. Hier ist ein Bereich der allerhäufigsten und stärksten Täuschungen und der unabsichtlich verbreiteten Mißverständnisse. Ich habe noch nie in dem deutschen Gymnasium auch nur eine Faser von dem vorgefunden, was sich wirklich »klassische Bildung« nennen dürfte: und dies ist nicht verwunderlich, wenn man denkt, wie sich das Gymnasium von den deutschen Klassikern und von der deutschen Sprachzucht emanzipiert hat. Mit einem Sprung ins Blaue kommt niemand ins Altertum: und doch ist die ganze Art, wie man auf den Schulen mit antiken Schriftstellern verkehrt, das redliche Kommentieren und Paraphrasieren unserer philologischen Lehrer ein solcher Sprung ins Blaue.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 208 bzw. 916).

 

Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten 3. Vortrag (27. Februar 1872)

„»Diejenigen mögen nur von den pädagogischen Dingen hoffnungslos ferne bleiben, welche vermeinen, es ließe sich die augenscheinliche, in der Zahl bestehende Übertat unserer Gymnasien und Lehrer durch irgendwelche Gesetze und Vorschriften in eine wirkliche Übertat, in eine ubertas ingenii, ohne Verminderung jener Zahl, verwandeln. Sondern darüber müssen wir einmütig sein, daß von der Natur selbst nur unendlich seltne Menschen zu einem wahren Bildungsgange ausgeschickt werden, und daß zu deren glücklicher Entfaltung auch eine weit geringere An zahl von höheren Bildungsanstalten ausreicht, daß aber in den gegenwärtigen auf breite Massen angelegten Bildungsanstalten gerade diejenigen am wenigsten sich gefördert fühlen müssen, für die etwas Derartiges zu gründen überhaupt erst einen Sinn hat.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 216-217 bzw. 924-925).

„»Das gleiche gilt nun in betreff der Lehrer. Gerade die besten, diejenigen, die überhaupt nach einem höheren Maßstabe dieses Ehrennamens wert sind, eignen sich jetzt, bei dem gegenwärtigen Stande des Gymnasiums, vielleicht am wenigsten zur Erziehung dieser unausgelesenen, zusammengewürfelten Jugend, sondern müssen das Beste, was sie geben könnten, gewissermaßen vor ihr geheim halten; und die ungeheuere Mehrzahl der Lehrer fühlt sich wiederum, diesen Anstalten gegenüber, im Recht, weil ihre Begabungen zu dem niedrigen Fluge und der Dürftigkeit ihrer Schüler in einem gewissen harmonischen Verhältnisse stehen. Von dieser Mehrzahl aus erschallt der Ruf nach immer neuen Gründungen von Gymnasien und höheren Lehranstalten: wir leben in einer Zeit, die durch diesen immerfort und mit betäubendem Wechsel erschallenden Ruf allerdings den Eindruck erweckt, als ob ein ungeheures Bildungsbedürfnis in ihr nach Befriedigung dürstete. Aber gerade hier muß man recht zu hören verstehen, gerade hier muß man, durch den tönenden Effekt der Bildungsworte unbeirrt, denen ins Antlitz sehen, die so unermüdlich von dem Bildungsbedürfnisse ihrer Zeit reden. Dann wird man eine sonderbare Enttäuschung erleben, dieselbe, die wir, mein guter Freund, so oft erlebt haben: jene lauten Herolde des Bildungsbedürfnisses verwandeln sich plötzlich, bei einer ernsten Besichtigung aus der Nähe, in eifrige, ja fanatische Gegner der wahren Bildung, das heißt derjenigen, welche an der aristokratischen Natur des Geistes festhält: denn im Grunde meinen sie, als ihr Ziel, die Emanzipation der Massen von der Herrschaft der großen Einzelnen, im Grunde streben sie danach, die heiligste Ordnung im Reiche des Intellektes umzustürzen, die Dienstbarkeit der Masse, ihren unterwürfigen Gehorsam, ihren Instinkt der Treue unter dem Zepter des Genius.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 217 bzw. 925).

„»Ich habe mich längst daran gewöhnt, alle diejenigen vorsichtig anzusehn, welche eifrig für die sogenannte ›Volksbildung‹, wie sie gemeinhin verstanden wird, sprechen: denn zumeist wollen sie, bewußt oder unbewußt, bei den allgemeinen Saturnalien der Barbarei, für sich selbst die fessellose Freiheit, die ihnen jene heilige Naturordnung nie gewähren wird; sie sind zum Dienen, zum Gehorchen geboren, und jeder Augenblick, in dem ihre kriechenden oder stelzfüßigen oder flügellahmen Gedanken in Tätigkeit sind, bestätigt, aus welchem Tone die Natur sie formte und welches Fabrikzeichen sie diesem Tone aufgebrannt hat. Also, nicht Bildung der Masse kann unser Ziel sein: sondern Bildung der einzelnen ausgelesenen, für große und bleibende Werke ausgerüsteten Menschen: wir wissen nun einmal, daß eine gerechte Nachwelt den gesamten Bildungsstand eines Volkes nur ganz allein nach jenen großen, einsam schreitenden Helden einer Zeit beurteilen und je nach der Art, wie dieselben erkannt, gefördert, geehrt, oder sekretiert, mißhandelt, zerstört worden sind, ihre Stimme abgeben wird. Dem, was man Volksbildung nennt, ist auf direktem Wege, etwa durch allseitig erzwungenen Elementarunterricht, nur ganz äußerlich und roh beizukommen: die eigentlichen, tieferen Regionen, in denen sich überhaupt die große Masse mit der Bildung berührt, dort wo das Volk seine religiösen Instinkte hegt, wo es an seinen mythischen Bildern weiterdichtet, wo es seiner Sitte, seinem Recht, seinem Heimatboden, seiner Sprache Treue bewahrt, alle diese Regionen sind auf direktem Wege kaum und jedenfalls nur durch zerstörende Gewaltsamkeiten zu erreichen; und in diesen ernsten Dingen die Volksbildung wahrhaft fördern, heißt eben nur soviel, als diese zerstörenden Gewaltsamkeiten abzuwehren und jenes heilsame Unbewußtsein, jenes Sich-gesund-schlafen des Volkes zu unterhalten, ohne welche Gegenwirkung, ohne welches Heilmittel keine Kultur, bei der aufzehrenden Spannung und Erregung ihrer Wirkungen, bestehen kann.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 217-218 bzw. 925-926).

„»Wir wissen aber, was jene erstreben, die jenen heilenden Gesundheitsschlaf des Volkes unterbrechen wollen, die ihm fortwährend zurufen: ›Sei wach, sei bewußt! Sei klug!‹; wir wissen, wohin die zielen, welche durch eine außerordentliche Vermehrung aller Bildungsanstalten, durch einen dadurch erzeugten selbstbewußten Lehrerstand ein gewaltiges Bildungsbedürfnis zu befriedigen vorgeben. Gerade diese und gerade mit diesen Mitteln kämpfen sie gegen die natürliche Rangordnung im Reiche des Intellekts, zerstören sie die Wurzeln jener aus dem Unbewußtsein des Volkes hervorbrechenden höchsten und edelsten Bildungskräfte, die im Gebären des Genius und sodann in der richtigen Erziehung und Pflege desselben ihre mütterliche Bestimmung haben. Nur an dem Gleichnisse der Mutter werden wir die Bedeutung und die Verpflichtung begreifen, die die wahre Bildung eines Volkes in Hinsicht auf den Genius hat: seine eigentliche Entstehung liegt nicht in ihr, er hat gleichsam nur einen metaphysischen Ursprung, eine metaphysische Heimat. Aber daß er in die Erscheinnung tritt, daß er mitten aus einem Volke hervortaucht, daß er gleichsam das zurückgeworfne Bild, das gesättigte Farbenspiel aller eigentümlichen Kräfte dieses Volkes darstellt, daß er die höchste Bestimmung eines Volkes in dem gleichnisartigen Wesen eines Individuums und in einem ewigen Werke zu erkennen gibt, sein Volk selbst damit an das Ewige anknüpfend und aus der wechselnden Sphäre des Momontanen erlösend – das alles vermag der Genius nur, wenn er im Mutterschoße der Bildung eines Volkes gereift und genährt ist – während er, ohne diese schirmende und wärmende Heimat, überhaupt nicht die Schwingen zu seinem ewigen Fluge entfalten wird, sondern traurig, beizeiten, wie ein in winterliche Einöden verschlagener Fremdling, aus dem unwirtbaren Lande davonschleicht.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 218-219 bzw. 926-927).

„»Mein Lehrer«, sagte hier der Begleiter, »Sie setzen mich mit dieser Metaphysik des Genius in Erstaunen, und nur ganz von ferne ahne ich das Richtige dieser Gleichnisse. Dagegen begreife ich vollständig, was Sie über die Überzahl der Gymnasien und dadurch veranlaßte Überzahl von höheren Lehrern sagten; und gerade auf diesem Gebiete habe ich Erfahrungen gesammelt, welche mir bezeugen, daß die Bildungstendenz des Gymnasiums sich geradezu nach dieser ungeheuren Majorität von Lehrern richten muß, welche, im Grunde, nichts mit der Bildung zu tun haben und nur durch jene Not auf diese Bahn und zu diesen Ansprüchen gekommen sind. Alle die Menschen, die in einem glänzenden Moment der Erleuchtung sich einmal von der Singularität und Unnahbarkeit des hellenischen Altertums überzeugten und mit mühsamem Kampfe vor sich selbst diese Überzeugung verteidigt haben, alle diese wissen, wie der Zugang zu diesen Erleuchtungen niemals vielen offenstehn wird, und halten es für eine absurde, ja unwürdige Manier, daß jemand mit den Griechen gleichsam von Berufswegen, zum Zwecke des Broterwerbs, wie mit einem alltäglichen Handwerkszeuge verkehrt und ohne Scheu und mit Handwerkerhänden an diesen Heiligtümern herumtastet. Gerade in dem Stande aber, aus dem der größte Teil der Gymnasiallehrer entnommen wird, in dem Stande der Philologen, ist diese rohe und respektlose Empfindung das ganz allgemeine: weshalb nun auch wiederum das Fortpflanzen und Weitertragen einer solchen Gesinnung an den Gymnasien nicht überraschen wird.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 219-220 bzw. 927-928).

„»Den allermeisten von denen, welche von ihrer Universitätszeit an so selbstgefällig und ohne Scheu in den erstaunlichen Trümmern jener Welt herumwandern, sollte eigentlich aus jedem Winkel eine mächtige Stimme entgegentönen: ›Weg von hier, ihr Uneingeweihten, ihr niemals Einzuweihenden, flüchtet schweigend aus diesem Heiligtum, schweigend und beschämt!‹«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 220 bzw. 928).

„»In der Tat«, sagte der Philosoph lachend, »gibt es jetzt zahlreiche Philologen, welche zurückgegangen sind, wie du es verlangst: und ich nehme einen großen Kontrast gegen die Erfahrungen meiner Jugend wahr. Eine große Menge von ihnen kommt, bewußt oder unbewußt, zu der Überzeugung, daß die direkte Berührung mit dem klassischen Altertume für sie nutzlos und hoffnungslos sei .... Wer die jetzigen Gymnasien kennt, der weiß, wie sehr ihre Lehrer der klassischen Tendenz entfremdet sind, und wie aus einem Gefühle dieses Mangels gerade jene gelehrten Beschäftigungen mit der vergleichenden Sprachwissenschaft so überhand genommen haben.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 222-223 bzw. 930-931).

