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Ernst Nolte (1923-2016)
- Selbstentfremdung und Dialektik im deutschen Idealismus und bei Marx (Dissertation; 1952) -
- Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, italienischer Faschismus, Nationalsozialismus (1963) -
- Die faschistischen Bewegungen (1966) -
- Theorien über den Faschismus (Hrsg.; 1967) -
- Sinn und Widersinn der Demokratisierung in der Universität (1968) -
- Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen (1968) -
- Deutschland und der Kalte Krieg (1974) -
- Marxismus, Faschismus, Kalter Krieg (1977) -
- Zwischen Geschichslegende und Revisionismus?  (Aufsatz, in: F.A.Z., 24.07.1980) -
- Der Weltkonflikt in Deutschland (1981) -
- Marxismus und Industrielle Revolution (1983) -
- Die Vergangenheit, die nicht vergehen will (Aufsatz, in: F.A.Z., 06.06.1986) -
- Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus (1987) -
- Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sogenannten „Historikerstreit“ (1988) -
- Das Vor-Urteil als „strenge Wissenschaft“ (1989) -
- Nietzsche und der Nietzscheanismus (1990) -
- Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert (1991) -
- Martin Heidegger. Politik und Geschichte im Leben und Denken (1992) -
- Martin Heidegger und die Konservative Revolution (Aufsatz; 1992) -
- Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus (1993) -
- Die Deutschen und ihre Vergangenheiten (1995) -
- Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?  (1998) -
- Feindliche Nähe: Kommunismus und Faschismus im 20 Jahrhundert. Ein Briefwechsel (1998) -
- Die Frage nach der historischen Existenz (2001) -
- Der kausale Nexus. Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft (2002) -
- Faschismus. Von Mussolini zu Hitler (2003) -
- Die europäische Philosophie und die Zukunft Europas (Aufsatz, in: Sezession; Juli 2003) -
- Der heutige Islam - im Angriff oder in der Verteidigung? (2004)
- Carl Schmitt und der Marxismus (in: Der Staat, Band 44, Heft 2; 2005) -
- Einblick in ein Gesamtwerk (Gespräch; 2005) -
- Religion vom absoluten Bösen (Gespräch; 2006) -
- Die Weimarer Republik (2006) -
- Geschichte Europas 1848-1918. Von der Märzrevolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (2007) -
- Die dritte radikale Widerstandsbewegung: der Islamismus (2009)

Nolte-Zitate. Da ich Ernst Nolte für einen großartigen Geschichtsphilosophen halte, möchte ich ihm eine
separate Seite widmen und aus folgenden seiner Werke zitieren:      

 

- Der Faschismus in seiner Epoche (1963) -
- Die faschistischen Bewegungen (1966) -
- Die Vergangenheit, die nicht vergehen will (1986) -
- Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 (1987) -
- Historische Existenz (1998) -
- Die Frage nach der historischen Existenz (2001) -
- Der kausale Nexus (2002) -
- Der heutige Islam (2004) -
- Einblick in ein Gesamtwerk (2005) -
- Religion vom absoluten Bösen (2006) -
- Die Weimarer Republik (2006) -

 

 

 

Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus (1987)

 – Dieses Buch und der Historikerstreit (S. 9-31) - aus der 5. Auflage (1997)
 – Einleitung: Perspektiven für die Weltkriegsepoche (S. 33-53) - aus der 5. Auflage (1997)
 – Schlußpunkt und Vorspiel 1933: Die antimarxistische Machtübernahme in Deutschland (S. 55-70)
 – Rückblick auf die Jahre 1917-1932: Kommunisten, Nationalsozialisten, Sowjetrußland (S. 71-211)
 – Die feindlichen Ideologiestaaten im Frieden 1933-1941 (S. 213-315)
 – Strukturen zweier Einheitsstaaten (S. 317-421)

 – Der deutsch-sowjetische Krieg 1941-1945 (S. 423-486)
 – Schlußbetrachtung: Vom europäischen Bürgerkrieg 1917-1945 zum Weltbürgerkrieg 1947-1990 (S. 487-503) - aus der 5. Auflage (1997)
 – Anhang: Brief von François Buret an Ernst Nolte (S. 548-553) - aus der 5. Auflage (1997)

Dieses Buch und der Historikerstreit
„Auf weniger direkte Weise haben sich indessen auch andere Teilnehmer nach dem Verlauf von bald zehn Jahren zu der Thematik des Historikerstreits geäußert und damit potentiell zu einer Bilanzierung beigetragen, die Winkler postuliert, aber schwerlich schon durchgeführt hat. Die Ursache war das Erscheinen des Buches von Daniel Goldhagen über »Hitlers willige Vollstrecker« (1996). Goldhagen, der junge jüdisch-amerikanische Politologe, trieb nämlich die »orthodoxe« Auffassung zum Extrem, ja bis zur Karikatur: In seiner Darstellung kommen im wesentlichen nur die Deutschen und die Juden vor, und das Verhältnis zwischen ihnen ist ganz auf den Antisemitismus einerseits und den Opferstatus andererseits reduziert. Schon im 19. Jahrhundert und im Grunde seit Luther seien die Deutschen bis auf wenige Ausnahmen von einem »eliminatorischen« Antisemitismus erfüllt, der sich unter Hitler mit nur allzu großer Konsequenz zu einem »exterminatorischen« Willen entfaltet. Dieser habe sich nicht so sehr in den Gaskammern von Auschwitz und Treblinka realisiert (deren »Leistungsfähigkeit stark übertrieben« worden sei; ebd., S. 23), sondern in den vielhunderttausendfachen, mit »Eifer« und »Lust« ausgeführten Mordtaten der SS, der Polizeibataillone und auch der Wehrmacht. Die Bolschewiki und der Gulag kommen ebensowenig vor wie die internationale Situation der Jahre 1939-1941 und die im Baltikum sowie in der Ukraine weitverbreitete Judenfeindschaft. Von Bedeutung ist ausschließlich die Konfrontation zwischen deutschen Mördern und jüdischen Ermordeten. Die These vom kausalen Nexus zwischen Gulag und Auschwitz erscheint aus dieser Perspektive in der Tat als schlechterdings absurd. Zwar nennt Goldhagen die Mörder gelegentlich »Weltanschauungskrieger« (ebd., S. 321), aber ein Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Antibolschewismus taucht allenfalls für flüchtige Augenblicke auf und wird ohne weiteres den »Wahnideen« zugerechnet. Zwar unterstreicht Goldhagen nachdrücklich das Prinzip des »Verstehens«, und er hebt sogar hervor, daß die Täter »die Massenvernichtung der Juden für gerechtfertigt« gehalten haben (vgl. ebd., S. 28f.), aber sein Verstehen und das Selbstverständnis der Täter kommen nur im Begriff der »Wahnideen« überein. Mithin kann ein ganz eindeutiger Schuldspruch gefällt werden, und es fehlt Goldhagen anscheinend ganz das Bewußtsein dafür, daß er mit dieser kollektivistischen Schuldzuschreibung nichts anderes tut, als was die Nationalsozialisten getan hatten, indem sie »den Juden« die Schuld am Roten Terror, an den Greueltaten der Tscheka und an der »großen Menschenvernichtung« im Gulag zuschrieben.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 13).

„... Begründung, die Stalin und auch viele westeuropäische Intellektuelle für den Vernichtungskampf gegen die Kulaken (ukrainische Bauern; sie waren eines der vielen Beispiele, die schuldig bzw. ein »Klassenfeind« waren, weil sie ein Kuh besaßen, und deshalb als »Klasse« verrnichtet wurden; Anm. HB) gaben: Er sei für die Modernisierung und Industrialisierung des Landes unerläßlich gewesen. .... Rechtfertigung ..., die von Hitler und nicht wenigen Nationalsozialisten für den (zunächst bloß auf Trennung abzielenden) Vernichtungskampf gegen die Juden vorgebracht wurde. Die Juden seien »alle Kommunisten« und daher für den Tscheka-Terror und den Gulag und obendrein noch für den westlichen Kapitalismus verantwortlich.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 21).

„Wenn irgend jemand, so durfte sich Victor Klemperer - persönlich Protestant, Inhaber eines romanistischen Lehrstuhls an der Technischen Hochschule Dresden, exemplarischer Geistes- und Kulturmensch, Frontkämpfer des Weltkriegs, mit einer »Arierin« verheiratet - ganz und gar als Deutscher fühlen, wenn er auch der Sohn eines Rabbiners war. Aber gleich nach dem 30. Januar 1933 trifft ihn mit furchtbarer Härte die antijüdische Kampagne der NSDAP, die gesetzliche Ausgrenzung der jüdischen Beamten, der Boykott gegen die jüdischen Geschäfte, obwohl er wie die übrigen Frontkämpfer zunächst verschont bleibt. Der Haß, den er von Anfang an gegen die Nationalsozialisten empfindet, ist der Haß des Bildungsbürgers und Geistesmenschen gegen die Demagogie und den Irrationalismus einer Massenbewegung, zu deren Komponenten er »Amerikanismus, Technizismus, Automatismus und Deifizierung (des Führers)« rechnet. (Vgl. die Tagebücher von Victor Kemperer, die postum unter dem Titel Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten herausgegeben wurden). Eine ähnliche Abneigung empfindet er gegen den Kommunismus und sogar gegen den Zionismus, der mit seiner Rassenlehre eine »Quelle der Nazis« sei und der in Jerusalem die Arier nicht anders diskriminierte, als es in Deutschland den Juden geschieht. (Vgl. ebd., S. 565, 111f.). Im Jahre 1935 wird er zwangspensioniert, und seine bisherigen Kollegen meiden ihn »wie eine Pestleiche« (ebd., S. 223). Dabei gibt es für ihn überhaupt keine »Judenfrage« in Deutschland, denn die Reibung zwischen Juden und »Ariern« war nach seiner Meinung nicht halb so groß wie etwa zwischen Protestanten und Katholiken oder zwischen Arbeitgebern und -nehmern oder zwischen Ostpreußen und Südbayern. Es gebe nur eine Lösung der deutschen oder westeuropäischen Judenfrage, schreibt er, nämlich »die Mattsetzung ihrer Erfinder« (ebd.,S. 457). Eine »Ostjudenfrage« hält er allerdings offenkundig für real, und noch als 1941, wo er schon in einem »Judenhaus« wohnen muß, die »gelbe Judenbinde« eingeführt wird, sieht er als Grund nicht bloße Willkür und Quälsucht, sondern die Furcht vor der »jüdischen Kritik« (ebd., S. 663). Nichts würde bei all dem näherliegen, als daß er das ganze deutsche Volk verurteilte, das so unverbrüchlich Hitler Folge leiste. Einige Wendungen klingen in der Tat so, als seien sie eine Bestätigung für Goldhagen, etwa: Die Lage sei trostlos, denn Hitler entspreche wirklich dem deutschen Volkswillen (vgl. S. 330), aber als Grund für diesen Volkswillen nennt er nicht etwa den Antisemitismus, sondern die Furcht vor dem Kommunismus und dem kommunistischen Rußland. Ganz Deutschland ziehe Hitler den Kommunisten vor, bemerkt er, obwohl doch beide Bewegungen materialistisch seien und in die Sklaverei führten (ebd., S. 69); selbst einige Juden nehmen die Nazis einigermaßen in Schutz, da sie den Kommunismus fürchten (ebd., S. 353); daß Hitler der Retter vor Rußland sei, sei bestimmt die Meinung von 79,5 Millionen Deutschen. (Vgl. ebd., S. 430). Sogar im Judenhaus gibt es einen Mann, der als ehemaliger Offizier »ein Monomane des deutschen Soldatentums ist und sich nationalistischer gebärdet als jeder Nazi« (ebd., S. 532). Von Antisemitismus dagegen merkt Klemperer noch so gut wie nichts, als er schon den Namen »Victor Israel« führen und den Judenstern tragen muß: »Ich frage mich oft, wo der wilde Antisemitismus steckt. Für meinen Teil begegne ich viel Sympathie, man hilft mir aus, aber natürlich angstvoll. ... Die Beamten im Finanzamt sind mustergültig höflich .... Die Passanten sympathisierten mit den Sternträgern ...Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde.« (ebd., S. 672ff.). Eine Wohnungsnachbarin meint, jeder Jude habe seinen arischen Engel (vgl. ebd. S. 653), und bekanntlich sagte Heinrich Himmler in einer seiner Reden genau das gleiche, wenn auch im Tone der Kritik und des Vorwurfs. Die Folge dieser Ausgrenzung und kollektivistischen Schuldzuschreibung, die zum guten Teil Menschen trifft, welche nach Klemperer »Nazis sein würden, wenn sie nicht als Juden betroffen wären« (ebd., S. 535) ist in den Augen dieses deutschen Juden im höchsten Maße paradox und zugleich verhängnisvoll: Hitler sei der bedeutendste Förderer des Zionismus, er habe buchstäblich das »Volk der Juden«, das »Weltjudentum«, DEN Juden geschaffen. (Vgl. ebd., S. 695). Aber dieser sonderbare Tatbestand ist erst ein Resultat des Nationalsozialismus; seine elementare Voraussetzung ist jedoch auch nach Klemperer nichts anderes als das Verhältnis zum Kommunismus, der ja, anders als die Juden, für die große Mehrheit des deutschen Volkes bedrohlich und angsterregend war.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 22-23).

„Damit sollte nun klargeworden sein, worum es in dem »Europäischen Bürgerkrieg 1917-1945« und auch in dem Artikel über die »Vergangenheit, die nicht vergehen will«, ja ansatzweise schon im »Faschismus in seiner Epoche« ging: nicht um Exkulpation oder Inkriminierung, um Belastung oder Entlastung, um Anklage oder Apologie, sondern um eine der möglichen Konzeptionen oder Paradigmen oder interpretatorischen Leitlinien der europäischen Geschichte und der Weltgeschichte im 20. Jahrhundert, an die vor allem die Frage zu richten ist, ob sie die Zusammenhänge erfaßt oder verfehlt, ob sie erhellend oder verdunkelnd, erweiternd oder verengend wirkt. Eine etwaige Einschränkung politischer oder propagandistischer Schuldsprüche, eine andere Verteilung von Licht und Schatten wird daraus erst resultieren; sie darf aber nicht die Voraussetzung sein, so gewiß der individuelle Historiker seine Präferenzen und Abneigungen haben wird. Die einzige wissenschaftlich legitime Abneigung ist jedoch die, welche dem über unpassende Tatbestände rücksichtslos hinweggehenden Willen zur Durchsetzung politischer Ziele gilt. Allerdings trägt jedes Paradigma von sich aus seine eigenen Begrenzungen an sich. Eben deshalb darf keine strenge Abschließung gegeneinander vorliegen. Die Zahl der möglichen Paradigmen ist aber gering, und für sie lassen sich zahlreiche Beispiele aus der Geschichtsschreibung anführen.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 23).

„Die einzige Möglichkeit einer »neonationalsozialistischen« Geschichtsschreibung war vermutlich die, welche ein englischer Historiker, nämlich David Irving, mehr in Andeutungen als ausdrücklich umrissen hatte: Die von den Vertretern der negativ gefaßten Sonderwegsthese so heftig angegriffene Zusammenarbeit zwischen den »führenden Schichten« und Hitler sei nicht verdammenswert, sondern sogar die einzige zukunftsvolle Möglichkeit gewesen, sofern sie sich 1940 zu einem Kompromiß zwischen Deutschland und England fortentwickelt hätte, was aber von Churchill und dessen Gesinnungsgenossen verhindert worden sei. Wenn es zustande gekommen wäre, würde der Holocaust nicht stattgefunden haben und England hätte sein Empire nicht verloren.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 25).

„Aber es gab eine ursprünglichere Sozialgeschichtsschreibung bzw. Auffassung von der Sozialgeschichte, die mit viel mehr Entschiedenheit über die nationalen Grenzen hinausstrebte und den Klassenbegriff weit ausschließlicher zum Zentrum machte. Es handelte sich um das marxistische Paradigma, das eine universalistische Geschichtsphilosophie als Grundlage besaß und das schon bei Marx selbst auch historiographische Werke wie den »Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte« hervorgebracht hatte. Hier ist nicht ein bestimmter Staat der Ausgangspunkt, sondern der übergreifende Vorgang der industriellen Revolution, aus dem eine machtvolle internationale Bewegung hervorgeht, nämlich die Arbeiterbewegung. Deren Bestimmung besteht darin, die unverwirklichten Postulate der bürgerlich-liberalen Revolution zu erfüllen, nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und die bislang kapitalistische Modernität auf den unübersteigbaren Gipfel der weltweiten Gesellschaft ohne Klassen und Staaten zu führen.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 25-26).

„Bevor die Frage getellt werden kann, ob nicht einer anderen Version der Totalitarismustheorie und der ihr entspringenden Geschichtsschreibung ein eigener Rang zuzuerkennen sei, für welche die Feindschaft zwischen den beiden Bewegungen und Regimen nicht oberflächlich wäre, die aber keiner von beiden die Qualität des »Siegers der Geschichte« oder der »Welle der Zukunft« zuschriebe, muß von dem »jüdischen Paradigma« gesprochen werden. Diesem Paradigma, das man audf dem ersten Blick »national« oder »national-religiös« oder »zionistisch« nennen könnte, ist deshalb eine hervorstechende Position zuzugestehen, weil es auf einer ganz außerordentlichen Erfahrung beruht, nämlich der von der Spitze des nationalsozialistischen Staates offenbar intendierten Vernichtung einer Millionenzahl von Juden .... Dieses Geschehen ließ sich keinesfalls aus einem noch so unglückseligen »deutschen Sonderweg« ableiten, denn das Deutsche Reich hatte im Ersten Weltkrieg bei dem türkischen Verbündeten und in den besetzten Ostgebieten eine ausgesprochen judenfreundliche Politik betrieben, und die antisemitischen Parteien, die keinen größeren Einfluß hatten als die entsprechenden Gruppierungen und Tendenzen in Frankreich, Rußland und Rumänien, waren in den Jahren vor 1914 nahezu verschwunden. Es mußte etwas ganz Besonderes geschehen sein, daß eine so radikale Judenfeindschaft wie diejenige Hitlers und Rosenbergs entstehen konnte. Zwar lag es für jüdische und auch für deutsche Interpreten nahe, schlicht ein seit Jahrtausenden bekanntes Phänomen verantwortlich zu machen, eben den Antisemitismus, und die Sonderwegsthese dahin zuzuspitzen, daß das ganze deutsche Volk in diesem Antisemitismus mit Hitler einig gewesen sei. Aber diese Interpretation kann allenfalls das »Zionistische« am Nationalsozialismus verständlich machen, nämlich das Verlangen nach »Entfernung« der Juden, nachdem sich das Zusammenleben angeblich als unmöglich erwiesen habe. Sie kann jedoch Tatbeständen wie denen keine Rechnung tragen, daß selbst Heinrich Himmler noch im Jahre 1940 die Ausrottung eines Volkes als »bolschewistisch« und »ungermanisch« ablehnte und daß sogar Joseph Goebbels sehr überrascht war, als er im März 1942 erstmals erfuhr, welche Methoden im Osten gegenüber der jüdischen Bevölkerung angewandt wurden. (Vgl. die Denkschrift von Heinrich Himmler über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten, S. 194-198, S. 197; und vgl. die Tagebücher von Joseph Goebbels aus den Jahren 1942 und 1943, Eintragung vom 27. März 1942). Es kann nur eine einzige hinreichende Erklärung geben, nämlich die folgende: Daß im Kopf des einzigen Menschen, der in der Lage war, einen so außerordentlichen, von keinem der untergeordneten Beteiligten noch 1940 auch nur für möglich gehaltenen Prozeß in Gang zu setzen, die schon ganz früh geäußerte Überzeugung von einer Urheberschaft der Juden am Bolschewismus und darüber hinaus an allen Übeln der modernen Zeit nicht mehr nur »erkenntnisleitend« war, sondern mit dem Beginn der Planung für den Angriffskrieg gegen das bolschewistische Rußland auch »handlungsleitend« wurde. Eine offene Frage kann nur die sein, ob Hitler in den Juden tatsächlich bloß »Sündenböcke« sah, auf die er seine (allerdings vorerst nur geringfügigen) Mißerfolge projizierte, oder ob er in ihnen »etwas« wahrnahm und haßte, zu dessen Protagonisten zwar längst nicht alle Juden, aber doch viele von ihnen gehörten: die Idee des internationalen Sozialismus oder des Humanitarismus oder, wie Victor Klemperer es an einer Stelle ausdrückt, »die ewige Mission, das Vorkämpfertum des jüdischen Geistes«. (Vgl. S. 332 der Tagebücher von Victor Kemperer, die postum unter dem Titel Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten herausgegeben wurden). Die erste Auffassung führt leicht zu der Behauptung, die Juden seien »wie Schafe zur Schlachtbank« gebracht worden; aus der zweiten dagegen läßt sich die These ableiten, daß sie »nicht als unglückliche Opfer eines widerwärtigen Verbrechens starben, sondern als Stellvertreter bei dem verzweifeltsten Angriff, der je gegen das menschliche Wesen und die Transzendenz in ihm geführt wurde« (Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, 1963, S. 512). Welche der beiden Interpretationen den toten Juden die größere Ehre zukommen läßt, dürfte außer Frage stehen.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 27-28).

„Alle sowjetkommunistischen Darstellungen ließen sich von der Auffassung leiten, daß der eigentliche Kampf der Nationalsozialisten gegen die Kommunisten gerichtet gewesen sei und daß die Hervorhebung der jüdischen Opfer eine nationalistische Verengung bedeute, auch wenn sie von Nichtjuden komme. (Diese Auffassung lag dem Todesurteil zugrunde, das im jahre 1952 gegen 15 Mitglieder des »Jüdischen Antifaschistischen Komitees« verhängt wurde, die durchweg an den Vorarbeiten zu dem »Schwarzbuch« über den Genozid am den sowjetischen Juden beteilgt waren. Vgl. Arno Lustiger, Hrsg. der deutschen Ausgabe: Das Schwarzbuch - Der Genozid an den sowjetischen Juden [Hrsg.: Wassilij Grossmann / Ilja Ehrenburg], 1994, bes. S. 1084). Ebenso wichtig war, daß der Marxismus nicht als »absolute Wahrheit«, sondern als fehlbare, wenngleich herausragende Ideologie unter anderen Ideologien aufgefaßt wurde. Dem Nationalsozialismus wurde jedoch in noch höherem Maße unrecht gegeben, indem er als »Antimarxismus« definiert wurde, »der den Gegner durch die Ausbildung einer radikal entgegengesetzten und doch benachbarten Ideologie und die Anwendung von nahezu identischen und doch charakteristisch umgeprägten Methoden zu vernichten trachtet ...« (Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, 1963, S. 51).“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 29).

„Diesen Urteilen lag ein Begriff des »Liberalen Systems« zugrunde, der dessen Wesen, das Wesen dieser Konfliktgesellschaft, gerade in der friedlichen Austragung solcher Konflikte und damit in der Verhinderung blutiger Vernichtungsprozesse sieht. Der marxistische Begriff des »Klassenkampfes« ist zweideutig und mithin potentiell in dieses System integrierbar; sobald aber der Aspekt des Bürgerkriegs hervortritt und sogar durch eine Machtergreifung verselbständigt wird, ist ein Vernichtungsprozeß in Gang gesetzt, der in einem Liberalesn System(das auch als »pluralistischer Parteienstaat« existieren mag) nicht stattfinden kann. Nur historische Prozesse von überragender Wichtigkeit können einem solchen Umbruch zugrunde liegen: Der überzeugende Wahlsieg der »proletarischen Partei«, der nach gewissen Andeutungen von Marx und Engels die Indienstnahme der früheren Unternehmer für die Zwecke der Planwirtschaft nach sich zieht und insofern eine bloß soziale und sogar unblutige Vernichtung bedeutet, oder aber die gewaltsame Machtergreifung einer Minderheitspartei von Berufsrevolutionären, die für Augenblicke auf der Welle verbreiteter Massenemotionen zu reiten vermag. Die Folge ist in diesem zweiten Fall mit höchster Wahrscheinlichkeit ein offener Bürgerkrieg mit der gutenteils physischen Vernichtung der »Klassenfeinde« und eines Tages ein gewalttätiger und auf Vernichtung abzielender Kampf gegen die Spitzengruppe der selbstwirtschaftenden Bauernmehrheit des Landes. Insofern bildet der Bolschewismus den Beginn der ideologisch begründeten Vernichtungsmaßnahmen durch totalitäre Regime, die das Gesicht des Jahrhunderts so sehr prägten. Aber es ist unangebracht, hier den Begriff der »Schuld« zu verwenden, obwohl einer Partei und sogar einer Klasse immerhin mit höherem Recht »Schuld« zugesprochen werden kann als einem Volk oder einem Kulturkreis. (**)“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 29).

„Indem dem Bolschewismus ursprünglichere Vernichtungsintention und -aktion zugeschrieben werden als dem Nationalsozialismus und indem dessen Vernichtungsintention und -aktion als Antwort oder Re-Aktion gefaßt werden, wird der Kampf der beiden Regime viel ernster genommen als von seiten der strukturanalytischen Totalitarismustheorie, und der »westliche Verfassungsstaat« wird nicht glorifiziert, sondern zwar als Gegensatz zu den totalitären Regimen gesehen, aber auch als deren Mutterboden. Die historisch-genetische Version der Totalitarismustheorie ist also ein eigenständiges Paradigma, und es läßt sich nicht leugnen, daß sie eine größere Nähe sowohl zum Kommunismus wie zum Nationalsozialismus aufweist als die strukturanalytische Version, da sie dasjenige übernimmt, was beiden Bewegungen bzw. Regimen gemeinsam ist, nämlich ihr Selbstverständnis als »Aktion« bzw. als »Re-Aktion«. Nichts folgt aus ihr zwingender als die These, daß der »Gulag« ursprünglicher sei als »Auschwitz«. Wer simple Geschichtsbilder benötigt, mag behaupten, die Bolschewiki oder sogar die Marxisten würden hier zu den »ersten Schuldigen« am Unheil des 20. Jahrhunderts gemacht, während die Nationalsozialisten als die »zweiten Schuldigen« geradezu exkulpiert oder verharmlost würden.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 29-30).

„Die Einschränkung von absolut klingenden Aussagen gilt jedoch auch für den oben angeführten Satz über die Juden als »Stellvertreter«. Wenn er ausschließlich die Bedeutung hätte, daß die Juden als Vorkämpfer der Welteinheit, der Humanität und des Sozialismus von Hitler bekämpft und zu großen Teilen getötet worden seien, würde es sich um eine bloße Umkehrung der »kollektivistischen Schuldzuschreibung« in eine »kollektivistische Verdienstzuschreibung« handeln. Aber Grigorij Sinovjew machte sich tatsächlich auch in einem engeren und individuell zurechenbaren Sinne schuldig, als er die Ausrottung von zehn Millionen Menschen verlangte - er sprach jedoch nicht als Jude zu Juden, sondern als Kommunist zu Kommunisten. (**).“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 30).

„Und »Modernität« wird seit geraumer Zeit auch von vielen Vertretern der progressivistischen Tradition nicht mehr als rundum positiver Begriff verstanden. Die Dinge sind in sich komplizierter, und sie unterliegen weit stärkeren Verkehrungen, als der politische und ideologische Kampf wahrhaben will. Insofern steht der Historiker, der Zusammenhänge durchdenken und nicht bloß Vorgänge beschreiben will, in der Öffentlichkeit von vornherein auf einem verlorenen Posten, da bestimmte Aspekte seines Themas, die in isolierbaren Sätzen artikuliert werden, immer auch zu politischen Konsequenzen führen können, gegen welche sich Politiker und politische Schriftsteller mit Gegenbehauptungen und nicht selten mit Unterstellungen sowie Diffamierungen zur Wehr setzen. Aber er darf sich auch seine eigenen Schwächen und die Wechselfälle des Lebens nicht verbergen.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 30-31).

„Wie immer es aber um individuelle Präferenzen und Neigungen bestellt sein mag: Die historisch-genetische Version der Totalitarismustheorie ist in ihren Grundzügen davon unabhängig, und sie wird in Zukunft immer wieder, ausdrücklich oder nicht ausdrücklich, bei historischen Darstellungen des 20. Jahrhunderts und bei den entsprechenden Denkversuchen in dieser oder jener Gestalt eine Rolle spielen; verwunderlich kann eigentlich nur sein, daß es so lange dauerte, bis sie über bloß andeutende oder essayistische Vorstellungen vom »Weltbürgerkrieg« hinaus als Geschichtsschreibung zur Existenz kam. (**). Die Ursache dürfte jene unbestreitbare Nähe zu einer Grundvorstellung des Nationalsozialismus sein, die aber zugleich und in noch höherem Maße eine Nähe zu Grundvorstellungen des Sowjetkommunismus bedeutet. Beides war im Zeitalter des Kalten Krieges bedenklich und anstößig; in einer Zeit, wo kapitalistische Globalisierung und philosozialistischer Antifaschismus tendenziell zu einer neuartigen Einheit verschmelzen, ist anscheinend nur das eine noch anstößig, ja verdammenswert. Aber die Erfindung oder Spekulation eines abseitigen »Eigenbrötlers« (vgl. Martin Broszat, in: »Historikerstreit«, S. 189) ist diese Konzeption auf keinen Fall; wie gezeigt worden ist, weisen die Bücher von Bullock, Hobsbawm und Furet in die gleiche Richtung, so gewiß erhebliche Differenzen zwischen den Autoren nicht zu verkennen sind. Nicht ich habe (dem Sinne nach) als erster von dem »kausalen Nexus« zwischen Gualg und Auschwitz gesprochen. ... Noch viel früher berichtet ein besonders wichtiger »Augenzeuge« von diesem Nexus, nämlich Rudolf Höß, aber die betreffende Aussage wurde meines Wissens in der wissenschaftlichen Literatur nie erwähnt. Höß schreibt über die Situation zu Beginn des »Rußland-Feldzuges« folgendes: »Vom RSHA wurde dem Kommandanten (also ihm selbst) eine umfangreiche Berichtzusammenstellung über die russischen Konzentrationslager überreicht. Von Entkommenen wurde darin über die Zustände und Einrichtungen bis ins einzelne berichtet. Besonders hervorgehoben wurde darin, daß die Russen durch die großen Zwangsarbeitsmaaßnahmen ganze Völkerschaften vernichteten.« (Kommandant in Auschwitz - Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß, hrsg. von Martin Broszat, München [dtv], 1963).“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 31).

„Das Buch, das in der Vorform eines Artikels so viel an Aufregung und Empörung verursachte und das dann gleichsam in dessen Schatten geriet, wird nun nach zehn Jahren in fünfter Auflage bis auf eine neue »Schlußbetrachtung« unverändert und nur durch diese »Bilanz nach zehn Jahren« erweitert, von neuern vorgelegt. Vielleicht gelingt es ihm diesmal, in erster Linie Nachdenken statt bloßen Widerspruch hervorzurufen. Auch der Briefwechsel zwischen François Furet und mir, der 1998 auch auf deutsch veröffentlicht wird und von dem ein Brief vorgreifend im »Anhang« abgedruckt ist, könnte dazu beitragen. Ich für meinen Teil bin mir darüber im klaren, daß der vorliegende Rahmen in einen noch größeren Rahmen eingefügt werden sollte, den mit der Frage nach der »Historischen Existenz« zu schaffen die letzte - inzwischen weitgehend fertiggestellte - Arbeit meines Lebens sein' wird.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 31).

Im Juni 1997


E. N.

Einleitung: Perspektiven für die Weltkriegsepoche
„Es ist allgemein bekannt, daß die Partei der Bolschewiki gleich nach ihrer Machtergreifung im Noovember 1917 die Proletarier und Unterdrückten in aller Welt zum Aufstand gegen das kapitalistische System aufrief, das für den Krueg verantwortlich sei, und nicht nur Spezialisten wissen, daß die eben gegründete Kommunistische Partei Deutschlands sich zu Anfang 1919 »in dem gewaltigsten Bürgerkrieg der Weltgeschichte« begriffen sah. (**).“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 33).

„Daß die Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg mindestens in dem einen oder anderen Lande West- oder Mitteleuropas die Macht ergreifen würde, war nicht bloß den Anhängern des Sozialismus wahrscheinlich. Aber was bedeutete es, daß der Vorgang sich ausgerechnet in dem zurückgebliebenen Rußland vollzog, dessen Bevölkerung in ihrer übergroßen Mehrheit aus Bauern bestand?  Degradierte sich die sozialistische Partei, die hier gegen andere sozialistische Parteien die Macht ergriff, am Ende zum Instrument der Selbstbehauptung des russischen Vielvölkerstaates ?  Oder wurde Rußland zum bloßen Material des weltrevolutionären Willens marxistischer Intellektueller, die zwar im ersten Überschwang die Möglichkeiten überschätzten, welche sich ihnen in Europa und in der Welt boten, die aber unverrückbar an ihrem Ziel festhielten, der revolutionären Umgestaltung der ganzen Erde zu einem menschlichen Gemeinwesen ohne Klassen und ohne Staaten?  An Feinden, die vorher Freunde gewesen waren, fehlte es von Anfang an nicht, und selbst entschiedene Anhänger sahen sich früh in schwere Zweifel verwickelt. Gleichwohl gibt es kein Phänomen in der modernen Weltgeschichte, das von so vielen Seiten, so lange und so intensiv verurteilt worden wäre wie der deutsche Nationalsozialismus und das Dritte Reich; aber es existiert auch kein Regime, das auf so gegensätzliche Weise charakterisiert worden wäre und das den Kritikern so viel Gelegenheit gegeben hätte, sich indirekt gegenseitig anzugreifen, indem eine enge Verwandtschaft zwischen dem Nationalsozialismus und einer der Mächte oder Denkweisen konstatiert wird, die eben noch zur einmütigen Front der Gegner zu gehören schienen. Es ist umstritten, ob der Nationalsozialismus dem Kapitalismus oder dem Kommunismus ähnlich war, ob er als deutsch oder als undeutsch gelten muß, ob er sich als antimodern oder als modernisierend erwies, ob er revolutionär oder gegenrevolutionär war, ob er die Triebe unterdrückte oder entfesselte, ob er Auftraggeber hatte oder nicht, ob er ein monolithisches System erzeugte oder eine Polykratie, ob seine Massenbasis von Kleinbürgern oder zu einem beträchtlichen Teil auch von Arbeitern gebildet wurde, ob er von weltgeschichtlichen Tendenzen getragen war oder ob er ein letztes Aufbegehren gegen den Gang der Geschichte darstellte.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 37-38).

„Sogar der Historiker, der die Ereignisse auf einer entlegenen Insel schildern will, kommt ohne einen Begriff von Nicht-Insularität nicht aus, von dem her das Eigentümliche, eben Inselhafte, dieser Vorgänge besser verstehbar wird. Viel häufiger sind aber Erscheinungen, die in der Beziehung zu anderen Phänomenen geradezu ihren Existenzgrund haben. Die Gegenreformation setzt die Reformation voraus, und eine Geschichte der Gegenreformation, die nicht wenigstens in Durchblicken auch eine Geschichte der Reformation wäre, ist unvorstellbar. Die Perspektiven, mittels deren der Nationalsozialismus zu einer ursprünglicheren oder übergeordneten Realität in Beziehung gesetzt wird, sind zahlreich, aber überschaubar. Die wichtigsten unter ihnen beruhen keineswegs auf gelehrten Theorien, sondern sind in konkreten Erfahrungen vieler Hunderttausender von Menschen begründet.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 38-39).

„Die Weltsituation hat sich mithin nicht erst 1989/1991 so sehr verändert, daß die Annahme einer essentiellen Gleichartigkeit der Verhältnisse, welche allein die Furcht vor der Wiederholung bestimmter Ereignisse rechtfertigen kann, keine Grundlage mehr hat. Die Vermutung, daß in Deutschland eines Tages ein neuer Hitler große Massen auf gefahrliche Wege locken und am Ende gar eine neue Version von Auschwitz ins Werk setzen werde, war von jeher unbegründet und ist heute nur noch töricht.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 43).

„Wenn also die Furcht vor Wiederholungen gegenstandslos ist und volkspädagogische Besorgnisse überflüssig sind, dann sollte endlich der Schritt getan werden dürfen, mit dem die nationalsozialistische Vergangenheit in ihrem zentralen Punkte zum Thema gemacht wird, und dieser zentrale Punkt ist weder in verbrecherischen Neigungen noch in antisemitischen Obsessionen zu suchen. Das Wesentlichste am Nationalsozialismus ist sein Verhältnis zum Marxismus und insbesondere zum Kommunismus in der Gestalt, die dieser durch den Sieg der Bolschewiki in der russischen Revolution gewonnen hatte.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 43).

„Das vorliegende Buch geht von der Annahme aus, daß die von Furcht und Haß erfüllte Beziehung zum Kommunismus tatsächlich die bewegende Mitte von Hitlers Empfindungen und von Hitlers Ideologie war, daß er damit nur auf besonders intensive Weise dasjenige artikulierte, was zahlreiche deutsche und nichtdeutsche Zeitgenossen empfanden, und daß alle diese Empfindungen und Befürchtungen nicht nur verstehbar, sondern auch großenteils verständlich und bis zu einem bestimmten Punkte sogar gerechtfertigt waren. In einer Gegenwart, in der den kommunistischen Parteien mehrerer Länder an einer Regierungsbeteiligung gelegen ist oder war und wo sie allesamt, jedenfalls in Europa, auf sehr zivile Weise um Zusammenarbeit mit nicht-terroristischen Linkskräften bemüht sind, bedarf es der gedanklichen Anstrengung, wenn man sich daran erinnern will, daß »dieselben« kommunistischen Parteien zwischen 1919 und 1935 überall die Parteien des »bewaffneten Aufstandes« waren, daß Lenin meinte, »die Bourgeoisie« sei in aller Welt »bis zum Irrsinn erbittert« (vgl. a.a.O.), daß man noch 1930 in ganz Europa bebende Angst wahrnahm und daß der stellvertretende Kriegskommissar Frunse 1924 schrieb: »Allein schon durch die Tatsache unserer Existenz untergraben wir ihre (der alten, bürgerlichen Welt) Grundlagen, zerstören wir ihre Stabilität und flößen dadurch ihren Vertretern das Gefühl erbittertsten Hasses, sinnloser Angst und eingefleischter Feindschaft gegen alles Sowjetische ein« (vgl. a.a.O.). Das Erstaunliche ist in Wahrheit, daß bei weitem nicht alle Bürger und Kleinbürger Europas und Amerikas von diesem Empfinden der Angst und des Hasses erfüllt waren und daß im Gegenteil von vielen Seiten dem großen sozialen Experiment in Rußland ein sympathisierendes Interesse entgegengebracht wurde. Aber wenn Lenins und Frunses Aussagen in dieser Allgemeinheit nicht zutrafen, so wäre doch nichts törichter als die Annahme, daß nur Hitler und ein kleiner Kreis von Menschen um ihn herum von eingebildeten Schreckgespenstern geplagt gewesen seien. (**). Wer glaubt, daß Hitler in erster Linie ein Alldeutscher gewesen sei, der das Gespenst des Kommunismus nur benutzt habe, um seine Eroberungsabsichten zu tarnen, der sollte einmal das 1911 publizierte Buch von Otto Richard Tannenberg »Groß-Deutschland - Die Arbeit des 20. Jahrhunderts« mit seinem naiven und großspurigen Optimismus und danach »Mein Kampf« lesen, und er sollte sich fragen, worin der tiefgreifende Unterschied begründet liegt, da doch die alldeutschen Ziele so weitgehend übereinstimmen.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 43-44).

„Das vorliegende Buch nimmt sich vor, die Beziehung zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten und weiterhin diejenige zwischen der Sowjetunion und dem Dritten Reich als die für Deutschland, für die Sowjetunion und für die ganze Welt bedeutendste aller Beziehungen in den Mittelpunkt zu stellen. Es bleibt dabei insofern auf dem Boden der phänomenologischen Faschismustheorie, als es von der essentiellen Feindschaft zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten ausgeht und eine Gleichsetzung zu keinem Zeitpunkt für gerechtfertigt hält. Aber es verläßt gleichwohl den Rahmen der Totalitarismuskonzeption nicht, weil es sich am Begriff und an der Wirklichkeit des Liberalen Systems orientiert, das mit seiner Sicherung der ökonomischen und geistigen Bewegungsfreiheit der Individuen nicht durch die Herrschaft einer Ideologie bestimmt und dennoch der Ursprung sowohl der kommunistischen wie der nationalsozialistischen Ideologie ist. Aber weil der Ansatz der Faschismustheorie bewahrt wird, wird einer der beiden Ideologien die Priorität zugeschrieben, und die Totalitarismustheorie erhält damit eine historisch-genetische Dimension ....“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 45).

„Nicht ganz wenige unter den Mithandelnden und den Autoren lassen aber gerade Stalin den ursprünglichen Unterschied von Kommunismus und Faschismus aufheben: Walter Krivitsky, Wladimir Antonov-Owsejenko und Franz Borkenau meinten, daß durch Stalin der Bolschewismus die Gestalt des Gegners, nämlich des Faschismus, angenommen habe. (Vgl. a.a.O.)“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 47).

„Ich glaube, daß diese sehr verschiedenartigen Aussagen nicht schlechterdings unvereinbar sind und daß auch die schon für Lenin negativen nicht einfach aus Kenntnislosigkeit, Unverständnis oder bloßer Feindseligkeit entspringen. Im folgenden gehe ich von der einfachen Grundvoraussetzung aus, daß durch die Revolution der Bolschewiki 1917 ein welthistorisch völlig neuartiger Tatbestand geschaffen wurde, weil erstmals in der modernen Geschichte eine ideologische Partei in einem Großstaat allein die Macht ergriff und auf glaubwürdige Weise ihre Absicht an den Tag legte, in der ganzen Welt durch die Entfesselung von Bürgerkriegen eine grundlegende Wandlung herbeizuführen, welche die Erfüllung der Hoffnungen der frühen Arbeiterbewegung und die Verwirklichung der Vorhersagen des Marxismus bedeuten würden. Nichts war für die Bolschewiki selbst evidenter, als daß ein so ungeheures unternehmen äußerst heftige Widerstände hervorrufen müßte, zumal die Praxis gezeigt hatte, daß die Partei nach der gewaltsamen Machtergreifung ihre zahlreichen Gegner sowohl an der Front des Bürgerkrieges wie auch im Hinterlande durch einen präzedenzlosen Klassenkrieg mit der größten Entschlossenheit bekämpfte, ja ausrottete.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 47-48).

„Die eigenartigste und am frühesten erfolgreiche dieser Widerstandsbewegungen war die Faschistische Partei Italiens, an deren Spitze der ehemals führende Mann des revolutionären Flügels der Sozialistischen Partei des Landes stand, Benito Mussolini. Schon dadurch war klar, daß der Gegensatz schroffer war und daß doch weit mehr an innerer Verwandtschaft vorhanden sein mußte als im Falle der bürgerlichen Parteien, die darauf vertrauten, nach den gewohnten Regeln des parlamentarischen Systems der ersten und auch der zweiten Herausforderung begegnen zu können. Für Hitler war Mussolini von Anfang an ein Vorbild, und auch seine Partei empfand sich von vornherein als eine Antwort auf die kommunistische Herausforderung, so gewiß sie in der bloßen Reaktion nicht aufging und eigenständige historische Wurzeln hatte wie etwa die alldeutsche Doktrin. Aber von früh an hatte diese Antwort auch Merkmale einer Kopie, wie sich schon in der bloß abwandelnden Übernahme des roten Fahnentuches zeigte. Mit der Machtübernahme trat dieses Abbildmäßige stärker hervor, und schon 1933 benutzten Feinde und Freunde das Wort Tscheka zur Kennzeichnung des Verfahrens der Gegnerbekämpfung. Dennoch war Hitler zweifellos davon überzeugt, eine Antwort auf die kommunistische Herausforderung gefunden zu haben, die besser und dauerhafter war als diejenige der westlichen Demokratien. Aber schon in der sogenannten Röhm-Affäre lag nicht mehr eine Antwort und nicht einmal eine Entsprechung, sondern eine Über-Entsprechung vor. Während des Krieges wurde der Bolschewismus in wichtigen Teilbereichen für Hitler immer unverkennbarer zum Vorbild ....“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 48).

„Doch der Mensch ist im Kern kein kalkulierendes Wesen: Er ängstigt sich um seine Existenz, er fürchtet die Zukunft, er empfindet Haß gegen seine Feinde, er ist bereit, sein Leben zu opfern, wo es ihm um eine große Sache geht. Wo machtvolle Emotionen dieser Art für größere Gruppen von Menschen maßgebend sind, sollte von Grundemotionen gesprochen werden. .... Im Alltag mag Politik eine Sache des Interessenkalküls und des Interessenausgleichs sein; sobald aber Ungewöhnliches und Bedrohliches eintritt, sind für zahlreiche Menschen Emotionen weit wichtiger als Interessen, auch wenn diese Emotionen nur in seltenen Fällen den vorgestellten oder vorstellbaren Interessen direkt entgegengesetzt sind: Empörung, Zorn, Trauer, Haß, Verachtung, Angst, aber auch Enthusiasmus, Hoffnung, Glaube an eine große Aufgabe.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 49).

„Von solchen Grundemotionen waren die Massen der russischen Soldaten im Jahre 1917 bewegt, die fürchteten, in einem schon verlorenen Krieg sinnlos ihr Leben opfern zu müssen; solche Grundemotionen bestimmten aber auch offiziere, Freikorpskämpfer und Angehörige des Bürgertums in Italien und Deutschland, die sehr genau wußten, wie man in Rußland mit ihresgleichen umgegangen war. Von Grundemotionen waren noch in späteren Zeiten die aktiven Kerne der kommunistischen und der faschistischen Parteien erfüllt, obwohl sich eine Unmasse von Opportunisten, von Interessenten und auch von gewöhnlichen Verbrechern an sie angehängt hatte. Als eine Geschichte von Grundemotionen und deren ideologischen Ausformungen soll im folgenden die Geschichte der beiden wichtigsten Parteien zweier Weltbewegungen geschrieben werden, von denen die eine ursprünglicher und also für die andere primär ein Schreckbild war, die aber dennoch füreinander mehr und mehr zum Schreckbild und zum Vorbild wurden. (**). Daher ist die nationalsozialistische Machtübernahme am 30. Januar 1933 nur ein vorläufiger Ausgangspunkt, und der Geschichte der Sowjetunion wird ebensoviel Raum gewidmet wie der Erzählung vom Kampf zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten in der Weimarer Republik und der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 50).

„Wenn Kommunismus und Nationalsozialismus in erster Linie als Ideologien und wenn vor allem ihre Führer als Ideologen verstanden werden, dann wird Hitler als deutscher Politiker ebensowenig richtig gesehen wie Lenin als russischer Staatsmann. Das heißt nicht, daß der eine nicht auch ein deutscher Politiker gewesen wäre und der andere ebenfalls ein russischer Staatsmann. Aber die Frage geht immer in erster Linie nach dem Überschießen, nach dem Neuen, nach dem Hiatus, die das eigentlich Ideologische ausmachen, aus dem die bedeutendsten Handlungen hervorgehen. Ideologien können sehr unterschiedlich sein, aber jede ist durch dieses Überschießen gekennzeichnet und durch einen Kern von Berechtigtem und Zeitgerechtem, das vielleicht nur durch das ideologische Übermaß zum Dasein gebracht werden kann, das aber eben dadurch auch ruiniert werden mag. Im »Zionistischen Tagebuch« von Theodor Herzl kann man die Entstehung eines Konzepts verfolgen, das später zu weltgeschichtlicher Wirksamkeit gelangte, aber in was für exorbitante Hoffnungen und irreale Vorstellungen ist es eingekleidet! (Vgl. Theodor Herzl, Briefe und Tagebücher, 2. Band: Zionistisches Tagebuch 1895-1899). Und doch hätte Herzl die Flinte vermutlich sehr rasch ins Korn geworfen, wenn er nur pragmatisch und rational gedacht hätte. Erst eine neue Situation kann die Nachgeborenen instand setzen, den realen Kern und die irreale Übersteigerung zu unterscheiden; die Zeitgenossen dagegen ergreifen oder verwerfen das Ganze mit aller Leidenschaft, und erst in diesen Kämpfen kann sich allmählich klären, was Kern und was Überschießen ist. Hitler verstand sich selbst nicht als Nachfolger Stresemanns oder Papens, sondern als Anti-Lenin, und in dieser Auffassung stimmte er mit Trotzki überein, der ihn den »Ober-Wrangel der Weltbourgeoisie« nannte. (Als Anti-Lenin wird Hitler von Ernst Niekisch charakterisiert; vgl. Ernst Niekisch, Das Reich der niederen Dämonen, S. 263).“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 50-51).

„Für Trotzki freilich hatte Lenin ganz und gar recht, und damit hatte Hitler ganz und gar unrecht; aber wer die Überzeugung von der absoluten Wahrheit einer Ideologie nicht teilt, wird allerdings der Meinung sein müssen, daß auch Hitler nicht in jeder Hinsicht unrecht haben konnte, sondern daß in seinen Auffassungen und in seinem Handeln ebenfalls Kerne erkennbar sind, in denen etwas zum Vorschein gelangte, was zeitgerecht und mindestens für zahlreiche Menschen einleuchtend und bewegend war. Wenn er den Zusammenschluß aller Deutschen zu einem Staat postulierte, so verlangte er grundsätzlich nichts anderes, als was Mazzini mit Erfolg für alle Italiener gefordert hatte, und er bewegte sich ebenso in den Bahnen nationalstaatlichen Denkens wie die meisten seiner Zeitgenossen. Daß dieser Zusammenschluß aber schon als solcher viel stärkere Widerstände hervorrufen mußte als der Zusammenschluß aller Italiener, lag in den besonderen Umständen der Situation der Deutschen in Europa begründet und war von Hitler nicht zu verantworten. Daß die großdeutsche Einigung für ihn jedoch kein Selbstzweck, sondern Etappe zu einem größeren Ziel war und daß er den Widerständen, die er dabei fand, eine ganz bestimmte und universale Auslegung gab, war das eigentlich Ideologische und bildete eine neue Dimension.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 51).

„Diese Zusammenhänge zu verfolgen, ist die Aufgabe des Historikers und insbesondere des Ideologiehistorikers. Er muß es hinnehmen, daß er von denjenigen kritisiert wird, die im Rückblick dem absoluten Bösen konfrontiert sein wollen und die im Dienst des absoluten Guten zu stehen glauben. In dem Gemälde, das er zu malen hat, haben nur Grautöne verschiedener Art einen Platz, die Benutzung der weißen Farbe ist ihm so gut verwehrt wie die der schwarzen. (Daß auch die frühen Zeitgenossen zu sehr lebendigen Gemälden aus verschiedenartigen Grautönen gelangen konnten, beweist etwa das Buch von Hans Siemsen, Rußland Ja und Nein, 1931). Nur durch die Darstellung selbst, und nicht durch vorausgeschickte Glaubensbekenntnisse und Versicherungen, kann er seine Leser davon überzeugen, daß seine Grautöne Abstufungen aufweisen. Er ist sich ja bewußt, daß zwischen dem historischen Denken und den Ideologien insofern kein fundamentaler Unterschied besteht, weil beide abstrahieren und verallgemeinern müssen und den Reichtum der vielgestaltigen Wirklichkeit nicht in den Blick bekommen. Weil der Mensch ein denkendes Wesen ist, muß er Ideologien ausbilden und damit ungerecht sein. Nach der Lehre der Theologen ist nur Gott gerecht, weil er die einzelnen Dinge schafft, indem er sie denkt, und sie daher nicht durch Begriffe zu entstellen braucht. Aber historisches Denken kann aus einer neuen Zeitsituation heraus verschiedene Ideologien in ihrem Gehalt gegeneinander abwägen und in ihrer Wirksamkeit verfolgen, und es sollte von der Entschlossenheit geleitet sein, dem Willen zur Verwirklichung von Zwecken nicht nachzugeben, welcher der Grundwille jeder Ideologie ist. So muß es zwar schon durch seine Fragestellung eine Selektion vornehmen, aber im Rahmen dieser Auswahl darf es kein höheres Ziel kennen, als ein möglichst umfassendes und wahrheitsgemäßes Bild des Gegenstandes hervorzubringen. Nicht erst Hitler wurde als Feind der Menschheit, als Verkörperung des Bösen, als Zerstörer der Zivilisation bezeichnet, sondern der Historiker weiß und muß also auch sagen, daß alle diese Ausdrücke von ernstzunehmenden Beobachtern auf den Bolschewismus angewendet wurden, als noch kaum jemand etwas von Hitler wußte; nicht Hitler war der erste, der aus einer Machtposition heraus öffentlich erklärte, er und seine Partei könnten mit einer nach Millionen zählenden Gruppe von Menschen nicht auf einem Planeten leben, und daher müsse man sie ausrotten (**)(**)(**)(**). Diese Feststellungen sind wahr; wer sie kennt und verschweigt, handelt unwissenschaftlich und unmoralisch, weil er von zahllosen Opfern nur einzelne Gruppen gelten lassen will. Er handelt überdies inkonsequent, wenn er die Menschen für so ungleich erklärt, daß er die Möglichkeit ausschließt, er und seinesgleichen könnten in derselben Situation ebenso schuldig geworden sein wie diejenigen, die er anklagt. Daß Unterschiede nicht geleugnet werden, versteht sich gleichwohl von selbst, denn Unterschiedlichkeit ist das Wesen der Realität. Aber das historische Denken muß sich gegen die Tendenz des ideologischen und emotionalen Denkens wenden, die Unterschiede zu verfestigen, die Zusammenhänge auszublenden und die »andere Seite«, die gegnerische, aus der Erwägung auszuschließen.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 51-52).

„Die intendierte Parteilosigkeit des historischen Denkens kann nicht gottähnlich und damit irrtumsfrei sein. Sie ist der Gefahr nicht enthoben, bloß auf besonders versteckte oder subtile Weise Partei zu ergreifen. Aber in einem juristischen Bilde ist sie nichts anderes als das Verlangen, daß reguläre Gerichtsverfahren an die Stelle der Standgerichte und Schauprozesse treten, d.h. Gerichtsverfahren, in denen auch Entlastungszeugen ernsthaft angehört werden und die Richter nicht bloß formell von den Staatsanwälten verschieden sind. Die einzelnen Urteilssprüche werden dennoch ganz verschieden sein, aber anders als diejenigen der Standgerichte kennen sie Zwischenstufen zwischen der Todesstrafe und dem Freispruch. Trotzdem sind sie nicht irrtumsfrei, und deshalb schließen sie die Revision nicht aus.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 52).

„Auch das historische Denken muß bereit sein, sich selbst zu revidieren, sofern gute Gründe vorgebracht werden und nicht bloß empörte Aufschreie, welche nicht wahrhaben wollen, daß nach Möglichkeit alles verstehbar gemacht werden muß, daß aber nicht alles Verstehbare verständlich und nicht alles Verständliche gerechtfertigt ist. Doch es kann nicht gewillt sein, jemals auf seine eigene Existenz zu verzichten, und erst daraus resultiert eine unmittelbare und konkrete Parteinahme. Wenn Hitler gesiegt hätte (**), würde im deutschbeherrschten Europa und wohl auch in großen Teilen der übrigen Welt für Jahrhunderte die Geschichtsschreibung in der Preisung der Taten des Führers bestehen. Eine Enthitlerisierung würde nach allem menschlichen Ermessen nicht möglich sein. Vielleicht wären die Menschen - von den Opfern abgesehen, über die man nicht reden würde - glücklicher, weil sie der Not des Vergleichens und Abwägens enthoben wären; gewiß würden viele der spätgeborenen Antifaschisten von heute überzeugte und geschätzte Anhänger des Regimes sein. Nur für historisches Denken und Revidieren würde es keine Stätte geben, und deshalb würden Geschichtsdenker in diesem System als Gegentypen gelten und keine Existenzberechtigung haben. Aber nicht einmal dieses Wissen darf sie veranlassen, sich noch nachträglich unter die kämpfenden Zeitgenossen einzureihen.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 52-53).

Schlußpunkt und Vorspiel 1933: Die antimarxistische Machtübernahme in Deutschland
„Als das wurde der 30. Januar in der Tat und zunächst empfunden: als der Tag der nationalen Erhebung, der Antwort auf die Schmach des Zusammenbruchs von 1918 - keineswegs von allen Deutschen, aber von dem nationalen Deutschland, welches die Augusttage des Jahres 1914 für den erlösenden Durchbruch zur Wahrheit der Nation gehalten und nur an die Siege geglaubt hatte, die darauf gefolgt waren, nicht aber an die Niederlagen, nicht an die sich allmählich ausbreitende Kriegsmüdigkeit im Volk und schon gar nicht an die » Vierzehn Punkte« des Amerikaners Wilson. Dieses nationale Deutschland reichte aber potentiell in die Herzen der meisten Deutschen herab, denn die Begeisterung der Augusttage war ja tatsächlich so gut wie allgemein gewesen, und wenn die Sozialdemokraten früh einen Verständigungsfrieden erstrebt hatten, so wollte doch 1919 gerade der sozialdemokratische Reichsministerpräsident Scheidemann lieber seine Hand verdorrt als den Unrechtsvertrag von Versailles unterschrieben sehen. Was am 30. Januar siegte, war zunächst gar nicht so sehr Hitler, sondern es war die Geschichtsauffassung, die Geschichtslegende des nationalen Deutschland mit all der Überzeugungskraft, die dem ganz Simplen und ganz Emotionalen zukommt. Auf diesen Ton war der erste Aufruf der neuen Reichsregierung vom 1. Februar gestimmt, und es besteht kein Anlaß zu glauben, daß Hitler diese ganz konservativen und allgemein nationalen Akzente bloß geheuchelt und nicht mitempfunden hätte.“ (Ebd., 1987, S. 59).

„Doch dieses nationale Deutschland hatte einen großen Teil derjenigen, die im August 1914 mit ihm einig gewesen waren, längst von sich ausgeschlossen: nicht nur die Sozialdemokraten, sondern auch die Katholiken und die Liberalen, die 1917 an der Friedensresolution des Reichstags mitgewirkt hatten, also alle jene Systemparteien, welche die Weimarer Republik getragen hatten. Noch unter den schon irregulären Bedingungen der Reichstagswahl vom 5. März 1933 erhielten diese Parteien nicht sehr viel weniger Stimmen als die NSDAP, und wenn man ihnen die Kommunisten hätte zuzählen dürfen, würde es sich etwa um die Hälfte des Volkes gehandelt haben. Weshalb blieb diese Hälfte so passiv und machte sich kaum noch bemerkbar?  Bloß der Enthusiasmus des nationalen Deutschland hätte schwerlich so viel Lähmung und Regungslosigkeit hervorgerufen; aber das Deutschland der Jahreswende 1932/33 war heftiger von den Folgen der großen Krise der Weltwirtschaft erschüttert als jede andere Nation. In einer solchen Lage wird jedes Ereignis, das aus der Alltagsroutine herausfällt, mit Hoffnungen begrüßt oder doch mindestens mit der Bereitschaft, ihm eine Chance einzuräumen. Zahlreiche Arbeitslose, die im November aus Protest und Verzweiflung der KPD ihre Stimme gegeben hatten, mochten nun annehmen, daß Hitler vielleicht doch einen Ausweg wisse. Die Bauern, deren Höfe von der Zwangsversteigerung bedroht waren, die Handwerker, deren Auftragsbestand immer weiter zurückgegangen war, die Kleinhändler, die nicht wußten, wie sie ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen sollten: Sie alle setzten kein Vertrauen mehr in die Ankurbelungsmaßnahmen oder die Steuergutscheine Papens und Schleichers, aber sie ließen sich deshalb noch nicht von den radikalen Vorschlägen Thälmanns überzeugen, die Deutschland auf Gedeih und Verderb mit der Sowjetunion zusammenbinden mußten. So vertrauten sie demjenigen, der voller Entschlossenheit war und doch die umwälzenden Maßnahmen ablehnte, deren Folgen unabsehbar sein würden, und auch wenn sie bloß passiv blieben, lähmten sie doch diejenigen, die zu einem Widerstand aufriefen, der zu einem vollständigen Umsturz führen mußte.“ (Ebd., 1987, S. 59-60).

„Die Furcht, daß ein solcher Umsturz möglich sei und von starken Kräften erstrebt werde, war vermutlich die mächtigste Antriebskraft der nationalen Erhebung, die so rasch in die »nationalsozialistische Revolution« überging. Noch fundamentaler als die Begeisterung des nationalen Deutschland und als die Hoffnungen der von der Krise geschüttelten Bevölkerung war die Angst des bürgerlichen Deutschland vor einer bevorstehenden kommunistischen Revolution. Tatsächlich war die KPD ja die stärkste Partei in der Hauptstadt des Reiches, und während des ganzen Februar war die Luft voll von Gerüchten über die Bürgerkriegsvorbereitungen der Kommunisten, über geheime Waffentransporte, ja über Pläne, die deutschen Kirchen und Museen in Brand zu stecken. Es ist schwerlich zu bezweifeln, daß Hitler die weit verbreiteten Sorgen und Ängste teilte. Zwar lehnte der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei schon am 30. Januar den Vorschlag der Kommunisten ab, gemeinsam zum Generalstreik aufzurufen, und das war nach allen Prämissen der wechselseitigen Feindseligkeit nicht erstaunlich, aber im ganzen Reich fanden doch eine Anzahl schwerer Zusammenstöße statt, und nicht immer waren die Nationalsozialisten die Angreifer. Beim Rückmarsch vom Fackelzug des 30. Januar war der Führer des bei den Kommunisten berüchtigten Mordsturms 33, Eberhard Maikowski, erschossen worden, und wenig später beherrschten nach einer Meldung der Roten Fahne bewaffnete Arbeiter während eines 24stündigen Generalstreiks in Lübeck die Straße. An der Entschlossenheit Hitlers und Görings, der nun die Befehlsgewalt über die preußische Polizei innehatte, sich mit allen Mitteln durchzusetzen, konnte von Anfang an kein Zweifel bestehen. Der Brand des Reichstags am 27. Februar beschleunigte die Entwicklung, aber er brachte sie keineswegs hervor. Die Listen, anhand deren fast alle kommunistischen Reichstags- und Landtagsabgeordneten sowie zahlreiche andere Funktionäre verhaftet wurden, waren schon während der letzten Weimarer Jahre von der Polizei vorbereitet worden, und Görings Schießerlaß datierte vom 17. Februar. Eine Gelegenheit, den Ausnahmezustand zu verkünden, würde sich bestimmt gefunden haben, wenn die Notverordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat nicht schon am 28. Februar hätte erlassen werden können. Vermutlich hätte die Regierung Hitler ohne den Reichstagsbrand bei den Wahlen vom 5. März nicht die absolute Mehrheit erhalten, aber auch ohne die Majorität der Mandate hätte sie den neugewählten Reichstag so unter Druck setzen können, daß dieser mit Zweidrittelmehrheit das Ermächtigungsgesetz und damit seine Selbstentmachtung beschlossen hätte, wie es die Abgeordneten unter dem Eindruck der aufmarschierten SA, aber mehr noch angesichts der Erwartungen der Offentlichkeit am 23. März dann tatsächlich taten. Die immer noch ungeklärte Frage nach dem Urheber bzw. den Urhebern des Reichstagsbrandes ist nur im Zusammenhang der übergreifenden Frage wichtig, ob auf der Seite der regierenden Nationalsozialisten genuine Emotionen vorlagen oder ob zynische Machtmenschen sogar ein überaus riskantes Verbrechen nicht scheuten, um eine Alleinherrschaft zu begründen, die sie sonst nicht hätten gewinnen können. Alles spricht dafür, daß auch die führenden Nationalsozialisten von Oberzeugungen und von Emotionen beherrscht waren, die ein solches Verbrechen nicht erforderlich machten, wie immer der konkrete Vorgang gewesen sein mag. Die stärksten dieser Oberzeugungen und Emotionen bezogen sich nun allesamt auf den November 1918 in Deutschland und auf die Revolution in Rußland; es handelte sich um antibolschewistische Emotionen, und sie verstanden sich mit so viel Selbstverständlichkeit als antimarxistisch, daß sie zwar offensichtlich in bürgerlichen Empfindungen verwurzelt waren, aber dennoch darüber hinausgingen.“ (Ebd., 1987, S. 60-61).

„Am 10. Februar sprach Hitler im Berliner Sportpalast. Ober dem Rednerpult war in großen Lettern der Satz zu lesen: »DER MARXISMUS MUSS STERBEN.« Und um dieses Motto drehte sich die ganze Rede, deren zentrale Sätze die folgenden waren: »Der Marxismus bedeutet die Verewigung der Zerreißung der Nation. .... Nach außen pazifistisch, nach innen terroristisch - nur so allein konnte sich diese Weltanschauung der Zerstörung und der ewigen Verneinung behaupten. .... Entweder der Marxismus siegt oder das deutsche Volk, und siegen wird Deutschland.«“ (Ebd., 1987, S. 61).

„Am 2. März hielt er abermals eine Rede im Sportpalast, und diesmal hielt ihn keine staatsmännische Vorsicht zurück, sondern er richtete den Blick über die deutschen Grenzen hinaus: »Hat dieser Marxismus dort, wo er hundertprozentig gesiegt hat, dort, wo er wirklich und ausnahmslos herrscht, in Rußland, die Not beseitigt?  Die Wirklichkeit spricht hier geradezu eine erschütternde Sprache. Millionen von Menschen sind verhungert in einem Lande, das eine Kornkammer sein könnte für die ganze Welt. ..Sie sagen Brüderlichkeit. Wir kennen diese Brüderlichkeit. Hunderttausende an Menschen, ja Millionen mußten erschossen werden im Namen dieser Brüderlichkeit und infolge des großen Glücks .... Sie sagen weiter, daß der Kapitalismus dadurch überwunden würde. .... Die kapitalistische Welt muß mit ihren Krediten herhalten, die Maschinen liefern und die Fabriken einrichten, die Ingenieure, die Vorarbeiter zur Verfügung stellen, alles muß diese andere Welt tun. Sie können das nicht bestreiten. Und das Arbeitssystem in den sibirischen Holzgebieten möchte ich nur eine Woche lang denjenigen empfehlen, die in Deutschland für dieses Prinzip schwärmen. .... Wenn vor diesem Wahnsinn ein schwaches Bürgertum kapitulierte - den Kampf gegen diesen Wahnsinn, den nehmen wir auf.«“ (Ebd., 1987, S. 62).

„In derselben Ausgabe des Völkischen Beobachters war eine große Anzeige zu lesen, in der 22 aus Rußland zurückgekehrte Arbeiter zur Wahl Adolf Hitlers aufforderten, und zwar mit der Begründung, Sowjetrußland sei für die Arbeiter und Bauern die Hölle, weil sie bei schwerster Arbeit ein elendes Hungerdasein führen müßten.“ (Ebd., 1987, S. 62).

„Immer wieder taucht in den Reden Hitlers während dieser Monate die eine Grundforderung auf, den Marxismus zu vernichten, ihn konsequent und unbarmherzig auszurotten. Aber diese Forderung ist nicht selten verknüpft mit der Erinnerung an die Rucksackspartakisten von 1918, und wenn Hermann Göring am 3. März verkündete, hier habe er nur zu vernichten und auszurotten, so wandte er sich wenige Tage später seinen Gegnern mit der leidenschaftlichen Anklage zu: »Als wir vor 14 Jahren von der Front zurückkamen, hat man unsere Achselstücke und Ehrenzeichen, hat man uns in den Dreck getreten, hat man die Fahnen verbrannt, die siegreich einer Welt trotzten. Ihr habt damals unser Innerstes mißhandelt, ihr habt uns das Herz zertreten, wie ihr Deutschland zertreten habt.« Den Kommunisten gegenüber war nun in der Tat seine Frage berechtigt: » Was hätte man getan, wenn man an unserer Stelle die Macht erobert hätte? Man hätte uns ohne viel Überlegen einen Kopf kürzer gemacht.« Das gleiche hatte dem Sinn nach im Jahre 1929 der sozialdemokratische Reichstagspräsident Paul Löbe zum Ausdruck gebracht, aber er hatte seiner Partei gerade das Verdienst zugeschrieben, die wechselseitige Vernichtung der beiden extremen Parteien verhindert zu haben. Und auch Hitler hatte in der Rede vom 2. März die angebliche Erbärmlichkeit entlassener und nun um ihre Pension bangender sozialdemokratischer Polizeipräsidenten so stark von der Entschlossenheit und Blutrünstigkeit der Kommunisten abgehoben, daß es nahezu unbegreiflich schien, wie zwei so verschiedenartige Phänomene unter den gleichen Begriff des Marxismus gebracht werden konnten. Aber eben dieser Antimarxismus war das Hauptkennzeichen der nationalsozialistischen Ideologie, und eben deshalb wandte sie sich auch gegen das Bürgertum, dessen Emotionen sie so weitgehend teilte, und eben deshalb nahm sie eine abermalige Ausweitung auf die ganze moderne Geschichte vor, wenn etwa Rudolf Heß im Juli sich mit der folgenden Begründung gegen Ausschreitungen der SA wandte: »Die jüdisch-liberalistische französische Revolution schwamm im Blut der Guillotine. Die jüdisch-bolschewistische russische Revolution hallt wider von millionenfachen Schreien aus tschekistischen Blutkellern. Keine Revolution der Welt verlief so diszipliniert wie die nationalsozialistische. .... Jeder soll wissen, daß wir weit davon entfernt sind, dem Gegner mit Milde zu begegnen. Er muß wissen, daß jeder von Kommunisten oder Marxisten an einem Nationalsozialisten verübte Mord von uns zehnfach gegenüber kommunistischen oder marxistischen Führern gesühnt wird. .... Jeder Nationalsozialist muß sich aber auch bewußt sein, daß MißhandeIn von Gegnern jüdisch-bolschewistischer Gesinnung entspricht und des Nationalsozialismus unwürdig ist.«“ (Ebd., 1987, S. 62-63).