„»Ich meine doch«, sagte der Begleiter, »es käme gerade darauf an, daß ein Lehrer der klassischen Bildung seine Griechen und Römer eben nicht mit den anderen, mit den barbarischen Völkern verwechsele, und daß für ihn Griechisch und Lateinisch nie eine Sprache neben anderen sein könne: gerade für seine klassische Tendenz ist es gleichgültig, ob das Knochengerüst dieser Sprachen mit dem anderer Sprachen übereinstimme und verwandt sei: auf das Übereinstimmende kommt es ihm nicht an: gerade an dem Nichtgemeinsamen, gerade an dem, was jene Völker als nicht barbarische über alle andern Völker stellt, haftet seine wirkliche Teilnahme, soweit er eben ein Lehrer der Bildung ist und sich selbst an dem erhabenen Vorbild des Klassischen umbilden will.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 223 bzw. 931).

„»Und, täusche ich mich«, sagte der Philosoph, »ich habe den Argwohn, daß bei der Art, wie jetzt auf den Gymnasien Lateinisch und Griechisch gelehrt wird, gerade das Können, die bequeme in Sprechen und Schreiben sich äußernde Herrschaft über die Sprache verlorengeht: etwas, worin sich meine jetzt freilich schon sehr veraltete und spärlich gewordene Generation auszeichnete: während mir die jetzigen Lehrer so genetisch und historisch mit ihren Schülern umzugehen scheinen, daß zuletzt bestenfalls auch wieder kleine Sanskritaner oder etymologische Sprühteufelchen oder Konjekturen-Wüstlinge daraus werden, aber keiner von ihnen, zu seinem Behagen, gleich uns Alten, seinen Plato, seinen Tacitus lesen kann. So mögen die Gymnasien auch jetzt noch Pflanzstätten der Gelehrsamkeit sein, aber nicht der Gelehrsamkeit, welche gleichsam nur die natürliche und unabsichtliche Nebenwirkung einer auf die edelsten Ziele gerichteten Bildung ist, sondern vielmehr jener, welche mit der hypertrophischen Anschwellung eines ungesunden Leibes zu vergleichen wäre. Für diese gelehrte Fettsucht sind die Gymnasien die Pflanzstätten: wenn sie nicht gar zu Ringschulen jener eleganten Barbarei entartet sind, die sich jetzt als ›deutsche Kultur der Jetztzeit‹ zu brüsten pflegt.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 223-224 bzw. 931-932).

„»Wohin aber«, antwortete der Begleiter, »sollen sich jene armen, zahlreichen Lehrer flüchten, denen die Natur zu wahrer Bildung keine Mitgift verliehen, die vielmehr nur durch eine Not, weil das Übermaß von Schulen ein Übermaß von Lehrern braucht, und um sich selbst zu ernähren, zu dem Anspruch gekommen sind, Bildungslehrer vorzustellen! Wohin sollen sie sich flüchten, wenn das Altertum sie gebieterisch zurückweist! Müssen sie nicht denjenigen Mächten der Gegenwart zum Opfer fallen, die Tag für Tag, aus dem unermüdlich tönenden Organ der Presse, ihnen zurufen: ›Wir sind die Kultur! Wir sind die Bildung! Wir sind auf der Höhe! Wir sind die Spitze der Pyramide! Wir sind das Ziel der Weltgeschichte‹ – wenn sie die verführerischen Verheißungen hören, wenn ihnen gerade die schmählichsten Anzeichen der Unkultur, die plebejische Öffentlichkeit der sogenannten ›Kulturinteressen‹ in Journal und Zeitung als das Fundament einer ganz neuen allerhöchsten reifsten Bildungsform angepriesen wird! Wohin sollen sich die Armen flüchten, wenn in ihnen auch nur der Rest einer Ahnung lebt, daß es mit jenen Verheißungen sehr lügenhaft bestellt sei – wohin anders als in die stumpfeste, mikrologisch dürrste Wissenschaftlichkeit, um nur hier von dem unermüdlichen Bildungsgeschrei nichts mehr zu hören? Müssen sie nicht, in dieser Weise verfolgt, endlich wie der Vogel Strauß ihren Kopf in einen Haufen Sandes stecken! Ist es nicht ein wahres Glück für sie, daß sie, vergraben unter Dialekten, Etymologien und Konjekturen, ein Ameisenleben führen, wenn auch in meilenweiter Entfernung von wahrer Bildung, so doch wenigstens mit verklebten Ohren und gegen die Stimme der eleganten Zeitkultur taub und abgeschlossen?«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 224 bzw. 932).

„»Du hast recht, mein Freund«, sagte der Philosoph, »aber wo liegt jene eherne Notwendigkeit, daß ein Übermaß von Bildungsschulen bestehen müsse, und daß dadurch wieder ein Übermaß von Bildungslehrern nötig werde? – wenn wir doch so deutlich erkennen, daß die Forderung dieses Übermaßes aus einer der Bildung feindlichen Sphäre her erschallt, und daß die Konsequenzen dieses Übermaßes auch nur der Unbildung zugute kommen? In der Tat kann von einer solchen ehernen Notwendigkeit nur insofern die Rede sein, als der moderne Staat in diesen Dingen mitzureden gewöhnt ist und seine Forderungen mit einem Schlag an seine Rüstung zu begleiten pflegt: welches Phänomen dann freilich auf die meisten den Eindruck macht, als ob die ewige eherne Notwendigkeit, das Urgesetz der Dinge zu ihnen redete. Im übrigen ist ein mit solchen Forderungen redender ›Kulturstaat‹, wie man jetzt sagt, etwas Junges und ist erst in dem letzten halben Jahrhundert zu einer ›Selbstverständlichkeit‹ geworden, das heißt in einer Zeit, der, nach ihrem Lieblingswort, so vielerlei ›selbstverständlich‹ vorkommt, was an sich durchaus sich nicht von selbst versteht. Gerade von dem kräftigsten modernen Staate, von Preußen, ist dieses Recht der obersten Führung in Bildung und Schule so ernst genommen worden, daß, bei der Kühnheit, die diesem Staatswesen zu eigen ist, das von ihm ergriffne bedenkliche Prinzip eine allgemeinhin bedrohliche und für den wahren deutschen Geist gefährliche Bedeutung bekommt. Denn von dieser Seite aus finden wir das Bestreben, das Gymnasium auf die sogenannte ›Höhe der Zeit‹ zu bringen, förmlich systematisiert: hier blühen alle jene Vorrichtungen, wodurch möglichst viel Schüler zu einer Gymnasialerziehung angespornt werden: hier hat sogar der Staat sein allermächtigstes Mittel, die Verleihung gewisser auf den Militärdienst bezüglicher Privilegien, mit dem Erfolge angewendet, daß, nach dem unbefangnen Zeugnisse statistischer Beamten, gerade daraus und nur daraus die allgemeine Überfüllung aller preußischen Gymnasien und das dringendste fortwährende Bedürfnis zu neuen Gründungen zu erklären wäre. Was kann der Staat mehr tun, zugunsten eines Übermaßes von Bildungsanstalten, als wenn er alle höheren und den größten Teil der niederen Beamtenstellen, den Besuch der Universität, ja die einflußreichsten militärischen Vergünstigungen in eine notwendige Verbindung mit dem Gymnasium bringt, und dies in einem Lande, wo ebensowohl die allgemeine durchaus volkstümlich approbierte Wehrpflicht als der unumschränkteste politische Beamtenehrgeiz unbewußt alle begabten Naturen nach diesen Richtungen hinziehn. Hier wird das Gymnasium vor allem als eine gewisse Staffel der Ehre angesehn: und alles, was einen Trieb nach der Sphäre der Regierung zu fühlt, wird auf der Bahn des Gymnasiums gefunden werden. Dies ist eine neue und jedenfalls originelle Erscheinung: der Staat zeigt sich als ein Mystagoge der Kultur, und während er seine Zwecke fördert, zwingt er jeden seiner Diener, nur mit der Fackel der allgemeinen Staatsbildung in den Händen vor ihm zu erscheinen: in deren unruhigem Lichte sie ihn selbst wieder erkennen sollen als das höchste Ziel, als die Belohnung aller ihrer Bildungsbemühungen.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 224-226 bzw. 932-934).

„»Das letzte Phänomen nun sollte zwar sie stutzig machen, es sollte sie zum Beispiel an jene verwandte, allmählich begriffne Tendenz einer ehemals von Staatswegen geförderten und auf Staatszwecke es absehenden Philosophie erinnern, an die Tendenz der Hegelschen Philosophie: ja, es wäre vielleicht nicht übertrieben, zu behaupten, daß in der Unterordnung aller Bildungsbestrebungen unter Staatszwecke Preußen das praktisch verwertbare Erbstück der Hegelschen Philosophie sich mit Erfolg angeeignet habe: deren Apotheose des Staats allerdings in dieser Unterordnung ihren Gipfel erreicht.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 226 bzw. 934).

„»Aber«, fragte der Begleiter, »was mag ein Staat in einer so befremdlichen Tendenz für Absichten verfolgen? Denn daß er Staatsabsichten verfolgt, geht schon daraus hervor, wie jene preußischen Schulzustände von anderen Staaten bewundert, reiflich erwogen, hier und da nachgeahmt werden. Diese anderen Staaten vermuten hier offenbar etwas, was in ähnlicher Weise der Fortdauer und Kraft des Staates zunutze käme, wie etwa jene berühmte und durchaus populär gewordene allgemeine Wehrpflicht. Dort wo jedermann periodisch und mit Stolz die soldatische Uniform trägt, wo fast jeder die uniformierte Staatskultur durch die Gymnasien in sich aufgenommen hat, möchten Überschwängliche fast von antiken Zuständen sprechen, von einer nur im Altertum einmal erreichten Allmacht des Staates, den als Blüte und höchsten Zweck des menschlichen Daseins zu empfinden fast jeder junge Mensch durch Instinkte und Erziehung angehalten ist.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 226 bzw. 934).

„»Dieser Vergleich«, sagte der Philosoph, »wäre nun freilich überschwänglich und würde nicht nur auf einem Beine hinken. Denn gerade von dieser Utilitätsrücksicht ist das antike Staatswesen so fern wie möglich geblieben, die Bildung nur gelten zu lassen, soweit sie ihm direkt nützte und wohl gar die Triebe zu vernichten, die sich nicht sofort zu seinen Absichten verwendbar erwiesen. Der tiefsinnige Grieche empfand gerade deshalb gegen den Staat jenes für moderne Menschen fast anstößig starke Gefühl der Bewunderung und Dankbarkeit, weil er erkannte, daß ohne eine solche Not- und Schutzanstalt auch kein einziger Keim der Kultur sich entwickeln könne, und daß seine ganze unnachahmliche und für alle Zeiten einzige Kultur gerade unter der sorgsamen und weisen Obhut seiner Not- und Schutzanstalten so üppig emporgewachsen sei. Nicht Grenzwächter, Regulator, Aufseher war für seine Kultur der Staat, sondern der derbe muskulöse zum Kampf gerüstete Kamerad und Weggenosse, der dem bewunderten, edleren und gleichsam überirdischen Freund das Geleit durch rauhe Wirklichkeiten gibt und dafür dessen Dankbarkeit erntet. Wenn jetzt dagegen der moderne Staat eine solche schwärmende Dankbarkeit in Anspruch nimmt, so geschieht dies gewiß nicht, weil er sich der ritterlichen Dienste gegen die höchste deutsche Bildung und Kunst bewußt wäre: denn nach dieser Seite hin ist seine Vergangenheit ebenso schmachvoll wie seine Gegenwart: wobei man nur an die Art und Weise zu denken hat, wie das Andenken an unsre großen Dichter und Künstler in deutschen Hauptstädten gefeiert wird, und wie die höchsten Kunstpläne dieser deutschen Meister je von Seite dieses Staates unterstützt worden sind.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 226-227 bzw. 934-935).