„So wird in den Äußerungen führender Nationalsozialisten immer wieder deutlich, daß ihren Empfindungen und Handlungen eine Urerfahrung, eine Urbeängstigung, ein Urhaß zugrunde lag: die Erfahrung von Offizieren und auch von Unteroffizieren angesichts der Revolution von 1918, als sie plötzlich ihre Autorität verloren, als kampfkräftige Truppenkörper von heute auf morgen zu deliberierenden Haufen wurden, als ihnen die Achselstücke heruntergerissen wurden, als man ihnen ins Gesicht spuckte, als sie »Kriegsverbrecher« und »Schweine« genannt wurden. Und diese Erfahrung erhielt das eigentliche Gewicht anscheinend erst durch den Hinblick auf die russische Revolution, wo sich ähnliches mit viel gravierenderen Folgen abgespielt hatte, wie aus den Erinnerungen der Baltikumkämpfer, aus den Erzählungen der vielen russischen Emigranten und deutschrussischen Flüchtlinge hervorging, aber auch aus der umfangreichen Literatur über die russische Revolution, ob sie nun von Monarchisten oder von Sozialdemokraten geschrieben war. Und diese Offiziere waren nicht isoliert, sondern sie durften sich selbst als eine Auslese des Bürgertums betrachten, aus dem sie mit wenigen Ausnahmen hervorgegangen waren. Viele Bürger empfanden mindestens zeitweise nicht viel anders als sie, aber einem radikalen Antimarxismus stimmten längst nicht alle zu, da sie doch die Sozialdemokraten als manchmal unbequeme, aber immerhin umgängliche Partner kennengelernt hatten. Diejenigen jedoch, ob ehemalige Offiziere oder einfache Bürger, denen ideologische Konsequenz geboten schien, mußten nach Ursachen und Urhebern der gesellschaftlichen Krankheit suchen, und dann konnten sie weder beim Kommunismus stehenbleiben noch beim Marxismus, sondern sie mußten auch die Schwäche des Liberalismus anklagen und vielleicht am Ende in den Juden eine letzte und entscheidende Ursache finden.“ (Ebd., 1987, S. 63-64).

„Was aber war das Positive, an das man sich halten konnte, wenn man so viel Negatives wahrnahm?  Am ehesten war es die gegen alle Gefahren gesicherte Einheit und Gesundheit des Volkes, die freilich nur auf einem langen Wege zu erreichen war. Längst nicht alle ehemaligen Offiziere und schwerlich auch nur die Mehrheit der deutschnationalen Bürger, ja nicht einmal alle nationalsozialistischen alten Kämpfer wollten diesen Weg mitgehen, aber sie konnten sich nicht leicht gegen die Konsequenz sträuben, mit der nun Zug um Zug bis zum Juli alle Parteien aufgelöst oder zur Selbstauflösung gezwungen wurden, mit der das Arierprinzip durchgesetzt und das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erlassen wurde. Wenn die nationale Erhebung mit aller Konsequenz antimarxistisch sein wollte, dann mußte sie zur nationalsozialistischen Revolution werden, und die nationalsozialistische Revolution mußte wiederum von Adolf Hitler schon im Sommer 1933 für abgeschlossen erklärt werden, weil sie nur eine politische Umwälzung sein wollte, welche alle Macht in die Hand der einen Partei und ihres Führers legte, aber gerade nicht ein ökonomischer Umsturz nach dem russischen Muster, der keineswegs bloß in Hitlers Augen sogar im Ursprungsland verhängnisvoll gewirkt hatte und in den Industrieländern der Welt noch schlimmere Folgen nach sich ziehen würde. Für Hitler und alle Vorkämpfer der nationalen Erhebung war die Sowjetunion 1933 ganz und gar ein Schreckbild (**). Aber war sie in der nationalsozialistischen Revolution nicht gleichwohl ansatzweise ein Vorbild?“  (Ebd., 1987, S. 64).

„In einer Unterredung mit einem deutschen Diplomaten soll der Außenminister Litwinow gesagt haben, die Sowjetunion habe Verständnis dafür, daß Deutschland seine Kommunisten so behandle, wie die Sowjetunion ihre Staatsfeinde behandelt habe. (Vgl. a.a.O.). Jedenfalls waren scharfe Maßnahmen gegen Kommunisten und die kommunistische Presse vom ersten Tage an ein Hauptkennzeichen des nationalsozialistischen Regimes, und gegen die Kommunisten richteten sich in allererster Linie der Schießerlaß Görings vom 17. Februar und die Einrichtung einer Hilfspolizei aus SA und SS am 22. Februar. Schon jetzt wurde »rücksichtslos von der Waffe Gebrauch« gemacht, und schon jetzt wurden Gefangene »auf der Flucht erschossen«. Aber von Terror kann doch erst für die Zeit nach dem Reichstagsbrand die Rede sein, und er griff sogleich weit über die Reihen der Kommunisten hinaus, obwohl die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat lediglich der »Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte« dienen sollte.“ (Ebd., 1987, S. 64).

„Wie sehr es sich dabei auch um den Gegensatz zwischen der anhebenden nationalsozialistischen Revolution und der nationalen Erhebung handelte, wurde durch ein Buch erkennbar gemacht, das am 15. Mai 1933 im Verlag von Jakov Trachtenberg erschien, der durch die Veröffendichung von antibolschewistischer Literatur bekannt geworden war. Es enthält eine Anzahl von Stellungnahmen jüdischer Organisationen und Persönlichkeiten, welche gegen die ausländische »Greuelpropaganda« gerichtet sind. Die meisten sind vorsichtig formuliert, wie angesichts des von nationalsozialistischer Seite ausgeübten Drucks nicht anders zu erwarten war; sie erwähnen »Mißhandlungen«, »Ausschreitungen« oder »Exzesse«, weisen jedoch die Nachrichten über genuine Greueltaten zurück. Aber an verschiedenen Stellen wird doch unübersehbar, wie sehr gerade die größten Organisationen und einige der wichtigsten Männer nationaldeutsch und bürgerlich gesinnt waren. So rückt der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten mit großer Schärfe von der »unverantwordichen Hetze« ab, die »von sogenannten jüdischen Intellektuellen im Auslande gegen Deutschland unternommen wird«, der Ehrenvorsitzende des Verbandes nationaldeutscher Juden, Dr. Max Naumann, erblickt in der Greuelpropaganda »nichts anderes als eine Neuauflage der Kriegshetze gegen Deutschland und seine Verbündeten von einst«, und der Vorsitzende des Deutschen Rabbinerverbandes, Leo Baeck, erklärt, die Hauptprogrammpunkte der nationalen deutschen Revolution, nämlich die Überwindung des Bolschewismus und die Erneuerung Deutschlands, seien auch Ziele der deutschen Juden, die mit keinem Lande Europas so tief und so lebendig verwachsen seien wie mit Deutschland. Trachtenberg selbst spricht in seiner Vorrede davon, die Hetze wegen der angeblichen Greueltaten in Deutschland könne letzten Endes zu tatsächlichen Greueltaten führen, denn die gewissenlosen Urheber des Lügenfeldzuges wollten »offenbar einen neuen Krieg heraufbeschwören«. Wenn die Nationalsozialisten nichts anderes gewesen wären als deutsche Nationalisten oder bloße Antikommunisten, hätten sie sich offensichdich mit einem Großteil der deutschen Juden leicht verständigen können.“ (Ebd., 1987, S. 68).

„Als Triumph eines neuen deutschen Nationalismus wurde die Machtübernahme Hitlers aber von den meisten ausländischen Presseorganen auch dann interpretiert, wenn den Nachrichten über die Judenverfolgungen viel Platz eingeräumt wurde. Der Manchester Guardian fürchtete und haßte vor allem » Junker und Reaktionäre«, während er in Hitler lediglich ein Instrument dieser Leute sah, und die Times glaubte nicht, daß Hider seine Verbündeten nach der Art Mussolinis überspielen werde, denn ihm fehlten die »außerordendichen Fähigkeiten« des italienischen Diktators. Auch die Franzosen fürchteten die Reichswehr oder den Kronprinzen weit mehr als Hitler, der nicht selten abschätzig mit dem General Boulanger verglichen wurde. In beiden Ländern stimmten also die Linke und die Rechte darin überein, daß sie in Hitler nichts wirklich Neuartiges wahrnahmen, sondern sich immer noch den Reaktionären oder den Militaristen konfrontiert glaubten, gegen die man im weltkrieg so hart hatte kämpfen müssen. Nur die Daily Mail von Lord Rothermere faßte Hitler primär als Antikommunisten auf, und im Oktober konnte sie einem höchst prominenten Autor Platz für die These einräumen, der Kommunismus müsse folgen, wenn Hitler scheitere, nämlich dem Kriegspremier Lloyd George. (13.10.1933). Vergleiche mit der russischen Revolution waren ziemlich selten, aber die Berlingske Tidende machte bei der Besprechung des »Braunbuchs über Reichstagsbrand und Hitlerterror« am 8. September die Bemerkung, es geschähen viel entsetzlichere Dinge, wo Kommunisten die Macht hätten. Noch seltener waren Bemerkungen wie die, Hitler sei nicht wirklich ein Antikommunist und ebensowenig ein Konservativer. Wenngleich die Beunruhigung beträchtlich war und sehr verschiedenartige Meinungen vorgebracht wurden, so interpretierte doch keine der ausländischen Zeitungen die Machtergreifung Hitlers als ein Ereignis, das weltgeschichtliche Folgen haben würde.“ (Ebd., 1987, S. 68-69).

Rückblick auf die Jahre 1917-1932: Kommunisten, Nationalsozialisten, Sowjetrußland
„Die Revolution des militärischen Zusammenbruchs, auf welche sich die Nationalsozialisten mit Worten und Handlungen immer wieder bezogen, hatte in Rußland bereits anerthalb Jahre früher stattgefunden als in Deutschland, im März 1917, aber sie war ein längerer und schmerzhafterer Prozeß, weil sie die endgültige Niederlage nicht voraussetzen konnte, sondern zunächst gerade verhindern wollte. Die Machtergreifung der Bolschewiki vom November bedeutete zum einen die Fortsetzung und die Vollendung dieses Prozesses, aber sie war auch der Anfang einer Gegenbewegung zu der Auflösung der Macht und des Zusammenhalts des riesigen Reiches, wie sich schon nach kurzer Zeit zeigen sollte. Die Bolschewiki verstanden ihre Oktoberrevolution (der russische julianische Kalender blieb um 13 Tage hinter dem gregorianischen Kalender zurück: dem 7. November entsprach also der 25. Oktober - Anfang 1918 erfolgte die Angleichung an die im übrigen Europa übliche Zeitrechnung) jedoch als Erfüllung und Verwirklichung der Intentionen, die zwar nicht die Politiker, wohl aber die großen Massen der Soldaten und des Volkes schon während der Februaurrevolution geleitet hatten, nämlich die Sehnsucht nach Frieden, nach sozialer Gerechtigkeit und nach Freiheit. Das Verhältnis der Machtergreifung zur Volksrevolution war also ambivalent, während die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland eine bloß negative Beziehung zu der viel wieter entfernten Zusammenbruchsrevolution haben wollte.“ (Ebd., 1987, S. 72).

„Dieser Sowjet ... war vielmehr überzeugt, daß Rußland nur durch die Zusammenarbeit aller linksgerichteten Parteien einschließlich der bürgerlichen Partei der »Konstitutionellen Demokraten« (Kadetten; wegen: K. D.; Anm. HB) gerettet werden könne .... Damit schlug er freilich einen Weg ein, der auch bei den westeuropäischen Sozialisten bis zum Kriegsausbruch heftig umstritten gewesen war, den Weg der Zusammenarbeit mit dem Klassenfeind, dem Bürgertum (das es ja übrigens in Rußland so gut wie gar nicht gab, weshalb es später für die Revolutionäre ein noch leichteres Spiel war, im Grunde jeden und alle als Klasse und also als Feind - nämlich Klassenfeind - zu erfinden, um jeden und alle töten zu können; Anm HB); aber er meinte mit guten Gründen, daß jeder andere Weg zum Unheil eines Sepeartfriedens führen müsse, denn die dauernden Niederlagen der russischen Truppen gegen die deutschen Armeen waren die eigentliche Ursache des Friedenswunsches, und die Heere der Deutschen standen tief in Rußland ....“ (Ebd., 1987, S. 74).

„Lenin war ... zusammen mit einer Anzahl seiner wichtigsten Gefährten durch Deutschland heimgekehrt, und es sprang ins Auge, daß die deutsche Regierung sich von bestimmten Absichten hatte leiten lassen, als sie ihre Zustimmung zu einem so ungewöhnlichen Vorgang gab. Außerdem verfügte die Partei über auffalend große Mittel. Welcher Gedanke lag näher als der, daß Lenin im Auftrag der Deutschen für ein baldiges Auscheiden Rußlands aus dem Krieg arbeitete?  Es ist in der Tat seit langem kein Geheimnis mehr, daß genau dieser Gedanke für die deutsche Führung und nicht zuletzt für den Genaral Ludendorff maßgebend gewesen war und daß schon seit 1915 erhebliche Geldsummen für die revolutionäre Agitation nach Rußland geflossen waren, und zwar durch Verrmittlung des früheren Limkssozialisten Alexander Parvus-Helphand, der durch den Krieg zum Sozialpatrioten geworden, aber ein Hasser des Zarismus geblieben war. Mit gutem Grund konnte daher der Staatssekretär von Kühlmann daher im September schreiben, ohne die stetige weitgehende Unterstützung durch die deutsche Regierung hätte die Bolschewiki-Bewegung nie den Umfang annehmen und Einfluß erringen können, den sie heute besitze.“  (Ebd., 1987, S. 78).

„Kaum eine Revolution glich jemals weniger einer Volksrevolution, wo sich große Massen von Menschen in einen erbitterten Kampf gegen die die Übergriffe einer herrschendsüchtigen Regierung stürzen: Auf dem Newski-Prospekt herrschte lebhafter Publikumsverkehr, ... die Theater waren voll besetzt. Aber einzelne Truppenteile und Abteilungen der Roten Garde, der Parteiarmee der Bolschewiki, besetzten die Peter-Pauls-Festung und die Brücken, der Kreuzer »Aurora« gab einige Schüsse ab, die keinen nennenswerten Schaden anrichteten, die Regierungstruppen im Winterpalast zogen sich größtenteils unauffällig zurück und überließen ihren Platz langsam einsiickernden Aufständischen,w elche die Provisorische Regierung einschließlich der sozialistischen Minister verhafteten, wenn auch ohne Kerenski, der rechtzeitig entflohen war. Als der Zweite Sowjekongreß eröffnet wurde, waren schon die Plakate zu lesen, die den Sturz der Provisorischen Regierung verkündeten, und die Delegierten wurden mit der Mitteilung empfangen, daß eine neue Provisorische Regierung aus Mitgliedern der Partei der Bolschewiki unter dem Vorsitz von Lenin gebildet sei. Die Delegierten der Sozialrevolutionäre protestieren aufs heftigste gegen die verbrecherische Machtergreifung einer Partei, die den Kongreß vor vollendete Tatsachen stellte, und sie verließen den Saal, während Trotzki ihnen höhnisch nachrief, sie gehörten auf den Abfallhaufen der Weltgeschichte. So war die Oktoberrevolution in der Tat vor allem der Putsch einer sozialistischen Partei gegen die anderen sozialistischen Parteien und nicht zuletzt gegen die Intentionen des Sowjetkongresses, der zwiefellos dem überwältigenden Massenwunsch entsprochen und eine Sowjetisierung aus den sozialistischen Parteien .. gebildet haben würde. Lenins Motiv kann nur die Überzeugung gewesen sein, daß das Fortschreiten der Anarchie und der Auflösung, die im März begonnen hatten, unaufhaltsam werden würde, wenn er in einem Kabinett ... gebunden wäre, und daß nur eine Diktatur seiner Partei jetzt das Notwendige tun könne, nämlich Rußland z uretten und die Weltrevolution in Gang setzen. Nichts war im Vergleich zum März und zum September eigentlich neu .... Eben hier folgt die klarste Vergleichbarkeit mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland am 30. Januar 1933. Auch in Deutschland machte die Entschlossenheit den Unterschied aus gegenüber den mächtigen und bereits regierenden Koalitionspartnern, mit denen man im Programm weitgehend übereinstimmte. Und von der bolschewistischen Gegenrevolution war sehr viel früher die Rede als von der nationalsozialistischen. (Vgl. auch: Peter Scheibert, Lenin an der Macht, a.a.O. S. 303). Aber gleichwohl war nicht daran zu zweifeln, daß der November in der Spur des März blieb und daß Adolf Hitler sich auf die Seite des Generals Kornilov (d.h.: gegen Lenin; Anm. HB) gestellt hätte, wenn er, wie Alfred Rosenberg, in Rußland gewesen wäre. (Einer der schärfsten Gegner schon der Februarrevolution, Wladimir M. Purischkewitsch, äußerte sich damals über die wünschenswerten Maßnahmen mit beinahe den gleichen Worten, wie Hitler sie einige Jahre später in Mein Kampf verwenden sollte: »Wenn 1000, 2000, vielleicht 5000 Lumpen an der Front vor die Gewehre gestellt worden wären und einige Dutzend im Hinterland, würden wir nicht eins so präzedenzlose Schmach erlitten haben.«).“ (Ebd., 1987, S. 80-81).

„Es bedurfte nicht der Gründung der Tscheka, der »Außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution und der Sabotage«, um den Terror in Gang zu setzen; er war ja zunächst nicht viel anderes als die wohlwollende Zulassung und Förderung dees Massenzorns gegen die Burschui und deren Parteien durch den Rat der Volkskommisare.“ (Ebd., 1987, S. 83).

„Das Dekret über den »roten Terror« vom 5. September bildete die letzte Etappe auf dem Weg einer Klassenvernichtung, für die es in der europäischen Geschichte ebensowenig einen Präzedenzfall gab wie für die Ermordung der Zarenfamilie, und es ist nicht verwunderlich, daß den Beobachtern immer wieder das Wort asiatisch über die Lippen kam. Das Dekret bestimmte, »daß es unumgänglich ist, die Sowjetrepublik gegen ihre Klassenfeinde durch das Mittel von deren Isolierung in Konzentrationslagern zu stärken und daß alle Personen erschossen werden müssen, die mit den Organisationen, Verschwörungen und Meutereien der Weißen Garden Berührung haben. ..«. (Vgl. a.a.O.). Schon einige Tage vorher war verkündet worden, daß alle Konterrevolutionäre und alle Inspiratoren von Konterrevolutionären verantwortlich gemacht werden würden. Die Definitionen waren mithin so unbestimmt, daß jeder beliebige von der Tscheka ohne Verfahren erschossen werden konnte, und es handelte sich nicht einmal um eine genuine Neuerung, da doch schon seit Anfang des Jahres den Wachen, welche die zur Zwangsarbeit herangezogenen Bourgeois beaufsichtigten, auferlegt war, bei Widerstand oder sogar bei Widerrede von der Waffe Gebrauch zu machen. (Vgl. a.a.O.).“ (Ebd., 1987, S. 87).

„Es wäre also nicht richtig zu sagen, daß das Regime der Bolschewiki von seinen Gegnern bedrängt und in einen Bürgerkrieg verwickelt worden sei und bei der Verteidigung große Härte und manchmal schlimme Grausamkeit an den Tag gelegt habe. Das Regime war vielmehr von Anfang an eine aktive Kraft, die, auf eine momentane Massenstimmung gestützt, allen ihren politischen Gegnern und allen gesellschaftlichen Kräften, die nicht zu den Armen oder Sklaven zählten, den Krieg erklärt und die Vernichtung angesagt hatte. Und dabei erwies sich sehr rasch, daß auch Arbeiter von der Bekämpfung und Vernichtung nicht ausgenommen waren, wenn sie sich der Parteidiktatur nicht unterwarfen. Als sich am Tage nach der Auflösung der Verfassunggebenden Versammlung eine Protestversammlung bildete, schoß die Rote Garde in die Menge, und etwa zwanzig Tote blieben auf der Straße. Die offizielle Mitteilung behauptete, es habe sich um »Kleinbürger« gehandelt. Aber als sich in den nächsten Monaten eine unabhängige Arbeiterbewegung entwickelte, da konnte man in deren illegalen Publikationen Sätze wie die folgenden lesen: »Der Arbeiter der an der Tür stand, erwiderte (dem Kommissar), nur Arbeiter könnten an der Versammlung teilnehmen. Der Kommissar zog daraufuin den Revolver und erschoß den Arbeiter.« (Vgl. a.a.O.). Der frühe Bericht eines anderen Arbeiters über seinen Aufenthalt im Tscheka-Gefängnis Taganka schließt mit dem Satz, über ganz Rußland seien solche »Friedhöfe der Lebendigen« verbreitet, wo man Tag für Tag unter dem Dröhnen von Lastwagenmotoren Erschießungen vornehme.“ (Ebd., 1987, S. 87).

„In diesem Zusammenhang findet auch eine Äußerung ihren Platz, die in ihrer Ungeheuerlichkeit zunächst unglaubwürdig klingt, nämlich jene Sätze, die Grigorij Sinovjew am 17. September 1918 in einer Parteiversammlung zu Petrograd formulierte: »Von den hundert Millionen der Bevölkerung in Sowjetrußland müssen wir neunzig für uns gewinnen. Mit den übrigen haben wir nicht zu reden, wir müssen sie ausrotten.« (**)(**)(**).“ (Ebd., 1987, S. 89).

„Mithin war der Spartakusbund und waren die internationalistischen Sozialisten die Partei eines Glaubens, die Partei der Gottesstreiter, wie man unter Verwendung naheliegender Analogien sagen könnte, ... von jeher haben Gottesstreiter den Willen gehabt, die Gottlosen auszurotten und das Reich der Ungerechtigkeit vom Antlitz der Erde zu vertilgen. So war das große Recht der Kriegsgegnerschaft mit einem Glauben verknüpft, der notwendigerweise mit Liebknecht die Ersetzung des Burgfriedens durch den Burgkrieg oder mit Lenin die Umwandlung des Krieges in den Bürgerkrieg erstrebte.“ (Ebd., 1987, S. 98).

„In den Unruhen des November und Dezember waren die Spartakisten mindestens ebensosehr Opfer wie Täter, aber die Furcht vor russischen Verhältnissen wirkte sich auf entscheidende Weise aus, wenn sich auch nicht leugnen läßt, daß einige lumpenproletarische und bloß militante Elemente sich angeschlossen hatten und dazu beitrugen, die Abneigung und den Haß gegen Spartakus zu verstärken. Es war eine überaus symptomatische Tatsache, daß Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg kein Mandat zur Teilnahme am ersten Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte erlangen konnten, der Mitte Dezember in Berlin stattfand. Dennoch war es ein vielbeachtetes Ereignis, als sich die Delegierten des Spartakusbundes vom 30. Dezember 1918 bis zum 1. Januar 1919 im Preußischen Abgeordnetenhaus zusammenfanden, um die »Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund)« zu gründen.“ (Ebd., 1987, S. 101).

„Daß sich hier nicht bloß eine deutsche Partei versammelte, wurde auf symbolische Weise deutlich, als ein bedeutender Vertreter der bolschewistischen Partei, Karl Radek, eine große Rede hielt. Und es war ebenfalls charakteristisch, daß er die deutsche Arbeiterschaft ausdrücklich als den älteren Bruder der viel jüngeren und organisatorisch weit weniger erfahrenen Arbeiterschaft Rußlands bezeichnete, dessen Auftreten auf der weltgeschichtlichen Bühne die russischen Arbeiter mit tiefer Freude erfülle. Tatsächlich war ja Karl Liebknecht seit seinem öffentlichen Protest gegen den Krieg am 1. Mai 1916 mindestens bis zur Machtergreifung der Bolschewiki unter den Kriegsgegnern aller Länder ein viel bekannterer Name gewesen als Wladimir Iljitsch Lenin. So war es nur konsequent, wenn Radek die Hoffnung zum Ausdruck brachte, daß bald in Berlin der internationale Arbeiterrat tagen werde, das Gremium des endgültigen Sieges der kriegsgegnerischen Partei, denn der Bolschewismus sei im Kern nichts anderes als »die Tränen der Witwen und Kinder, der Schmerz um die Getöteten und die Verzweiflung der Zurückgekehrten«. (Ladislaus Singer, Raubt das Geraubte - Tagebuch der Weltrevolution 1917, S. 228). Aber die Partei wollte keineswegs bloß oder in erster Linie eine pazifistische Partei sein, wie diese bewegende Wendung Radeks hätte vermuten lassen können. Das Programm, das sie verabschiedete und das Rosa Luxemburg verfaßt hatte, schloß eine Fülle sehr weittragender Forderungen in sich.“ (Ebd., 1987, S. 101).

„Es geht von einer prononcierten Schuldthese aus: Die bürgerliche Klassenherrschaft sei der wahre Schuldige des Weltkriegs in Deutschland wie in Frankreich, in Rußland wie in England, in Europa wie in Amerika. Sie, und keineswegs bloß die feudale Junkerherrschaft in Deutschland, habe mit dem Ausgang des Weltkriegs ihr Daseinsrecht verwirkt. Aus dem gähnenden Abgrund, den sie geschaffen habe, gebe es keine Rettung außer dem Sozialismus und daher müsse die Losung der Stunde heißen: »Nieder mit dem Lohnsystem!«  Aber der Sozialismus könne nur in dem gewaltigsten Bürgerkrieg der Weltgeschichte gegen den erbitterten Widerstand der »imperialistischen Kapitalistenklasse« zum Siege gelangen, die sich der Bauern und der Offiziere für die Bewahrung der Lohnsklaverei bedienen und sogar »rückständige Arbeiterschichten gegen die sozialistische Avantgarde aufhetzen werde. (**). Der Spartakusbund dürfe somit auf keinen Fall bereit sein, mit Handlungen der Bourgeosie, mit den Scheidemann-Ebert« die Regierungsgewalt zu teilen. Daher lauteten die unmittelbaren Forderungen u.a.: Entwaffnung der gesamten Polizei, sämtlicher Offiziere sowie der nichtproletarischen Soldaten, Bildung einer Roten Garde, Einsetzung eines Revolutionstribunals, sechsstündiger Höchstarbeitstag, Annulierung der Staats- und anderer öffentlicher Schulden, Konfiskation aller Vermögen von einer bestimmten Höhe an ....“ (Ebd., 1987, S. 101-102).

„»Die deutschen Arbeiter mögen nach Rußland sehen und sich warnen lassen !«, »Dann entsteht das russische Chaos«, Spartakus sei für »die Aufrichtung einer asiatischen Hunger- und Schreckensherrschaft wie in Rußland«, eine »Blutdiktatur des Spartakusbundes« sei geplant. (Vgl. Vorwärts, 10.11., 02., 24., 27.12.1918). Aus der deutschen Situation allein hätten solche Wendungen nicht hervorgehen können; aber da während der letzten Monate Übertreibungen in den Presseberichten gar nicht notwendig gewesen waren, um der deutschen Öffentlichkeit das Bewußtsein zu vermitteln, daß in Rußland von den Bolschewiki tatsächlich ein präzedenzloses Terrorregime ausgeübt wurde, waren solche Aussagen und Vermutungen glaubwürdig.“ (Ebd., 1987, S. 105).

„Noch charakteristischer ist ein Satz den Thomas Mann am 2. Mai 1919 in sein Tagebuch eintrug, als überall noch die Schüsse zu hören waren, welche die einrückenden Freikorps und die weichenden Spartakisten wechselten: »Wir sprachen darüber, (ob noch eine Rettung der europäischen Kultur möglich sei) ... oder ob die Kirgisen-Idee des Rasierens und Vernichtens sich durchsetzen wird .... Wir sprachen auch vom Typus des russischen Juden, des Führers der Weltbewegung, dieser sprengstoffhaften Mischung aus jüdischem Intellektual-Radikalismus und slawischer Christus- Schwärmerei. Eine Welt, die noch Selbsterhaltungsinstinkt besitzt, muß mit aller aufbietbaren Energie und standrechtlichen Kürze gegen diesen Menschenschlag vorgehen ...« (Thomas Mann, Tagebücher, S. 223 [Eintrag am 02.05.1919]).“ (Ebd., 1987, S. 108).

„In den von Bucharin verfaßten »Richtlinien der Kommunistischen Internationale« hieß es: »Die neue Epoche ist geboren. Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung, die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats .... Sie muß die Herrschaft des Kapitals brechen .... Indem wir die Halbheit, Lügenhaftigkeit und Fäulnis der überlebten offiziellen sozialistischen Parteien verwerfen, fühlen wir, die in der III. Internationale (1919) vereinigten Kommunisten, uns als die direkten Fortsetzer der heroischen Anstrengungen und des Märtyrertums einer langen Reihe revolutionärer Generationen, von Babeuf bis Karl Marx und Rosa Luxemburg.« (Manifest, Richtlinien, Beschlüsse des 1. Kongresses - Aufrufe und offene Schreiben des Exekutivkomitees bis zum 2. Kongreß, 1919, S. 21, 17]). Aber ihren höchsten Punkt erreichten diese zuversichtlichen Hoffnungen und Vorhersagen in dem Aufruf zum 1. Mai, den das Exekutivkomitee der Internationale im Bewußtesein, daß es jetzt neben dem russischen schon die ungarische und bayrische Sowjerepublik gebe, an die Kommunisten Bayerns richtete: »Der Sturm beginnt. Die Feuersbrunst der proletarischen Revolution loht mit unaufhaltsamer Kraft in ganz Europa. Es naht der Moment, den unsere Vorgänger und Lehrer erwartet haben .... Der Traum der besten Vertreter der Menschheit wird Wirklichkeit .... Die Stunde unserer Unterdrücker schlägt. Der 1. Mai 1919 muß der Tag des Vorstoßes werden, der tag der proletarischen Revolution in ganz Europa. Im Jahre 1919 wurde die große Kommunistische Internationale geboren. Im Jahre 1920 wird die große Internationale Sowjetrepublik geboren werden.« (Ebd., 1919, S. 78ff.).“ (Ebd., 1987, S. 108).

„Längst nicht alle pazifistischen und sozial gesinnten Liberalen und Labour-Politiker ließen sich ... von ihrer Abneigung gegen dei Reaktionären und Imperialisten des eigenen Landes so sehr bestimmen, daß sie auch dasjenige billigten, was sehr früh als die Ausrottungspolitik der Bolschewiki genannt wurde, aber Bernard Shaw brachte dennoch einen symptomatischen Standpunkt zu Wort, als er mit nur leichter Distanzierung sagte, die Bolschewiki hätten die richtigen Fragen aufgeworfen und die richtigen Leute erschossen.“ (Ebd., 1987, S. 122).

„Die ältesten Mitkämpfer Lenins, die ehemaligen Redaktionsmitglieder der Iskra, erblickten in dieser Machtergreifung nichts anderes als die konsequente Fortsetzung der wohlbekannten Taktik Lenins, durch Herausdrängung der echten Marxisten und selbständigen Köpfe sich eine Partei ergebener Anhänger zu schaffen. Plechanovs Satz über das »unersättliche Streben nach Machtergreifung« ist bereits zitiert worden. (Vgl. S. 77). Martov nannte die Bolschewiki schon 1918 eine »Henkerpartei« (**), und die schärfste Kritik übte Paul B. Axelrod. Für ihn war der Bolschewismus »asiatisch«, ein Verrat an den elementarsten Grundsätzen des Marxismus, eine »Diktatur über das Proletariat (und das Bauerntum)«, eine Gruppe, »die die Barbarei, die Grausamkeit und Unmenschlichkeit längst vergangener Zeiten« wiederauferstehen lasse und die sich als »neuer herrschender Stand« im Rahmen eines neuartigen »Sklavenregimes« konstituiere. Daher sah Axelrod die These bestätigt, die er schon vor dem Ausbruch des Weltkrieges aufgestellt hatte, nämlich daß »die Lenin-Clique als eine Bande der »Schwarzen Hundertschaften« und als gemeine Verbrecher innerhalb der Sozialdemokratie« gekennzeichnet werden müßte. (**).“ (Ebd., 1987, S. 123).

„Karl Kautsky. Für ihn ist der Marxismus ein Teil jenes Humanisierungsprozesses, der die Arbeiterbewegung aus ihrer ursprünglichen Wildheit und auch aus der inneren Nähe zu der terroristischen Phase der französischen Revolution herausgeführt hat. Der Bolschewismus bedeutet also einen Rückfall in die Bestialität, weil er den marxistischen Klassenkampf wieder durch den Bürgerkrieg ersetzen will. Die letzte Ursache dafür ist die Unreife der russischen Verhältnisse. Die Bolschewiki ließen sich von einer Massenpsychose tragen, und deshalb faßten sie die soziale Qualität Bürger geradezu wie eine biologische auf, gegen die sie mit der Wildheit und Roheit der anhebenden Arbeiterbewegung vorgingen. Daher ist der Sieg des Bolschewismus eine Niederlage des Sozialismus, und das zeigt sich auch darin, daß eine neue Bürokratie, eine neue Herrenklasse aufkommt, die den Militarismus zurückbringt und den Terrorismus installiert: »Erschießen - das ist das A und O der kommunistischen Regierungsweisheit geworden.« So ist der Bolschewismus ein antihumaner und antisozialistischer Rückfall in barbarische Zustände, und deshalb nennt Kautsky ihn schließlich einen »tatarischen Sozialismus«. (Vgl. Karl Kautsky, Terrorismus und Kommunismus - Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Revolution, 1919, S. 140, 152).“ (Ebd., 1987, S. 125).

„Aber ob der Bolschewismus nun von führenden Sozialdemokraten primär als russischer Sonderweg oder als barbarische Regression gesehen wird, so stellen sie ihn doch immer in einen schroffen Gegensatz zu Europa, und in dem Reisebericht eines Sozialdemokraten wird der Wunsch zum Ausdruck gebracht, »baldigst wieder die Grenzen des Sowjetrußland hinter mir zu lassen«, da die Eintönigkeit und Dürftigkeit des Lebens, der Hunger, die Abwesenheit der Pressefreiheit und das ständige Entsetzen über die Taten der neuen »Heiligen Inquisition«, der Tscheka, einfach nicht zu ertragen seien. (Vgl. Paul Olberg, Briefe aus Sowjet-Rußland, S. 146, 113). Aber kaum je wird die Frage angedeutet, ob das Europäische vielleicht mit der freien Existenz auch der reaktionären Tendenzen zusammenhängt und ob nicht die nicht-bolschewistischen Sozialisten in Rußland vielleicht besser daran getan hätten, sich mit Koltschak und Denikin zu verbünden, weil nur dann die Chance bestanden hätte, eine Gesellschaft der produktiven sozialen Differenzen wie in Europa zu schaffen: Eine Äquidistanz gegenüber den Bolschewiki und den Reaktionären bleibt vielmehr ausdrücklich oder unausdrücklich für alle Sozialdemokraten charakteristisch, und diese Äquidistanz hatte ja auch die praktische Politik der Menschewiki und Sozialrevolutionäre bis zu ihrer endgültigen Ausschaltung im Jahre 1921 bestimmt.“ (Ebd., 1987, S. 125).