„»Es muß also eine eigne Bewandtnis haben, sowohl mit jener Staatstendenz, welche auf alle Weise das, was hier ›Bildung‹ heißt, fördert, als mit jener derartig geförderten Kultur, die sich dieser Staatstendenz unterordnet. Mit dem echten deutschen Geiste und einer aus ihm abzuleitenden Bildung, wie ich sie dir, mein Freund, mit zögernden Strichen hinzeichnete, befindet sich jene Staatstendenz in offener oder versteckter Fehde: der Geist der Bildung, der jener Staatstendenz wohltut und von ihr mit so reger Teilnahme getragen wird, dessentwegen sie ihr Schulwesen im Auslande bewundern läßt, muß demnach wohl aus einer Sphäre stammen, die mit jenem echten deutschen Geiste sich nicht berührt, mit jenem Geiste, der aus dem innersten Kerne der deutschen Reformation, der deutschen Musik, der deutschen Philosophie so wunderbar zu uns redet, und der, wie ein edler Verbannter, gerade von jener von Staats wegen luxurierenden Bildung so gleichgültig, so schnöde angesehn wird. Es ist ein Fremdling: in einsamer Trauer zieht er vorbei: und dort wird das Rauchfaß vor jener Pseudokultur geschwungen, die, unter dem Zuruf der ›gebildeten‹ Lehrer und Zeitungsschreiber, sich seinen Namen, seine Würden angemaßt hat und mit dem Worte ›deutsch‹ ein schmähliches Spiel treibt. Wozu braucht der Staat jene Überzahl von Bildungsanstalten, von Bildungslehrern? Wozu diese auf die Breite gegründete Volksbildung und Volksaufklärung? Weil der echte deutsche Geist gehaßt wird, weil man die aristokratische Natur der wahren Bildung fürchtet, weil man die großen Einzelnen dadurch zur Selbstverbannung treiben will, daß man bei den Vielen die Bildungsprätention pflanzt und nährt, weil man der strengen und harten Zucht der großen Führer damit zu entlaufen sucht, daß man der Masse einredet, sie werde schon selbst den Weg finden – unter dem Leitstern des Staates!«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 227-228 bzw. 935-936).

„»Ein neues Phänomen! Der Staat als Leitstern der Bildung! Inzwischen tröstet mich eins: dieser deutsche Geist, den man so bekämpft, dem man einen bunt behängten Vikar substituiert hat, dieser Geist ist tapfer: er wird sich kämpfend in eine reinere Periode hindurchretten, er wird sich selbst, edel, wie er ist, und siegreich, wie er sein wird, eine gewisse mitleidige Empfindung gegen das Staatswesen bewahren, wenn dies in seiner Not und auf das Äußerste bedrängt, eine solche Pseudokultur als Bundesgenossen erfaßt. Denn was weiß man schließlich von der Schwierigkeit der Aufgabe, Menschen zu regieren, das heißt unter vielen Millionen eines, der großen Mehrzahl nach, grenzenlos egoistischen, ungerechten, unbilligen, unredlichen, neidischen, boshaften und dabei sehr beschränkten und querköpfigen Geschlechtes Gesetz, Ordnung, Ruhe und Frieden aufrechtzuerhalten und dabei das Wenige, was der Staat selbst als Besitz erworben, fortwährend gegen begehrliche Nachbarn und tückische Räuber zu schützen? Ein so bedrängter Staat greift nach jedem Bundesgenossen: und wenn ein solcher gar, in pompösen Wendungen sich selbst anbietet, wenn er ihn, den Staat, etwa, wie dies Hegel getan, als ›absolut vollendeten ethischen Organismus‹ bezeichnet und als Aufgabe der Bildung für jeden hinstellt, den Ort und die Lage ausfindig zu machen, wo er dem Staat am nützlichsten diene – wen wird es wundernehmen, wenn der Staat einem solchen sich anbietenden Bundesgenossen ohne weiteres um den Hals fällt und nun auch mit seiner tiefen barbarischen Stimme und in voller Überzeugung ihm zuruft: ›Ja! Du bist die Bildung! Du bist die Kultur!‹«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 228 bzw. 936).

 

Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten 4. Vortrag (3. März 1872)

„Unsere Gymnasien, ihrer Anlage nach zu diesem erhabenen Zwecke prästabiliert, sind entweder zu Pflegestätten einer bedenklichen Kultur geworden, die eine wahre, das heißt eine aristokratische, auf eine weise Auswahl der Geister gestützte Bildung mit tiefem Hasse von sich abwehrt: oder sie ziehen eine mikrologische, dürre oder jedenfalls der Bildung fernbleibende Gelehrsamkeit auf, deren Wert vielleicht gerade darin besteht, wenigstens gegen die Verführungen jener fragwürdigen Kultur Auge und Ohr stumpf zu machen.« Der Philosoph hatte vor allem seinen Begleiter auf die seltsame Entartung aufmerksam gemacht, die in dem Kerne einer Kultur eingetreten sein muß, wenn der Staat glauben darf, sie zu beherrschen, wenn er durch sie Staatsziele erreicht, wenn er, mit ihr verbündet, gegen feindselige andere Mächte ebensowohl als gegen den Geist ankämpft, den der Philosoph den »wahrhaft deutschen« zu nennen wagte. Dieser Geist, durch das edelste Bedürfnis an die Griechen gekettet, in schwerer Vergangenheit als ausdauernd und mutig bewährt, rein und erhaben in seinen Zielen, durch seine Kunst zur höchsten Aufgabe befähigt, den modernen Menschen vom Fluche des Modernen zu erlösen – dieser Geist ist verurteilt, abseits, seinem Erbe entfremdet zu leben ...“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 229-230 bzw. 937-938).

„Von neuem erhob der Philosoph seine Stimme: »Merkt es wohl, meine Freunde«, sagte er, »zweierlei dürft ihr nicht verwechseln. Sehr viel muß der Mensch lernen, um zu leben, um seinen Kampf ums Dasein zu kämpfen: aber alles, was er in dieser Absicht als Individuum lernt und tut, hat noch nichts mit der Bildung zu schaffen. Diese beginnt im Gegenteil erst in einer Luftschicht, die hoch über jener Welt der Not, des Existenzkampfes, der Bedürftigkeit lagert .... «“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 230 bzw. 938).

„»Also, meine Freunde, verwechselt mir diese Bildung, diese zartfüßige, verwöhnte, ätherische Göttin nicht mit jener nutzbaren Magd, die sich mitunter auch die ›Bildung‹ nennt, aber nur die intellektuelle Dienerin und Beraterin der Lebensnot, des Erwerbs, der Bedürftigkeit ist. Jede Erziehung aber, welche an das Ende ihrer Laufbahn ein Amt oder einen Brotgewinn in Aussicht stellt, ist keine Erziehung zur Bildung, wie wir sie verstehen, sondern nur eine Anweisung, auf welchem Wege man im Kampfe um das Dasein sein Subjekt rette und schütze. Freilich ist eine solche Anweisung für die allermeisten Menschen von erster und nächster Wichtigkeit: und je schwieriger der Kampf ist, um so mehr muß der junge Mensch lernen, um so angespannter muß er seine Kräfte regen.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 231 bzw. 939).

„»Nur aber glaube niemand, daß die Anstalten, die ihn zu diesem Kampfe anspornen und befähigen, irgendwie in ernstem Sinne als Bildungsanstalten in Betracht kommen könnten. Es sind Institutionen zur Überwindung der Lebensnot, mögen sie nun versprechen, Beamte oder Kaufleute oder Offiziere oder Großhändler oder Landwirte oder Ärzte oder Techniker zu bilden. Für solche Institutionen gelten aber jedenfalls andere Gesetze und Maßstäbe als für die Errichtung einer Bildungsanstalt: und was hier erlaubt, ja so geboten wie möglich ist, dürfte dort ein freventliches Unrecht sein.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 232 bzw. 940).

„»Ich will euch, meine Freunde, ein Beispiel geben. Wollt ihr einen jungen Menschen auf den rechten Bildungspfad geleiten, so hütet euch wohl, das naive zutrauensvolle, gleichsam persönlich-unmittelbare Verhältnis desselben zur Natur zu stören: zu ihm müssen der Wald und der Fels, der Sturm, der Geier, die einzelne Blume, der Schmetterling, die Wiese, die Bergeshalde in ihren eignen Zungen reden, in ihnen muß er gleichsam sich wie in zahllosen auseinandergeworfenen Reflexen und Spiegelungen, in einem bunten Strudel wechselnder Erscheinungen wiedererkennen; so wird er unbewußt das metaphysische Einssein aller Dinge an dem großen Gleichnis der Natur nachempfinden und zugleich an ihrer ewigen Beharrlichkeit und Notwendigkeit sich selbst beruhigen. Aber wie vielen jungen Menschen darf es gestattet sein, so nahe und fast persönlich zur Natur gestellt heranzuwachsen! Die anderen müssen frühzeitig eine andre Wahrheit lernen: wie man die Natur sich unterjocht. Hier ist es mit jener naiven Metaphysik zu Ende: und die Physiologie der Pflanzen und Tiere, die Geologie, die unorganische Chemie zwingt ihre Jünger zu einer ganz veränderten Betrachtung der Natur. Was durch diese neue angezwungene Betrachtungsart verlorengegangen ist, ist nicht etwa eine poetische Phantasmagorie, sondern das instinktive wahre und einzige Verständnis der Natur: an dessen Stelle jetzt ein kluges Berechnen und Überlisten der Natur getreten ist. So ist dem wahrhaft Gebildeten das unschätzbare Gut verliehen, ohne jeden Bruch den beschaulichen Instinkten seiner Kindheit treu bleiben zu können und dadurch zu einer Ruhe, Einheit, zu einem Zusammenhang und Einklang zu kommen, die von einem zum Lebenskampfe Herangezogenen nicht einmal geahnt werden können.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 232 bzw. 940).

„»Glaubt also ja nicht, meine Freunde, daß ich unsern Realschulen und höheren Bürgerschulen ihr Lob verkümmern will: ich ehre die Stätten, an denen man ordentlich rechnen lernt, wo man sich der Verkehrssprachen bemächtigt, die Geographie ernst nimmt und sich mit den erstaunlichen Erkenntnissen der Naturwissenschaft bewaffnet. Ich bin auch gerne bereit zuzugeben, daß die auf den besseren Realschulen unserer Tage Vorbereiteten vollkommen zu den Ansprüchen berechtigt sind, die die fertigen Gymnasiasten zu machen pflegen, und die Zeit ist gewiß nicht mehr fern, wo man derartig Geschulten die Universitäten und die Staatsämter überall ebenso unumschränkt öffnet wie bisher nur den Zöglingen des Gymnasiums – wohlgemerkt den Zöglingen des jetzigen Gymnasiums! Diesen schmerzlichen Nachsatz kann ich aber nicht unterdrücken: wenn es wahr ist, daß Realschule und Gymnasium in ihren gegenwärtigen Zielen im ganzen so einmütig sind und nur in so zarten Linien voneinander abweichen, um auf eine volle Gleichberechtigung vor dem Forum des Staates rechnen zu können – so fehlt uns somit eine Spezies der Erziehungsanstalten vollständig: die Spezies der Bildungsanstalten! Dies ist am wenigsten ein Vorwurf gegen die Realschulen, die viel niedrigere, aber höchst notwendige Tendenzen ebenso glücklich als ehrlich bisher verfolgt haben; aber viel weniger ehrlich geht es in der Sphäre des Gymnasiums zu, auch viel weniger glücklich: denn hier lebt etwas von einem instinktiven Gefühl der Beschämung, von einer unbewußten Erkenntnis, daß das ganze Institut schmählich degradiert sei, und daß den klangvollen Bildungsworten kluger apologetischer Lehrer die barbarisch-öde und sterile Wirklichkeit widerspricht.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 233 bzw. 941).

„»Ich für meinen Teil kenne nur einen wahren Gegensatz, Anstalten der Bildung und Anstalten der Lebensnot: zu der zweiten Gattung gehören alle vorhandenen, von der ersten aber rede ich.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 233-134 bzw. 941-942).

„»Sie haben so viel vom Genius gesprochen«, sagten wir etwa, »von seiner einsamen beschwerlichen Wanderung durch die Welt, als ob die Natur nur immer die äußersten Gegensätze produziere, einmal die stumpfe schlafende, durch Instinkte fortwuchernde Masse und dann in ungeheurer Entfernung davon, die großen kontemplativen, zu ewigen Schöpfungen ausgerüsteten Einzelnen. Nun aber nennen Sie diese selbst die Spitze der intellektuellen Pyramide: es scheint doch, daß vom breiten schwerbelasteten Fundamente aus bis zu dem frei ragenden Gipfel zahllose Zwischengrade nötig sind, und daß gerade hier der Satz gelten muß: natura non facit saltus. Wo aber beginnt nun das, was Sie Bildung nennen, bei welchen Quadern scheidet sich die Sphäre, die von unten her und die andere, die von oben her beherrscht wird? Und wenn nur bei diesen entlegensten Naturen wahrhaft von Bildung geredet werden darf, wie will man auf das unberechenbare Dasein solcher Naturen Institutionen gründen, wie darf man über Bildungsanstalten nachdenken, die eben nur jenen Auserwählten zugute kämen? Vielmehr dünkt es uns, daß gerade diese ihren Weg zu finden wissen, und daß darin ihre Kraft sich zeigt, ohne solche Bildungskrücken, wie sie jeder andere braucht, gehen zu können und so, ungestört, durch das Drängen und Stoßen der Weltgeschichte hindurchzuschreiten, gleichsam wie ein Gespenst durch eine große dichte Versammlung.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 238 bzw. 946).

„Derartiges brachten wir miteinander, ohne viel Geschick und Ordnung vor, ja der Begleiter des Philosophen ging noch weiter und sagte zu seinem Lehrer: »Nun denken Sie selbst an alle großen Genien, auf die wir gerade, als auf echte und treue Führer und Wegweiser jenes wahren deutschen Geistesstolz zu sein pflegen, deren Andenken wir durch Feste und Statuen ehren, deren Werke wir mit Selbstgefühl dem Auslande entgegenhalten: worin ist diesen eine solche Bildung, wie Sie sie verlangen, entgegengekommen, inwiefern zeigen sie sich ernährt und gereift an einer heimischen Bildungssonne? Und trotzdem sind sie möglich gewesen, und trotzdem sind sie das geworden, was wir jetzt so zu verehren haben, ja ihre Werke rechtfertigen vielleicht gerade die Form der Entwicklung, die diese edlen Naturen nahmen, ja selbst einen solchen Mangel an Bildung, den wir wohl bei ihrer Zeit und ihrem Volke zugeben müssen. Was hatte Lessing, was hatte Winckelmann aus einer vorhandenen deutschen Bildung zu entnehmen? Nichts oder mindestens ebensowenig als Beethoven, als Schiller, als Goethe, als unsere großen Künstler und Dichter. Vielleicht ist es ein Naturgesetz, daß immer erst die späteren Generationen sich bewußt werden müssen, durch welche himmlischen Geschenke eine frühere ausgezeichnet worden sei.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 238-239 bzw. 946-947).

„Hier geriet der philosophische Greis in heftigen Zorn und schrie seinen Begleiter an: »O du Lamm an Einfalt der Erkenntnis! O ihr insgesamt Säugetiere zu Nennende! Was sind das für schiefe, linkische, enge, höckerige, krüppelhafte Argumentationen! Ja, jetzt eben hörte ich die Bildung unserer Tage, und meine Ohren klingen wieder von lauter geschichtlichen ›Selbstverständlichkeiten‹, von lauter altklugen erbarmungslosen Historiker-Vernünftigkeiten! Merke dir das, du unentweihte Natur: du bist alt geworden und seit Jahrtausenden ruht dieser Sternenhimmel über dir – aber ein solches gebildetes und im Grunde boshaftes Gerede, wie es diese Gegenwart liebt, hast du noch nie gehört! Also ihr seid stolz, meine guten Germanen, auf eure Dichter und Künstler? Ihr zeigt mit den Fingern auf sie und brüstet euch mit ihnen vor dem Auslande? Und weil es euch keine Mühe gekostet hat, sie unter euch zu haben, so macht ihr daraus eine allerliebste Theorie, daß ihr euch auch fürderhin keine Mühe um sie zu geben braucht? Nicht wahr, meine unerfahrenen Kinder, sie kommen von selbst: der Storch bringt sie euch! Wer wird von Hebammen reden mögen! Nun, meine Guten, euch gebührt eine ernste Belehrung: was? ihr dürftet darauf stolz sein, daß alle die genannten glänzenden und edeln Geister durch euch, durch eure Barbarei vorzeitig erstickt, verbraucht, erloschen sind? Wie, ihr dürftet ohne Scham an Lessing denken, der an eurer Stumpfheit, im Kampf mit euren lächerlichen Klötzen und Götzen, unter dem Mißstande eurer Theater, eurer Gelehrten, eurer Theologen zugrunde ging, ohne ein einziges Mal jenen ewigen Flugwagen zu dürfen, zu dem er in die Welt gekommen war? Und was empfindet ihr bei Winckelmanns Angedenken, der, um seinen Blick von euren grotesken Albernheiten zu befrein, bei den Jesuiten um Hilfe betteln ging, dessen schmählicher Übertritt auf euch zurückfällt und an euch als unvertilgbarer Flecken haften wird? Ihr dürftet gar Schillers Namen nennen und könnt nicht erröten? Seht sein Bild euch an! Das entzündet funkelnde Auge, das verächtlich über euch hinwegfliegt, diese tödlich gerötete Wange – das sagt euch nichts? Da hattet ihr so ein herrliches und göttliches Spielzeug, das durch euch zertrümmert wurde. Und nehmt noch Goethes Freundschaft aus diesem schwermütig hastigen, zu Tode gehetzten Leben hinweg – an euch hätte es dann gelegen, es noch schneller verlöschen zu machen. Bei keinem unserer großen Genien habt ihr mitgeholfen – und jetzt wollt ihr ein Dogma daraus machen, daß keinem mehr geholfen werde? Aber für jeden waret ihr, bis diesen Augenblick, der ›Widerstand der dumpfen Welt‹, den Goethe in seinem Epilog zur Glocke bei Namen nennt, für jeden waret ihr die verdrossenen Stumpfsinnigen oder die neidischen Engherzigen oder die boshaft Selbstsüchtigen. Trotz euch schufen jene ihre Werke, gegen euch wandten sie ihre Angriffe und dank euch starben sie zu früh, in unvollendeter Tagesarbeit, unter Kämpfen zerbrochen oder betäubt, dahin. Wer kann ausdenken, was diesen heroischen Männern zu erreichen beschieden war, wenn jener wahre deutsche Geist in einer kräftigen Institution sein schützendes Dach über sie ausgebreitet hätte, jener Geist, der ohne eine solche Institution vereinzelt, zerbröckelt, entartet sein Dasein weiterschleppt. Alle jene Männer sind zugrunde gerichtet: und es gehört ein tollgewordener Glaube an die Vernünftigkeit alles Geschehenden dazu, um mit ihm eure Schuld entschuldigen zu wollen. Und nicht jene Männer allein! Aus allen Bereichen intellektueller Auszeichnung treten die Ankläger gegen euch auf: mag ich auf alle die dichterischen oder philosophischen oder malerischen oder plastischen Begabungen hinsehn und nicht nur auf die Begabungen des höchsten Grades, überall bemerke ich das nicht Reifgewordene, das Überreizte oder zu früh Erschlaffte, das vor der Blüte Versengte oder Erfrorene, überall wittere ich jenen ›Widerstand der stumpfen Welt‹, das heißt eure Verschuldung. Das will es besagen, wenn ich nach Bildungsanstalten verlange und den Zustand derer, die sich so nennen, erbarmungswürdig finde.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 239-240 bzw. 947-948).

„»Wer dies ein ›ideales Verlangen‹ und überhaupt ›ideal‹ zu nennen beliebt und wohl gar damit wie mit einem Lobe mich abzufinden meint, dem diene zur Antwort, daß das Vorhandene einfach eine Gemeinheit und eine Schmach ist, und daß, wer in klapperdürrem Frost nach Wärme verlangt, wild werden muß, wenn man dies ein ›ideales Verlangen‹ nennt. Hier handelt es sich um lauter aufdringliche, gegenwärtige, augenscheinliche Wirklichkeiten: wer etwas davon fühlt, der weiß, daß es hier eine Not gibt, wie Frost und Hunger. Wer aber nichts davon fühlt – nun, der hat dann wenigstens einen Maßstab, um zu messen, wo das aufhört, was ich ›Bildung‹ nenne, und bei welchen Quadern der Pyramide sich die Sphäre, die von unten, und die andere, die von oben beherrscht wird, scheidet.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 241 bzw. 949).

„Jetzt merkten wir es ..., wie unbedacht, unvorbereitet und unerfahren unsere Einwendungen waren, wie sehr gerade in ihnen das Echo der Gegenwart widerklang, deren Stimme der Alte nun einmal im Bereiche der Bildung nicht hören mochte.“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 241-242 bzw. 949-950).

„So gingen wir neben dem Philosophen her, beschämt, mitleidig, unzufrieden mit uns und mehr als je überzeugt, daß der Greis recht haben müsse, und daß wir ihm Unrecht getan hätten. Wie weit zurück lag jetzt der Jugendtraum unserer Bildungsanstalt, wie deutlich erkannten wir die Gefahr, an der wir bisher nur durch einen Zufall vorbeigeschlüpft waren, uns nämlich mit Haut und Haar dem Bildungswesen zu verkaufen, das von jenen Knabenjahren an, bereits aus unserm Gymnasium heraus, verlockend zu uns gesprochen hatte! Worin lag es doch, daß wir noch nicht im öffentlichen Chorus seiner Bewunderer standen? Vielleicht nur darin, daß wir noch wirklich Studenten waren, daß wir uns noch, aus dem gierigen Haschen und Drängen, aus dem rastlosen und sich überstürzenden Wellenschlag der Öffentlichkeit, auf jene bald nun auch weggeschwemmte Insel zurückziehn konnten!“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 242 bzw. 950).

„Von derartigen Gedanken überwältigt waren wir im Begriff, den Philosophen anzureden, als er sich plötzlich gegen uns wendete und mit milderer Stimme begann: »Ich darf mich nicht wundern, wenn ihr euch jugendlich, unvorsichtig und voreilig benahmt. Denn schwerlich hattet ihr über das, was ihr von mir hörtet, schon jemals ernsthaft nachgedacht. Laßt euch Zeit, tragt es mit euch herum, aber denkt daran Tag und Nacht. Denn jetzt seid ihr an den Kreuzweg gestellt, jetzt wißt ihr, wohin die beiden Wege führen. Auf dem einen wandelnd, seid ihr eurer Zeit willkommen, sie wird es an Kränzen und Siegeszeichen nicht fehlen lassen: ungeheure Parteien werden euch tragen, hinter eurem Rücken werden ebensoviel Gleichgesinnte wie vor euch stehen. Und wenn der Vordermann ein Losungswort ausspricht, so hallt es in allen Richtungen wider. Hier heißt die erste Pflicht; in Reih und Glied kämpfen, die zweite: alle die zu vernichten, die sich nicht in Reih und Glied stellen wollen. Der andre Weg führt euch mit selteneren Wandergenossen zusammen, er ist schwieriger, verschlungener und steiler: die, welche auf dem ersten gehen, verspotten euch, weil ihr dort mühsamer schreitet, sie versuchen es auch wohl, euch zu sich hinüberzulocken. Wenn aber einmal beide Wege sich kreuzen, so werdet ihr mißhandelt, beiseite gedrängt, oder man weicht euch scheu aus und isoliert euch.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 242-243 bzw. 950-951).