„Der vielfaltige europäische Liberalismus war eher geneigt, sich mit der europäischen Kultur oder doch der westlichen Zivilisation zu identifizieren, soweit er nicht als prononcierter Linksliberalismus die Kritik an den Ungerechtigkeiten einer allzu undurchsichtigen Gesellschaft in den Vordergrund stellte. Für die Times gab es »nicht Platz genug auf der Welt für den Bolschewismus und die Zivilisation«. Dem Sinne nach war der Begriff Totalitarismus oder Totalismus als Gegenbegriff schon geläufig. Die unsichere Grenzlinie zwischen Rechtsliberalen und Konservativen war wohl am leichtesten daran kenntlich, ob man bloß den überaus starken Anteil der Fremdvölker an der russischen Revolution konstatierte oder in den Juden eine Ursache besonderer Art erblickte. Schon gleich in den ersten Monaten nach der Februarrevolution hatte es ja besonders in Frankreich und Italien zahlreiche Beobachter sehr irritiert, daß die Vorkämpfer eines Friedensschlusses so häufig deutsche Namen wie Zederbaum, Apfelbaum oder Sobelsohn trugen bzw. getragen hatten. Später verknüpften manche Autoren diese Beobachtung mit altüberlieferten Vorstellungen, die schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Konservativen geläufig gewesen waren. Kein Geringerer als Winston Churchill schrieb in einem seiner Aufsätze: »Diese Bewegung unter den Juden ist nicht neu. Seit den Tagen von Spartakus Weishaupt bis zu jenen von Karl Marx und bis hinunter zu Trotzki (Rußland), Bela Kun (Ungarn), Rosa Luxemburg (Deutschland) und Emma Goldman (Vereinigte Staaten) ist diese weltweite Verschwörung zum Sturz der Zivilisation und zur Neugestaltung der Gesellschaft auf Grund aufgehaltener Entwicklung, neidischer Mißgunst und unmöglicher Gleichheit im Wachsen begriffen. .... (Diese Bewegung) war die Triebfeder hinter jeder subversiven Bewegung des 19. Jahrhunderts, und jetzt hat diese Bande von außerordentlichen Persönlichkeiten aus der Unterwelt der großen Städte Europas und Amerikas das russische Volk am Kragen gepackt und ist praktisch der unangefochtene Herr eines gewaltigen Reiches geworden.« (Alex P. Schmid, Churchills privater Krieg - Intervention und Konterrevolution November 1918 - März 1920, 1974, S. 312),Aber wenn man in solchen Sätzen einen Nachhall der Verschwörungsfurcht des Abbé Barruel oder des Fürsten Metternich spüren darf, so war doch Churchill weit davon entfernt, die subversiven Tendenzen vieler Juden auf unveränderliche Rasseneigenschaften aller Juden zurückzuführen, und er hob mit viel Nachdruck die zionistischen Bestrebungen Dr. Weizmanns hervor, die sich »in besonderem Einklang mit den wahrsten Interessen des Britischen Empire« (ebd.) befänden.“ (Ebd., 1987, S. 125-126).

„Noch eindeutiger standen die politischen Interessen des Britischen Reiches für Churchill im Vordergrund, als er den Gedanken verfocht, man müsse Deutschland nun nach seiner Niederlage zum festen Bollwerk gegen die Gefahren des Bolschewismus machen, zu einem »Damm friedlicher, gesetzmäßiger und geduldiger Stärke gegen die Flut der roten Barbarei, die vom Osten heranbrandet«, und dieser Interessengesichtspunkt konnte ebensogut die Hoffnung hervorrufen, die Aufnahme von Handelsbeziehungen werde zu einer Milderung jenes in europäischen Augen beängstigenden Despotismus führen. Diese Auffassung verfocht Lloyd George, und bereits 1921 setzte er die Aufnahme von Handelsbeziehungen mit Sowjetrußland durch.“ (Ebd., 1987, S. 126).

„So entwickelte jede der etablierten Ideologien und Parteien ihren eigenen Antibolschewismus, bis hin zur USPD und bis in die Reihen der KP hinein, und nichts war begreiflicher, da der Bolschewismus nach seinem eigenen Selbstverständnis der ganzen Welt den Krieg erklärt hatte und jede der vorhandenen Parteien des Lakaientums gegenüber der internationalen Bourgeoisie anklagte. Aber ein wichtiger Übergang wurde vollzogen, als ganze Organisationen den Antibolschewismus zum Hauptinhalt ihrer Bestrebungen machten.“ (Ebd., 1987, S. 127).

„Die früheste dieser Organisationen war das »Generalsekretariat zum Studium und zur Bekämpfung des Bolschewismus«. Der Gründer war Eduard Stadtler, der vor dem Kriege in der Jugendorganisation des Zentrums führend tätig gewesen und dann in russische Kriegsgefangenschaft geraten war, aus der er aber schon vor dem Ende des Krieges zurückkehrte. Nach seinem späteren Bericht stürzte er sich bereits im November 1918 in eine hektische Aktivität, um Deutschland vor dem Schicksal Rußlands zu bewahren, und er fand dabei die Unterstützung maßgebender Politiker wie etwa Friedrich Naumanns und Karl Helfferichs. Am 10. Januar 1919 hielt er im Flugverbandshaus auf einer Sitzung des Führertums der Wirtschaft eine Rede, an der Industrie- bzw. Bankmagnaten wie Hugo Stinnes, Albert Vögler, Felix Deutsch, Arthur Salomonsohn und andere teilnahmen. Stadtlers Beschwörungen hatten den außerordentlichen Erfolg, daß ein Antibolschewistenfonds gegründet wurde, in den nach seiner Behauptung nicht weniger als 500 Millionen Mark eingezahlt wurden; und diese Mittel flossen dann durch alle möglichen Kanäle in die Anfang Januar einsetzende »gewaltige antibolschewistische Bewegung«, so etwa in die Freikorps, die mit großen Plakaten und kostspieligen Zeitungsanzeigen Freiwillige für den Schutz der Heimat vor dem Bolschewismus und vor den Polen warben, in die Bürgerrätebewegung, die »Antibolschewistische Liga«, die » Vereinigung zur Bekämpfung des Bolschewismus« und ähnliche Organisationen. Stadtler selbst verfaßte eine Broschüre mit dem Titel »Der Bolschewismus und seine Oberwindung« (Berlin, 1918). In ihr legt er ein überraschend hohes Maß von Anerkennung und Objektivität an den Tag, und erst ganz am Schluß taucht das Wort Seuche auf. Keinerlei Antisemitismus wird spürbar, wie ja schon die Liste der Geldgeber wahrscheinlich macht. Und dieser betonte Antibolschewismus war nur eine bald vorübergehende Phase in Stadtlers Tätigkeit, in seinen Augen offenbar das Resultat einer temporären Notsituation.“ (Ebd., 1987, S. 127).

„Eine andere militante antibolschewistische Organisation, die von den Kommunisten selbst viel häufiger erwähnt wurde als etwa die »Antibolschewistische Liga« und deren Name oft als Sammelname für Freikorps, Selbstschutzorganisationen u.a. verwendet wurde, war die »Organisation Escherich«. In ihren Anfängen und ihrem Grundcharakter war sie eine bürgerliche Selbstschutzorganisation, die nicht auf Bayern beschränkt sein sollte und folgende Hauptforderungen vorbrachte: Sicherung der Verfassung; Schutz von Personen, Arbeit und Eigentum; Erhaltung des deutschen Reiches und Ablehnung jeglicher Abtrennungsbestrebungen; Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und Abwehr jedes Rechts- und Linksputsches. Die praktische Hauptaufgabe war sicher erst in der letzten Forderung formuliert. Auch unter den zehn Thesen, die im Oktober 1920 aufgestellt wurden, findet sich erst als Punkt 3 »Bekämpfung des Bolschewismus und des Nationalbolschewismus; Ablehnung aller auf Zersetzung des Volkes gerichteter Bestrebungen«. Aber hier ist dieser Punkt besonders hervorgehoben, wie schon die Erläuterung zeigt, in der zahlreiche umstürzlerische Äußerungen von Führern der KPD angeführt werden. Als besonderes Verdienst Escherichs wird indessen hervorgehoben, es sei ihm gelungen, »was in Bayern eine Kraftleistung, den Antisemitismus fernzuhalten«. (Vgl. Günther Axhausen, Organisation Escherich - Die Bewegung zur nationalen Einheitsfront, 1921, S. 21).“ (Ebd., 1987, S. 127-128).

„Wenn man sich die Voraussetzungen anschaulich machen will, aus denen diejenige antibolschewistische Organisation erwuchs, die bald zu der bekanntesten und historisch wichtigsten werden sollte, dann darf man sich nicht auf den erregten Nationalismus von Offizieren wie Ernst Röhm und auf den antimarxistischen Sozialismus von Gottfried Feder beschränken, sondern man muß den Blick auf den Kreis baltischer und russischer Emigranten und ihnen nahestehender Personen richten, die in München einen Sammelpunkt gefunden hatten. Der wichtigste Mann unter ihnen war der Dichter Dietrich Eckart, der schon ab Ende 1918 in seiner Zeitschrift Auf gut deutsch eine Art von mystischem Antijudaismus vertreten hatte, aber erst durch die Erfahrung der Räterepublik zu praktischer und parteimäßiger Tätigkeit getrieben wurde. Im Ausgangspunkt war diese von ganz ähnlichen Empfindungen geleitet, wie sie in jenen Sätzen Thomas Manns zum Ausdruck kamen. Der Kern der Erfahrung war bei beiden der gleiche: die Vernichtungsfurcht der bürgerlichen und gebildeten Minderheit angesichts der bedrohlichen proletarischen Massen, und in beiden Fällen war damit eine Interpretation verbunden, mit der man diese Drohung begreifbar und beherrschbar zu machen versuchte, nämlich die Herausforderung einer fremden Führungsschicht. Aber was bei Thomas Mann momentane Stimmung und temporäre Anwandlung war, das wurde bei Dietrich Eckart zum Zentrum einer Weltanschauung und einer daraus resultierenden politischen Aktivität.“ (Ebd., 1987, S. 128).

„Es ist indessen sehr zweifelhaft, ob die Drohung mit dem Revolutionstribunal und selbst der Geiselmord im Luitpoldgymnasium so gravierende Folgen hervorgerufen hätten, wenn nicht die konkrete Gegenwart russischer Erfahrungen dieser Vernichtungsfurcht einen monumentalen und überzeugenden Hintergrund gegeben hätte. Einer der Männer, die diese Erfahrung an Eckart weitergeben konnten, war Dr. Max Erwin von Scheubner-Richter, der während des Weltkrieges eine Zeitlang als deutscher Vizekonsul in Erzerum tätig gewesen war und sich dort mit allen Kräften bemüht hatte, der Vertreibung und Ausrottung der armenischen Bevölkerung durch die Türken entgegenzutreten, welche er offenbar als asiatisch empfand. Aber 1918 war er dann in seine Heimat nach Riga zurückgekommen, und hier hatte er erlebt, wie der baltische Adel und in der Praxis die Baltendeutschen insgesamt von den aus Rußland eindringenden und von den einheimischen Bolschewiki für vogelfrei erklärt und zum Objekt einer Ausrottungspolitik gemacht wurden, die sich nicht grundsätzlich von jenen Armeniermassakern zu unterscheiden schien, obwohl natürlich auch Scheubner-Richter wußte, daß diese Baltendeutschen eine ... Oberschicht waren. Dann ging er nach München und gründete dort 1921 seine »Wirtschaftspolitische Aufbau-Korrespondenz über Ostfragen und ihre Bedeutung für Deutschland«, welche die Vorgänge in Rußland intensiv verfolgte und zahlreiche Übersetzungen aus der russischen Emigrantenpresse brachte. Hier organisierte er auch den Emigrantenkongreß von Bad Reichenhall, der im Juni 1921 zahlreiche Monarchisten zusammenführte, die sich in ihren Reden aufs schärfste gegen die Bolschewiki als eine »Bande volksfremder Verbrecher und Fanatiker«, aber auch gegen die Kadetten wandten, weil sie zusammen mit den Engländern und Franzosen Rußland verraten hätten. In der deutschen Presse begegnete dieser Kongreß überwiegend der besorgten Verachtung, welche häufig den Besiegten entgegengebracht wird, die ihre Niederlage nicht eingestehen wollen, und selbst die Neue Zürcher Zeitung sprach von den »Rechtsbolschewisten«, die sich unter Duldung der Regierung von Kahr in dem bayerischen Kurort versammelt hätten, während der Vorwärts ein »neues Koblenz« aus Reaktionären entstehen sah. Aber es ist kein Zweifel, daß diesen Männern die Meldungen glaubwürdig waren, die von vielen Zeitgenossen als schlimme Übertreibungen angesehen wurden, etwa diejenigen, die Herrschaft des Bolschewismus habe einschließlich der Hungertoten nicht weniger als 35 Millionen Opfer gefordert. Und ebenso glaubwürdig war für sie die Nachricht, die wenige Monate zuvor die Berlingske Tidende gebracht hatte und die wenig später auch im Völkischen Beobachter auftauchte: Die chinesische Tscheka begehe nun die schlimmste aller vorstellbaren Greueltaten: sie setze eine Ratte in einem Rohr oder Käfig an den Körper eines Verurteilten und zwinge das Tier durch das Entzünden von Feuer, sich in den Körper hineinzufressen.“ (Ebd., 1987, S. 128-129).

„Aber im Prinzip hätten auch Winston Churchill und Thomas Mann solchen Meldungen Glauben schenken können. Eine qualitativ neuartige Auslegung wird jedoch sichtbar, wenn man die Broschüre eines anderen Balten ins Auge faßt, der ebenfalls zum Umkreis Dietrich Eckarts gehörte: Alfred Rosenbergs »Pest in Rußland«. Ihr Kern ist die Verknüpfung zweier Tatbestände, die als solche nicht abzustreiten, sondern allenfalls im einzelnen zu korrigieren sind: des Untergangs der »nationalrussischen Intelligenz« sowie des Bürgertums einerseits und des hohen Anteils von »Juden«, d.h. Menschen jüdischer Herkunft, in den führenden Positionen der Partei und der Sowjeregierung andererseits.“ (Ebd., 1987, S. 129-130).

„Es ist anzunehmen, daß Adolf Hitler nicht zuletzt die linken Nationalsozialisten im Auge hatte, als er 1925 und 1926 den zweiten Band von »Mein Kampf« schrieb, der im dezember 1926 erschien. Hier machte er erneut klar, daß bei ihm die antibürgerliche Polemik nicht im geringsten eine Abschwächung des radikalen Antibolschewismus bedeutete, und vor allem arbeitete er die bisher erst ansatzweise vorhandene Lebensraumlehre in einer Weise heraus, die jeden Kompromiß mit dem Konzept der Ostorientierung unmöglich machte. Aber auch die starke Hervorhebung der Rassenlehre dürfte in diesem Zusammenhang zu sehen sein. Ein Bündnis mit den unterdrückten Nationen ist deshalb vollständig auszuschließen, weil deren Lage auf rassische Minderwertigkeit zurückzuführen ist. So ist der zweite Band viel stärker als der erste von jenem zugespitzten und verhärteten »Europäismus« erfüllt, der die Herrschaft des englischen Herrenvolkes und der mit ihm künftig verbündeten Deutschen als eine »rassische« Naturbestimmtheit ansieht (**) und daraus das Recht ableitet, im Osten zur »Bodenpolitik der Zukunft« überzugehen, welche das Ende des russischen Staates bedeuten wird, da nach dem Untergang der Bolschewisten, jener »blutbefleckten gemeinen Verbrecher«, dort keine Führungsschicht mehr vorhanden sein wird, die den Staat zusammenhalten könnte. Wie sehr aber Hitler immer noch an der Situation des russischen Bürgerkriegs orientiert ist, läßt das »Politische Testament« erkennen, mit dem er das Kapitel 14 über »Ostorientierung oder Ostpolitik« abschließt: »Duldet niemals das Entstehen zweier Kontinentalmächte in Europa! Seht in jeglichem Versuch, an den deutschen Grenzen eine zweite Militärmacht zu organisieren ... einen Angriff gegen Deutschland .... Sorgt dafür, daß die Stärke unseres Volkes ihre Grundlagen nicht in Kolonien, sondern im Boden der Heimat in Europa erhält! ...« (Adolf Hitler, Mein Kampf, a.a.O., S. 754). Ganz wie Hitler die englische Vorherrschaft in der Welt während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine Rassenlehre und damit die Einbeziehung Deutschlands fixieren will, so will er an dieser Stelle die Situation der Jahre 1917/'18 festhalten, als es die zweite, die russische Militärmacht an den Grenzen Deutschlands nicht mehr gegeben hatte, welche doch im ganzen 18. und 19. Jahrhundert eine selbstverständliche Grundtatsache gewesen war. Die Angst vor der eigenen Vernichtung, welche die frühen Reden und noch den ersten Band von »Mein Kampf« so stark geprägt hatte, resultiert nun in einem außenpolitischen und staatlichen Vernichtungswillen, der den linken Nationalsozialisten hinsichtlich Rußlands ganz fern lag.“ (Ebd., 1987, S. 166-167).

„Es gab also genuine Differenzen zwischen München und Norddeutschland. 1928 war noch nicht entschieden, ob das Hitlersche Konzept der Identifizierung von Nationalismus und Sozialismus oder das Straßersche eines nationalen Sozialismus aussichtsreicher war. Es war ebenfalls ungewiß, ob schließlich eine Spaltung der Partei erfolgen würde oder nur das Abschwenken einer kleinen Gruppe. Eine wichtige Vorentscheidung waren die Reichstagswahlen von 1928, die für die Nationalsozialisten eine Niederlage und für die Kommunisten einen beträchtlichen Erfolg bedeuteten.“ (Ebd., 1987, S. 167).

„Deutschland war durch die strategisch bedingte Förderung der revolutionären Propaganda im Kriege und vor allem durch die Zulassung der Surchreise Lenins in gewisser Weise der Begründer Sowjetrußlands und nach Brest-Litowsk (Verhandlungen seit Dezember 1917, Unterzeichnung am 03.03.1918; Anm. HB) für entscheidende Monate sein Erhalter. Die Wahrnehmung des roten Terrors, die Hilferufe vieler Vertreter des Bürgertums, die revolutionäre Propaganda im deutschen Heer und hinter der Front blieben nicht ohne Einfluß auf die führenden Männer, und sowohl der Kaiser als auch der Reichskanzler Hertling sowie der Stabschef von Oberost, General Max Hoffmann, trugen sich ernsthaft mit dem Gedanken, die deutschen Truppen bis nach Petrograd und Mosdkau marschieren zu lassen, um eine deutschfreundliche weiße Regierung einzusetzen. Aber die Weißen waren nicht durchweg deutschfreundlich, und sie waren zu einem guten Teil rot: Keine Partei stand entschiedener auf der Seite der Entente als die Sozialrevolutionäre, und gerade die Ermordung des deutschen Gesandten, des Grafen Mirbach, durch linke Sozialrevolutionäre klärte die deutsche Regierung darüber auf, daß die Bolschewiki die einzige starke und organisierte Kraft in Rußland waren, die eine Wiederaufnahme des Krieges ablehnte. So setzte sich der neue Staatssekretär, von Hintze, gegen alle anderen Bestrebungen durch (vgl. Winfried Baumgart, Deutsche Ospolitik 1918, 1966, S. 317) und schloß mit der Sowjetregierung Ende August 1918 die sogenannten »Zusatzverträge«, die für Lenin eine neue Atempause bedeuteten.“ (Ebd., 1987, S. 171-172).

„... Vertrag von Rapallo, der am 16. April 1922 unterzeichnet wurde. ..., eine neue Möglichkeit der internationalen Politik trat nun ins Blickfeld: Deutschland und Rußland würden sich vielleicht eines Tages zu eienr genuinen Allianz ... verbinden. Die radikale Gegenmöglichkeit, die Churchill gegen Lloyd George verfochten hatte, schien damit unwiederbringlich dahingeschwunden zu sein: Deutschland zum Verbündeten eines antibolschewistischen Befreiungskrieges zu machen. Wie tief wäre erst der Schock gewesen, wenn wenn tatsächlich ein Sowjetdeutschland einen viel weitergehenden Vertrag unterzeichnet hätte!... Der Völkische Beobachter dagegen sprach von einer »Verschacherung des deutschen Volkes« und vom »Verbrechen von Rapallo« (vgl. die Ausgaben vom 22. und 29.04.1922), und nach der Ermordung Rathenaus schrieb er am 28. Juni 1922: »Rathenau trat in Cannes für eine überstaatliche Bankierregierung ein. Der Name desselben Mannes steht aber auch auf dem Vertrag von Rapallo, der Deutschland an das bolschewistische, angeblich bis aufs Blut antikapitalistische Rußland bindet. Hier haben wir die Personalunion zwischen der internationalen jüdischen Hochfinanz und dem internationalen jüdischen Bolschewismus.«“ (Ebd., 1987, S. 175-176).

„Erst die Weltwirtschaftskrise schuf in Deutschland die Bedingungen, unter denen zwei Bürgerkriegsparteien große Anhängerzahlen gewinnen konnten, aber sie schuf nicht diese Parteien selbst Beide hatten vielmehr ein besonderes verhältnis zur Krise, und nichts war wahrscheinlicher, als daß sie jetzt viel Gehör finden würde.“ (Ebd., 1987, S. 179).

„Aber es gab unzweifelhaft auch besoindere Ursachen, welche vielleicht die ungewöhnliche Schärfe der Krise erklärten. Schon in den frühen zwanziger Jahren hatte kein Geringerer als John Mynard Keynes ein Büchlein über die ökonomischen Konsequenzen des Friedensvertrages (gemeint ist das Versailler Diktat; Anm. HB) geschrieben, in dem er warnend auf die unabsehbaren Folgen hingewiesen hatte, welche aus den deutschen Reparationszahlungen resultieren müßten, da es sich dabei um politisch begründete und insofern systemfremde Kapitalübertragungen handle. Würde die Krise nicht sehr gemildert, wenn die Tributzahlungen eingestellt würden?  Wenn diese kleinere Lösung vermutlich die realistischere war, so bot doch auch sie außerordentliche Schwierigkeiten, da die Reparationsgläubiger England und Frankreich ihrerseits zu großen Rückzahlungen von Kriegskrediten an die USA verpflichtet waren. Wenn Amerika sich nicht zu einem Verzicht auf seine Ansprüche bereit fand, dann mußte die nationalsozialistische Agitation gegen die Tributzahlungen auf die Etablierung einer deutschen Autarkie hinauslaufen. Diese Konsequenz scheuten Deutschnationale und Nationalsozialisten in der Tat nicht, als sie schon vor jenem schwarzen Freitag eine großangelegte Agitation gegen den Young-Plan entfesselten, der nach dem Wunsch der Alliierten und der deutschen Regierung dem Dawes-Plan ablösen sollte. Er bot Deutschland beträchtliche »Vorteile« (Anführungszeichen von mir; HB), setzte aber auch ein Enddatum für die Repartionszahlungen fest, 1988 (!!!), das eine Versklavung des deutschen Volkes für zwei Generatinen zu bedeuten schien.“ (Ebd., 1987, S. 181).

„Opposition gegen diesen Plan war unvermeidlich und systemgerecht ....“ (Ebd., 1987, S. 181).

„»Es gibt doch nichts Verlogeneres als einen dicken, wohlgenährten Bürger, der gegen den proletarischen Klassenkampfgedanken protestiert .... Gewiß ist der Jude auch ein Mensch .... Aber der Floh ist auch ein Tier und kein angenehmes. Und da der Floh kein angenehmes Tier ist, haben wir ... nicht die Pflicht, ihn zu hüten und zu beschützen ..., sondern ihn unschädlich zu machen.« (Joseph Goebbels, Der Nazi-Sozi, 1929, S. 4, 7).“ (Ebd., 1987, S. 186).

„Dennoch befindet sich der bestürzendste Ausduck dieses geistigen Bürgerkrieges ... im Organ der Linksintellektuellen, der Weltbühne, und der Angriff war nicht gegen die Nationalsozialisten gerichtet, sondern gegen die deutschen Bildungsschichten überhaupt. Unter der Überschrift »Dänische Felder« schrieb Kurt Tucholsky im Sommer 1927: »Möge das Gas in die Spielstuben eurer Kinder schleichen! Mögen sie langsam umsinken, die Püppchen. Ich wünsche der Frau des Kirchenrats und des Chefredakteurs und der Mutter des Bildhauers und der Schwester des Bankiers, daß sie einen bittern und qualvollen Tod finden, alle zusammen. Weil sie es so wollen, ohne es zu wollen. Weil sie faul sind. Weil sie nicht hören und nicht sehn und nicht fühlen.« (Kurt Tucholsky, in: Die Weltbühne, 23. Jg., Nr. 30, 1927, S. 152f.. In Tucholskys Gesammelten Werken ist [Band 5, S. 206] ist die Stelle durch die Hinzufügung des Satzes »Leider trifft es immer die Falschen« verändert. Die Grundvorstellung ist der Gegensatz zwischen den schon 1917 friedlichen Feldern in Dänemark und dem Deutschland des Jahres 1927, in dem angeblich wieder ein Krieg vorbereitet wird. Die Stelle ist nicht etwa erst von neonazistischen Autoren wie Emil Aretz entdeckt worden [Hexeneinmaleins einer Lüge, 1973, S. 106], sondern sie wurde bereits in der nationalszialistischen Literatur angeführt, so von Hermann Esser, Die jüdische Weltpest, daß sie auch Hitler bekannt war).“ (Ebd., 1987, S. 188).

„... Frage (für Kommunisten; Anm. HB), was dem Faschismus noch eigentümlich sein kann, wenn bereits die bürgerliche Demokratie nichts anderes als die Diktatur der Bourgeoisie ist und wenn nur eine der beiden Hauptklassen die die Dikatur ausüben kann. Also mußte der gleichzeitige Kampf gegen beide Hilfstruppen der Bourgeoisie das Gebot der Stunde sein: gegen die NSDAP als Nationalfaschismus und gegen die SPD als Sozialfaschismus, und dabei war der Hauptstoß gegen die Sozialdemokratie als die hinterhältigere der beiden feindlichen Kräfte zu richten. Es waren die oppositionellen Gruppen der KPD, die in dieser Auffassung ein Verhängnis sahen und der Parteiführung seit Anfang 1930 dem Sinne nach sagten: »Unter diesem Zeichen - dem Begriff des Sozialfaschismus - wirst du unterliegen.« Die wichtigste dieser Gruppierungen war die KPD-O, in der sich die aus der Partei ausgeschlossenen Rechten sammelten, an ihrer Spitze Heinrich Brandler und August Thalheimer. Aber auch die Roten Kämpfer legten wichtige Beiträge vor, die allesamt die Kommunisten in die Einheit der Arbeiterbewegung zurückzuführen bemüht waren, obwohl die scharfe Kritik am Bürokratismus und an der Abhängigkeit der Partei, aber auch das eigene Festhalten am Begriff der »Diktatur des Proletariats« den Versuch von Anfang an als hoffnungslos erscheinen ließen.“ (Ebd., 1987, S. 190).

„Einen mächtigen Mitkämpfer erhielten die Kritiker der Sozialfaschismustheorie in Leo Trotzki, der seit 1929 zu der russischen Emigration gezählt werden konnte. Viel schärfer als irgend jemand anders sah Trotzki die Gefahr, daß dem Nationalsozialismus durch den Kampf der Kommunisten gegen den Sozialfaschismus die Machtergreifung geradezu nahegelegt werde und daß Hitler dann nicht nach wenigen Wochen oder Monaten von den endlich unter der Führung der KPD geeinigten Proletariern gestürzt werden würde, wie man es in der Komintern erwartete. Vielmehr werde die nationalsozialistische Regierung als einzige aller bürgerlichen Regierungen imstande sein, einen Krieg gegen die UdSSR zu führen, und in diesem Kriege werde Hitler das Vollstreckungsorgan des gesamten Weltkapitalismus sein, der »Ober-Wrangel der Weltbourgeoisie« (Leo Trotzki, Soll der Faschismus wirklich siegen?  Deutschland - der Schlüssel zur internationalen Lage, in: Schriften über Deutschland, Band 1, 1971, S. 157f.). Das war eine erstaunliche Prophezeiung, aber Trotzki brauchte in der Tat sein eigenes Verfahren gegen Sozialrevolutionäre und Menschewiki sowie seine Angriffskriege gegen Polen und Georgien nur auf das bürgerliche Deutschland zu projizieren, um zu dieser Vorhersage zu gelangen. Seine Hoffnungen leitete Trotzki abermals aus einer Analogie zur russischen Revolution her, nämlich aus seiner Geringschätzung eines quantitativen Stimmenübergewichts: »Auf der Waage der Wahlstatistik wiegen tausend faschistische Stimmen ebensoviel wie tausend kommunistische. Aber auf der Waage des revolutionären Kampfes stellen tausend Arbeiter eines Großunternehmens eine hundertmal größere Kraft dar als tausend Beamte und Büroangestellte samt ihren Frauen und Schwiegermüttern. Die Hauptmasse der Faschisten besteht aus menschlichem Staub.« (Ebd, S. 159). Hier irrte Trotzki seinerseits ....“ (Ebd., 1987, S. 190).

„Es ist indessen auch zu befürchten, daß der Bürgerkrieg (der Anfang der 1930erJahre in Deutschland drohte und durchaus auch von einigen nichtextremen Politikern wie z.B. von Papen, von Schleicher u.a. in Kauf genommen wurde; Anm. HB), wenn es dazu kam, sehr leicht die Teilung Deutschlands im Gefolge haben konnte. Frankreich wäre nicht an seinern Grenzen stehengeblieben, wenn in Berlin eine Machtergreifung der Kommunisten gedroht hätte, und die sowjetische Armee war nach dem Ende des ersten Fünfjahresplanes in der Lage, Polen in der Tat »wie einen Halm niederzutreten« und mindestens bis zur Elbe vorzurücken. Deutschland war nach wie vor die stärkste Industriemacht, und wenn die Selbstbehauptung Europas als gleichwertige Weltmacht gelingen sollte, dann mußte Deutschland den Kern der neuen »Vereinigten Staaten« ....“ (Ebd., 1987, S. 209-210).

„Wenn Sinovjew mit seiner Nebenbemerkung recht hatte, die er breits 1922 gemacht hatte (vgl. Protokoll des 4. Kongresses der Kommunistischen Internationale, 1923, S. 44f.), d.h. wenn Europa wirklich in eine Epoche des Faschismus eingetreten war, dann mußte Hitler den Weg zur Alleinherrschaft noch rascher und radikaler gehen, als Mussolini es getan hatte, und dann mußte er in besonderer Weise dem Staate konfrontiert sein, der die Epoche der proletarischen Weltrevolution hatte heraufführen wollte.“ (Ebd., 1987, S. 210).

„In Europa standen einander nun zwei große Ideologiestaaten gegenüber, deren handeln letzten Endes von Konzeptionen bestimmt wurde, welche den vergangenen und den zukünftigen Verlauf der Weltgeschichte interpretieren und den Sinn des menschlichen Lebens deuteten. Die Vorwürfe, die sie einander machten, hatten fast durchweg eine zugespitzte und propagandistische Form,a ber sie beruhten auf realen Gegebenheiten, die auf beiden Seiten die Leidenschaften zahlloser Menschen entzündeten. Beide hatten in dem ganzen Erdteil und darüber hinaus ideologische Verbündete: die Sowjetunion die kommunistischen Parteien, Deutschland ... die faschistischen Bewegungen und potentiell das faschistische Regime in Italien. Beide befanden sich freilich in einem ganzen Netz von Beziehungen und Gegebenheiten, und für lange Jahre konnte es noch so aussehen, als sei das Verhältnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion bzw. zwischen den faschistischen Bewegungen und den kommunistischen Regimen ein untergeordnetes Thema der Weltgeschichte. Schließlich aber erwies es sich als der entscheidende Gegensatz, der das Schicksal der Welt in weitaus stärkerem Maße bestimmte als etwa der Krieg zwischen Japan und China, die Eroberung Äthiopiens durch Italien oder die Bemühungen Roosevelts um die Rückkehr der USA in die Weltpolitik.“ (Ebd., 1987, S. 210).

Die feindlichen Ideologiestaaten im Frieden 1933-1941
„Wie sehr Hitlers Ideologie in erster Linie negativ durch den Gegensatz zur Sowjetunion und zum Kommunismus bestimmt war, hatte er während des Jahres 1932 bei zei Gelegenheiten noch unzweideutiger erkennen lassen als durch die Äußerungen, die er bald nach der Machtübernahme tat. In seiner Rede vor Industriellen in Düsseldorf am 27. Januar 1932 war er von der tatsächlichen Herrschaft der weißen rasse über die Welt ausgegangen und hatte sie auf erbliche Überlegenheit zurückgeführt, die also ein recht sei, aber ein gefährdetes Recht. Denn dagegen sei eine Weltanschauung aufgestanden, die sich bereits einen Staat erobert habe und die von da aus die ganze Welt zum Einsturz bringen werde, wenn sie nicht rechtzeitig vernichtet werde: »In 300 Jahren wird man, wenn diese Bewegung sich weiterentwickelt, in Lenin nicht nur einen Revolutionär des Jahres 1917 sehen, sondern den Begründer einer neuen Weltlehre, mit einer Verehrung vielleicht wie Buddha.« (Vgl. Max Domarus, Hitler - Reden und Proklamationen 1932-1945, Band 1, 1962, S. 68-90, S. 77 [der Text wurde nicht etwa geheimgehalten, sondern gleich zweimal publiziert {gekürzt} im Völkischen Beobachter vom 19.04.1932 und dann in der Broschüre: Vortrag Adolf Hitlers vor westdeutschen Wirtschaftlern im Industrieklub zu Düsseldorf, 1932]). Einer so »gigantischen Erscheinung« begegnet Hitler offensichtlich nicht mit Verachtung, und er polemisiert ausdrücklich gegen diejenigen Unternehmer, welche eine umfassende Industrialisierung Rußlands nicht für möglich halten. Vielmehr versteht er sich selbst hier ganz unverkennbar als Anti-Lenin, als den einzigen Mann, der diese Entwicklung aufzuhalten vermag, grundsätzlich ganz genau so, wie Trotzki es getan hatte, als er ihn den »Ober-Wrangel der Weltbourgeoisie« genannt hatte (**). Nur ist in seinen Augen alles dasjenige Menschheitsverfall und Dekadenz, was für Trotzki Fortschritt und Emanzipation ist, denn die Industrialisierung Rußlands und die präsumtive Ausbreitung des Bolschewismus auf Asien können sich nur auf die Ausnützung westlicher Leistungen und auf die rücksichtslose Niedrighaltung des Lebensstandards der russischen bzw. asiatischen Massen gründen. Allerdings schreibt Hitler auch der westlichen Welt nicht etwa das Verdienst zu, die Lebensumstände der Asiaten und anderer Völker verbessert zu haben, und er scheut nicht davor zurück, sich der Sache nach für den Vorkämpfer des westlichen oder abendländischen Egoismus zu erklären, welcher für ihn nichts anderes als die naturgewollte Herrschaft des höheren und kultivierteren Menschentums über das niedrige und barbarische ist. Aber ob das nun ein bis dahin unvorstellbares Bekenntnis zum reaktionärsten Imperialismus ist oder ob es sich um die Übersteigerung einer im Kern richtigen Einsicht handelt: Jedenfalls kann sich ein Mensch nichts Größeres vornehmen, als in dem übergreifenden weltgeschichtlichen Prozeß im Dienste einer Sache eine entscheidende Rolle zu spielen, und daher muß jede Auffassung als unzureichend gelten, die in Hitler bloß einen deutschen Nationalisten sehen will. Ein bloßer Nationalist hätte sich bestimmt nicht in dem Sinne geäußert, wie Hitler es im Dezember 1932 gegenüber dem Oberst von Reichenau tat: Er halte die Sowjet-Diplomatie für verhandlungs- und vertragsunfähig, denn Verträge könnten nur zwischen Kontrahenten auf gleicher weltanschaulicher Ebene abgeschlossen werden. (Vgl. Thilo Vogelsang, Hitlers Biref an Reichenau vom 4. Dezember 1932, in: Vjh. f. Ztg., Band 7 [1959], S. 429-437, S. 434). “ (Ebd., 1987, S. 217-218).

„Hitler ... war nicht ein Politiker mit ideologischen Überzeugungen, wie es Stresemann und Brüning gewesen waren, sondern er war ein Ideologe mit politischem Willen ....“ (Ebd., 1987, S. 220).