„»Was würde nun, für die so verschiedenartigen Wanderer beider Wege, eine Bildungsanstalt zu bedeuten haben? Jener ungeheure Schwarm, der sich auf dem ersten Wege zu seinen Zielen drängt, versteht darunter eine Institution, wodurch er selbst in Reih und Glied aufgestellt wird und von der alles abgeschieden und losgelöst wird, was etwa nach höheren und entlegeneren Zielen hinstrebt. Freilich verstehen sie es, prunkende Worte für ihre Tendenzen in Umlauf zu bringen: sie reden zum Beispiel von der ›allseitigen Entwicklung der freien Persönlichkeit innerhalb fester gemeinsamer nationaler und menschlich-sittlicher Überzeugungen‹, oder nennen als ihr Ziel ›die Begründung des auf Vernunft, Bildung, Gerechtigkeit ruhenden Volksstaates‹.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 243 bzw. 951).

„»Für die andere kleinere Schar ist eine Bildungsanstalt etwas durchaus Verschiedenes. Diese will, an der Schutzwehr einer festen Organisation, verhüten, daß sie selbst, durch jenen Schwarm, weggeschwemmt und auseinandergetrieben werde, daß ihre Einzelnen in frühzeitiger Ermattung oder abgelenkt, entartet, zerstört, ihre edele und erhabene Aufgabe aus dem Auge verlieren. Diese Einzelnen sollen ihr Werk vollenden, das ist der Sinn ihrer gemeinschaftlichen Institution – und zwar ein Werk, das gleichsam von den Spuren des Subjekts gereinigt und über das Wechselspiel der Zeiten hinausgetragen sein soll, als lautere Widerspiegelung des ewigen und unveränderlichen Wesens der Dinge. Und alle, die an jenem Institute teilhaben, sollen auch mit bemüht sein, durch eine solche Reinigung vom Subjekt, die Geburt des Genius und die Erzeugung seines Werkes vorzubereiten. Nicht wenige, auch aus der Reihe der zweiten und dritten Begabungen, sind zu einem solchen Mithelfen bestimmt und kommen nur im Dienste einer solchen wahren Bildungs-Institution zu dem Gefühl, ihrer Pflicht zu leben. Jetzt aber werden gerade diese Begabungen von den unausgesetzten Verführungskünsten jener modischen ›Kultur‹ aus ihrer Bahn abgelenkt und ihrem Instinkte entfremdet.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 243-244 bzw. 951-952).

„»An ihre egoistische Regungen, an ihre Schwächen und Eitelkeiten richtet sich diese Versuchung, ihnen gerade flüstert jener Zeitgeist zu: ›Folgt mir! Dort seid ihr Diener, Gehilfen, Werkzeuge, von höheren Naturen überstrahlt, eurer Eigenart niemals froh, an Fäden gezogen, an Ketten gelegt, als Sklaven, ja als Automaten: hier, bei mir, genießt ihr als Herrn eure freie Persönlichkeit, eure Begabungen dürfen für sich glänzen, mit ihnen werdet ihr selbst an der ersten Stelle stehn, ungeheures Gefolge wird euch begleiten, und der Zuruf der öffentlichen Meinung wird euch mehr behagen als eine vornehm gespendete Belobigung aus der Höhe des Genius.‹ Solchen Verlockungen unterliegen jetzt die allerbesten: und im Grunde entscheidet wohl hier kaum der Grad der Begabung, ob man für derartige Stimmen zugänglich ist oder nicht, sondern die Höhe und der Grad einer gewissen sittlichen Erhabenheit, der Instinkt zum Heroismus, zur Aufopferung – und endlich ein sicheres, zur Sitte gewordenes, durch richtige Erziehung eingeleitetes Bedürfnis der Bildung: als welche, wie ich schon sagte, vor allem Gehorsam und Gewöhnung an die Zucht des Genius ist. Gerade aber von einer solchen Zucht, einer solchen Gewöhnung wissen die Institute, die man jetzt ›Bildungsanstalten‹ nennt, so viel wie nichts: obwohl es mir nicht zweifelhaft ist, daß das Gymnasium ursprünglich als eine derartige wahre Bildungsinstitution, wenigstens als vorbereitende Veranstaltung, gemeint war und in den wunderbaren, tiefsinnig erregten Zeiten der Reformation die ersten kühnen Schritte auf einer solchen Bahn wirklich getan hat, ebenfalls, daß sich in der Zeit unseres Schiller, unseres Goethe wieder etwas von jenem schmählich abgeleiteten oder sekretierten Bedürfnisse merken ließ, gleichsam als ein Keim jener Schwinge, von der Plato im Phädrus redet und welche die Seele, bei jeder Berührung mit dem Schönen, beflügelt und emporträgt – nach dem Reiche der unwandelbaren reinen eingestalten Urbilder der Dinge.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 244-245 bzw. 952-953).

„»Ach, mein verehrter und ausgezeichneter Lehrer«, begann jetzt der Begleiter, »nachdem Sie den göttlichen Plato und die Ideenwelt zitiert haben, glaube ich nicht mehr daran, daß Sie mir zürnen, so sehr ich auch durch meine vorige Rede Ihre Mißbilligung und Ihren Zorn verdient habe. Sobald Sie reden, regt sich bei mir jene platonische Schwinge; und nur in den Zwischenpausen habe ich, als Wagenlenker meiner Seele, mit dem widerstrebenden, wilden und ungebärdigen Rosse rechte Mühe, das Plato auch beschrieben hat und von dem er sagt, es sei schief und ungeschlacht, mit starrem Nacken, kurzem Hals und platter Nase, schwarzgefärbt, grauen blutunterlaufenen Auges, an den Ohren struppicht und schwerhörig, zu Frevel und Untat allezeit bereit und kaum durch Geißel und Stachelstab lenkbar. Denken Sie sodann daran, wie lange ich von Ihnen entfernt gelebt habe und wie gerade auch an mir alle jene Verführungskünste sich erproben konnten, von denen Sie redeten, vielleicht doch nicht ohne einigen Erfolg, wenn auch fast unbemerkt von mir selber. Ich begreife gerade jetzt stärker als je, wie notwendig eine Institution ist, welche es uns ermöglicht, mit den seltenen Männern wahrer Bildung zusammenzuleben, um an ihnen Führer und Leitsterne zu haben. Wie stark empfinde ich die Gefahr des einsamen Wanderns! Und wenn ich, wie ich Ihnen sagte, aus dem Gewühl und der direkten Berührung mit dem Zeitgeiste mich durch Flucht zu retten wähnte, so war selbst diese Flucht eine Täuschung. Fortwährend, aus unzähligen Adern, mit jedem Atemzuge quillt jene Atmosphäre in uns hinein, und keine Einsamkeit ist einsam und ferne genug, wo sie uns nicht, mit ihren Nebeln und Wolken, zu erreichen wüßte. Als Zweifel, als Gewinn, als Hoffnung und Tugend verkleidet, in der wechselreichsten Maskentracht umschleichen uns die Bilder jener Kultur: und selbst hier in Ihrer Nähe, das heißt gleichsam an der Hand eines wahren Bildungseremiten wußte uns jene Gaukelei zu verführen. Wie beständig und treu muß jene kleine Schar einer fast sektiererisch zu nennenden Bildung unter sich wachen! Wie sich gegenseitig stärken! Wie streng muß hier der Fehltritt gerügt, wie mitleidig verziehn werden! So verzeihen Sie nun auch mir, mein Lehrer, nachdem Sie mich so ernst zurechtgewiesen haben!«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 245-246 bzw. 953-954).

„»Du führst eine Sprache, mein Guter«, sagte der Philosoph, »die ich nicht mag, und die an religiöse Konventikel erinnert. Damit habe ich nichts zu tun. Aber dein platonisches Pferd hat mir gefallen, seinetwegen soll dir auch verziehen sein. Gegen dieses Pferd tausche ich mein Säugetier ein. Übrigens habe ich wenig Lust, mit euch hier im Kühlen noch ferner herumzugehn. Mein von mir erwarteter Freund ist zwar toll genug, auch wohl um Mitternacht noch hier hinaufzukommen, wenn er es einmal versprochen hat. Aber ich warte vergebens auf das zwischen uns verabredete Zeichen: mir bleibt es unverständlich, was ihn bis jetzt abgehalten hat. Denn er ist pünktlich und genau, wie wir Alten zu sein pflegen und wie es die Jugend jetzt für altväterisch hält. Diesmal läßt er mich im Stich: es ist verdrießlich! Nun folgt mir nur! Es ist Zeit zu gehen!« – In diesem Augenblicke zeigte sich etwas Neues. –“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 246 bzw. 954).

 

Über die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten 5. Vortrag (23. März 1872)

„Endlich wendete sich der Begleiter an den Philosophen und sagte: »Sie erinnern mich, mein Lehrer, daran, daß Sie ja auch in früherer Zeit, bevor ich Sie kennenlernte, an mehreren Universitäten gelebt haben und daß Gerüchte über Ihren Verkehr mit Studierenden, über die Methode Ihres Unterrichts noch aus jener Periode im Umlauf sind. Aus dem Tone der Resignation, mit dem Sie eben von den Studenten sprachen, dürfte mancher wohl auf eigentümliche verstimmende Erfahrungen raten; ich aber glaube vielmehr, daß Sie eben das erfahren und gesehen haben, was jeder dort erfährt und sieht, daß Sie aber dies strenger und richtiger beurteilt haben als jeder andere. Denn soviel habe ich aus Ihrem Umgange gelernt, daß die merkwürdigsten, lehrreichsten und entscheidenden Erfahrungen und Erlebnisse die alltäglichen sind, daß aber gerade das, was als ungeheures Rätsel vor aller Augen liegt, von den wenigsten als Rätsel verstanden wird, und daß für die wenigen rechten Philosophen eben diese Probleme unberührt, mitten auf der Fahrstraße und gleichsam unter den Füßen der Menge, liegenbleiben, um von ihnen dann sorgsam aufgehoben zu werden und von nun an als Edelsteine der Erkenntnis zu leuchten. Vielleicht sagen Sie uns in der kurzen Pause, die uns noch bis zur Ankunft ihres Freundes bleibt, noch etwas über Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen in der Sphäre der Universität und vollenden damit den Kreis der Betrachtungen, zu denen wir unwillkürlich in betreff unserer Bildungsanstalten genötigt worden sind. Zudem sei es uns erlaubt, Sie daran zu erinnern, daß Sie, auf einer früheren Stufe Ihrer Besprechungen, mir sogar eine derartige Verheißung gemacht haben (). Von dem Gymnasium ausgehend, behaupteten Sie für dasselbe eine außerordentliche Bedeutung: an seinem Bildungsziele, je nachdem es gesteckt ist, müßten sich alle anderen Institute messen, an den Verirrungen seiner Tendenz hätten jene mitzuleiden. Eine solche Bedeutung, als bewegender Mittelpunkt, könne jetzt selbst die Universität nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die, bei ihrer jetzigen Formation, wenigstens nach einer wichtigen Seite hin nur als Ausbau der Gymnasialtendenz gelten dürfe. Hier versprachen Sie mir eine spätere Ausführung: etwas, was vielleicht auch unsere studierenden Freunde bezeugen können, die unser damaliges Gespräch möglicherweise mit angehört haben.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 249-250 bzw. 957-958).

„»Dies bezeugen wir«, versetzte ich. Der Philosoph wendete sich gegen uns und versetzte: »Nun, wenn ihr wirklich zugehört habt, so könnt ihr mir einmal beschreiben, was ihr, nach allem Gesagten, unter der jetzigen Gymnasialtendenz versteht. Zudem steht ihr dieser Sphäre noch nahe genug, um meine Gedanken an euren Erfahrungen und Empfindungen messen zu können.« “ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 250-251 bzw. 958-959).

„Mein Freund erwiderte, schnell und behend, wie seine Art ist, etwa Folgendes: »Bis jetzt hatten wir immer geglaubt, daß die einzige Absicht des Gymnasiums sei, für die Universität vorzubereiten. Diese Vorbereitung aber soll uns selbständig genug für die außerordentlich freie Stellung eines Akademikers machen. Denn es scheint mir, daß in keinem Gebiete des jetzigen Lebens dem einzelnen so viel zu entscheiden und zu verfügen überlassen sei, wie im Bereiche des studentischen Lebens. Er muß sich selbst, auf einer weiten, ihm völlig freigegebnen Fläche, auf mehrere Jahre hinaus führen können: also wird das Gymnasium versuchen müssen, ihn selbständig zu machen.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 251 bzw. 959).

„Ich setzte die Rede meines Kameraden fort. »Es scheint mir sogar«, sagte ich, »daß alles das, was Sie, gewiß mit Recht, an dem Gymnasium zu tadeln haben, nur notwendige Mittel sind, um, für ein so jugendliches Alter, eine Art von Selbständigkeit und mindestens den Glauben daran zu erzeugen. Dieser Selbständigkeit soll der deutsche Unterricht dienen: das Individuum muß seiner Ansichten und Absichten zeitig froh werden, um ohne Krücken allein gehen zu können. Deshalb wird es schon frühe zur Produktion und noch früher zu scharfer Beurteilung und Kritik angehalten. Wenn die lateinischen und griechischen Studien auch nicht imstande sind, den Schüler für das ferne Altertum zu entzünden, so erwacht doch wohl, bei der Methode, mit der sie betrieben werden, der wissenschaftliche Sinn, die Lust an strenger Kausalität der Erkenntnis, die Begier zum Finden und Erfinden: wie viele mögen durch eine auf dem Gymnasium gefundene, mit jugendlichem Tasten erhaschte neue Lesart zu den Reizungen der Wissenschaft dauernd verführt worden sein! Vielerlei muß der Gymnasiast lernen und in sich einsammeln: dadurch wird wahrscheinlich allgemach ein Trieb erzeugt, von dem geleitet er dann auf der Universität selbständig in ähnlicher Weise lernt und einsammelt. Kurz, wir glauben, es möge die Gymnasialtendenz sein, den Schüler so vorzubereiten und einzugewöhnen, daß er nachher so selbständig weiterlebe und lerne, wie er unter dem Zwange der Gymnasialordnung leben und lernen mußte.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 251 bzw. 959).

„Der Philosoph lachte hierauf, doch nicht gerade gutmütig, und versetzte: »Da habt ihr mir sogleich eine schöne Probe dieser Selbständigkeit gegeben. Und gerade diese Selbständigkeit ist es, die mich so erschreckt und mir die Nähe von Studierenden der Gegenwart immer so unerquicklich macht. Ja, meine Guten, ihr seid fertig, ihr seid ausgewachsen, die Natur hat eure Form zerbrochen, und eure Lehrer dürfen sich an euch weiden. Welche Freiheit, Bestimmtheit, Unbekümmertheit des Urteils, welche Neuheit und Frische der Einsicht! Ihr sitzt zu Gericht – und alle Kulturen aller Zeiten laufen davon. Der wissenschaftliche Sinn ist entzündet und schlägt als Flamme aus euch heraus – es hüte sich jeder, an euch nicht zu verbrennen! Nehme ich nun gleich eure Professoren noch hinzu, so bekomme ich dieselbe Selbständigkeit noch einmal, in einer kräftigen und anmutigen Steigerung; nie war eine Zeit so reich an den schönsten Selbständigkeiten, nie haßte man so stark jede Sklaverei, auch freilich die Sklaverei der Erziehung und der Bildung.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 252 bzw. 960).

„»Erlaubt mir aber, diese eure Selbständigkeit einmal an dem Maßstabe eben dieser Bildung zu messen und eure Universität nur als Bildungsanstalt in Betracht zu ziehn. Wenn ein Ausländer unser Universitätswesen kennenlernen will, so fragt er zuerst mit Nachdruck: ›Wie hängt bei euch der Student mit der Universität zusammen?‹ Wir antworten: ›Durch das Ohr, als Hörer.‹ Der Ausländer erstaunt. ›Nur durch das Ohr?‹ fragt er nochmals. ›Nur durch das Ohr‹, antworten wir nochmals. Der Student hört. Wenn er spricht, wenn er sieht, wenn er gesellig ist, wenn er Künste treibt, kurz, wenn er lebt, ist er selbständig, das heißt unabhängig von der Bildungsanstalt. Sehr häufig schreibt der Student zugleich, während er hört. Dies sind die Momente, in denen er an der Nabelschnur der Universität hängt. Er kann sich wählen, was er hören will, er braucht nicht zu glauben, was er hört, er kann das Ohr schließen, wenn er nicht hören mag. Dies ist die ›akroamatische‹ Lehrmethode.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 252 bzw. 960).

„»Der Lehrer aber spricht zu diesen hörenden Studenten. Was er sonst denkt und tut, ist durch eine ungeheure Kluft von der Wahrnehmung des Studenten abgeschieden. Häufig liest der Professor, während er spricht. Im allgemeinen will er möglichst viele solche Hörer haben, in der Not begnügt er sich mit wenigen, fast nie mit einem. Ein redender Mund und sehr viele Ohren, mit halbsoviel schreibenden Händen – das ist der äußerliche akademische Apparat, das ist die in Tätigkeit gesetzte Bildungsmaschine der Universität. Im übrigen ist der Inhaber dieses Mundes von den Besitzern der vielen Ohren getrennt und unabhängig: und diese doppelte Selbständigkeit preist man mit Hochgefühl als ›akademische Freiheit‹. Übrigens kann der eine – um diese Freiheit noch zu erhöhen – ungefähr reden, was er will, der andre ungefähr hören, was er will: nur daß hinter beiden Gruppen in bescheidener Entfernung der Staat mit einer gewissen gespannten Aufsehermiene steht, um von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, daß er Zweck, Ziel und Inbegriff der sonderbaren Sprech- und Hörprozedur sei.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 252-253 bzw. 960-961).

„»Wir, denen es einmal gestattet sein muß, dieses überraschende Phänomen nur als Bildungsinstitution zu berücksichtigen, berichten also dem forschenden Ausländer, daß das, was auf unsern Universitäten Bildung ist, aus dem Munde zum Ohre geht, daß alle Erziehung zur Bildung, wie gesagt, nur ›akroamatisch‹ ist. Da aber selbst das Hören und die Auswahl des zu Hörenden dem akademisch freigesinnten Studenten zu selbständiger Entscheidung überlassen ist, da er andererseits allem Gehörten Glaubwürdigkeit und Autorität absprechen kann, so fällt, in einem strengen Sinne, alle Erziehung zur Bildung ihm selbst zu, und die durch das Gymnasium zu erstrebende Selbständigkeit zeigt sich jetzt mit höchstem Stolze als ›akademische Selbsterziehung zur Bildung‹ und prunkt mit ihrem glänzendsten Gefieder.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 253 bzw. 961).

„»Glückliche Zeit, in der die Jünglinge weise und gebildet genug sind, um sich selbst am Gängelbande führen zu können! Unübertreffliche Gymnasien, denen es gelingt, Selbständigkeit zu pflanzen, wo andre Zeiten glaubten, Abhängigkeit, Zucht, Unterordnung, Gehorsam pflanzen und allen Selbständigkeitsdünkel abwehren zu müssen! Wird euch hier deutlich, meine Guten, weshalb ich, nach der Seite der Bildung hin, die jetzige Universität als Ausbau der Gymnasialtendenz zu betrachten liebe? Die durch das Gymnasium anerzogene Bildung tritt, als etwas Ganzes und Fertiges, mit wählerischen Ansprüchen in die Tore der Universität: sie fordert, sie gibt Gesetze, sie sitzt zu Gericht. Täuscht euch also über den gebildeten Studenten nicht: dieser ist, soweit er eben die Bildungsweihen empfangen zu haben glaubt, immer noch der in den Händen seiner Lehrer geformte Gymnasiast: als welcher nun, seit seiner akademischen Isolation, und nachdem er das Gymnasium verlassen hat, damit gänzlich aller weiteren Formung und Leitung zur Bildung entzogen ist, um von nun an von sich selbst zu leben und frei zu sein.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 253-254 bzw. 961-962).

„»Frei! Prüft diese Freiheit, ihr Menschenkenner! Aufgebaut auf dem tönernen Grunde der jetzigen Gymnasialkultur, auf zerbröckelndem Fundamente, steht ihr Gebäude schief gerichtet und unsicher bei dem Anhauche der Wirbelwinde. Seht euch den freien Studenten, den Herold der Selbständigkeitsbildung an, erratet ihn in seinen Instinkten, deutet ihn auch aus seinen Bedürfnissen! Was dünkt euch über seine Bildung, wenn ihr diese an drei Gradmessern zu messen wißt, einmal an seinem Bedürfnis zur Philosophie, sodann an seinem Instinkt für Kunst und endlich an dem griechischen und römischen Altertum als an dem leibhaften kategorischen Imperativ aller Kultur.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 254 bzw. 962).

„»Der Mensch ist so umlagert von den ernstesten und schwierigsten Problemen, daß er, in der rechten Weise an sie herangeführt, zeitig in jenes nachhaltige philosophische Erstaunen geraten wird, auf dem allein, als auf einem fruchtbaren Untergrunde, eine tiefere und edlere Bildung wachsen kann. Am häufigsten führen ihn wohl die eigenen Erfahrungen an diese Probleme heran, und besonders in der stürmischen Jugendzeit spiegelt sich fast jedes persönliche Ereignis in einem doppelten Schimmer, als Exemplifikation einer Alltäglichkeit und zugleich eines ewigen erstaunlichen und erklärungswürdigen Problems. In diesem Alter, das seine Erfahrungen gleichsam mit metaphysischen Regenbogen umringt sieht, ist der Mensch auf das höchste einer führenden Hand bedürftig, weil er plötzlich und fast instinktiv sich von der Zweideutigkeit des Daseins überzeugt hat und den festen Boden der bisher gehegten überkommenen Meinungen verliert.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 254 bzw. 962).

„»Dieser naturgemäße Zustand höchster Bedürftigkeit muß begreiflicherweise als der ärgste Feind jener beliebten Selbständigkeit gelten, zu der der gebildete Jüngling der Gegenwart herangezogen werden soll. Ihn zu unterdrücken und zu lähmen, ihn abzuleiten oder zu verkümmern sind deshalb alle jene bereits in den Schoß des ›Selbstverstandes‹ eingekehrten Jünger der ›Jetztzeit‹ eifrig bemüht, und das beliebteste Mittel ist, jenen naturgemäßen philosophischen Trieb durch die sogenannte ›historische Bildung‹ zu paralysieren. Ein noch jüngst in skandalöser Weltberühmtheit stehendes System hatte die Formel für diese Selbstvernichtung der Philosophie ausfindig gemacht: und jetzt zeigt sich bereits überall, bei der historischen Betrachtung der Dinge, eine solche naive Unbedenklichkeit, das Unvernünftigste zur ›Vernunft‹ zu bringen und das Schwärzeste als weiß gelten zu lassen, daß man öfters, mit parodistischer Anwendung jenes Hegelschen Satzes, fragen möchte: ›Ist diese Unvernunft wirklich?‹ Ach, gerade das Unvernünftige scheint jetzt allein ›wirklich‹, das heißt wirkend zu sein, und diese Art von Wirklichkeit zur Erklärung der Geschichte bereit zu halten, gilt als eigentliche ›historische Bildung‹. In diese hat sich der philosophische Trieb unserer Jugend verpuppt: in dieser den jungen Akademiker zu bestärken, scheinen sich jetzt die sonderbaren Philosophen der Universitäten verschworen zu haben.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 254-255 bzw. 962-963).