„Was in der Sowjetunion vor sich ging, war also eine Industrialisierung unter Kriegsverhältnissen auf der Grundlage einer Lehre, die sich marxistisch nannte. Sowohl in ihrer Gewaltsamkeit wie in ihrer Schnelligkeit bildete sie einen schroffen Gegensatz zu der Industriellen Revolution, wie sie sich zunächst in England und dann im übrigen Westen während langer Jahrzehnte entfaltet hatte. Da sie mit ihrem Vorrang der Schwerindustrie notwendigerweise bedeutete, daß der räumlich größte Staat der Welt sich ein gewaltiges Rüstungspotential schuf, mußte sie im ganzen Westen Besorgnis und Angst hervorrufen, aber sie fand auch viel Sympathie unter den Intellektuellen, die manchmal die Dekadenz, manchmal die Entfremdung und manchmal die Kriegslüsternheit der westlichen Staaten kritisierten, manchmal aber auch alles auf einmal. Sidney und Beatrice Webb schrieben in einem Buch über die Sowjetunion als »eine neue Zivilisation«, und Bernard Shaw glaubte, aus einem »Land der Hoffnung« in eine Weltregion der Hoffnungslosigkeit zurückzukehren, als er von Moskau die Rückreise nach London antrat.“ (Ebd., 1987, S. 221).

„So sprachen die einen vom Lande der Staatssklaverei und des neualten Despotismus und die anderen von dem völlig neuen Ethos der russischen Arbeiter, die von ihrer Arbeit »etwas Besseres und Größeres erwarteten, als man mit Geld erlangen kann« (Josef Stalin [der damit wohl nur den Tod gemeint haben kann; Anm. HB], a.a.O., S. 238).“ (Ebd., 1987, S. 222).

„»Bekanntlich blickte das alte Rom auf die Vorfahren der heutigen Deutschen und Franzosen genauso, wie jetzt die Vertreter der ›höheren Rasse‹ auf die slawischen Stämme blicken .... Herausgekommen ist dabei, daß sich die Nichtrömer, das heißt alle ›Barbaren‹ gegen den gemeinsamen Feind zusammenschlossen und Rom über den haufen rannten .... Wo ist die Garantie, daß die schriftstellernden faschistischen Politiker in Berlin mehr Glück haben werden als die alten kampferprobten Eroberer in Rom?  Wäre es nicht richtiger, das Gegenteil anzunehmen.« (Josef Stalin, a.a.O., S. 264).“ (Ebd., 1987, S. 222-223).

„So hätte es vermutlich der Zeitungsmeldungen nicht bedurft, um Hitler der Bitte Francos um Lieferung von 20 Transportflugzeugen geneigt zu machen, die ihm am Abend des 25. Juli (1936; Anm. HB) in Bayreuth durch zwei deutsche Geschäftsleute übermittelt wurde. Diese Bitte trug alle Zeichen der Improvisation an sich, und sie wäre vom Auswärigen Amt abgelehnt worden, weil man die Risiken für zu groß hielt und überdies das Leben der Deutschen im republikanischen Spanien nicht gefährden wollte. Hitler aber war sofort der Überzeugung, daß der Bolschewismus nach Spanien greife und daß ihm die der Weg versperrt werden müsse.“ (Ebd., 1987, S. 249-250).

„In der Sowjetunion waren sehr bald nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges große Solidaritäts- und Protestveranstaltungen sowie Geldsammlungen durchgeführt worden, aber zunächst scheint Stalin gemeint zu haben, daß die Organisierung der Internationalen Brigaden als unmittelbare Hilfe genügen würde. Nichts hätte ihm in der gegebenen weltpolitischen Lage unangenehmer sein müssen als der Nachweis, daß er dabei sei, in Spanien eine bolschewistische Revolution nach dem Muster der russischen in Gang zu setzen. Schon der begründete Verdacht hätte alle Chancen einer Politik des großen Widerstandes (mit allen europäischen Staaten und den USA gegen Hitler [Deutschland]; Anm. HB) zerstört und die Gefahr eines Einvernehmens zwischen England und Deutschland heraufbeschworen, der er doch durch die Verkündung der Volksfrontpolitik auf dem 7. Kongreß der Komintern im Juli/August 1935 gerade hatte begegnen wollen.“ (Ebd., 1987, S. 251).

„Im Sommer 1938 war Lenins Partei mit alleiniger Ausnahme der bewährtesten Stalinanhänger praktisch vernichtet. ... Als im März 1939 der 18. Parteitag der KPdSU zusammentrat, da waren von den 1966 Delegierten des 17. Parteitages von 1934 nicht weniger als 1108 tot oder verschwunden. Aber sogar von dem Rest waren bloß 59 wieder im Saal. Keine kommunistische Partei der Welt war bis dahin einem derartigen Massaker unterzogen worden, auch nicht die KPD unter Hitler. Keinem Volk waren jemals in Friedenszeiten von der eigenen Führung derartige Verluste zugefügt worden. Das nationalsozialistische Deutschland mußte sich 1937 und 1938 mit seinen wenigen Konzentrationslagern und höchstens 30000 politsichen Häftlingen im Vergleich beinahe wie ein normaler westeuropäischer Staat ausnehmen.“ (Ebd., 1987, S. 263).

„Die große Säuberung kann (muß aber nicht; Anm. HB) als eine unumgängliche Maßnahme der Vorbereitung auf den Verteidigungskrieg um Leben und Tod betrachtet werden. (Ständige Bezugnahme auf Deutschland und das Schüren von Angst, Deutschland stünde kurz vor der Eroberung Rußlands u.s.w.; Anm. HB). Aber neben dieser herrschenden Meinung existiert seit langem eine zweite Interpretation, die anscheinend zuerst von Walter Krivitsky vorgebracht wurde und auch in der Gegenwart Vertreter hat. Danach steuerte Stalin von früh an auf eine Einigung mit Hitler hin, den er zugleich fürchtete und bewunderte. .... Eine dritte Auslegung sieht in Stalin den unerschütterlichen Weltrevolutionär, der die rhetorischen Weltrevolutionäre beseitigen mußte, wenn er die einzige Zitadelle des Kampfes gegen den Kapitalismus und den faschismus festigen wollte. (Diese Auslegung deute ich aber eher als eine Entschuldigung für Stalins Morde, diese überdimensionalen und singulären, an Grausamkeit unübertreffbaren Morde; Anm. HB). Ihr steht als vierte Möglichkeit schroff das ganz negative und oftmals marxistische Urteil gegenüber, daß Stalin in dieser Säuberung zum orientalischen Despoten oder aber zu einer Art von Nationalsozialisten geworden sei.“ (Ebd., 1987, S. 265-266).

„Hitler ... machte Deutschland zum weitaus mächtigsten Staat ..., und er schaltete zugleich die Sowjetuion so weitgehend aus dem Konzert der Mächte aus, daß jenes große Einvernehmen hergestellt schien, das er immer erstrebt hatte.“ (Ebd., 1987, S. 267).

„Am 5. November 1937 rief Adolf Hitler seine engsten Mitarbeiter zu einer Besprechung in der Reichskanzlei zusammen, nämlich den Außenminister von Neurath, den Kriegsminister von Blomberg, die Oberbefehlshaber des Heeres, der Marine und der Luftwaffe Fritsch, Raeder und Göring. Ferner war der Wehrmachtsadjutant Oberst Hoßbach anwesend, welcher bald nachher eine eine Niederschrift anfertigte, von der nach dem Kriege eine Abschrift in die Hände der Alliierten gelangte, das sogenante Hoßbach-Protokoll (**). Die Absicht Hitlers bestand offenbar darin, dieser kleinsten Führungsspitze den bevorstehenden Übergang zu einer aktiven Außenpolitik anzukündigen. ... In seinen Ausführungen war ... ausschließlich von einer »Lösung der deutschen Frage« die Rede, und darunter verstand er nichts anderes als die Beseitigung der »Raumnot«, d.h. die Gewinnung eines größeren Lebensraumes: Nach seinen Worten ein Streben, das zu allen Zeiten die Ursache der Staatenbildung und Völkerbewegung gewesen sei. »... Deutschland sei zur Offensive gezwungen«, und es sei daher sein unabänderlicher Beschluß, spätestens 1943-1945 die deutsche Raumfrage zu lösen. ... Es war ganz und gar der Hitler des »politischen Testaments« aus »Mein Kampf«, der hier sprach (**), und zu Beginn bezeichnete er seine Ausführungen tatsächlich als »testamentarische Hinterlassenschaft« für den Fall seines Ablebens. Hitler enthüllte sich abermals als derjenige, der er war: ein ganz und gar auf 1917/'18 und hier auf die alliierte Blockade fixierter Mann, der aber zugleich, ihm selbst wohl unbewußt, auf parasigmatische Weise die Position verkörperte, welche sich ergibt, wenn man die marxistische Klassenkampfdoktrin von den Momenten des Internationalismus und des »Humanismus« (Anführungszeichen von mir; Anm. HB) löst, wie es übrigens Marx und Engels selbst hin und wieder ansatzweise getan hatten. (Vgl. Ernst Nolte, Marxismus und Industrielle Revolution, 1983, S. 466ff.). Aber der biologistische Marxist oder der Sozialdarwinist war nicht der ganze Hitler. Unterhalb der eroberungssüchtigen Zuversicht des Protagonisten der »besseren Rasse« wird doch sogar hier die Besorgnis, ja Angst spürbar, mit der er einen Vorgang verfolgt, der in das biologistische Weltbild nicht recht hineinpaßt, nämlich »die vom Bolschewismus ausgehenden Wirtschaftszerstörungen«, die er mit der »vom Christentum ausgehenden auflösenden Wirkung« in Parallele setzt, welche das Römische Weltreich dem Ansturm der Germanen habe erliegen lassen, jenes Weltreich, an dessen Größe und dauerhaftigkeit sich Hitler unverkennbar orientierte. Offensichtlich hätte er nur einen kleinen Schritt tun müssen, um zu dem angeblichen Urheber dieser Auflösung zu gelangen, aber das Wort »Jude« kommt nicht vor.“ (Ebd., 1987, S. 267-268).

„Die Frage ist, warum sich Hitler vor seinen nächsten Mitarbeitern in so provozierneder Einseitigkeit darstellte. Die wahrscheinlichste Antwort ist die, daß er diese Mitarbeiter einer Art Prüfung unterziehen wollte.“ (Ebd., 1987, S. 268-269).

„Daß die Österreichfrage im Frühjahr 1938 zur Lösung reif sei, war von vielen Beobachtern vorhergesagt worden. In der Tat handelte es sich um eins der schwierigsten Probleme der deutschen Geschichte, und schon durch seine bloße existenz war es ein Symptom für die singuläre Lage des deutschen Volkes in Europa, denn weder die Engländer noch die Franzosen noch die Italiener lebten in zwei Staaten. .... Bismarck schloß ... Österreich aus dem Deutschen Bund (bzw. dem Reich) aus, dessen Bestandteil es viele Jahrhunderte lang (länger als ein Jahrtausend ! Anm. HB) gewesen war, und vollzog damit die »Teilung Deutschlands«. 1918/'19 schien der Zeitpunkt gekommen, wo sich Deutsch-Österreich als Überrest der zerstörten Habsburgermonarchie aufgrund des Willens der üebrwältigenden Mehrheit der Bevölkerung mit dem ... Bismarckreich zu dem genuinen Nationalstaat aller Deutschen zusammenschließen würde, aber ... die Alliierten, die nach ihren Proklamationen für Demokratie und Selbstbestimmung gekämpft hatten, stellten machtpolitische Überlegungen höher als Prinzipien und verwehrten durch ein »Anschlußverbot« den deutschen die Selbstbestimmung, die sie den westslawischen Nationen wie Polen und Tschechen sicherten ..., ... hatten die Allierten im deutschsprachigen Raum eine Irredenta hervorgerufen ....“ (Ebd., 1987, S. 270-271).

„(Österreich) ... Ausbruch von beinahe allgemeinem Enthusiasmus die einrückenden deutschen Truppen mit Blumen überschüttet wurden und ... Hitler selbst von jubelnden Massen wie ein Erlöser gefeiert wurde. .... Das demokratische Selbstbestimmungsrecht zum unblutigsten seiner Erfolge ....“ (Ebd., 1987, S. 272).

„Die Frage der Sudetendeutschen war von ähnlicher Art wie diejenige der Deutschösterreicher .... Wäre es nach dem Willen der Bevölkerung gegangen (also: nach der Demokratie und nicht nach dem antidemokratischen Versailler Diktat! Anm. HB), so wären Österreicher und Sudetendeutsche damals zu Bürgern des Deutschen Reiches geworden.“ (Ebd., 1987, S. 273).

„Als Lord Edward Halifax ... Hitler am 19. November 1937 auf dem Obersalzberg einen Besuch machte, da dürfte er Hitlers Aussage innerlich zugestimmt haben: Die einzige Katastrophe sei der Bolschewismus, alles andere lasse sich regeln. Schon am beginn des Gesprächs hatte er nämlich Deutschland als ein »Bollwerk des Westens gegen den Bolschewismus« bezeichnet.“ (Ebd., 1987, S. 275).

„Am 20. Februar 1938 eröffnete Hitlers Rede über die »zehn Millionen unterdrückter Deutscher«, die auch äußerst heftige Angriffe gegen den Kommunismus und die Sowjetunion enthielt (**), die Sudetenfrage bereits offiziell, bevor die Österreichfrage gelost war.“ (Ebd., 1987, S. 277).

„Hitler ... traf ... sich mit Chamberlain, Deladier und Mussolini (am 29.09.1938; Anm. HB) zur Münchener Konferenz, auf der mit geringen Modifikationen alle seine Forderungen erfüllt wurden. Ein Vertreter der Sowjetunion war nicht eingeladen. Hitler und Chamberlain unterzeichneten am 30. September eine Erklärung, in der sie mit optimistischem Ton den Wunsch beider Völker zurm Ausdruck brachten, »niemals wieder gegeneinander Krieg zu führen«, und nach seiner Ankunft in London sprach Chamberlain von dem »ehrenvollen Frieden«, den er aus Deutschland mitgebracht habe und der ihn hoffen lasse, daß »zeit unseres Lebens« Friede herrschen werde. Benesch verließ wenige Tage später Prag und ging ins Exil. Die einrückenden deutschen Truppen wurden von der Bevölkerung mit noch einhelligerem Jubel begrüßt, als es in Osterreich der Fall gewesen war. Selbst die schärfsten Gegner Hitlers konnten nun kaum noch daran zweifeln, daß trotz der überstandenen Kriegsfurcht die überwältigende Mehrheit der deutschen Nation als »Volksgemeinschaft« hinter dem Manne stand, der in diesem Augenblick als die Personifizierung des Volksgeistes gelten durfte, jenes Volksgeistes, dessen Willen zur Wiedergutmachung des »Unrechts von Versailles« Lenin und Lansing, Rosa Luxemburg und die Humanité zwanzig Jahre zuvor auf diese oder jene Weise vorhergesagt hatten. (Die Vorhersagen, daß aus dem Versailler Frieden [Versailler Diktat ! Anm. HB] bzw. aus einem Gewaltfrieden [ja: Diktatfrieden! Anm. HB] ein neuer Krieg oder zum mindesten eine heftige nationalistische Reaktion hervorgehen werde, waren 1919 und in den frühen zwanziger Jahren zu zahlreich, als daß sie im einzelnen belegt zu werden brauchten.). Unter weltpolitischen Gesichtspunkten steltl sich die Münchener Konferenz im Rückblick als die letzte Gelegenheit dar, bei der die europäischen Mächte ein europäisches Problem in eigener Regie und unter Ausschluß sowohl der Sowjetunion wie der USA lösten. In diesem Konzert der vier Mächte führte unzweifelhaft Hitler die Stimme.“ (Ebd., 1987, S. 278-279).

„Es war nicht nur das zufällige Ereignis der Ermordung des Legationsrats Ernst von Rath durch den 17jährigen Herschel Grünspan am 7. November 1938 in der Pariser Botschaft des Deutschen Reiches, die das auffallende Wierderhervortreten des Antikommunismus zu weisen schienen.“ (Ebd., 1987, S. 281).

„Das antisemitische Motiv, das immer zu Hitlers genuinsten Beweggründen zählte, auch wenn es manchmal von anderen überdeckt wurde, kam wenig später in einer Weise zum Vorschein, wie es bis dahin noch in keiner öffentlichen Äußerung des »Führers und Reichskanzlers« der Fall gewesen war. In der Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 war nicht so sehr die berühmte und später immer wieder zitierte Voraussage der »Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« (falls das internationale Finanzjudentum die Völker noch einmal in einen Weltkrieg stürze) das Symptomatische und Hervorstechende, denn gleichzeitige Äußerungen lassen es wahrscheinlich sein, daß hier nicht von physischer Vernichtung die Rede war. Weit aufschlußreicher war ein anderer Satz, nämlich: »Über die jüdische Parole ›Proletarier aller Länder, vereinigt euch‹ wird eine höhere Erkenntnis siegen, nämlich: ›Schaffende Angehörige aller Nationen, erkennt euren gemeinsamen Feind‹.« So klar hatte Hitler noch nie der Welt zu erkennen gegeben, daß Antibolschewismus, Antimarxismus und Antisemitismus für ihn eine Einheit bildeten und daß er keineswegs bloß die Revision von Versailles, die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes für das deutsche Volk oder den osteuropäischen Lebensraum eines »Germanischen Reiches« als Ziele hatte, sondern daß er zugleich eine Lehre von der Erlösung der Welt verkündete, die sich grundsätzlich an alle Menschen richtete und die der marxistischen Doktrin genau entsprach, obwohl sie ihr dem Sinne nach entgegengesetzt war, Es ist nicht ausgeschlossen, daß Hitler seinen Antisemitismus auch aus taktischem Kalkül ins Spiel brachte, weil er sich mit den antijüdischen StrÖmungen in England und Amerika verbünden wollte. Er übersah jedoch, daß in England und Amerika zwar gerade innerhalb der Oberschichten eine gewissermaßen selbstverständliche Abneigung gegen die Juden weit verbreitet war, daß aber Chamberlain und Halifax nicht (oder doch?) im ideologischen Sinne Antisemiten waren oder sein konnten. Wenn er nun auf internationaler Ebene ein Bündnis im zeichen des Antikomminismus erstrebte, dann mußte der Antisemitismus kontraproduktiv wirken (oder doch nicht?), anders als gegenüber Hugenberg und Papen in Deutschland.“ (Ebd., 1987, S. 283-284).

„Nichts war für die Deutschen der Weimarer Republik ja schmerzlicher und unerträglicher gewesen als die Existenz des polnischen »Korridors«, der Ostpreußen vom Reichsgebiet trennte, und damit auch die selbständige Existenz der »Freien Stadt Danzig«. Nirgendwo durften sich die Deutschen mit größerem Recht über Benachteiligungen, ja Entrechtungen und Verfolgungen ihrer Landsleute beklagen. Hitler hatte im Januar 1934 die Richtung der Weimarer Republik radikal umgekehrt, und niemand außer ihm wäre dazu in der Lage gewesen. Sein Motiv war offensichtlich die antikommunistische Sympathie mit dem Regime von Marschall Pilsudski, der ja im Jahre 1920 die Bolschewiki vielleicht niedergeworfen hätte, wenn er sich zur Unterstützung der letzten weißrussischen Armee bereit gefunden hätte. Als Hitler Ende Oktober 1938 dem polnischen Botschafter Lipski durch Ribbentrop den Vorschlag machen ließ, einer Rückkehr Danzigs zum Reich zuzustimmen und eine exterritoriale Autobahn sowie eine entsprechende Eisenbahnlinie durch den Korridor zu akzeptieren, da hatte er eine »Generalbereinigung« aller bestehenden Reibungsmöglichkeiten im Auge, welche »die Krönung des vom Marschall Pilsudski und vom Führer eingeleiteten Werkes« sein würde. Der Hintergrund war ganz unverkennbar die Perspektive eines gemeinsamen Kampfes gegen die Sowjetunion, und in den weiteren Gesprächen, die Hitler und Ribbentrop in den folgenden Monaten mit Lipski und dem Außenminister Beck führten, war nicht selten beziehungsreich von der Ukraine die Rede, und eine Ablehnung seitens der Polen war nicht erkennbar. Aber andererseits wies Lipski schon zu Anfang darauf hin, daß Danzig für Polen eine besondere und symbolische Bedeutung habe und daß eine exterritoriale Autobahn eine schwere Einbuße an Souveränität darstelle. Tatsächlich hatte Hitler ja um seiner höheren Ziele willen eine Generalbereinigung mit Italien dadurch zustande gebracht, daß er auf Südtirol feierlich verzichtete. Hier aber verlangte er etwas, wenngleich in der Hauptsache bloß die Aufgabe eines Rechtsverhältnisses, nämlich der Einbezogenheit der Freien Stadt Danzig in das polnische Zollgebiet. Hitler bedachte nicht, daß ein radikalfaschistischer Staat vor der Folie seiner viel weiter gespannten Endziele Verzichtpolitik treiben kann, daß aber ein faschistoider Nationalismus dazu am wenigsten in der Lage ist. So ging die freundschaftliche Atmosphäre der Besprechungen mehr und mehr verloren, die Stimmung der polnischen Öffendichkeit verschlechterte sich sichtlich; man empörte sich darüber, daß Deutschland im Wiener Schiedsspruch eine gemeinsame Grenze zwischen Polen und Ungarn verhindert hatte, und man ging ziemlich scharf gegen die deutsche Minderheit vor.“ (Ebd., 1987, S. 288-289).

„Doch erst der 15. März verhärtete die Situation endgültig. Jetzt war die polnische Öffentlichkeit überzeugt, daß Polen als nächster Staat »an die Reihe kommen« werde; und der deutsche Schutz für die Slowakei bedeutete ja unzweifelhaft eine außerordendiche Verschlechterung der strategischen Lage Polens, wenn es sich als Gegner und nicht als Bündnispartner des Deutschen Reiches betrachtete. Trotzdem stimmte Beck dem nächsdiegenden aller Vorschläge nicht zu, den nun die britische Regierung machte: daß Polen zusammen mit England, Frankreich und der Sowjetunion eine Erklärung abgeben solle, die den Willen zum gemeinsamen Widerstand gegen jede Bedrohung der politischen Unabhängigkeit irgendeines europäischen Staates zum Ausdruck bringen würde. Sogar eine Politik des großen Widerstandes mußte für das Polen des siegreichen Krieges gegen Sowjetrußland von 1920 gefahrvoll sein, und das polnische Obristenregime konnte die unverkennbare Tendenz zum ideologischen Antifaschismus noch viel weniger akzeptieren als die Regierung der Konservativen Partei in England. So plädierte Beck für ein zweiseitiges Abkommen, und am 31. März gab Chamberlain im Unterhaus eine Erklärung ab, die britische Regierung werde der polnischen Regierung alle in ihrer Macht liegende Unterstützung gewähren, wenn eine Aktion eintrete, »welche die polnische Unabhängigkeit klar bedrohen und gegen welche die polnische Regierung entsprechend den Widerstand mit ihrer nationalen Wehrmacht als unerläßlich ansehen würde«. Die Formulierung war nicht ganz klar, und Hiders Vorschläge bedrohten die Unabhängigkeit Polens nicht notwendigerweise. Aber man konnte diese Erklärung als eine einseitige - und in der englischen Geschichte völlig präzedenzlose - Garantie ansehen, welche die britische Regierung zur bewaffneten Intervention verpflichtete, selbst wenn bloß die Danziger Regierung den Anschluß an das Reich erklären und wenn Polen mit Waffengewalt dagegen vorgehen würde. Die Entscheidung über Krieg und Frieden wurde also in die Hände der Polen gelegt, obwohl Beck in London wesendiche Tatbestände verschwiegen hatte und obwohl Henderson die deutsche Sache »keineswegs ungerechtfertigt oder unmoralisch«, die Polen jedoch »heroisch, aber auch Narren« nannte. Sogar unter führenden Polen gab es große Bedenken, und der polnische Botschafter in Paris, Juliusz Lukasiewicz, sprach sich sehr negativ über die innenpolitischen Motive Chamberlains aus, die nach seiner Meinung auf einen »ideologischen Kampf gegen den Hitlerismus« und auf die Hervorrufung eines Umsturzes in Deutschland abzielten.“ (Ebd., 1987, S. 289-290).

„Beck wiederum leitete aus Hitlers Antikommunismus gerade die Überzeugung ab, daß er schlechterdings außerstande sei, eine antipolnische Abmachung mit der Sowjetunion auch nur ins Auge zu fassen.“ (Ebd., 1987, S. 290).

„So wären die Verhandlungen um einen wechselseitigen Beistandspakt, die während der Sommermonate zwischen den Westmächten und der Sowjetunion geführt wurden, auch dann nicht sehr aussichtsreich gewesen, wenn man sich tatsächlich auf eine gemeinsame Linie des Kampfes gegen den Hitlerfaschismus hätte einigen können. Es ging ja zunächst um Polen, und Polen konnte nur dann Hilfe gegen Deutschland erwarten, wenn es den sowjetischen Truppen den Einmarsch gestattete. Das aber würde nach der Überzeugung Becks und des Marschalls Rydz-Smigly den Verlust jener Ostgebiete nach sich ziehen, die man im Frieden von Riga den Russen abgenommen hatte, und so gut wie niemand war in Polen bereit, dem sowjetischen Beelzebub Brest-Litowsk und Lemberg auszuliefern, um Danzig gegen den deutschen Teufel verteidigen zu können. Da die Sowjetunion überdies die Frage der Sicherheit der baltischen Randstaaten zum Thema machte, waren die Verhandlungen noch über das Maß des Wahrscheinlichen hinaus von tiefstem gegenseitigen Mißtrauen erfüllt, denn die Russen fürchteten, die Westmächte wollten die Sowjetunion und Deutschland sich auf den polnischen Schlachtfeldern wechselseitig erschöpfen lassen, und im britischen Auswärtigen Amt war die umgekehrte und ältere Vermutung noch ganz lebendig, es komme der Sowjetunion darauf an, die Westmächte in einen Krieg mit Deutschland zu verwickeln, um später ganz Europa beherrschen und dem Sowjetsystem unterwerfen zu können. So machten die Verhandlungen, die im Juli und August von einer englisch-französischen Militärmission in Moskau mit Marschall Woroschilov geführt wurden, nur langsame Fortschritte. Da schlug wie ein Blitz aus mäßig bedecktem Himmel die Nachricht ein, am 23. August werde der Reichsaußenminister von Ribbentrop in Moskau eintreffen, um einen Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion abzuschließen. Auch die antifaschistische Konzeption, die nie mehr als eine Tendenz innerhalb der Politik des großen Widerstandes gewesen war, war nun gescheitert. Die anscheinend aus ideologischen Gründen unmögliche und lange Zeit kaum beachtete fünfte Hauptmöglichkeit der Weltpolitik hatte sich durchgesetzt: die Verständigung zwischen den Feinden, welche eine Wiederaufnahme der Rapallo- Politik zu sein schien. Dadurch wurde der drohende Weltkrieg abgewendet, aber auch die wahrscheinlichere Fesselung Hitlers gesprengt: Das Startzeichen zum europäischen Teilkrieg war gegeben, falls die Westmächte daran festhielten, ihre Verpflichtungen Polen gegenüber zu erfüllen.“ (Ebd., 1987, S. 290).

„Hitler ... bot ... der Welt noch einmal das Gesicht des bloßen Revisionisten, des Kämpfers gegen das Unrecht von Versailles. .... Die Lage Polens war hoffnungslos. Sehr viel (alles!) sprach für die Richtigkeit von Hitlers Prophezeiung, das britische Empire werde einen Krieg in keinem Falle überleben.“ (Ebd., 1987, S. 298).

„So schloß Hitler um eines relativ geringen Vorteils wille ein Bündnis mit seinem Feind und griff seine Freunde an,“ (Ebd., 1987, S. 299).

„Erst mit dem Kriegsausbruch gelangte der Nationalsozialismus in sein spezifisches und jedenfalls biologisches Vernichtungswesen, während der Bolschewismus seinen Willen zur sozialen Vernichtung von den ersten Anfängen seiner Herrschaft an ... an den Tag gelegt hatte.“ (Ebd., 1987, S. 270).

„Am 5. September (1939) veröffentlichte die Times den Text eines Offenen Briefes, den Dr. Chaim Weizmann, der Vorsitzende der »Jewish Agency for Palestine«, an den britischen Premierminister gerichtet hatte. Darin bekräftigte Wiezmann die schon vor dem 1. September abgegebene Erklärung, daß die Juden auf der Seite Großbritanniens stehen und zusammen mit den Demokratien (?) kämpfen würden. Gewiß war die »Jewish Agency for Palestine« nicht die Regierung eines Staates, aber sie war auch keineswegs eine bloße private Organisation. Und wenn irgend jemand in der Welt für alle Juden und nicht bloß für die Juden Palästinas sprechen durfte, dann war es Chaim Weizmann, der 1917 der Verhandlungspartner von Lord Balfour gewesen war und der viele Jahre lang an der Spitze der zionistischen Weltorganisation stand. Es ist daher keinneswegs von vornherein abwegig, von einer »jüdischen Kriegserklärung an Hitler« z usprechen. .... Hitler hatte sich eine Menschengruppe zum Todfeind gemacht, die zwar längst nicht so mächtig war, wie er wieder und wieder behauptete, die aber in England un den USA über großen Einfluß verfügte.“ (Ebd., 1987, S. 300-301).

Strukturen zweier Einparteistaaten
„Die Behauptung ist zulässig, daß die Kommunistische Partei Sowjetrußlands von ihrer Frühzeit an auch in einem engeren Sinne eine »Führerpartei« war, ja daß sie einen wahren Führerkultr ausbildete, der sogar von sympathisierenden Beobachtern angesichts des Lenin-Mausoleums häufig »Reliquienkult« genannt und mit religiösen Phänomenen verglichen wurde.“ (Ebd., 1987, S. 325).

„Eine Fülle von Materialliegt dagegen in bezug auf die NSDAP vor, die sich ja vor ihrer Machtergreifung 14 Jahre lang im Schoße einer Gesellschaft entwickelte, die sich durch kein grundlegendes soziales Merkmal von anderen europäischen Gesellschaften unterschied. Alle diese Gesellschaften sind als kleinbürgerliche Gesellschaften zu charakterisieren, d.h. sie bestehen nicht in der großen Mehrheit aus Bauern und Arbeitern, sondern sie verfügen über eine vergleichsweise sehr breite Mittelschicht, die sich einer vermittelnden und organisierenden Tätigkeit widmet. (**). Zusammen mit den alten Klassen des Bildungsbürgertums und des Kleinadels macht sie unterhalb der Oberschicht aus Großbürgertum und Aristokratie nicht viel weniger als die Hälfte der Bevölkerung aus und bildet nicht so sehr eine Klasse wie eine alldurchdringende Atmosphäre, gleichsam das Filtrierbecken der Nation und der Gesellschaft, das niemals eine einheitliche politische Position einnimmt und mit der Oberschicht der Arbeiterklasse ebenso eng verbunden ist wie mit dem »werktätigen« Teil des Großbürgertums. Wegen dieser Vielfalt hat die Mittelschicht nie ein Heldenbild ihrer selbst entwickelt, sondern sich vielmehr unablässig kritisiert und eben dadurch eine Bewegtheit in die Gesellschaft gebracht, die einer kriegerischen Adelsgesellschaft so fremd ist wie einem Staat aus Kleinbauern. 1870 und noch 1920 war es eine Frage, ob dieses Grundelement aller westlichen Gesellschaften im Rückgang begriffen war oder im Vordringen, und Karl Marx hat keineswegs nur die eine These aufgestellt, sondern auch die andere. Man konnte sogar mit einem Körnchen Salz behaupten, der Begriff des revolutionären Proletariats sei wie überhaupt der Sozialismus eine Erfindung des Kleinbürgertums, weil er der Abneigung von Menschen kleinbürgerlicher Herkunft gegen bestimmte und in der Tat oft obsolete Züge ihrer Jugendwelt entsprungen sei. Jedenfalls sagt man nichts Gehaltvolles, wenn man die NSDAP als kleinbürgerliche Bewegung bezeichnet und immer wieder Feststellungen bestätigt oder geringfügig modifiziert, die bereits in der offiziellen »Partei-Statistik« von 1935 zu finden sind und die zeigen, daß die Arbeiter in der Partei mit 32% gegenüber dem Anteil von 47% in der Bevölkerung unterrepräsentiert sind und daß dieser Anteil bei den Kreisleitern bis auf 8% gesunken ist. Vergleichbare Tatbestände, nämlich Abweichungen von einer vorgestellten oder postulierten Gleichheit der Repräsentation, finden sich in allen Staaten und Parteien, wo der Begriff der Repräsentation etwas zu besagen hat, und das kennzeichnende am Nationalsozialismus ist ausschließlich der vergleichsweise sehr hohe Arbeiteranteil innerhalb einer Mittelstandsbewegung? Ebensowenig gehaltvoll ist die These von den »Deklassiertem«, die bis zu einem gewissen Grade für jede radikale Partei zutrifft. Im übrigen ist »Deklassierung« in solchen Fällen häufiger die Folge als die Ursache der Tätigkeit für eine Partei, und so war es auch bei der NSDAP. Die relative Zahl der Parteigenossen in einzelnen Regionen hing viel weniger von der sozialen Zusammensetzung ab als von außersoziologischen Faktoren wie Grenznähe, Konfession und freiwilliger Teilnehmerschaft am Kriege. Nicht zuletzt war die NSDAP wie die KPdSU eine Partei der Jugend. Weitaus erhellender als statistische Aufstellungen über Anteile an jeweils erst zu definierenden Klassen oder Schichten ist eine frühe Aussage Clara Zetkins aus dem Jahre 1923, faschistische Parteien beständen tendenziell aus den stärksten und entschlossensten (und, wie man wohl ergänzen muß, erregbarsten) »Elementen aller Klassen« (Ernst Nolte [Hrsg.], Theorien über den Faschismus, 1967, S. 92). Mit ebensogroßem Recht könnte man sagen, die bolschewistische Partei habe 1917 aus den energischsten und aktivsten Elementen der russischen und nicht-russischen Intelligenz sowie der Arbeiter bestanden. Die entscheidende Frage aber, aus welchen Gründen sich in Rußland bzw. in Deutschland diese Elemente zu einer Partei zusammengeschlossen haben, ist nicht durch die Soziologie, sondern nur durch die Geschichte zu erklären. Zwar läßt sich die Unterschiedlichkeit der beiden Parteien aus soziologischen und historischen Gegebenheiten einigermaßen verständlich machen, doch ihre Entwicklung und zumal die Machtergreifung resultieren aus ganz spezifischen Situationen und Ereignissen. Aber wenn diese Machtergreifungen auch keineswegs bloße Coups waren oder auf Intrigen bzw. banale Zufälle zurückgeführt werden können, so fanden die neuen Staatsparteien doch in allen Schichten der Gesellschaft immerhin so viel Widerstand, daß sie ohne machtvolle Organe der Durchsetzung und Sicherung ihrer Herrschaft nicht auskommen konnten. Diese Organe waren nächst den Parteien das wichtigste Strukturelement derjenigen Staatsform, für die schon vor 1933 der Terminus totalitär in Gebrauch kam.“ (Ebd., 1987, S. 336-337).

„Die Wehrmacht diente von Anfang an ausschließlich der der äußeren Sicherheit des Staates, und noch 1937 mochte mancher General der Meinung sein, die nationalsozialistische Bewegung habe den Sinn, die Sicherheit der Wehrmacht zu garantieren, d.h. sie ermöglichte die Wiederherstellung der Wehrfreiheit, die durch Versailles der ehemals besten Armme der Welt entzogen worden sei. Sogar der Sieg über Frankreich, der weitgehend ein Triumph Hitlers war, änderte nichts daran, daß die Wehrmacht von direkten Einflüssen der Partei und erst recht der SS in erstaunlichem Maße frei war, obwohl zahlreiche junge Offiziere sich der Partei ang verbunden fühlten.“ (Ebd., 1987, S. 337).

„»Genossen, schlagt die rechten Sozialrevolutionäre ohne Gnade, ohne Mitleid, Gerichtshöfe und Tribunale sind nicht nötig. Der Zorn der Arbeiter soll toben ..., rottet die Feinde physisch aus.« (Severnaia Kommuna vom 04.09.1918). (**).“ (Ebd., 1987, S. 339).

„Tatsächlich wäre die Behauptung unberechtigt, die SS und das Reichssicherheitshauptamt hätten Deutschland 1939 oder selbst zu Anfang 1941 so vollständig beherrscht, wie der NKWD als Instrument Stalins die Sowjetunion beherrschte. Nicht nur war der durchschnittliche Lebensstandard der Bevölkerung um ein sehr beträchtliches höher, sondern in Deutschland hatten sich wichtige Bestandteile des Liberalen Systems in beachtlichen Resten erhalten: eine zwar reglementierte, aber immer noch relativ freie Wirtschaft, die zahlreichen Regimegegnern Unterschlupf bot; eine Wehrmacht, in der es keine Parteizellen und schon gar keine »Besonderen Abteilungen« der Politischen Polizei gab; eine Justiz, die nicht selten noch ein erhebliches Maß an Selbständigkeit an den Tag legte; Kirchen, die oft genug das Regime des eigenen Landes meinten, wenn sie gegen die Konzentrationslager der Sowjetunion predigten. So totalitär Deutschland 1939 neben England und Frankreich erschien, so liberal mußte es sich für jeden ausnehmen, der einen genuinen Vergleich mit der Sowjetunion anstellen konnte. Das gilt auch für die Konzentrationslager und nicht nur unter quantitativen Gesichtspunkten. Als der ehemalige Kommunist und Stellvertretende Volkskommissar Karl Albrecht 1934 von der GPU nach Deutschland entlassen und gleich wieder von der Gestapo in Gewahrsam genommen wurde, da nahm er vor allem »die musterhafte Hygiene und Sauberkeit« wahr, und ein Alptraum fiel von ihm ab, da er »keine nächtlichen Todesschreie« mehr zu hören brauchte. (Vgl. Karl Albrecht, Der verratene Sozialismus, 1939, S. 625). Tatsächlich resultierte sie ja zu einem guten Teil aus dem Frieden, der in Deutschland auch nach 1933 herrschte. Aber die Friedenszeit war nur die erste Hälfte des nationalsozialistischen Regimes und vermutlich die weniger charakteristische. Das nationalsozialistische Regime hatte sich in keinem mit den Waffen ausgetragenen Bürgerkrieg behaupten müssen, aber Adolf Hitler sagte den Generälen 1939 mit klaren Worten, er habe die Wehrmacht nicht aufgestellt, um nicht zu schlagen, und der Vorblick auf den Krieg war diesseits aller Friedensbeteuerungen eine Grundtatsache schon der Jahre von 1933 bis 1937.“ (Ebd., 1987, S. 347-348).

„Handelte es sich in der HJ um eine totalitäre Erziehung? Dagegen scheint zu sprechen, daß die HJ ihren quantitativ umfassenden Anspruch qualitativ zu beschränken schien: Schule und Elternhaus wurden als gleichwertige Erziehungsmächte ausdrücklich anerkannt. Zwar wurde vorausgesetzt, daß Schule und Elternhaus nicht antinationalsozialistisch waren, aber eine positive Übereinstimmung wurde nicht verlangt: Zahllose Elternhäuser in Deutschland hatten dem Regime gegenüber erhebliche Vorbehalte, und in vielen deutschen Schulen waren allenfalls die Turn- und Biologielehrer Nationalsozialisten, während die große Mehrzahl der Lehrer am ehesten noch den Geist der nationalen Erhebung zu bewahren suchte. Insofern blieb auch hier der soziale Pluralismus erhalten, und bis zum Ende des Dritten Reiches war es in Deutschland unvorstellbar, daß ein Zwölfjähriger, wie in der Sowjetunion, für den eigenen Vater im Rahmen einer Säuberung die Todesstrafe fordern könnte. (Vgl. Michail Heller-Alexander Nekrich, Geschichte der Sowjetunion, 1981, Band I, S. 198). Aber wenn auch kein Pawlik Morozov zum Nationalhelden erhoben wurde, so fürchteten sich doch zahlreiche Eltern, in Gegenwart ihrer fanatischen Kinder ein regimefeindliches Wort zu sagen, und es existierten auch einige Einbruchstellen organisatorischer Art. So wurden die »Adolf-Hitler-Schulen« von der HJ getragen, und sie unterstanden nicht dem Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, sondern der Reichsjugendführung. Die Kinderlandverschickung war nicht nur eine Notmaßnahme, sondern sie war auch gegen den Einfluß des Elternhauses gerichtet. Außerdem wurde sogar der Begriff der Erziehung durch das Prinzip der Führung der Jugend durch die Jugend selbst anscheinend aufgehoben. Aber das Ziel war nicht etwa eine Jugendwelt, sondern die Vorbereitung zum Militärdienst, und zwar mehr in einem inneren als in einem äußerlich-technischen Sinne. Adolf Hitler hatte sein Erziehungsideal in »Mein Kampf« mit klaren Worten beschrieben: »Die gesamte Erziehungsarbeit des völkischen Staates muß ihre Krönung darin finden, daß sie den Rassesinn und das Rassegefühl instinktund verstandesmäßig in Herz und Gehirn der ihr anvertrauten Jugend hineinbaut. .... Der völkische Staat hat in dieser Erkenntnis seine gesamte Erziehungsarbeit nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. ..« (Adolf Hitler, Mein Kampf, 1925-1926, S. 452). In Wahrheit erfolgte sie nicht »erst in zweiter Linie«, sondern eigentlich überhaupt nicht, da sie einerseits einer im Kern unveränderten Schule überlassen blieb und andererseits im Bereich der HJ allenfalls im Sinne der Vorbereitung auf die Reichsberufswettkämpfe verstanden wurde. In der Tendenz handelte es sich also um einen radikalen Gegenschlag gegen den »Intellektualismus« der Erziehung, den Hitler offenbar als ein Produkt »jüdischer Zersetzung« betrachtete und der doch in Wahrheit zugleich Folge und Voraussetzung der modernen Entwicklung ist. Insofern war Lenin unvergleichlich moderner, der dem Komsomol den Satz »Lernen, lernen, lernen« einzuhämmern versuchte. (Die Sowjetunion war ja ein sehr unterentwickeltes Land gegenüber dem Westen, während Deutschland schon sehr lange und immer noch an der Weltspitze [Platz 1] stand; Anm. HB). Aber gerade dadurch bewies er auch wiederum, daß er in weit weniger modernen Verhältnissen agierte, wo Fortschritt und Modernität sich noch längst nicht so sehr entfaltet hatten, daß sie in ihrer potentiellen Gefährlichkeit erkennbar wurden. Und die subtilste Konsequenz totalitärer Erziehung hatte sich ja in Lenins Verachtung der »alten Intelligenz« schon deutlich genug abgezeichnet: Nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland, sondern mehr noch im bolschewistischen Rußland wurde die Möglichkeit kritischen Vergleichs und autonomer Besinnung an der Wurzel abgeschnitten und durch die vorbehaltlose Preisung der Partei und ihres Führers ersetzt. Aber wie hätte es andererseits einen größeren Gegensatz geben können als denjenigen zwischen der Forderung der Komsomol, die materialistische Auffassung von den Naturerscheinungen zu verbreiten und Dorflesestuben einzurichten auf der einen und Hitlers Äußerung auf der anderen Seite, er wolle seine Jugend »flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart weie Kruppstahl« (ebd., S. 452)? So waren Komsomol und Hitlerjugend, nicht anders als GPU und Gestapo, einander ebenso unähnlich wie ähnlich.“ (Ebd., 1987, S. 355-357).

„Eine Partei, die nur Propagnada zu treiben vermag und kein Lied sowie keine romanhafte Darstellung von Rang hervorzubringen vermag, ist eine bloße Interessenvertretung oder Machterwerbsgesellschaft. Ein Staat, in dem bloß derartige Parteien existieren, wäre weder totalitär noch würde er dem Liberalen System zuzuzählen sein, sondern er wäre lediglich eine kommerzielle Gesellschaft.“ (Ebd., 1987, S. 358).

„Das Dritte Reich war ein Reich der Feiern als Selbstzweck und Selbstdarstellung - daran entzündete sich die scharfe Kritik Oswald Spenglers. Aber in diesen Feiern stellte es einen schroffen Gegensatz zur Weimarer Republik dar, die dagegen grau und nüchtern ausgesehen hatte, und es war nicht auszuschließen, daß die Feiern die Kraft und die Erfolge schaffen sollten, die nach Spenglers Meinung ihre Vorbedingung sein mußten. Die Termine des nationalsozialistischen Feierjahres lese sich wie Festkalender der katholischen Kirche:
Der 30. Januar jedes Jahres war der »Tag der Machtergreifung« mit dem Traditionsmarsch der Fackelträger durch das Brandenburger Tor; im März stand der »Heldengedenktag« im Mittelpunkt, wie der »Volkstrauertag« der Weimarer Republik jetzt hieß; der 20. April, der »Geburtstag des Führers«, wurde meist mit einer gewaltigen Parade gefeiert; am 1. Mai, dem »Tag der nationalen Arbeit«, prangte ganz Deutschland in Grün und Fahnen, und in Berlin allein marschierten anderthalb Millionen Arbeiter und Angestellte zum Tempelhofer Feld; am 21. Juni sprachen viele Parteiführer in allen Teilen des Reiches zur »Sommersonnenwende« vor leuchtenden Feuern; der September war der Monat der alljährlichen Reichsparteitage, die auch für Ausländer sehr eindrucksvolle Schauspiele waren, weil sie für alle Sinne bewegende Eindrücke und für uralte Schauer Befriedigung boten; Anfang Oktober fand das »Erntedankfest« auf dem Bückeberg bei Hameln statt; der 9. November war der Gedenktag der Gefallenen der Bewegung, an dem in München die 16 Särge der am 9. November Gestorbenen unter Trommelwirbel von der Feldherrnhalle zum Königlichen Platz gefahren wurden, wo nach dem Vorbild des italienischen Faschismus die Toten mit Namen aufgerufen wurden und Stimmen von Hitlerjungen mit einem lauten »Hier« antworteten; der Dezember blieb vom Weihnachtsfest beherrscht, aber dessen Umgestaltung zur »Wintersonnenwende« wurde für die Zeit nach dem Kriege vorgesehen.
All das war kein bloßer Rummel, und auch mit dem Terminus panem et circenses ist es schwerlich angemessen beschrieben. Aber da die Feier so sehr Selbstzweck war und so ausschließlich die irrationalen Kräfte im Menschen ansprechen wollte, fiel weit stärker als in der Sowjetunion und bei den deutschen Kommunisten die Distanz zwischen dem emotionalen Inhalt und der rationalen Inszenierung bzw. Organisation ins Auge. (**). Daher war die Propaganda keine bloße Fortsetzung von Lied und Feier. Solange sie noch vor allem Polemik gegen »Versailles« war und immer wieder »Deutschlands blutende Grenzen« zeigte, konnte sie in Schule und Öffentlichkeit an manche Aktivitäten der Weimarer Republik anknüpfen. Aber kein Leiter der »Reichszentrale für Heimatdienst« hätte sich jemals so kühl und zynisch über die Notwendigkeit der Lüge, der Primitivität und der Wiederholung als unentbehrlicher Propagandamittel geäußert, wie Hitler es in »Mein Kampf« getan hatte. Joseph Goebbels wäre als Generaldirektor einer großen Werbefirma durchaus vorstellbar und vermutlich sehr erfolgreich gewesen. Die außerordentlichen Möglichkeiten des Rundfunks erkannte er sogleich und nutzte sie klug: 1938 wurden sogar »Reichslautsprechersäulen« aufgestellt. Die Führerreden wurden regelmäßig über alle deutschen Sender übertragen, und sie wirkten auch in diesem Medium, obwohl ihre Schwächen bei der Isolierung, der Stimme leichter erkennbar waren als im mannigfaltigen Kontext der Massenversammlungen. Die Presselenkung war ein Werk gekonnter Regie durch Goebbels, aber selbst er konnte die deutsche Presse nur auf einen Hauptton stimmen, und beträchtliche Reste der alten Mannigfaltigkeit blieben erhalten, anders als in der Sowjetunion, wo die Propaganda der partei das Leben bis in die hintersten Winkel durchdrang.“ (Ebd., 1987, S. 368-370).

„Der damals bedeutendste Philosoph schlug sich ebsno auf die nationalsozialistische Seite wie der bekannteste Jurist. Allerdings dachte Heidegger schon 1934 um, und auch Carl Schmitt wurde der Partei am Ende verdächtig. .... Karl Jaspers’ »Geistige Situation der Zeit« von 1930 stand der Konservativen Revolution nahe.“ (Ebd., 1987, S. 386).

„Von einer braunen Universität konnte man indessen keinesfalls sprechen. Zwar fand eine Hochschulrevolution in der Tat statt, aber sie wurde von den Studenten initiiert, und auch hier spielten alte Motive eine Rolle, wie etwa der Kampf gegen die »Ordinarienherrschaft« und für studentische Mitbestimmung.. Die Sponaneität von unten wurde jedoch bald durch straffe Autorität von oben abgelöst, denn der Rektor und die Dekane wurden jetzt zu Vorgesetzten und »Führern«. Allerdings herrschte weiterhin viel unzufriedenheit unter den Jungen, die nicht durchweg jung an Jahren waren, aber eine nationalsozialistische Wissenschaft wollten. dazu gehörten etwa Ernst Krieck, Alfred Baeumler und Walter Frank.“ (Ebd., 1987, S. 386-387).

„In Deutschland hatte der »Rechtsstaat« eine viel ältere und gefestigtere Tradition ...: Der Begriff der Gleichheit aller Staatsangehörigen vor dem Gesetz war seit langem mit dem Konzept der Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, der Offentlichkeit der Rechtspflege, der richterlichen Nachprüfbarkeit von Verwaltungsentscheidungen sowie dem Grundsatz »nulla poena sine lege« verknüpft und dadurch zu einer Realität geworden. Nur auf diese Weise konnten die sozialen und politischen Auseinandersetzungen zugleich »veröffentlicht« und »gezähmt«, d.h. sowohl erleichtert wie zur Gewaltlosigkeit gebracht werden. Seiner Intention nach war der liberale Rechtsbegriff indessen nicht auf innerstaatliche Verhältnisse beschränkt: Er implizierte, wie es schien, die Gleichheit aller Menschen ohne Ansehen der Rasse, der Abstammung und der Konfession. Aber in dieser Gestalt erwies er sich erst recht als Grenzbegriff, der sich mit der Realität nicht in Übereinstimmung befand: Nirgendwo in der Welt haben Ausländer dieselben Rechte wie die Staatsbürger, sogar innerhalb eines Staates ist vollständige Gleichbehandlung nicht immer möglich, denn in unruhigen und erst recht in revolutionären Zeiten behandelt jeder Staat den gleichen Tatbestand anders, je nachdem, ob er von der Intention der Untergrabung oder der Stützung der Staatsgewalt getragen wird, und die Tatsache der Kriegsgerichtsbarkeit impliziert einen essentiellen Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten. Es läßt sich auch nicht verkennen, daß der liberale Rechtsstaatbegriff zu einem Rechtsmonopol des Staates führt und als »Rechtspositivismus« das Band mit der anthropologischen Grundlage zerschneidet, die allein so etwas wie »unveräußerliche Menschenrechte« legitimieren und einer etwaigen Willkür von Mehrheitsentscheidungen Grenzen setzen kann.“ (Ebd., 1987, S. 392).

„Jedenfalls war die liberale Rechtsordnung von allen Rechtssystemen, die es nach dem Ersten Weltkrieg gab, zweifellos diejenige, die ihren eigenen Feinden den weitesten Freiheitsraum und die größten Wirkungsmöglichkeiten gewährte. Im zaristischen Rußland hatte es derartiges so wenig gegeben wie in den islamischen Ländern der Herrschaft der »Scharia«, und die Revolution des Bolschewismus hielt gerade dieses Prinzip der Ungleichbehandlung von Gläubigen und Ungläubigen fest, ja sie verschärfte es in einer bis dahin unbekannten Weise.“ (Ebd., 1987, S. 392).

„Dieser Tatbestand, der sich in ganz Europa und insbesondere in Deutschland auswirkte, stellte das liberale Rechtssystem vor eine elementare Entscheidung: Sollte das Prinzip festgehalten werden, obwohl die Andersartigkeit der Realität nicht zu übersehen war, oder sollte eine neuartige Identität von Recht und Realität angestrebt werden, indem Grundsätze entwickelt wurden, die der gesellschaftlichen und staatlichen Kampfsituation besser entsprachen?“ (Ebd., 1987, S. 392).

„Die zweite Alternative war die Konzeption des Nationalsozialismus ( und vorher bereits des italienischen Faschismus): Recht galt hier nicht als die freilich nur unvollkommene Überwindung der gesellschaftlichen und staatlichen Auseinandersetzungen durch die friedliche Regelung der unvermeidbaren Konflikte, so daß eine Koexistenz des Verschiedenen ermöglicht wurde, sondem gerade als Ausdruck und Instrument dieser Auseinandersetzungen. Genau dies war von jeher der Kern des sowjetischen und des marxistischen Rechtsbegriffs, und Carl Schmitts Lehre vom Ausnahmezustand, vom Ungenügen der Norm und vom Wesen des Politischen als eines Freund-FeindVerhältnisses war eine Antwort und Entsprechung. Das Schicksal der Weimarer Justiz entschied sich dadurch, daß sie den kommunistischen Frontalangriff auf das bürgerliche Recht weit stärker wahrnahm als den nationalsozialistischen Angriff vom Rücken her, der zunächst eine Hilfsaktion zu sein schien und dennoch aus feindlicherem Geist hervorging als jener Frontalangriff, weil er die Rechtlosigkeit bestimmter Gruppen nicht als temporäre Notmaßnahme zur Erreichung einer späteren und vollkommeneren Rechtsund Lebensgleichheit ansah, sondern als den Ausdruck des ewigen Rechtes selbst. Diese Auffassung wurde jedoch erst allmählich herausgearbeitet und institutionell fIXiert; während des ganzen Dritten Reiches blieben die überlieferte Rechtsauffassung und das vorhandene Rechtssystem existent, und Adolf Hitler konnte in keinem Augenblick sagen, er habe den Kampf gegen die »reaktionären Juristen« definitiv gewonnen.“ (Ebd., 1987, S. 393).

„Allerdings wurden schon während der ersten Monate des Dritten Reiches große Schritte auf dem Wege zu einem Rechtssystem getan, in welchem Recht und Politik miteinander identisch sein würden. Die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933 schuf zwar ein politisches Sonderrecht, das sich zugunsten der regierenden Partei auswirken mußte, sie unterschied sich aber noch nicht prinzipiell von vergleichbaren Maßnahmen der Weimarer Republik wie etwa dem Republikschutzgesetz. Dagegen bedeutete die sogenannte Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar - die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat - die Abschaffung der Grundrechtsbestimmungen der Weimarer Verfassung, und sie enthielt keine Sicherungen für den Ausnahmecharakter der Maßnahmen »zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte«. Insofern war dadurch der Rechtsstaat bereits beseitigt und permanentes Standrecht an seine Stelle gesetzt, das nur als »gesunde Volksordnung« zu legitimieren war. Ebenso wichtig war die Abschaffung des Grundsatzes »nulla poena sine lege«, welche schon in der Kabinettssitzung vom 7. März unter Hinweis auf den Brandstifter van der Lubbe vom Reichsinnenminister Frick gefordert wurde, während der Staatssekretär im Reichsjustizministerium Schlegelberger vergeblich mit dem Hinweis widersprach, nur in Rußland und China sowie in einigen kleineren Kantonen der Schweiz gelte dieses Prinzip nicht. (Vgl. Akten der Reichskanzlei). Die Gesetze zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April und zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom Juli schlossen ebensosehr eine bewußte Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien in sich. Die Einführung von Sondergerichten am 21. März 1933 war also nur einer der Schritte, mit denen eine politische Kampfjustiz geschaffen werden sollte; die Bildung des Volksgerichtshofes am 24. April 1934, der in Hoch- und Landesverratssachen an die Stelle des Reichsgerichts trat, war ein vorläufiger Höhepunkt. Die Aktionen des 30. Juni 1934 ließen sich schlechterdings nur noch als Staatsmorde bezeichnen, aber selbst sie wurden von dem hervorragendsten Rechtslehrer des Reiches, von Carl Schmitt, mit den Sätzen gerechtfertigt, die Rechtsblindheit des liberalen Gesetzesdenkens habe aus dem Strafrecht die Magna Charta des Verbrechers gemacht und aus dem Verfassungsrecht in gleicher Weise die Magna Charta der Hoch- und Landesverräter; die Tat des Führers unterstehe nicht der Justiz, sondern sei selbst höchste Justiz gewesen. (Vgl. Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf - Versailles, 1923-1939, S. 200). Damit wies Carl Schmitt in die Richtung einer Über-Entsprechung, die das sowjetische Beispiel auch in Gedanken ebenso übertraf, wie Hitlers Handlungsweise es im Falle Röhm bereits faktisch übertroffen hatte.“ (Ebd., 1987, S. 393-294).

„Die Bemühungen um eine Strafrechtsreform, die vor allem von dem Reichsrechtsführer Hans Frank vorangetrieben wurden, hatten aber eher das Ziel, der sowjetischen »Klassenjustiz« eine »völkische Justiz« entgegenzustellen, deren Ziel darin bestehen sollte, »die konkrete völkische Gemeinschaftsordnung zu wahren, Schädlinge auszumerzen, gemeinschaftswidriges Verhalten zu ahnden und Streit unter den Gemeinschaftsgliedern zu schlichten« (Deutsche Rechtswissenschaft, Hrsg.: Karl August Eckhardt, Band I, 1936, S. 123). Eine demokratische Tendenz war in der Polemik gegen »volksfremde Juristen« und in der Forderung zu erkennen, juristisches Wirken müsse »volksnah und nicht standesnah« sein. Die »Nürnberger Gesetze« ließen sich mit dieser Denkweise leicht vereinbaren, denn die Ausrichtung am Blut als dem Grundtatbestand hatte ja auch schon dem Beamtengesetz oder dem »Reichsgesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft« vom 7. April 1933 zugrunde gelegen, das die Zahl der preußischen Notare um ein volles Drittel reduzierte. Die Strafrechtsreform kam jedoch als kodifizierter Vorgang nicht recht weiter, und sie vollzog sich in der Praxis eher unter der Hand durch die Zurückdrängung der Justiz von seiten der Gestapo und durch die Schaffung einer justizfreien Bestrafung durch administrative Einweisungen in Konzentrationslager.“ (Ebd., 1987, S. 394).

„Aber beim Ausbruch des Krieges war die »alte Justiz« noch keineswegs beseitigt, die Zahl der Häftlinge in Konzentrationslagern kam den sowjetischen Zahlen bei weitem nicht gleich; und auch die Juden waren nicht etwa völlig rechtlos, so gewiß sie unter Sonderrecht standen und so gewiß die Arisierungen in der Wirtschaft von simplen Konfiskationen nicht mehr sehr weit entfernt waren.“ (Ebd., 1987, S. 394-395).

„Vielmehr waren in Deutschland bis zum Kriegsausbruch und darüber hinaus erstaunliche Gerichtsurteile möglich. So wurde noch im Mai 1935 die Anfechtbarkeit von Verfügungen der Gestapo bejaht. Um die gleiche Zeit wurde der sog. Hohnsteiner Prozeß gegen den SA-Obersturmbannführer Jähnichen und 22 Mitangeklagte durchgeführt, die im Frühjahr 1933 Häftlinge im Konzentrationslager Hohnstein mißhandelt hatten. Trotz massiven Drucks der Partei wurden schwere Gefangnisstrafen ausgesprochen. In der Folge wurden die beiden Schöffen aus der NSDAP ausgeschlossen, und Hitler erließ die Reststrafe schon im November 1935.“ (Ebd., 1987, S. 395).

„Im Niemöller- Prozeß wurde Anfang 1938 die milde Strafe von 7 Monaten Festung verhängt, die überdies durch die Untersuchungshaft als verbüßt galt. Allerdings gelangte der Gründer des »Pfarrernotbundes« nicht auf freien Fuß, sondern er wurde als persönlicher »Gefangener des Führers« in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht.“ (Ebd., 1987, S. 395).

„Gegen einen Pfarrer in der Rheinprovinz erhob die Staatsanwaltschaft Anklage, weil er am Schluß einer Predigt »Wehe über Deutschland« ausgerufen hatte. Da er sich aber auf Rosenbergs »Mythus« bezogen hatte, eröffnete das Gericht keine Hauptverhandlung mit der Begründung, bei dem Buch des Reichsleiters handle es sich um eine private Arbeit.“ (Ebd., 1987, S. 395).

„Noch im Kriege wurde die Bestrafung von Berliner Juden abgelehnt, die nach Meinung der Partei ein provozierendes Verhalten an den Tag gelegt hatten, weil sie sich zur Entgegennahme einer Kaffee-Sonderzuteilung gemeldet hatten. (Vgl. Hubert Schorn, Der Richter im Dritten Reich, 1959, S. 641ff., 584, 649ff.)“ (Ebd., 1987, S. 395).

„Der 1. September 1939 bedeutete indessen nicht in erster Linie deshalb eine qualitative Änderung, weil ungemein harte Gesetze eingeführt wurden, die sogar das Abhören ausländischer Sender mit dem Tode bedrohten, sondern weil Hitler mit seinem Erlaß vom 1. September die Vernichtung »lebensunwerten Lebens« ermöglichte und damit zu erkennen gab, daß der kriegerische Existenzkampf nun seine Auffassung vom Recht als einer Weise des Kampfes gegen alles »Kranke, Dekadente, Schädliche und Gefährliche« in den Bereich angemessener Verwirklichung bringen werde. Das Recht im Sinne der Rechtlosigkeit sämtlicher Feinde und Schädlinge wurde also erst während des Krieges und im vollen Ausmaß nach dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion zum Strukturmerkmal des nationalsozialistischen Staates. Im Grunde gab es bis dahin nur Ansätze und Präfigurationen. Aber noch im April 1942 konnte Hitler eine von schäumender Wut gegen Juristen und Beamte erfüllte Reichstagsrede halten, mit der er die Ermächtigung forderte, über »wohlerworbene Rechte« hinwegzugehen und auch Richter ohne weiteres abzusetzen, wenn sie in seinen Augen ihre Pflichten nicht erfüllten. Man braucht sich bloß für einen Augenblick vorzustellen, Stalin habe im Sommer 1942 oder auch 1932 eine solche Rede gehalten, um zu erkennen, wie stark in Deutschland rechtsstaatliche Grundauffassungen bis tief in den Krieg hinein erhalten blieben.“ (Ebd., 1987, S. 395-396).

„So fiel eine aufschlußreiche Stellungnahme des Leiters des Amtes III im Reichssicherheitshauptamt, des SS-Brigadeführers Ohlendorf, vom 11. Oktober 1942 zwar insofern nicht zufallig in die Kriegszeit, als sie gegen den Generalgouverneur und Reichsrechtsführer Hans Frank polemisierte, der sich in mehreren Vorträgen als Vorkämpfer von Rechtssicherheit und richterlicher Unabhängigkeit hingestellt hatte, aber im Prinzip hätten die Ausführungen auch schon während der Friedenszeit gemacht werden können. (Vgl. Peter Schneider, Rechtssicherheit und richterliche Unabhängigkeit aus der Sicht des SD, in: Vjh. f. Ztg., Bd. IV, 1956, S. 399-422, s. 419).“ (Ebd., 1987, S. 396).

„Der einzelne finde sein Recht nach nationalsozialistischer Auffassung nicht mehr in einer isolierten Stellung gegen den Staat, gegen die Gemeinschaft, sondern nur mit der Gemeinschaft und als Glied der Gemeinschaft seines Volkes. Daher sehe nur derjenige die Rechtssicherheit als bedroht an, der sich den Bindungen an die Volksgemeinschaft nicht aus innerer Verpflichtung unterordne, sondern sie als äußeren Zwang empfinde. Eine Einflußnahme der politischen Führung auf die Tätigkeit des Richters könne weitgehend unterbleiben, »wenn der Justiz ein politisch und weltanschaulich einheitlich ausgerichtetes Richterkorps« zur Verfügung stehe. Solche Männer würden nicht mehr durch Entfremdung vom Volk gekennzeichnet sein, sondern sie würden imstande sein, aus dem lebendigen Rechtsempfinden des Volkes heraus das Recht zu schöpfen, ohne vor dem Buchstaben des Gesetzes zu kapitulieren oder über politische Forderungen hinwegzusehen. Das Recht werde dann nicht mehr einer Kaste von Juristen als eine Art Privateigentum gehören, sondern es werde durch die Einbeziehung der weltanschaulichen und politischen Forderungen des Nationalsozialismus wieder Sache des ganzen Volkes geworden sein.“ (Ebd., 1987, S. 396).

„Aber hinsichtlich der Gegenwart stellte Ohlendorf noch im Oktober 1942 fest, daß es ein solches von der Weltanschauung geprägtes Richterkorps nicht gebe, und 1939 hätte er diese Aussagen mit noch größerem Recht machen können. Auch im Hinblick auf das Recht waren bei aller Ähnlichkeit des kollektivistischen Grundansatzes die beiden Regime während der Friedenszeiten in stärkerem Maße verschieden als gleichartig, hier aber - im Unterschied zur Kultur - gerade deshalb, weil in Deutschland jene Merkmale besser bewahrt waren, die noch in nahezu der ganzen Welt als Kennzeichen der Modernität galten. Das war aber nicht auf den Nationalsozialismus zurückzuführen, sondern auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der in seinem Charakter dem Widerstand gegen den Bolschewismus bzw. den Stalinismus in, der Sowjetunion nicht ohne weiteres zu vergleichen war.“ (Ebd., 1987, S. 396).

„In engerer Bedeutung sollte von Emigration und Widerstand erst dann die Rede sein, wenn der Staat des Liberalen Systems in den wichtigsten Teilen der Welt ausgebildet und fast überall zum Paradigma geworden ist. In ihm sind Widerspruch und und abweichendes Handeln institutionell geschützt, ja sie werden gefördert, und Kritik an der Regierung ist daher nicht Widerstand, sondern Opposition. Da es keinen Widerstand gibt, existiert auch keine politisch begründete Emigration: Zwischen 1870 und 1914 lebten nirgendwo im Ausland Gruppen von Engländern, Deutschen oder Franzosen, welche aus Protest das jeweilige Land verlassen hätten und dessen Regierung bekämpften. Eine derartige Emigration und ein entsprechender, also verbotener Widerstand existierte lediglich unter Russen und in Rußland.“ (Ebd., 1987, S. 397).

„Als Gesamtphänomen war die russische Emigration die größte, welche die Welt bis dahin gesehen hatte.“ (Ebd., 1987, S. 399).

„Von den führenden Männern der Zentrumspartei ging kaum einer in die Emigration. .... Von den liberalen Parteien und den Deutschnationalen emigrierte nur eine Anzahl von Künstlern und Wissneschaftlern, die diesen Parteien nahestanden. Wohl aber gab es eine nationalsozialistische Emigration, wei es ja auch später einen Widerstand von Dissidenten oder ehemaligen Nationalsozialisten gab. Die zentrale Gestalt war Otto Straßer .... Im Jahre 1936 ging der ehemalige nationalsozialistische Senatspräsident von Danzig, Hermann Rauschning, ins Ausland, wo erd urch sein Buch »Gespräche mit Hitler« weltbekannt wurd. Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges begab sich dann auch Fritz Thyssen ins Exil, der lange Zeit der einzige wichtige Anhänger und Geldgeber Hitlers unter den aktiven Großindustriellen gewesen war.“ (Ebd., 1987, S. 404-405).

„Von den ersten Beurlaubungen im April 1933 waren u.a. Moritz Julius Bonn, Karl Mannheim und Max Horkheimer betroffen, aber auch Nichtjuden wie Paul Tillich, Günther Dehn und Wilhelm Röpke. Bis 1939 emigrierten nicht weniger als 800 Ordianrien und 1300 außerplanmäßige Professoren, nahezu ein Drittel des Bestandes, unter ihnen 24 Naturwissenschaftler, die den Nobelpreis entweder schon erhalten hatten oder noch erhalten würden. Auch hier blieben gewiß sehr bedeutende Gelehrte und mehrere Nobelpreisträger zurück: Martin Heidegger, Karl Jaspers u.v.a. von den Philosophen, Max Planck, Werner Heisenberg, Otto Hahn, Philipp Lenard, Johannes Stark, Carl Friedrich von Weizsäckeru.v.a. von den NaturWissenschaftlern, Friedrich Meinecke, Otto Hintze unter vielen anderen Historikern. Aber einige davon wurden zu ausgesprochenen Gegnern des Regimes, und jedenfalls handelte es sich um einen ungeheuren Aderlaß für die deutsche Kultur und für die deutsche Wissenschaft, der Deutschlands Ansehen in der Welt tief herabsetzte und sehr wesentlich zu dem späteren naturwissenschaftlichen Vorsprung und damit zu dem späteren Sieg der US-Amerikaner beitrug. Ein Analogon zur Bewegung des »Wechsels der Wegzeichen« gab es in der deutschen Emigration kaum, obwohl die Deutschen ihr Schicksal weit mehr als Vertreibung ansahen, während für die Russen die Emigration die ersehnte Rettung vor unmittelbarer Todesgefahr oder vor unerträglichen lebensbedingungen war. (**)“ (Ebd., 1987, S. 406).