„»So ist langsam an Stelle einer tiefsinnigen Ausdeutung der ewig gleichen Probleme ein historisches, ja selbst ein philologisches Abwägen und Fragen getreten: was der und jener Philosoph gedacht habe oder nicht, oder ob die und jene Schrift ihm mit Recht zuzuschreiben sei oder gar ob diese oder jene Lesart den Vorzug verdiene. Zu einem derartigen neutralen Sichbefassen mit Philosophie werden jetzt unsere Studenten in den philosophischen Seminarien unserer Universitäten angereizt: weshalb ich mich längst gewöhnt habe, eine solche Wissenschaft als Abzweigung der Philologie zu betrachten und ihre Vertreter danach abzuschätzen, ob sie gute Philologen sind oder nicht. Demnach ist nun freilich die Philosophie selbst von der Universität verbannt: womit unsre erste Frage nach dem Bildungswert der Universitäten beantwortet ist.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 255 bzw. 963).

„»Wie diese selbe Universität zur Kunst sich verhält, ist ohne Scham gar nicht einzugestehen: sie verhält sich gar nicht. Von einem künstlerischen Denken, Lernen, Streben, Vergleichen ist hier nicht einmal eine Andeutung zu finden, und gar von einem Votum der Universität zur Förderung der wichtigsten nationalen Kunstpläne wird niemand im Ernste reden mögen. Ob der einzelne Lehrer sich zufällig persönlicher zur Kunst gestellt fühlt oder ob ein Lehrstuhl für ästhetisierende Literarhistoriker gegründet ist, kommt hierbei gar nicht in Betracht: sondern daß die Universität als Ganzes nicht imstande ist, den akademischen Jüngling in strenger künstlerischer Zucht zu halten, und daß sie hier gänzlich willenlos geschehen läßt, was geschieht, darin liegt eine so schneidige Kritik ihres anmaßlichen Anspruchs, die höchste Bildungsanstalt vertreten zu wollen.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 255-256 bzw. 963-964).

„»Ohne Philosophie, ohne Kunst leben unsere akademischen ›Selbständigen‹ heran: was können sie demnach für ein Bedürfnis haben, sich mit den Griechen und Römern einzulassen, zu denen eine Neigung zu erheucheln jetzt niemand mehr einen Grund hat und die überdies in schwer zugänglicher Einsamkeit und majestätischer Entfremdung thronen. Die Universitäten unserer Gegenwart nehmen deshalb auch konsequenterweise auf solche ganz erstorbene Bildungsneigungen gar keine Rücksicht und errichten ihre philologischen Professuren für die Erziehung neuer exklusiver Philologengenerationen, denen nun wieder die philologische Zurichtung der Gymnasiasten obliegt: ein Kreislauf des Lebens, der weder den Philologen noch den Gymnasien zugute kommt, der aber vor allem die Universität zum dritten Male bezichtigt, nicht das zu sein, wofür sie sich prunkenderweise gern ausgeben möchte – eine Bildungsanstalt. Denn nehmt nur die Griechen samt der Philosophie und der Kunst weg: an welcher Leiter wollt ihr noch zur Bildung emporsteigen? Denn bei dem Versuche, die Leiter ohne jene Hilfe zu erklimmen, möchte euch eure Gelehrsamkeit – das müßt ihr euch schon sagen lassen – vielmehr als eine unbehilfliche Last auf dem Nacken sitzen, als daß sie euch beflügelte und emporzöge.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 256 bzw. 964).

„»Wenn ihr nun, ihr Ehrlichen, auf diesen drei Stufen der Einsicht ehrlich geblieben seid und den jetzigen Studenten als ungeeignet und unvorbereitet für Philosophie, als instinktlos für wahre Kunst und als frei sich dünkenden Barbaren, angesichts der Griechen, erkannt habt, so werdet ihr doch nicht beleidigt vor ihm zurückfliehn, wenn ihr auch vielleicht zu nahe Berührungen gerne verhüten möchtet. Denn so wie er ist, ist er unschuldig: so wie ihr ihn erkannt habt, klagt er stumm, doch fürchterlich die Schuldigen an.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 256 bzw. 964).

„»Ihr müßtet die geheime Sprache verstehen, die dieser verschuldet Unschuldige vor sich selbst führt: dann würdet ihr auch das innere Wesen jener nach außen hin gern zur Schau getragnen Selbständigkeit verstehen lernen. Keinem der edler ausgerüsteten Jünglinge ist jene rastlose, ermüdende, verwirrende, entnervende Bildungsnot ferngeblieben: für jene Zeit, in der er scheinbar der einzig Freie in einer beamteten und bediensteten Wirklichkeit ist, büßt er jene großartige Illusion der Freiheit durch immer sich erneuernde Qualen und Zweifel. Er fühlt, daß er sich selbst nicht führen, sich selbst nicht helfen kann: dann taucht er sich hoffnungsarm in die Welt des Tages und der Tagesarbeit: die trivialste Geschäftigkeit umhüllt ihn, schlaff sinken seine Glieder. Plötzlich wieder rafft er sich auf: noch fühlt er die Kraft nicht erlahmt, die ihn obenzuhalten vermag. Stolze und edle Entschlüsse bilden sich und wachsen in ihm. Es erschreckt ihn, in enger kleinlicher Fachmäßigkeit so frühe zu versinken; und nun greift er nach Stützen und Pfeilern, um nicht in jene Bahn gerissen zu werden. Umsonst! diese Stützen weichen; denn er hatte fehlgegriffen und an zerbrechlichem Rohre sich festgehalten. In leerer und trostloser Stimmung sieht er seine Pläne verrauchen: sein Zustand ist abscheulich und unwürdig: er wechselt mit überspannter Tätigkeit und melancholischer Erschlaffung. Dann ist er müde, faul, furchtsam vor der Arbeit, vor allem Großen erschreckend und im Hasse gegen sich selbst. Er zergliedert seine Fähigkeiten und glaubt in hohle oder chaotisch ausgefüllte Räume zu sehen. Dann wieder stürzt er aus der Höhe der erträumten Selbsterkenntnis in eine ironische Skepsis. Er entkleidet seine Kämpfe ihrer Wichtigkeit und fühlt sich bereit zu jeder wirklichen, wenn auch niedrigen Nützlichkeit. Er sucht jetzt seinen Trost in einem hastigen unablässigen Tun, um sich unter ihm vor sich selbst zu verstecken. Und so treibt ihn seine Ratlosigkeit und der Mangel eines Führers zur Bildung aus einer Daseinsform in die andre: Zweifel, Aufschwung. Lebensnot, Hoffnung, Verzagen, alles wirft ihn hin und her, zum Zeichen, daß alle Sterne über ihm erloschen sind, nach denen er sein Schiff lenken könnte.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 256-257 bzw. 964-965).

„»Das ist das Bild jener gerühmten Selbständigkeit, jener akademischen Freiheit, widergespiegelt in den besten und wahrhaft bildungsbedürftigen Seelen: denen gegenüber jene roheren und unbekümmerten Naturen nicht in Betracht kommen, welche sich ihrer Freiheit im barbarischen Sinne freuen. Denn diese zeigen in ihrem niedrig gearteten Behagen und in ihrer fachgemäßen zeitigen Beschränktheit, daß für sie gerade dieses Element das rechte ist: wogegen gar nichts zu sagen ist. Ihr Behagen aber wiegt wahrhaftig nicht das Leiden eines einzigen zur Kultur hingetriebenen und der Führung bedürftigen Jünglings auf, der unmutig endlich die Zügel fallen läßt und sich selbst zu verachten beginnt. Dies ist der schuldlos Unschuldige: denn wer hat ihm die unerträgliche Last aufgebürdet, allein zu stehen? Wer hat ihn in einem Alter zur Selbständigkeit angereizt, in dem Hingebung an große Führer und begeistertes Nachwandeln auf der Bahn des Meisters gleichsam die natürlichen und nächsten Bedürfnisse zu sein pflegen?«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 257-258 bzw. 965-966).

„»Es hat etwas Unheimliches, den Wirkungen nachzudenken, zu denen die gewaltsame Unterdrückung so edler Bedürfnisse führen muß. Wer die gefährlichsten Förderer und Freunde jener von mir so gehaßten Pseudokultur der Gegenwart in der Nähe und mit durchdringendem Auge mustert, findet nur zu häufig gerade unter ihnen solche entartete und entgleiste Bildungsmenschen, durch eine innere Desperation in ein feindseliges Wüten gegen die Kultur getrieben, zu der ihnen niemand den Zugang zeigen wollte. Es sind nicht die Schlechtesten und die Geringsten, die wir dann als Journalisten und Zeitungsschreiber in der Metamorphose der Verzweiflung wiederfinden; ja, der Geist gewisser, jetzt sehr gepflegter Literaturgattungen wäre geradezu zu charakterisieren als desperates Studententum. Wie anders wäre zum Beispiel jenes ehemals wohlbekannte ›junge Deutschland‹ mit seinem bis zum Augenblick fortwuchernden Epigonentum zu verstehen! Hier entdecken wir ein gleichsam wildgewordenes Bildungsbedürfnis, welches sich endlich selbst bis zu dem Schrei erhitzt: ich bin die Bildung! Dort, vor den Toren der Gymnasien und der Universitäten, treibt sich die aus ihm entlaufene und sich nun souverän gebärdende Kultur dieser Anstalten herum; freilich ohne ihre Gelehrsamkeit: so daß zum Beispiel der Romanschreiber Gutzkow am besten als Ebenbild des modernen, bereits literarischen Gymnasiasten zu fassen wäre.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 258 bzw. 966).

„»Es ist eine ernste Sache um einen entarteten Bildungsmenschen: und furchtbar berührt es uns, zu beobachten, daß unsre gesamte gelehrte und journalistische Öffentlichkeit das Zeichen dieser Entartung an sich trägt. Wie will man sonst unseren Gelehrten gerecht werden, wenn sie unverdrossen bei dem Werke der journalistischen Volksverführung zuschauen oder gar mithelfen, wie anders, wenn nicht durch die Annahme, daß ihre Gelehrsamkeit etwas Ähnliches für sie sein möge, was für jene die Romanschreiberei, nämlich eine Flucht vor sich selbst, eine asketische Ertötung ihres Bildungstriebs, eine desperate Vernichtung des Individuums. Aus unserer entarteten literarischen Kunst ebensowohl als aus der ins Unsinnige anschwellenden Buchmacherei unserer Gelehrten quillt der gleiche Seufzer hervor: ach, daß wir uns selbst vergessen könnten! Es gelingt nicht: die Erinnerung, durch ganze Berge darübergeschütteten gedruckten Papiers nicht erstickt, sagt doch von Zeit zu Zeit wieder: ›ein entarteter Bildungsmensch! Zur Bildung geboren und zur Unbildung erzogen! Hilfloser Barbar, Sklave des Tages, an die Kette des Augenblicks gelegt und hungernd – ewig hungernd!‹«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 258-259 bzw. 966-967).

„»O der elenden Verschuldet-Unschuldigen! Denn ihnen fehlte etwas, was jedem von ihnen entgegenkommen mußte, eine wahre Bildungsinstitution, die ihnen Ziele, Meister, Methoden, Vorbilder, Genossen geben konnte und aus deren Innerem der kräftigende und erhebende Anhauch des wahren deutschen Geistes auf sie zuströmte. So verkümmern sie in der Wildnis, so entarten sie zu Feinden jenes im Grunde ihnen innig verwandten Geistes; so häufen sie Schuld auf Schuld, schwerere als je eine andre Generation gehäuft hat, das Reine beschmutzend, das Heilige entweihend, das Falsche und Unechte präkonisierend. An ihnen mögt ihr über die Bildungskraft unserer Universitäten zum Bewußtsein kommen und euch die Frage allen Ernstes vorlegen: Was fördert ihr in ihnen? Die deutsche Gelehrsamkeit, die deutsche Empfindsamkeit, den ehrlichen deutschen Trieb zur Erkenntnis, den deutschen der Aufopferung fähigen Fleiß – schöne und herrliche Dinge, um die euch andre Nationen beneiden werden, ja die schönsten und herrlichsten Dinge der Welt, wenn über ihnen allen jener wahre deutsche Geist als dunkle, blitzende, befruchtende, segnende Wolke ausgebreitet läge. Vor diesem Geiste aber fürchtet ihr euch und daher hat sich eine andre Dunstschicht, schwül und schwer, über euren ›Universitäten‹ zusammengezogen, unter der eure edleren Jünglinge mühsam und belastet atmen, unter der die besten zugrunde gehen.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 259 bzw. 967).

„»Es gab in diesem Jahrhundert einen tragisch ernsten und einzig belehrenden Versuch, jene Dunstschicht zu zerstreuen und den Ausblick nach dem hohen Wolkengange des deutschen Geistes weithin zu erschließen. Die Geschichte der Universitäten enthält keinen ähnlichen Versuch mehr, und wer das, was hier not tut, eindringlich demonstrieren will, wird nie ein deutlicheres Beispiel finden können. Dies ist das Phänomen der alten ursprünglichen ›Burschenschaft‹.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 259-260 bzw. 967-268).

„»Im Kriege hatte der Jüngling den unvermuteten würdigsten Kampfpreis heimgetragen, die Freiheit des Vaterlandes: mit diesem Kranze geziert sann er auf Edleres. Zur Universität zurückkehrend, empfand er, schweratmend, jenen schwülen und verderbten Hauch, der über der Stätte der Universitätsbildung lag. Plötzlich sah er mit erschrecktem, weitgeöffnetem Auge die hier unter Gelehrsamkeiten aller Art künstlich versteckte undeutsche Barbarei, plötzlich entdeckte er seine eignen Kameraden, wie sie führerlos einem widerlichen Jugendtaumel überlassen wurden. Und er ergrimmte. Mit der gleichen Miene der stolzesten Empörung erhob er sich, mit der sein Friedrich Schiller einst die ›Räuber‹ vor den Genossen rezitiert haben mochte: und wenn dieser seinem Schauspiel das Bild eines Löwen und die Aufschrift ›in tyrannos‹ gegeben hatte, so war sein Jünger selbst jener zum Sprunge sich anschickende Löwe: und wirklich erzitterten alle ›Tyrannen‹. Ja, diese empörten Jünglinge sahen für den scheuen und oberflächlichen Blick nicht viel anders aus als Schillers Räuber: ihre Reden klangen dem ängstlichen Horcher wohl so, als ob Sparta und Rom gegen sie Nonnenklöster gewesen wären. Der Schrecken über diese empörten Jünglinge war so allgemein, wie ihn nicht einmal jene ›Räuber‹ in der Sphäre der Höfe erregt hatten: von denen doch ein deutscher Fürst, nach Goethes Erklärung, einmal geäußert haben soll: ›wäre er Gott und hätte er die Entstehung der Räuber vorausgesehen, so würde er die Welt nicht geschaffen haben.‹«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 260 bzw. 968).

„»Woher die unbegreifliche Stärke dieses Schreckens? Denn jene empörten Jünglinge waren die tapfersten, begabtesten und reinsten unten ihren Genossen: eine großherzige Unbekümmertheit, eine edle Einfalt der Sitte zeichnete sie in Gebärde und Tracht aus: die herrlichsten Gebote verknüpften sie untereinander zu strenger und frommer Tüchtigkeit; was konnte man an ihnen fürchten? Es ist nie zur Klarheit zu bringen, wie weit man bei dieser Furcht sich betrog oder sich verstellte oder wirklich das Rechte erkannte: aber ein fester Instinkt sprach aus dieser Furcht und aus der schmachvollen und unsinnigen Verfolgung. Dieser Instinkt haßte mit zähem Hasse zweierlei an der Burschenschaft: einmal ihre Organisation, als den ersten Versuch einer wahren Bildungsinstitution, und sodann den Geist dieser Bildungsinstitution, jenen männlich ernsten, schwergemuten, harten und kühnen deutschen Geist, jenen aus der Reformation her gesund bewahrten Geist des Bergmannssohnes Luther.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 260-261 bzw. 968-969).

„»An das Schicksal der Burschenschaft denkt nun, wenn ich frage: hat die deutsche Universität damals jenen Geist verstanden, als sogar die deutschen Fürsten ihn in ihrem Hasse verstanden zu haben scheinen? Hat sie kühn und entschieden ihren Arm um ihre edelsten Söhne geschlungen, mit dem Worte, ›mich müßt ihr töten, ehe ihr diese tötet‹? – Ich höre eure Antwort: an ihr sollt ihr ermessen, ob die deutsche Universität eine deutsche Bildungsanstalt ist.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 261 bzw. 969).

„»Damals hat der Student geahnt, in welchen Tiefen eine wahre Bildungsinstitution wurzeln muß: nämlich in einer innerlichen Erneuerung und Erregung der reinsten sittlichen Kräfte. Und dies soll dem Studenten immerdar zu seinem Ruhme nacherzählt werden. Auf den Schlachtfeldern mag er gelernt haben, was er am wenigsten in der Sphäre der ›akademischen Freiheit‹ lernen konnte: daß man große Führer braucht, und daß alle Bildung mit dem Gehorsam beginnt. Und mitten in dem siegreichen Jubel, im Gedanken an sein befreites Vaterland hatte er sich das Gelöbnis gegeben, deutsch zu bleiben. Deutsch! Jetzt lernte er den Tacitus verstehn, jetzt begriff er den kategorischen Imperativ Kants, jetzt entzückte ihn die Leier- und Schwertweise Carl Maria von Webers. Die Tore der Philosophie, der Kunst, ja des Altertums sprangen vor ihm auf – und in einer der denkwürdigsten Bluttaten, in der Ermordung Kotzebues rächte er, mit tiefem Instinkte und schwärmerischer Kurzsichtigkeit, seinen einzigen, zu zeitig am Widerstande der stumpfen Welt verzehrten Schiller, der ihm hätte Führer, Meister, Organisator sein können und den er jetzt mit so herzlichem Ingrimme vermißte.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 261 bzw. 969).

„»Denn das war das Verhängnis jener ahnungsvollen Studenten: sie fanden die Führer nicht, die sie brauchten. Allmählich wurden sie untereinander selbst unsicher, uneins, unzufrieden; unglückliche Ungeschicktheiten verrieten nur zu bald, daß es an dem alles überschattenden Genius in ihrer Mitte mangele: und jene mysteriöse Bluttat verriet neben einer erschreckenden Kraft auch eine erschreckende Gefährlichkeit jenes Mangels. Sie waren führerlos – und darum gingen sie zugrunde.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 261-262 bzw. 969-970).

„»Denn ich wiederhole es, meine Freunde! – alle Bildung fängt mit dem Gegenteile alles dessen an, was man jetzt als akademische Freiheit preist, mit dem Gehorsam, mit der Unterordnung, mit der Zucht, mit der Dienstbarkeit. Und wie die großen Führer der Gefährten bedürfen, so bedürfen die zu Führenden der Führer: Hier herrscht in der Ordnung der Geister eine gegenseitige Prädisposition, ja eine Art von prästabilierter Harmonie. Dieser ewigen Ordnung, zu der mit naturgemäßem Schwergewichte die Dinge immer wieder hinstreben, will gerade jene Kultur störend und vernichtend entgegenarbeiten, jene Kultur, die jetzt auf dem Throne der Gegenwart sitzt. Sie will die Führer zu ihrem Frondienste erniedrigen oder sie zum Verschmachten bringen: sie lauert den zu Führenden auf, wenn sie nach ihrem prädestinierten Führer suchen, und übertäubt durch berauschende Mittel ihren suchenden Instinkt. Wenn aber trotzdem die füreinander Bestimmten sich kämpfend und verwundet zusammengefunden haben, dann gibt es ein tief erregtes wonniges Gefühl, wie bei dem Erklingen eines ewigen Saitenspiels, ein Gefühl, das ich euch nur mit einem Gleichnisse erraten lassen möchte.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 262 bzw. 970).

„»Habt ihr euch einmal, in einer Musikprobe, mit einiger Teilnahme die sonderbare verschrumpft-gutmütige Spezies des Menschengeschlechts angesehn, aus der das deutsche Orchester sich zu bilden pflegt? Welche Wechselspiele der launenhaften Göttin ›Form‹! Welche Nasen und Ohren, welche ungelenken oder klapperdürr-raschelnden Bewegungen! Denkt einmal, daß ihr taub wäret und von der Existenz des Tons und der Musik nicht einmal etwas geträumt hättet, und daß ihr das Schauspiel einer Orchesterevolution rein als plastische Artisten genießen solltet: ihr würdet euch, ungestört durch die idealisierende Wirkung des Tons, gar nicht satt sehen können an der mittelalterlich derben Holzschnittmanier dieser Komik, an dieser harmlosen Parodie auf den homo sapiens.«“ (Ebd., 1872, , in: Werke III, S. 262 bzw. 970).

„»Nun denkt euch wiederum euren Sinn für Musik wiederkehrend, eure Ohren erschlossen und an der Spitze des Orchesters einen ehrsamen Taktschläger in angemessener Tätigkeit: die Komik jener Figurationen ist jetzt für euch nicht mehr da, ihr hört – aber der Geist der Langeweile scheint euch aus dem ehrsamen Taktschläger auf seine Gesellen überzugehen. Ihr seht nur noch das Schlaffe, Weichliche, ihr hört nur noch das Rhythmisch-Ungenaue, das Melodisch-Gemeine und Trivial-Empfundene. Das Orchester wird für euch eine gleichgültig-verdrießliche oder eine geradezu widerwärtige Masse.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 262-263 bzw. 970-971).

„»Endlich aber setzt mit beflügelter Phantasie einmal ein Genie, ein wirkliches Genie mitten in diese Masse hinein – sofort merkt ihr etwas Unglaubliches. Es ist, als ob dieses Genie in blitzartiger Seelenwanderung in alle diese halben Tierleiber gefahren sei, und als ob jetzt aus ihnen allen wiederum nur das eine dämonische Auge herausschaue. Nun aber hört und seht – ihr werdet nie genug hören können! Wenn ihr jetzt wieder das erhaben stürmende oder innig klagende Orchester betrachtet, wenn ihr behende Spannung in jeder Muskel und rhythmische Notwendigkeit in jeder Gebärde ahnt, dann werdet ihr mitfühlen, was eine prästabilierte Harmonie zwischen Führer und Geführten ist, und wie in der Ordnung der Geister alles auf eine derartig aufzubauende Organisation hindrängt. An meinem Gleichnisse aber deutet euch, was ich wohl unter einer wahren Bildungsanstalt verstanden haben möchte und weshalb ich auch in der Universität eine solche nicht im entferntesten wiedererkenne.«“ (Ebd., 1872, in: Werke III, S. 263 bzw. 971).

 

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