„Zwar hatte die nationalsozialistische Bewegung auch auf der Rechten von Anfang an scharfe und erbitterte Gegner wie etwa Erich Ludendorff und Ewald von Kleist-Schmenzin, aber diese Gegnerschaft konnte man sektiererisch oder reaktionär nennen, und jedenfalls standen einige der bekanntesten Männer des späteren Widerstandes wie Claus von Stauffenberg und Henning von Tresckow mit ihren Sympathien auf der Seite der nationalen Bewegung, während Fritz- Dietlof von der Schulenburg oder Arthur Nebe der Partei sogar in hohen Funktionen dienten. Die erste moralische Empörung, die derjenigen Martovs glich, welcher 1918 gesagt hatte, er empfinde angesichts der Bluttaten der Bolschewiki Scham gegenüber seinen früheren Gegnern, den kultivierten Bourgeois, resultierte aus den Morden des 30. Juni, und Hans Oster sprach später von den »Methoden einer Räuberbande«, denen man zur rechten Zeit hätte Einhalt gebieten sollen. (Vgl. Hans Oster, Spiegelbild einer Verschwörung - Die Kaltenbrunner-Berichte an Borm,ann und Hitler über das Attentat vom 20. Juli 1944, a.a.O., S. 61). Ebenso charakteristisch war der Wandel, mit dem Martin Niemöller zum Gegner des Nationalsozialismus wurde - ein Mann und Freikorpskämpfer, wie er nationaler kaum hätte sein können, der nun gezwungen war, sich über den abgründigen Gegensatz zwischen seinem christlichen Glauben und der nationalsozialistischen Rassenlehre Rechenschaft zu geben. Das dritte große Motiv, das unter den Freunden des Nationalsozialismus oder doch der nationalen Erhebung einen Sinneswandel bewirkte, war die Einsicht, daß Hitler dabei war, Deutschland in einen Weltkrieg zu verwickeln und damit gegen den elementarsten aller Imperative der nationalen Restitution zu verstoßen: daß sich die Weltkriegssituation des Mehrfrontenkampfes niemals wiederholen dürfe. Jetzt formierte sich um den Generalstabschef Ludwig Beck ein Widerstand, der zum Handeln entschlossen war, und auch Claus von Stauffenberg sagte nun: »Der Narr macht Krieg.« (Vgl. Eberhard Zeller, Geist der Freiheit - Der 20. Juli, a.a.O., S. 160). Ewald von Kleist-Schmenzin und Carl Friedrich Goerdeler schraken nicht mehr vor Kontakten mit der englischen Regierung zurück, die man »landesverräterisch« nennen konnte. Der ehemalige Freikorpskämpfer Friedrich Wilhelm Heinz stellte einen Stoßtrupp zusammen, der Hitler festnehmen sollte. Die kommunistischen Gruppen waren zwar so gut wie zerschlagen, doch die vorsichtigeren Sozialdemokraten, die vom exilierten Parteivorstand auf geheimen Wegen die Deutschlandberichte der SOPADE erhielten, konnten als ein Netz potentieller Helfer innerhalb der Massen betrachtet werden. Aber Chamberlains Flug nach Berchtesgaden und dann die Konferenz von München bedeuteten das Ende der aussichtsreichsten Aktion der deutschen Gegner Hitlers.“ (Ebd., 1987, S. 407-408).

„Der tatsächliche Kriegsausbruch im folgenden Jahr stieß nicht auf nennenswerten Widerstand, vielleicht auch deshalb, weil selbst Göring sich geradezu hektisch um die Erhaltung des Friedens bemühte, und sicherlich nicht zuletzt aus dem Grunde, weil die Auffassung weit verbreitet war, der Führer bluffe auch diesmal und werde wieder einmal das Spiel gewinnen. Nicht unwichtig war ebenfalls die Tatsache, daß es sich bei dem polnischen »Korridor« um die älteste und nächstliegende Forderung des deutschen Nationalismus handelte, die allerdings durch den Gedanken des Selbstbestimmungsrechts weitaus weniger zu rechtfertigen war als der Anschluß Österreichs und der Sudetengebiete. Die Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes kam zu überraschend, als daß sie sofort ernsthaften Widerstand hätte hervorrufen können.“ (Ebd., 1987, S. 408).

„Der Sieg in Polen schuf als solcher für die Männer des militärischen Widerstandes keine neue Situation, wohl aber veränderten dessen Folgen die Lage. Das moralische Motiv wurde durch das Vorgehen der SS und der Sicherheitspolizei außerordentlich verstärkt, und vom Oberbefehlshaber Ost bis zu den einfachen Soldaten wurde vielen Angehörigen der Wehrmacht nun erstmals klar, daß sie in einen Krieg verwickelt waren, der ganz anders war als der Erste Weltkrieg. Damals hatten die polnischen Juden die Deutschen als Befreier begrüßt; diesmal legten sie von vornherein oder doch schon nach kurzer Zeit große Feindschaft an den Tag, und niemand durfte sich darüber wundern. Wann hätte im Ersten Weltkrieg jemals ein hoher deutscher Offizier geschrieben, er schäme sich, ein Deutscher zu sein? (Im November 1914 hatte ein unbekannter deutscher Zionistenführer von dem Kriege Deutschlands gegen Rußland [gemeint ist die Ostfront! Anm. HB] gesagt, man könne ihn fast auch den »jüdischen Krieg« nennen [vgl. Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1882-1933, Hrsg.: Jehuda Reinharz, 1981], denn nicht nur die große Masse des russischen, sondern auch die der us-amerikanischen Juden war »pro-deutsch gestimmt« [Richard Lichtheim, Die Geschichte dese deutschen Zionismus, 1954, S. 212]).“ (Ebd., 1987, S. 408).

„Ebenso verstärkte sich das ideologische Motiv, d.h. die Einsicht, daß die Weltanschauung und die Handlungsweise Hitlers fremdartig waren und immer fremdartiger wurden. Die Kommunisten wurden durch den Abschluß des Vertrages zwischen Hitler und Stalin zwar großenteils in lähmende Verwirrung gestürzt, aber selbst die französischen Kommunisten wurden nicht zu Freunden des Faschismus, so sehr sie zur Lähmung des Widerstandswillens beitrugen. Für die Antikommunisten in der hohen Bürokratie, in der Wehrmacht, im Volk und sogar in der Partei war der Pakt dagegen eine schlechthin unverständliche und unsittliche Handlung, die Stalin ganz Ostmitteleuropa ausgeliefert und die Ergebnisse der deutschen Ostkolonisation weithin rückgängig gemacht habe. Die Verhandlungen, die während des Winters durch Vermittlung des Vatikans mit England geführt wurden, waren hauptsächlich von dem Empfinden getragen, daß man Hitler daran hindern müsse, ganz auf die sowjetische Karte zu setzen und Deutschland endgültig aus dem Zusammenhang Europas oder des Westens herauszulösen.“ (Ebd., 1987, S. 408-409).

„Am meisten aber gewann das Motiv der Kriegsvermeidung, d.h. der Vermeidung des Weltkrieges, an Kraft. Nie zuvor und nie später stand die oberste Spitze der Wehrmacht so dicht vor einer Gehorsamsverweigerung wie in den letzten Monaten des Jahres 1939, als Hitler immer wieder Befehle für den Beginn des Angriffs im Westen herausgab und sie immer von neuem aus pragmatischen Gründen widerrief. .... Daß Hitler die militärische und psychologische Lage richtiger eingeschätzt hatte als die Heeresleitung, war nach den sechs Wochen des Frankreichfeldzuges für jedermann evident, aber die Sorgen wegen der unabsehbaren Dauer des Gesamtkrieges waren nicht geringer geworden. Höchst symptomatisch war der Flug von Rudolf Heß nach England, bei dessen Vorbereitung die Ratschläge Albrecht Haushofers eine Rolle gespielt hatten, also eines Mannes, der zum Widerstand zu zählen war.“ (Ebd., 1987, S. 409).

„Es wäre indessen eine Blickverkürzung, wenn nur die Offiziere und die Diplomaten ins Auge gefaßt würden, die der Politik und der Weltanschauung Hitlers kritisch gegenüberstanden. Diese Kritik hatte ja zu einem erheblichen Teil von dem »Kirchenkampf« ihren Ausgang genommen, und in jedem totalitären Lande muß die bloße Selbsterhaltung einzelner Institutionen und abweichender Denkweisen als besondere Form von Widerstand gelten. So war die Selbstbehauptung der Kirchen ein Akt des Widerstandes, und sie war unvergleichlich erfolgreicher, als sie es in der Sowjetunion gewesen war, nicht zuletzt deshalb, weil Hitler am Anfang mancherlei Sympathie entgegengebracht worden war. Was daraus entstehen konnte, zeigten in den Jahren 1940 und 1941 am deutlichsten die Reaktionen von Geistlichen und Laien auf die Tötungen von Geisteskranken. Die Partei sah sich gezwungen, die Aktionen einzustellen, und im Kirchenvolk griff die Überzeugung um sich, daß dieses Deutschland den Krieg nicht gewinnen dürfe. Daher konnten Parteistellen ihrerseits behaupten, der politische Katholizismus erstrebe anscheinend die deutsche Niederlage.“ (Ebd., 1987, S. 409-410).

„Die Bolschewiki führten den Kampf gegen ihre innenpolitische Feinde im frieden mit weitaus größerer Schärfe und aufgrund eines älteren und genuineren Glaubens als die nationalsozialisten“ (Ebd., 1987, S. 411).

„Man sollte nicht vergessen, daß eine bestimmte Art von Mobilisierung schon ein Grundkennzeichen des liberalen Gesellschaftstypus war, den man bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges generell als den modernen betrachtete. Er stand im Gegensatz zu der traditionellen oder statischen Gesellschaft, in der die Landwirtschaft den bei weitem wichtigsten Produktionszweig darstellt, das Geldwesen erst untergeordnete Bedeutung besitzt, der Verkehr wenig entwickelt ist und die einzelnen Stände in weitgehender Abgeschlossenheit nebeneinander stehen Es war die Industrielle Revolution, welche diese traditionelle Struktur allmählich auflöste, und obwohl die französische Revolution keineswegs in allen ihren Faktoren und Erscheinungsformen eine geradlinige Fortsetzung oder Konsequenz dieser ursprünglicheren und tiefgreifenden Revolution war, so trug sie doch dadurch wesentlich zum Fortgang der Mobilisierung bei, daß sie die Standesgrenzen niederriß, das Bankwesen förderte, die Adels- und Kirchengüter in den freien Handel brachte und vor allem eine neue Heeresorgansiation schuf, welche die allgemeine Wehrpflicht an die Stelle der Anwerbung von Soldaten setzte. Die Bauernbefreiung in Preußen gehörte ebenso in diesen Zusammenhang wie die beginnende Ausbildung des Pressewesens und der Parteien. Aber nur die Staatssozialisten faßten eine Mobilsierung ins Auge, die eine vollständige Indienststellung aller Individuen durch den Staat bedeutete, welcher als einziger Unternehmer gewaltige Arbeitsarmeen zum Wohle des ganzen Volkes organisieren werde. Der Zweck sollte freilich letzten Endes immer die wahre Freiheit des Individuums sein, die der Liberalismus versrochen, aber nicht verwirklicht habe, weil er über einen bloß negativen und daher egoistischen Begriff der Freiheit nicht hinaus gelangt sei.“ (Ebd., 1987, S. 412-413).

„Das Deutsche Reich war ... die erste industrielle Macht des Kontinents und ... der Welt. Sein Problem war also nicht ein Mangel an Entwicklung (wie in fast allen Ländern der Welt; Anm. HB), sondern ein Mangel am Auslastung für seinen Produktionsapparat und damit an Beschäftigung für seine Arbeiter. Hier konnte es nicht darum gehen, eine Industrie aus dem Nichts oder aus vergleichsweise schwachen Ansätzen zu schaffen (wie in fast allen Ländern der Welt; Anm. HB), sondern es kam darauf an, die bereits längst vorhandene Industrie wieder in vollen Gang zu setzen. Um dieses Ziel zu erreichen, glaubte die NSDAP, Hindernisse vernichten zu müssen, z.B. die Vielfatl von politischen Parteien, da diese die erforderlichen Konzentrationen des Willens im Wege ständen, doch diese Vernichtung war keine übesrteigerte Fortführung jener ursprünglichen Mobilisierung, sondern stellte sich ihr in wesentlichen Punkten gerade entgegen, wie schon die Begründung des Antisemitismus der Partei, aber auch die Begriffe der Rasse und des Blutes und das Beispiel des Erbfolgegesetzes zeigen.“ (Ebd., 1987, S. 416).

„Deutschland war wieder die Führungsmacht des Kontinents. .... Hitlers spezifische Art der Mobilisierung ... hatte ihn zu diesem Höhepunkt seiner Macht geführt, weil sie einen brachliegenden Produktionsapparat zu dem allein möglichen Zweck der Kriegführung wieder in Gang setzte.“ (Ebd., 1987, S. 420).

Der deutsch-sowjetische Krieg 1941-1945
„Als die deutsche Wehrmacht am Morgen des 22. Juni 1941 die Grenzen der Sowjetunion auf einer Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer bereits seit anderthalb Stunden überschritten hatte, überreichte der deutsche Botschafter in Moskau dem Außenminister Molotov eine Erklärung, die in ihren Schlußfolgerungen besagte, die Außenpolitik der Sowjetunion sei immer stärker deutschfeindlich geworden und die Sowjetregierung habe die mit dem Reich geschlossenen Verträge dadurch gebrochen, daß sie ihre Streitkräfte an den Grenzen sprungbereit habe aufmarschieren lassen, um Deutschland in seinem Existenzkampf in den Rücken zu fallen. Daher habe der Führer der Wehrmacht den Befehl erteilt, dieser Bedrohung mit allen zur Verfügung stehenden Machtmitteln entgegenzutreten. (Vgl. Monatshefte für Auswärtige Politik, 8. Jahrgang, 1941, S. 551-563). Gemäß dieser Verlautbarung verstand Hitler den Feldzug gegen die Sowjetunion mithin als einen Präventivkrieg. Molotov bezeichnete dagegen in seiner Erwiderung diese Begründung als einen »leeren Vorwand«, denn es fänden in der Nähe derWestgrenze lediglich »Sondermanöver« statt, auf welche die Sowjetregierung verzichtet haben würde, wenn ihr ein entsprechender Wunsch der Reichsregierung übermittelt worden wäre. Daher habe Deutschland in historisch präzedenzloser Weise den Nichtangriffs- und Freundschaftspakt gebrochen, der es mit der Sowjetunion verbunden habe. Dieser Satz war offenkundig gleichbedeutend mit der These, Deutschland habe einen unprovozierten Angriffskrieg vom Zaune gebrochen. Tatsächlich war zu dies em Zeitpunkt ein großer Teil der sowjetischen Luftwaffe bereits vernichtet. Es war deshalb nur konsequent, daß Molotov seine Ausführungen mit den Worten schloß: »Das haben wir nicht verdient.« (Gustav Hilger, Wir und der Kreml - Deutsch-sowjetische Beziehungne 1918-1941 - Erinnerungen eines deutschen Diplomaten, 1955, S. 312f.). .... Es ließ sich kaum bestreiten, daß die Sowjetunion gegen den Buchstaben und den Geist der Verträge verstoßen hatte, als sie von Rumänien die Bukowina forderte und in Litauen nicht bloß Stützpunkte errichtete, sondern eine beträchtliche Anzahl von Divisionen konzentrierte. Es ließ sich ferner mit einem Freundschaftspakt schwerlich vereinbaren, daß die Sowjetunion den Putsch in Belgrad unterstützt und mit der Regierung Simovic sofort ein Abkommen geschlossen hatte. Überdies hatten die deutschen Truppen in der Belgrader Gesandtschaft der Sowjetunion Dokumente gefunden, welche nur allzu deutlich feindliche Absichten gegenüber Deutschland erkennen ließen. Als stärkster Beweis aber mußte schon bald ein Tatbestand gelten, der nach den ersten 14 Tagen des Krieges unübersehbar geworden war: Die drei Heeresgruppen Nord, Mitte und Süd unter den Generalfeldmarschällen von Leeb, von Bock und von Rundstedt verfügten insgesamt über etwa 3500 Panzer, und schon in der Kesselschlacht von Bialystok und Minsk zerstörte oder erbeutete allein die Heeresgruppe Mitte an die 6000 feindliche Panzer. In dem vorspringenden Bogen von Bialystok waren also weit mehr Panzer massiert, als das gesamte deutsche Ostheer aufzuweisen hatte, und der sowjetische Generalmajor Pjotr Grigorenko, freilich ein Dissident, hat sicherlich recht, wenn er schreibt, eine solche Aufstellung sei nur begründet, wenn sie für eine Überraschungsoffensive bestimmt sei. (Pjotr Grigorenko, Der sowjetische Zusammenbruch 1941, 1969, S. 94).“ (Ebd., 1987, S. 424-425).

„Das Auswärtige Amt in Deutschland erklärte in seiner Note vom 21. Juni es für die Aufgabe des deutschen Volkes, »die gesamte Kulturwelt von den tödlichen Gefahren des Bolschewismus zu retten«, die »Deutsche diplomatisch-politische Information« behauptete am 27. Juni, der Kampf Deutschlands ... werde zum Kreuzzug Europas gegen den Bolschewismus, und es gehe dabei um die Erhaltung und Wiederherstellung der großen Grundprinzipien alles menschlichen und völkischen Zusammenlebens, nämlich um die Wiederherstellung der Würde und Freiheit der menschlichen Persönlichkeit, der Familie, des Privateigentums, der Freiheit der religiösen Oberzeugung und der kulturellen Eigenständigkeit der Völker und Volksgruppen in ganz Europa}l In solchen Wendungen stand gleichsam der Geist der nationalen Erhebung von 1933 noch einmal auf, aber sehr viel unmittelbarer brachte Alfred Rosenberg die Erfahrungen, die Bitterkeit und den Haß der frühen Nachkriegszeit zum Ausdruck, als er in seine Allgemeine Instruktion für die Reichskommissare in den besetzten Ostgebieten am 8. Mai den Satz hineinschrieb, den Deutschen Osteuropas, die in vielen Jahrhunderten ungeheure Leistungen vollbracht hätten, sei das gesamte Eigentum ohne Entschädigung fortgenommen worden und Hunderttausende seien verschleppt worden oder verhungert. Am tiefsten war jedoch Adolf Hitler schon am 30. März 1941 in einer Rede vor den Generälen in die Emotionen der Zeit des Bürgerkriegs zurückgestiegen. Bolschewismus sei asoziales Verbrecherturn, und der Kommunismus bilde eine ungeheure Gefahr für die Zukunft. »Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrükken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. .. Der Kampf muß geführt werden gegen das Gift der Zersetzung. ..Kommissare und GPU-Leute sind Verbrecher und müssen als solche behandelt werden.« (Zitat in: Franz Halder [Generaloberst], Kriegstagebuch, 1963, Band II, S. 335ff.). Im Bürgerkrieg hatte in der Tat niemand daran gedacht, in dem roten oder in dem weißen Feind einen Kameraden zu sehen, der ritterlich behandelt werden müsse. Auch auf der sowjetischen Seite war die Erinnerung an die Greueltaten der Weißen immer wach gehalten worden, und sogar im Finnischen Kriege war es schwerlich bloß Propaganda gewesen, wenn den Rotarmisten gesagt wurde, sie würden zu Tode gequält werden, falls sie in die Hände der »weißfinnischen Schlächter« gerieten. Für »asoziale Verbrecher« hatte auch der Ataman Kaledin die Bolschewisten gehalten, weil sie mit der Parole »Raubt das Geraubte« an die primitivsten Instinkte appellierten, und die »Zersetzung« hatte dem General Kornilov den Weg in die Hauptstadt verlegt. Zwar nahm Hitler nur selten direkt auf die Ereignisse des Bürgerkrieges Bezug, und er legte eine unverkennbare Abneigung gegen die russischen Emigranten an den Tag, die in seinen Augen versagt hatten. Aber es ist nicht daran zu zweifeln, daß die wichtigsten Vorgänge für ihn ganz gegenwärtig waren, und das kam auch in zufälligen Nebenbemerkungen zum Ausdruck wie etwa (zu einem späteren Zeitpunkt) derjenigen, es seien Ukrainer gewesen, die den besten Freund des ukrainischen Volkes, den Feldmarschall Eichhorn, 1918 in Kiew ermordet hätten. (Vgl. Alexander Dallin, Deutsche Herrschaft in Rußland 1941-1945, 1958, S. 171). Wenn er also hier von einem Vernichtungskampf sprach, dann handelte es sich um die Vernichtung einer Ideologie und ihrer Vorkämpfer, und eine solche Absicht war allen Teilnehmern des Bürgerkrieges selbstverständlich gewesen. In dem gleichen Zusammenhang muß auch der »Kommissarbefehl« gesehen werden, der gewiß ein »unmenschlicher« und »völkerrechtswidriger« Befehl war, der aber von der Voraussetzung ausging, die ebenfalls eine Voraussetzung beider Bürgerkriegsparteien gewesen war: daß der Gegner mit Sicherheit verbrecherische und völkerrechtswidrige Taten begehen würde. Daher heißt es in diesen »Richtlinien« vom 8. Juni 1941: »Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen. Insbesondere ist von den politischen Kommissaren aller Arten als den eigentlichen Trägern des Widerstandes eine haßerfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwarten«! (Vgl. Heinrich Uhlig, Der verbrecherische Befehl, in: Vollmacht des Gewissens, Band II, 1965, S. 287-410, S. 360 [Dokumentation]). Daher könnten politische Kommissare nicht als Soldaten anerkannt werden, und sie seien »nach durchgeführter Absonderung zu erledigen«. Soweit dieser Befehl im Rahmen des Weltanschauungskrieges zu sehen ist, war er daher nicht »verbrecherisch«, sondern konsequent. Das Verbrechen liegt viel tiefer, und zwar in der Entfesselung eines solchen Krieges ohne zwingenden Grund. Insofern muß die Frage des Präventivkrieges oder des unvermeidbaren Entscheidungskampfes wieder auftauchen. Aber der Befehl war auf jeden Fall ein törichter Befehl, denn die deutsche Führung hatte sich nicht klar gemacht, daß die Sowjetregierung inzwischen noch einen Schritt über die Realitäten und Emotionen des Bürgerkrieges hinausgegangen war. Sie betrachtete nämlich alle Angehörigen der Roten Armee, die lebend in Gefangenschaft gerieten, als Deserteure, deren Familienangehörige kollektiv für diesen Akt der Feigheit und des Verrats verantwortlich gemacht wurden! (vgl. Hoffmann, Die Kriegführung aus Sicht der Sowjetunion, S. 720). Die gefangenen Kommissare waren daher in den Augen ihrer eigenen Regierung todeswürdige Verbrecher, und Hitler machte sich zum Handlanger Stalins, wenn er sie »erledigen« ließ. Tatsächlich wurde der Befehl weitgehend nicht befolgt und 1942 aufgehoben, und später zählten ehemalige Politische Kommissare zu den engsten Mitarbeitern Wlassovs. Aber wenn der Krieg gegen die Sowjetunion auf einem Grunde von Emotionen ruhte, die schon die Emotionen des russischen Bürgerkrieges und des Kampfes zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten in der Weimarer Republik gewesen waren, dann konnte er kein bloßer Rachefeldzug sein und auch nicht nur ein »Verteidigungskampf des Abendlandes«, obwohl der Kommissarbefehl einerseits und die Verlautbarungen des Auswärtigen Amtes andererseits solche Interpretationen nahelegen mochten.“ (Ebd., 1987, S. 429-431).

„In allen Städten und Dörfern des Baltikums wurden die einrückenden deutschen Truppen mit Jubel begrüßt, in der Ukraine wurden sie an zahllosen Stellen mit Salz und Brot empfangen, und schon bevor sie in Lemberg einrückten, hatte sich dort eine provisorische Staatsgewalt gebildet, die offensichtlich zur vollen Kooperation mit Deutschland bereit war. Auch hier waren freilich Befreiung und Rache eng miteinander verknüpft. .... Doch man durfte erwarten, daß die ... Befreiung eine umfassendere Wirklichkeit sein würde als die Rache. Auf diesen Ton war jedenfalls die Wehrmachtspropaganda gestimmt, die von der Abteilung »WPr« im Oberkommando der Wehrmacht geleitet wurde und die in Millionen von Flugblättern und Plakaten Adolf Hitler als den Befreier der bisher Unterdrückten hinstellte.“ (Ebd., 1987, S. 432).

„Stalin knüpfte in seine Rede an die Emotionen und Begriffe des Bürgerkrieges an, wenn er behauptet, das Ziel des Feindes bestehe darin, die Macht der Grundbesitzer wiederaufzurichten, den Zarismus wiederherzustellen, die »freien Völker« der Sowjetuion ihrer Eigenstaatlichkeit zu berauben und sie zu »Sklaven der deutschen Fürsten und Barone zu machen« Auch der Terminus »Vaterländischer Volkskrieg« konnte auf eine Wendung lenins zurückgeführt werden. neu war, daß Stalin mit einem »Gefühl der Dankbarkeit« der historischen Rede Churchills vom 22. Juni 1941 und der entsprechenden Deklaration der Regierung der USA gedachte, die dem sowjetischen Volk ihre Hilfe angekündigt hatten ....“ (Ebd., 1987, S. 432-433).

„Stalin hatte weitaus mehr Russen und Ukrainer und Juden töten lassen, als Hitler Deutsche oder nach dem September 1939 sogar Juden und Polen u.a. das Leben genommen hatte (Stalin ließ etwa 10mal mehr Menschen töten als Hitler; Anm. HB) ....“ (Ebd., 1987, S. 434).

„Die Begriffe »Notwendigkeit« und »Zufall« sollen im folgenden nicht in einem philosophischen, sondern in historischem Sinn verstanden werden: als zufällig gilt, was von der Entscheidung eines Mannes oder einer kleinen Gruppe von Menschen abhängt und zwar derart, daß ein anderes Handeln desselben Mannes oder derselben Gruppe bzw. eines Mannes oder einer Gruppe, die an deren Stelle getreten wären, nicht auf unüberwindliche widerstände gestoßen wären. Als zufällig soll ein Ereignis auch in dem Falle angesehen werden, daß ungefähr gleichstarke Tendenzen aufeinanderstoßen und die Entscheidung durch besondere Umstände oder durch die Aktivitäten relativ weniger Menschen herbeigeführt wird. Im historischen Sinne zufällig sind ferner Naturereignisse, die im menschlichen Bereich große Wirkungen nach sich ziehen, die aber nicht mit Sicherheit oder auch nur mit hoher wahrscheinlichkeit vorherzusehen waren. Als notwendig wird dasjenige betrachtet, was diesen Charakter des Zufälligen nicht besitzt. Aus dem Ineinander von Notwendigkeiten und Zufalligkeiten lassen sich die Alternativen ableiten, die sich nach menschlichem Ermessen hätten verwirklichen können, wenn zufällige Umstände anders eingetreten wären. Die Krankheit, die Alexander den Großen den Tod finden ließ, war in diesem Sinne zufällig, und daher muß es als Alternative gelten, daß sein Heer unter seiner Führung bis zum Ganges vorgedrungen wäre, statt zurückzuströmen; die Niederlage Hannibals war notwendig, nachdem er Rom nicht im ersten Ansturm hatte nehmen können, obwohl sie auch nach kürzerer oder längerer Zeit und auf andere Art und Weise hätte zustande kommen können. Eine weitere Unterscheidung sollte zwischen dem »bloßen Zufall« und der »Zufallsnotwendigkeit« der Handlungen eines bestimmten Charakters getroffen werden.“ (Ebd., 1987, S. 435).

„Hitlers Angriff gegen die Sowjetunion war insofern zufällig, als die Alternative eines neuen Abkommens mit Stalin vermutlich gegeben war; er hatte aber insofern den Charakter der »Zufallsnotwendigkeit«, als Hitler immer wieder die »Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus« und die »Lösung des deutschen Raumproblems« als seine »eigentliche Aufgabe« bezeichnet hatte. Weit mehr vom bloßen Zufall geprägt war dagegen der Zeitpunkt des Kriegsbeginns. Der impulsive Entschluß Mussolinis, Griechenland anzugreifen, hatte den Balkanfeldzug erzwungen, und deshalb konnte der Angriff nicht, wie vor gesehen, am 15. Mai oder immerhin Anfang Juni beginnen, sondern erst zu einem Termin, der bis zum frühestmöglichen Zeitpunkt der Schlamm- und der Schneeperiode nicht einmal vier Monate übrigließ. Notwendig waren dagegen nach allen Prämissen der Aufruf Stalins zum (völkerrechtswidrigen) Partisanenkampf und das Hilfsversprechen, das Churchill gleich am 22. Juni der Sowjetunion gab.“ (Ebd., 1987, S. 435-436).

„Allerdings war dieses Versprechen nur deshalb notwendig, weil es zugleich den Beweis erbrachte, daß das Wasser Großbritannien nicht bloß bis zum Halse, sondern bis an den Rand der Lippen stand. Mit größter Entschiedenheit und unter Verwendung noch schärferer Invektiven hätte kein Mensch sprechen können, als Churchill es bei dieser Gelegenheit tat: Hitler sei ein »Ungeheuer an Verruchtheit«, ein »blutdürstiger Straßenjunge«, über dessen »Nazibande« das »teuflische Emblem des Hakenkreuzes« prange, während »säbelrasselnde preußische Offiziere« die »rohe Masse der Hunnensoldateska wie ein(en) Schwarm wimmelnder Heuschrecken« anführe. Als Englands »einziges, unverrückbares Ziel« bezeichnete er die Vernichtung Hitlers und jeder Spur des Naziregimes. (Vgl. a.a.O.). Es handelte sich also um ein bedingungsloses Hilfsversprechen, und wenn Churchill einerseits mit seiner Rede unter Beweis stellte, daß keineswegs bloß Lenin und Hitler dazu neigten, ihre Feinde durch Ausdrücke wie »Insekten« und »Bazillen« zu entmenschlichen, so konnte doch trotz all dieser Leidenschaft kaum ein Zuhörer daran zweifeln, daß Churchill einen Sieg Hitlers über die Sowjetunion für so gut wie sicher hielt und in diesem Kampf vor allem eine Atempause für das bedrängte England erblickte, nicht anders, als es viele englische und amerikanische Experten taten, die sich in den folgenden Wochen zu Wort meldeten. Wenn er einen militärischen Sieg der Sowjetunion für möglich gehalten hätte, dann hätte er in der Tat auf völlig unbegreifliche Weise gehandelt. Schließlich war die Sowjetunion dasjenige Land, das seinen einzigen Verbündeten, den vor Hitlers bescheidenen Forderungen zu schützen Großbritannien in den Krieg gezogen war, zusammen mit Hitler in seiner staatlichen Existenz vernichtet und aufgeteilt hatte, und die elementarste Loyalitätspflicht gegenüber Polen hätte darin bestehen müssen, die Hilfe an die Bedingung der Rückgabe der geraubten Gebiete zu knüpfen. Dazu sagte Churchill indessen kein Wort, wohl aber empfand er die eigene Glaubwürdigkeit offenbar als so gefährdet, daß er den Satz einfließen ließ, das Naziregime lasse sich »von den schlimmsten Erscheinungen des Kommunismus nicht unterscheiden«, und er nehme kein Wort von dem zurück, was er in fünfundzwanzig Jahren über den Kommunismus gesagt habe. Es war also nur allzu notwendig, daß dieses so rasch geschlossene Bündnis eine überaus schwierige und gefährdete Allianz sein mußte, wenn es für Großbritannien mehr als die Verlängerung einer Atempause bedeuten würde.“ (Ebd., 1987, S. 436).

„Aber zwei Tage später gab auch Roosevelt bekannt, die USA würden der Sowjetunion alle erdenkliche Hilfe leisten. Diese Zusage wäre benfalls unbegreiflich gewesen, wenn der Präsident die Sowjetunion für einen auch nur einigermaßen gleichgewichtigen Gegner Deutschlands gehalten hätte. Wer sich als Amerikaner an Napoleon erinnerte und vom bloßen Interessenstandpunkt ausging, konnte in der Tat schwerlich zu einem anderen Urteil kommen als der Senator Harry S. Truman, der riet, die beiden Räuber, die in Streit geraten seien, ihren Kampf allein auskämpfen zu lassen und allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt einzugreifen. Hatte sich nicht die ganze amerikanische Presse erst anderthalb Jahre zuvor wegen Stalins Angriff auf Finnland bis zur Siedehitze erregt; war in eingeweihten Kreisen nicht bekannt, daß England Finnlands wegen zusammen mit Frankreich Feindseligkeiten gegen die Sowjetunion hatte eröffnen wollen und daß englische Militärs auch weiterhin an Plänen gearbeitet hatten, Baku durch einen großen Luftangriff in ein Flammenmeer zu verwandeln ?  Und die pazifistische Strömung im Lande war seht stark. Sie hatte aus den Untersuchungen über die Rolle von Rüstungsinteressen beim Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg viel Kraft gezogen, und e~ war nicht auszuschließen, daß sie sich nun mit der antibolschewistischer Strömung vereinigen würde, die besonders unter den Amerikanern italienischer und polnischer Abstammung mächtig war. Am 18. Juli 1941 schrieb der ehemalige Botschafter in Moskau, Joseph Davies, in einem für Harry Hopkins bestimmten Memorandum, er sei sich der Tatsache bewußt, daß in den USA »breite Schichten der Bevölkerung die Sowjets bis zu einem Grade verabscheuen, daß sie auf einen Sieg Hitlers in Rußland ihre Hoffnungen setzen«. Gerade deshalb müsse man Stalin mit allen Kräften unterstützen, da sonst die Gefahr bestehe, daß dieser als der »Orientale und kalte Realist«, der er sei, mit Hitler Frieden schließe. Vierzehn Tage später ließ dann Roosevelt Stalin durch Hopkins die Botschaft überbringen, er betrachte Hitler als den »Feind der Menschheit«, und er sei daher entschlossen, der Sowjetunion in ihrem Kampf gegen Deutschland zu helfen. Darin war unzweifelhaft mehr als das opportunistische Bemühen um eine Atempause und Zeitgewinn zu erkennen, sonder ein genuiner Ton ideologischer Überzeugung. Auf dieser Grundlage tat Roosevelt alles, was er konnte, um die Vereinigten Staaten in den Krieg gegen Hitler und auch gegen Japan zu führen, und er schreckte dabei vor dem Mittel grobschlächtiger Lügen nicht zurück, etwa der Behauptung, ihm lägen Geheimkarten und Dokumente der deutschen Regierung vor, in denen Pläne zur Aufteilung Südamerikas und zur Vernichtung aller Religionen einschließlich der hinduistischen enthalten seien. Es war nicht unverständlich, wenn Hitler hinter Roosevelt die »jüdische Pressemacht« am Werke sah, aber es gelang ihm auch hinsichtlich Amerikas nicht, dem unzweifelhaft vorhandenen und sogar starken Antibolschewismus die Ausweitung zum Antisemitismus zu suggerieren. Und wenn er bereit gewesen wäre, seine Lieblingsmeinungen zu revidieren, hätte er sich vermutlich sagen müssen, daß ein germanisches Amerika es erst recht nicht hätte dulden können, daß in Europa durch kriegerische Handlungen ein Weltreich gebildet wurde, welches die Machtverhältnisse auf der Erde völlig veränderte. Wenn Roosevelt keinen geraden Weg gehen konnte, sondern zu Lügen, Verleumdungen und Neutralitätsverletzungen Zuflucht nehmen mußte, so lag der Grund in erster Linie darin, daß er nicht wie Hitler seine innenpolitischen Gegner hatte beseitigen wollen. So viele Zufälligkeiten in den Entscheidungen der angelsächsischen Mächte mitspielten, so viel Unaufrichtiges darin enthalten war und so viele Gegenkräfte existierten, so gewiß kam letzten Endes dennoch in all dem eine tiefere Notwendigkeit zum Vorschein. Daher mußte Hitler erwarten, daß er mit dem Überschreiten des Bug nicht nur England, sondern auch die USA an die Seite der Sowjetunion führen werde. Was England und Amerika anging, so gab es mithin keine genuine Alternative, weil so gut wie niemand in England und Amerika glaubte und glauben konnte, daß die Sowjetunion aus eigener Kraft Deutschland länger als einige Monate würde Widerstand leisten können.“ (Ebd., 1987, S. 436-438).

„Anders stand es mit der letzten der fünf Weltmächte, mit Japan. Seit 1937 war es mit Deutschland durch den Antikominternpakt, seit 1940 durch den Dreimächtepakt verbunden. Nichts hätte nähergelegen, als daß Deutschland die Erwartung ausgesprochen hätte, Japan werde die Sowjetunion im Osten angreifen und damit eine zweite Front bilden, die Deutschlands Siegeschancen um ein beträchtliches erhöht hätte. Aber man mußte dann die Voraussetzung machen, daß bloß eine Chance gegeben war. Hitler war jedoch siegessicher und wollte keiner gleichrangigen Macht an seinem größten und wichtigsten Erfolg Anteil geben. Er war es selbst, der den Außenminister Matsuoka im April 1941 ermutigte, einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion abzuschließen und den Blick nach Süden in die künftige »großostasiatische Wohlstandssphäre« zu richten. Ribbentrop war in diesem Punkt anderer Ansicht als Hitler, und er drängte die Bundesgenossen nach dem 22. Juni wiederholt zum Eingreifen. Es gab in Japan starke Kräfte, vor allem im Heer, die in die gleiche Richtung dachten, obwohl die Erinnerung an schwere Niederlagen bei den Kämpfen des Jahres 1939 an der Grenze zwischen der Äußeren Mongolei und Mandschukuo ein Warnungszeichen war. Es ist in hohem Grade wahrscheinlich, daß die Sowjetunion vor dem Einbruch des Winters und vor der Ankunft nennenswerter Waffenlieferungen aus den USA und England zusammengebrochen wäre, wenn sie diesen Zweifrontenkampf hätte führen müssen. Aber Hitler äußerte sich nicht mit klaren Worten, und die japanische Marine setzte sich mit ihrem Plan durch, noch einen letzten Versuch der Verhandlungen mit den USA zu machen, um sich dann gegebenenfalls des Würgegriffs der amerikanischen Wirtschaftssanktionen durch das Ausgreifen nach Niederländisch-Indien und durch eine Attacke gegen die amerikanische Flotte zu entledigen.“ (Ebd., 1987, S. 438).

„So hatte Hitler nicht vollständig recht, als er am 3. Februar 1941 zu einigen seiner Generäle sagte: »Wenn Barbarossa steigt, hält die Welt den Atem an und verhält sich still.« Zwar sah die Welt den Ereignissen tatsächlich atemlos zu, weil sie gleich das Empfinden hatte, daß hier um das Schicksal der Erde gewürfelt wurde, aber sie verhielt sich doch so wenig still, daß die drei großen Mächte, von deren Entschlüssen das Ergebnis mitabhängen mußte, sofort Entscheidungen gravierendster Art trafen oder vorbereiteten. Für ein halbes Jahr indessen waren nun Deutschland und die Sowjetunion scheinbar allein auf der Welt, und die Frage war, ob die Sowjetunion vor dem Anfang des Winters noch existieren würde.“ (Ebd., 1987, S. 439).

„Die Ereignisse auf den Schlachtfeldern hatten eine unverkennbare Ähnlichkeit mit denjenigen in Polen im September 1939, und doch kam in ihnen eine ganz andere Art von Notwendigkeit zum Vorschein. In Polen hatte die Armee des nationalsozialistischen Industriestaates über die Armee des nationalistischen Agrarstaates gesiegt, und offenbar mit einem hohen Grade von Notwendigkeit. In den Ebenen Weißrußlands und der Ukraine kämpfte ein Heer, das in der Tradition der Weltkriegsarmeen stand, mit einem Heer, das gegen diese Tradition geschaffen worden war.“ (Ebd., 1987, S. 439).

„Vom 16. bis zum 18. Oktober herrschte in der sowjetischen Hauptstadt Panik und beinahe schon Anarchie: Parteimitglieder zerrissen die Parteibücher, Soldaten warfen die Gewehre fort, Läden wurden geplündert, die Regierung verließ die Stadt, und wenn die entsprechenden Berichte richtig sind, ließ sich auch Stalin zu seinem Sonderzug hinausfahren, um dann im letzten Augenblick seinen Entschluß zu revidieren und in den Kreml zurückzukehren. Der neue Oberbefehlshaber General Schukov verkündete am 19. das Standrecht, frische Truppen aus Sibirien waren unterwegs, denn aus Tokio waren von dem Vertrauten , des deutschen Botschafters, dem altbewährten Parteimitglied und Agenten Richard Sorge, beruhigende Nachrichten über die Haltung Japans eingetroffen, und dann begannen die großen Herbstregenfälle, die Weg und Steg in undurchdringlichen Morast verwandelten. Für wenige Tage machte ein erträglicher Frost die deutschen Truppen wieder bewegungsfähig, aber dann brach ungewöhnlich früh der strengste Winter ein, und die Deutschen hatten nicht mehr nur Soldaten und schlechte Wege zu Feinden, sondern eine übermächtige und ungewohnte Naturgewalt, die das Öl in den Motoren der Panzer erstarren und manchmal die Gewehre an den Händen der Infanteristen festfrieren ließ. In London und Washington, in Tokio und Paris aber nahm man ungläubig zur Kenntnis, daß Moskau, der Zentralpunkt des sowjetischen Lebens und Verkehrs, entgegen allen Erwartungen nicht in die Hände des Feindes gefallen war und daß Hitler nun vielleicht in den Eiswüsten Rußlands das Schicksal Napoleons erleiden werde.“ (Ebd., 1987, S. 440-441).

„Daß unter großem Aufwand eine Sammlung warmer Winterkleidung für die Front durchgeführt wurde, ließ auch den gläubigsten seiner Anhänger ahnen, daß Hitler zwar vielleicht der erfolgreichste aller Feldherren war, aber sicher nicht der größte, da er offensichtlich äußerst gravierenden Fehleinschätzungen unterlegen war. Beinahe von Monat zu Monat hatte das Volk auf das siegreiche Ende des Krieges und damit auf Frieden gehofft, und der Schwung, der die deutschen Armeen bis kurz vor Moskau geführt hatte, war zu einem guten Teil von der Erwartung genährt, man werde um Weihnachten wieder zu Hause sein. Jetzt aber konnte sich niemand mehr darüber täuschen, daß die Ara der Blitzfeldzüge und -siege an ihr Ende gelangt war und daß ein langer und harter Krieg bevorstand.“ (Ebd., 1987, S. 441).

„Am 6. Dezember hatten die Japaner das Pazifikgeschwader der amerikanischen Flotte in Pearl Harbor angegriffen und zum großen Teil zerstört. Dadurch öffneten sie sich den Weg nach Südostasien, und wenige Wochen später waren lndonesien, die Philippinen und Singapur erobert. Aber sie hatten dadurch Roosevelt den seit langem gewünschten und vorbereiteten Eintritt in den Krieg ermöglicht, und sie stellten Hitler vor die letzte fundamentale Entscheidung seines Lebens. Wie zur Zeit von Mussolinis Angriff gegen Griechenland sah er sich einem selbständigen Entschluß eines Verbündeten konfrontiert, denn die Japaner hatten ihren Angriff nicht mit ihm abgesprochen. Allerdings hatte er sie mehrere Male dazu ermutigt, aber er hätte andererseits viel Grund zum Zorn darüber gehabt, daß die Japaner nicht nur nicht in den Krieg gegen die Sowjetunion eintraten, sondern nicht einmal die Lieferung amerikanischer Rüstungsgüter nach Wladiwostok verhinderten. Der Wortlaut des Dreimächtepaktes verpflichtete ihn nicht dazu, sich einer Angriffshandlung anzuschließen. Wenn er sich zurückgehalten hätte, wäre Roosevelt in großer Verlegenheit gewesen. Diesem ging es in erster Linie um den Krieg gegen Deutschland, doch die öffentliche Meinung (mit der veröffentlichten Meinung der großen Presse nicht identisch) würde ihn gezwungen haben, alle Kriegsanstrengungen gegen die Urheber des »ruchlosen Überfalls« zu kehren. Aber Hitler konnte offenbar den Gedanken nicht ertragen, daß einen ganzen schweren Winter hindurch keine Siegesmeldungen in der Presse erscheinen würden, und vermutlich war in ihm auch der Wunsch lebendig, mit Roosevelt nach so langer Hinnahme höchst unneutraler Handlungen endlich einmal abzurechnen. So erklärte er am 11. Dezember den USA den Krieg und griff in einer leidenschaftlichen Reichstagsrede Roosevelt als den »Hauptschuldigen« an diesem Kriege an, der mit »teuflischer Gewissenlosigkeit« die mögliche Verständigung zwischen Deutschland und Polen torpediert habe, der sich eine Reihe »schwerster völkerrechtswidriger Verbrechen« habe zuschulden kommen lassen und der - als Abkömmling von Plutokraten von vornherein ein Hasser seines in Armut geborenen Antagonisten - unter dem Einfluß seines »jüdischen Anhangs« die Probleme seines »sozial rückständigen Staates« nach außen und gegen das »sozialistische Deutschland« lenke.“ (Ebd., 1987, S. 442).

„Hitler durfte Ende September 1942 tatsächlich glauben, daß der Weltkrieg gewonnen sein würde. ... Im entscheidenden Augenblick senkte sich die Waage zugunsten der Alliierten, weil sie über die Tiefenrüstung (dauerhafte Sicherung der notwendigen Ressourcen für die Rüstung; Anm. HB) verfügten, deren nicht geringes Fehlen die deutschen Fachleute wie der General Thomas schon 1939 beklagt hatten.“ (Ebd., 1987, S. 444).

„Im Herbst 1943 bildeten deutsche Soldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und zusammen mit deutschen Kommunisten das »Nationalkomitte Freies Deutschland« bzw. den »Bund deutscher Offiziere«, und die Publikationen, die jetzt von Flugzeugen über den deutschen Stellungen abgeworfen wurden, waren mit den Farben Schwarz-Weiß-Rot umrandet. Sowjetische Generäle machten ihre deutschen Partner mit gedanken der Staatsspitze vertraut, die auf das Nebeneinander eines in den Grenzen von 1939 erhaltenen Deutschland und der wiederhergestellten Sowjetunion hinausliefen. Zugleichwurden von Moskau diplomatische Fühler ausgestreckt, die den Abschluß eines Separatfriedens zum Ziel zu haben schienen. Es lassen sich gewiß gute Argumente dafür anführen, daß es sich bei dem einen Vorgang wie dem anderen um kluge Taktiken Stalins gehandelt habe, der seine Alliierten unter Druck setzen wollte. Hitler seinerseits wies die Kontaktversuche zurück.“ (Ebd., 1987, S. 445-446).

„Adolf Hitler kennzeichnete in seienr Rede vom 3. Oktober 1941 Bolschewismus und Kapitalismus als »Extreme«, die gleichweit von dem »pPrinzip der Gerechtigkeit« entfernt seien, für das die Mächte der Achse ihren Kampf um eine neue und bessere Gestalt Europas und der Welt führten. Auch der Nationalsozialismus erhob also mit Nachdruck einen übernationalen Anspruch, wie schon die Solidarisierung mit dem faschistischen Achsenpartner zeigte, und nicht selten proklamierte er einen »Weltkampf«, der ganz Europa in der Abwehr des »bolschewistischen Ungeheuers« und des us-amerikanischen »Geldmolochs« zusammenschließe.“ (Ebd., 1987, S. 448).

„Zwar gab es in Europa eine beträchtliche Anzahl von faschistischen Bewegungen, und sie stellten sich spätestens seit dem 22. Juni 1941 durchweg auf die Seite Hitlers: neben dem italienischen Faschismus u.a. die Eiserne Garde in Rumänien, die Pfeilkreuzler in Ungarn, die Nasjonal Samling in Norwegen, der Parti Populaire Français in Frankreich, die Rodobrana in der Slowakei, die Ustascha in Kroatien. Aber sie alle waren in ihren Ursprüngen oder Traditionen zunächst einmal radikal-nationalistische Reaktionen auf die internationalistischen und meist sozialistischen Ideen und Realitäten der ersten Nachkriegszeit gewesen. In ihrem »Pro« konnten sie mithin nicht übereinstimmen, da die eine ein mächtiges Groß-Rumänien, die andere ein starkes Groß-Ungarn erstrebte, die dritte die Loslösung aus einem Staatsverband verlangte und die vierte und ursprüngliche das römische Imperium wiederherstellen wollte. Erst das »Anti« bildete die Gemeinsamkeit, nämlich das »Anti« eines entschiedenen Antikommunismus. Freilich entsprang der Kommunismus als Antikapitalismus seinerseits einem »Anti-«, und durch seine angebliche Realisierung in einem großen Staat war er in ein eigentümliches Verhältnis zu Tatbeständen wie Macht, Struktur und Berufsarmee getreten, die er doch beseitigen wollte. Je mehr der kommunistische Glaube durch seine Verbindung mit der sowjetischen Wirklichkeit an Bedrohlichkeit gewann und an Überzeugungskraft verlor, um so mehr konnte sich das bloße »Anti« der faschistischen Bewegungen mit sozialen Gedanken anreichern und schließlich beanspruchen, der zeitgerechte »Dritte Weg« zwischen den Extremen des sowjetischen Kommunismus und des amerikanischen Kapitalismus zu sein. Die Frage war, ob und wie die übernationale Solidarität einer Ideologie die Oberhand über den Ausgangspunkt der bloßen nationalen oder ethnischen Selbstbejahung gewinnen konnte.“ (Ebd., 1987, S. 453).

„Eine naheliegende Lösung bot sich an, als nach der Offnung der Sowjetunion durch den deutschen Angriff die ganze Fremdartigkeit des Stalinschen Staates den deutschen, italienischen, rumänischen und spanischen Soldaten vor Augen trat. Der trivialste und fragwürdigste Versuch, aus der Erfahrung dieser Fremdartigkeit eine Ideologie zu machen, war die vom Hauptamt der SS 1942 herausgegebene Broschüre »Der Untermensch«. Neben dem ebenso verächtlichen wie törichten Unterfangen, aus den ausgemergelten Gesichtern einiger Kriegsgefangener den Typus des Untermenschen oder gar des Asiaten herzuleiten, wird doch ein frühes und allgemeines Schreckbild beschworen, das Schreckbild des blutrünstigen Kommissars und des fanatischen Flintenweibes, und vor allem werden die kläglichen Holzhütten der russischen Bauern und die jammervollen Wohnungen der russischen Arbeiter den weit reicheren und kultivierteren Lebensverhältnissen Europas in einer Weise gegenübergestellt, die den unterrichteten Beobachter zwar an die fröhlichen Gestalten des sozialistischen Realismus erinnerte, die aber trotz ihrer offenkundigen Einseitigkeit für die einfachen Soldaten vieler europäischer Nationen nicht unglaubwürdig war. Jedenfalls sahen jene deutschen Landser die Verhältnisse auf diese Weise, deren »Feldpostbriefe aus dem Osten« ein Beamter des Propagandaministeriums 1941 publizierte und zweifellos nicht publiziert hätte, wenn er sie für bloße Propaganda hätte halten müssen, die von der Masse der deutschen Soldaten als verzerrt oder verlogen empfunden worden wäre. Da ist von dem »verfluchten« oder »elenden« Lande die Rede, in dem man »direkt nach dem Anblick eines sauberen Hauses oder einiger gepflegter Gärten« hungere, in dem die Bauern, ihres Landes beraubt, in »wirtschaftlicher Fron« lebten, wie sie schlimmer nicht im schwärzesten deutschen Mittelalter gewesen sei. Die Straßen seien nichts als Sandwege, und Dörfer und Städte beständen aus kleinen Holzhütten, zwischen denen sich bloß einige Paläste der Partei oder der »Bonzen« erhöben; ein Erwerbsloser in Deutschland lebe »wie ein König gegen dieses Volk«. Freilich mußte sich die Frage aufdrängen, weshalb denn das reiche Deutschland ein so armes Land angegriffen habe, und sie wird durch den Hinweis auf die »guten und modernen Waffen« beantwortet, welche die Kommissare aus dieser Armut herausgepreßt hätten, und die Kommissare oder auch die Juden werden für die grauenvollen Bilder verantwortlich gemacht, die mehrere der Briefschreiber selbst gesehen zu haben behaupten: an die Wände genagelte Männer, Frauen und Kinder, in den Kellern der Gefängnisse eingemauerte und qualvoll erstickte Opfer, ja sogar Folterkammern, in denen innen Gasbrenner angebracht gewesen seien, mit denen man die Opfer zu Tode gequält habe. (Wolfgang Diewerge, Feldpostbriefe aus dem Osten - Deutsche Soldaten sehen die Sowjetunion, 1941, S, 16ff., 24, 37, 42,f., 46). Aus all dem ergab sich zwingend die Forderung nach europäischer Solidarität im Kampf gegen ein unmenschliches und anti-europäisches System.“ (Ebd., 1987, S. 453-454).

„Jedenfalls fanden sich aus nahezu allen europäischen Staaten Freiwillige zum Kampf gegen den Kommunismus zusammen, und aus ihnen wurde eine größere Anzahl fremdnationaler SS-Formationen gebildet. Aus Dänen wurde das »Freikorps Danmark« zusammengestellt, wallonische Freiwillige der Degrelle- Bewegung bildeten die SS-Sturmbrigade Wallonien, aus Franzosen bestand gegen Ende des Krieges eine ganze SS-Division, die den Namen »Charlemagne« trug. Eine beträchtliche Anzahl von Esten und Letten schloß sich schon bald nach dem 22. Juni der Wehrmacht an, und später wurden sie ebenfalls zu SS- Divisionen. Wie der Spanische Bürgerkrieg auf beiden Seiten ein internationaler Konflikt war, so war auch der Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion (und gegen die USA, das Britsche Empire u.v.a., nichzt zu vergessen; Anm. HB) ein internationaler Krieg. Wenn die Sowjetunion die polnische Armee, die sie aus den Kameraden der Opfer von Katyn aufstellte, offensichtlich nicht ungern zu den Westalliierten abziehen ließ, bevor sie in einem späteren Stadium eigene Hilfstruppen aus Polen und Rumänen bildete, so kämpften die europäischen Freiwilligen bis zum Ende in der Wehrmacht und in der Waffen-SS, und es kann nicht bezweifelt werden, daß viele von ihnen sich aus Überzeugung und nicht aus bloßem Opportunismus unter die Fahnen des nationalsozialistischen Deutschland gestellt hatten. Allerdings war gerade bei den Überzeugtesten das Motiv spürbar, durch einen Beitrag an Blut das Recht auf Selbständigkeit ihrer Länder in dem künftigen Europa einer »Neuen Ordnung« zu erkämpfen, das Recht auf eine Selbständigkeit, das sie offenbar nicht mehr für selbstverständlich und unantastbar hielten.“ (Ebd., 1987, S. 454-455).

„Erst noch zu erringen war die künftige Selbständigkeit für die turkestanischen und tatarischen Verbände der Waffen-SS, durch die nun sogar der arische Rassenbegriff nach dem germanischen gesprengt wurde, so daß tendenziell von einer Weltbewegung gegen den Bolschewismus gesprochen werden konnte, von der außer den Juden niemand ausgeschlossen war. (Englische und us-amerikanische Verbände gab es freilich im deutschen bzw. deutsch-italienischen Lager nicht, wohl aber einige bedeutende oder doch interessante Intellektuelle wie Ezra Pound und den Sohn des ehemaligen Indienministers Amery.) Aber erst die Frage der russischen Freiwilligen war einem Lackmuspapier zu vergleichen, wodurch der übernationale Charakter eines ideologischen Anspruchs geprüft werden konnte.“ (Ebd., 1987, S. 455).

„Russische Freiwillige gab es in der deutschen Wehrmacht viele und zu einem frühen Zeitpunkt. Aber sie blieben lange ohne anerkannten Status, und ihre Einbeziehung erfolgte zunächst auf rein pragmatische Weise. In den Nöten und Schwierigkeiten des ersten Kriegswinters hatten zahlreiche Formationen russische Kriegsgefangene, die sich freiwillig meldeten, als Hilfskräfte eingestellt, und da die Erfahrungen im allgemeinen gut waren, wurden nicht wenige davon mit Waffen ausgestattet, etwa zur Bewachung von Depots oder auch zur Partisanenbekämpfung. 1942 wurden daraus die ersten genuinen Verbände wie etwa die »Brigade Kaminski«, und der Gruppenleiter in der Organisationsabteilung des Generalstabs des Heeres, der Oberstleutnant Stauffenberg - damals schon als ein Mann von überragender Begabung und Entschlossenheit erkennbar -, wandte alle seine Talente auf, um die Aufstellung russischer Freiwilligenverbände möglich zu machen. Dabei stieß er auf den entschiedenen Widerstand des Oberkommandos der Wehrmacht und mittelbar Hitlers, der gegenüber Rußland völlig freie Hand behalten wollte, dem aber offenbar auch bestimmte Ereignisse aus dem Bürgerkrieg sehr präsent waren, nämlich der Übergang ganzer Regimenter zu den Bolschewiki. Wenn trotzdem im Herbst 1942 die russischen »Hilfswilligen« schon nach Hunderttausenden zählten, so war das darauf zurückzuführen, daß die einzelnen Heeresgruppen und auch der Generalstab noch Handlungsmöglichkeiten besaßen, in die Hitler keinen Einblick hatte. Im übrigen erfolgte die Aufstellung von »Legionen« der übrigen Völker der Sowjetunion mit seinem vollen Einverständnis, und die Grenzen waren oft schwer zu ziehen. Weshalb sollte der »General der Osttruppen« nicht auch Russen unter seinem Kommando haben?“  (Ebd., 1987, S. 455-456).

„Man begreift die Genozide und die »Endlösung der Judenfrage«, die das nationalsozialistische Deutschland zu verantworten hat, nicht schon dadurch in ihrer Eigenart, daß man sie für singulär erklärt und Unterscheidungen für überflüssig hält. Das Unvergleichbare setzt den Vergleich gerade voraus, und die Einheit der Bezeichnung verdeckt oft genug die Verschiedenheit der Sachen.“ (Ebd., 1987, S. 458).

„Genozid oder Völkermord hängt eng mit Krieg zusammen, aber die beiden Begriffe decken sich nicht. Noch in der klassischen Antike fanden zwar Kriege zwischen den Städten oder Stämmen häufig dadurch ein Ende, daß alle Männer der Besiegten getötet und die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft oder verschleppt wurden: Die Epen Homers setzen diesen genozidalen Charakter des Krieges durchweg voraus. Aber die europäische Neuzeit und schon das Mittelalter waren dadurch ausgezeichnet, daß sie den Krieg zu zivilisieren suchten, d.h. eine Unterscheidung zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern trafen. Der Idee nach konnte also ein ganzes Volk nicht mehr vernichtet werden, und allmählich setzte sich sogar ein Recht der Kriegsgefangenen durch, das den besiegten und ausgeschalteten Kombattanten Schonung garantierte, wie es etwa durch die Haager Landkriegsordnung von 1907 geschah. Vor allem aber wurde festgelegt, daß durch den Willen zum Abschluß eines Waffenstillstandes bzw. zum Friedensschluß gewisse Rechte geschaffen wurden, die eine Ausnutzung der Situation zum Zweck des Völkermordes ausschlossen. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges betrachtete es die zivilisierte Welt als Normalfall, daß die bewaffneten Kräfte zweier oder mehrerer Staaten unter vollständiger Aussparung der Zivilbevölkerung miteinander kämpften, bis eine Entscheidung gefallen war und durch Verhandlungen Friede geschlossen wurde. Die Grundvoraussetzung war, daß Armeen und Zivilbevölkerung klar unterscheidbar waren. Schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde diese Voraussetzung dadurch gefährdet, daß ein Teil der belgischen Bevölkerung, die ihr Land mit Recht für überfallen hielt, zum Franktireurkrieg griff und damit Repressalien der Deutschen herausforderte, insbesondere Geiselerschießungen. Es wurde vorstellbar, daß solche Repressalien sich grundsätzlich und in großem Maßstab gegen die gesamte Zivilbevölkerung richteten, weil diese den Franktireuren Schutz und Hilfe bot. In einem konstruierbaren Extremfalle wäre also die ganze belgische Bevölkerung ausgerottet worden, um den Überfällen der Franktireure die Basis zu nehmen, d.h. um eine präventive Sicherung gegen völkerrechtswidrige Akte zu erzielen. Damit wäre im Wortsinne ein Genozid Wirklichkeit geworden, nämlich die Tötung sämtlicher Einwohner eines Landes. Davon blieb die deutsche Politik unendlich weit entfernt, aber wenn man die Linien verlängerte, gelangte man zu einem schrecklichen Idealtyp. Selbst der rücksichtsloseste Denker hätte es aber noch für selbstverständlich gehalten, daß durch Einstellung des Widerstandes das Überleben des Volkes gesichert worden wäre.“ (Ebd., 1987, S. 458-459).

„Auf andere Weise wurde die Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten im Ersten Weltkrieg dadurch gefährdet, daß sowohl England wie Deutschland zum Kriegsmittel der Blockade griffen. Anders als der Krieg gegen Franktireure oder Partisanen war die Blockade von vornherein auch gegen Frauen und Kinder gerichtet; als Extremfall tauchte die Möglichkeit auf, daß die ganze Bevölkerung Englands bzw. Deutschlands verhungert wäre und die Armeen auf den Leichen der Frauen und Kinder fortgekämpft hätten. Daran dachte indessen niemand; für jeden stand es außer Frage, daß der unterliegende Staat rechtzeitig Frieden schließen würde. Aber die Voraussetzungen für eine radikale Entmenschlichung der Kriegführung, d.h. für Genozide, wurden gleichwohl im Ersten Weltkrieg geschaffen, und an seinem Rande bzw. in seinem Gefolge wurden auch die ersten genuinen oder doch potentiellen Genozide der neueren Geschichte zur Wirklichkeit: Die ethnischen Spannungen in einem Vielvölkerstaat führten in direktem Zusammenhang mit dem Krieg zum Völkermord an den Armeniern durch die Türken, und zwischen Türken und Griechen kam es wenig später zu einem Bevölkerungstausch, der nur deshalb nicht Massenvertreibungen mit Massenverlusten gleichkam, weil die großen Mächte ein wachsames Auge darauf warfen. Auf erste Anfänge beschränkte sich dagegen der Luftkrieg, der indessen offenkundig die Möglichkeit in sich barg, daß er unmittelbar gegen die Zivilbevölkerung als das empfindlichste und doch unentbehrliche Element der Kriegführung gerichtet werden konnte. Der Fortschritt zeigte also ein befremdendes Doppelgesicht: als Fortschritt des humanitären Empfindens suchte er den Krieg mehr und mehr einzuhegen und zu vermenschlichen, als Fortschritt der Waffentechnik dagegen riß er Grenzen nieder, die sogar in barbarischen Zeiten für die nichtkämpfende Bevölkerung oftmals Schutz bedeutet hatten.“ (Ebd., 1987, S. 459-460).

„Ein völlig neues Element wurde gegen Ende des Ersten Weltkrieges aber dadurch in die Welt gebracht, daß das Postulat der Klassenvernichtung praktische Bedeutung gewann. Eine vergleichsweise harmlose Erscheinungsform war das Verlangen der Alliierten nach Auslieferung von 700 deutschen »Kriegsverbrechern«, das mit der Propaganda gegen die preußischen Junker eng verknüpft war. Gemeint war ja nicht die Bestrafung einzelner Vergehen - zur Untersuchung und eventuellen Ahndung erklärte sich die deutsche Regierung bereit -, sondern die Diskreditierung einer ganzen Führungsschicht, und es zeigte sich sehr rasch, daß diese Absicht in Deutschland gerade eine breite Solidarisierung erzeugte, die sogar zahlreiche Sozialdemokraten einschloß, obwohl die Brechung oder Einschränkung der Macht der Junker doch auch zu deren Zielen gehörte. Umfassende Realität gewann das Prinzip der Klassenvernichtung dagegen in Rußland. Zwar lag es nahe zu sagen, es sei keineswegs ein Genozid, wenn nach einem verlorenen Kriege die Bevölkerung eines Staates ihre herrschende Klasse zur Verantwortung ziehe und deren Widerstand mit Gewalt breche. Aber noch konnte sich niemand trotz der Armeniermassaker die vollständige Vernichtung eines Volkes auch nur vorstellen, und daher wurde der Angriff gegen ganze Schichten ohne die Prüfung individueller Schuld als entsetzlich, als genozidal empfunden. Überdies proklamierten die Bolschewiki ausdrücklich die Absicht, die Vernichtung der russischen »Bourgeoisie« bis zur Vernichtung der »Weltbourgeoisie« fortzutreiben. Wie hätte es ausbleiben können, daß ein Klima allgemeiner Besorgnis und Angst entstand, auch wenn die positive Solidarisierung des europäischen Bürgertums mit dem russischen Bürgertum gering blieb. Konnte man ein Volk nicht auch dadurch töten, daß man seine herrschende Klasse beseitigte, zu der im modernen Europa ja keineswegs nur jene Feudalherren gehörten, die Saint-Simon in seiner berühmten »Parabel als überflüssig bezeichnet hatte, sondern gerade jene Techniker und Kaufleute, Wissenschaftler und Finanzmänner, die nach Saint-Simon an deren Stelle treten sollten? Und sehr rasch kam in einigen Kreisen die Auffassung auf, die Vorgänge in Rußland seien sogar im Wortsinne ein Genozid gewesen, weil die Juden die führende Schicht aus Russen und Baltendeutschen hingemordet und sich an deren Stelle gesetzt hätten. Die unmittelbare Konsequenz dieser Auffassung war offenbar das Postulat einer Vernichtung der Juden als Strafe und Präventivmaßnahme, und da die Juden sich von sich aus - und gerade in der Sowjetunion - mehr und mehr nicht länger oder noch nicht als Konfession, sondern als Volk oder Nationalität verstanden, wäre die sogenannte »Endlösung der Judenfrage« als der idealtypische Genozid zu bezeichnen, der in dem Kollektivismus der Schuldzuweisung an eine überindividuelle Entität begründet wäre. So sehr dieser Zusammenhang ins Auge springt, so wenig angemessen wäre es gleichwohl, ihn zum Ausgangspunkt der Kennzeichnung des Zweiten Weltkrieges als eines Vernichtungskrieges zu machen, denn die Anfänge des Genozids waren im Ersten Weltkrieg schon vor 1917 zu erkennen ....“ (Ebd., 1987, S. 460-461).

„Der Krieg gegen Polen begann mit einem tendenziellen Genozid auf polnischer Seite, nämlich dem sogenannten »Bromberger Blutsonntag«, der Niedermetzelung von einigen tausend Staatsbürgern deutscher Herkunft durch aufgebrachte Polen. Die Angriffe der Sturzkampfbomber auf Warschau und andere Städte und die daraus resultierenden Verluste der Zivilbevölkerung waren indessen keine Antwort, sondern von vornherein im Kriegsplan enthalten und nach Guernica und Barcelona die erste, freilich immer noch sehr unvollständige Realisierung der genozidalen Tendenzen in der modernen Kriegführung.“ (Ebd., 1987, S. 461).

„Eine bloße Wiederaufnahme des Weltkriegs bedeutete die Blockade, die England und Deutschland wechselseitig übereinander verhängten. Wie im Weltkrieg konnten die Leiden aber durch die gleichmäßige Rationierung der vorhandenen Lebensmittel erträglich gemacht und gegebenenfalls durch einen Friedensschluß rechtzeitig beendet werden. Offen und unverhüllt genozidal war dagegen die Absicht, die Churchill am 8. Juli 1940 in einem Schreiben an Lord Beaverbrook zum Ausdruck brachte: Es gebe nur eine einzige Möglichkeit, Hitler zu bezwingen, und die bestehe in einem »absolut zerstörenden Vernichtungsangriff sehr schwerer Bomber auf das Nazi-Hinterland«. (Vgl. Winston Churchill, The Second World War, Band II, 1951, S 567). Daß der Premierminister Aussagen wie diese sehr ernst meinte, geht nur allzu klar aus einer Rede hervor, die er im April 1941 hielt, also vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion: »Es gibt mehr als 70 Millionen bösartiger Hunnen - einige davon sind zu heilen, die anderen umzubringen.« (Vgl. Winston Churchill, His Complete Speeches, Vol. VI, a.a.O., S. 6384). Tatsächlich führten die Engländer und Amerikaner den Krieg bis zur Invasion im Juni 1944 fast vollständig - und danach immer noch zu einem guten Teil als Vernichtungskrieg durch Luftangriffe gegen die deutsche Bevölkerung, dem an die 700000 Menschen zum Opfer fielen, großenteils unter schrecklichen, in früheren Zeiten unvorstellbaren Todesängsten und Qualen. Freilich wollte auch Hitler »ihre Städte ausradieren«. Aber es würde heute mit Recht allgemein als töricht gelten, wenn man diese Aussagen von entsprechenden Aussagen Churchills trennen oder eine einseitige Folge von deutscher Ursache und englischer Wirkung postulieren wollte.“ (Ebd., 1987, S. 461-462).

„Wenige Wochen nach Kriegsbeginn ließ Stalin die Bevölkerung der Wolgadeutschen Republik nach Sibirien deportieren. Man darf annehmen, daß auf den wochenlangen Transporten in glühender Hitze nicht viel weniger als 20% der Verschleppten umgekommen sind. Eine noch größere Prozentzahl ist hinsichtlich der Litauer, Letten und Esten anzunehmen, die in einer zweiten Deportationswelle unmittelbar vor Kriegsausbruch ins Innere der Sowjetunion transportiert wurden. Schon 1940 sollen vom sowjetischen Generalstab besondere Maßnahmen gegen die Völker des nördlichen Kaukasusgebietes, vor allem die Tschetschenen, Inguschen und Kalmücken, ins Auge gefaßt worden sein, da sie, die sich lange gegen die russische Expansion unter den Zaren zur Wehr gesetzt hatten, im Kriegsfalle als unzuverlässig betrachtet wurden. Tatsächlich schlossen sich diese Völker in großen Teilen den Deutschen an, die ihnen Freiheit und Unabhängigkeit versprachen, und sie wurden 1944 ausnahmslos umgesiedelt. Die Krimtataren traf das gleiche Schicksal, und die Todesraten der ersten 18 Monate betrugen nach den Schätzungen Robert Conquests nicht viel weniger als 50%. (Vgl. Robert Conquest, The Nation Killers - The Soviet Deportation of Nationalities, 1970, S. 103, 162). Nachdem schon die Kollektivierung unter den nomadischen Völkern der asiatischen Bezirke der Sowjetunion besonders viele Opfer gefordert hatte, vollführte Stalin nun ganz unverhüllt Völkermorde als Präventivmaßnahmen und als Strafaktionen. Es sieht so aus, daß auch die Kämpfe gegen die Partisanen der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), welche die Rote Armee nach der Wiederbesetzung der Ukraine zu führen hatte, tendenziell den Charakter des Völkermordes aufwiesen, und es ist überaus bezeichnend, daß Chruschtschov in seiner Geheimrede nicht bloß scherzte, als er behauptete, Stalin würde auch die Ukrainer deportiert haben, wenn ihrer nicht zu viele gewesen wären. (Vgl. Chruschtschovs historische Rede, in: Ost-Probleme, 8. Jahr, 1956, S. 886). Und als Marschall Mannerheim seinen deutschen Bundesgenossen mitteilte, daß er einen Waffenstillstand mit der Sowjetunion schließen würde, da führte er zur Begründung das Argument an, daß sein Volk »ohne Zweifel vertrieben oder ausgerottet« werden würde, wenn er den schmerzhaften Schritt nicht rechtzeitig vollziehe. (Vgl. Gustav Mannerheim, Erinnerungen, 1952, S. 526f.). Die Kriegführung der Sowjetunion war also in noch höherem Maße durch Genozide gekennzeichnet als diejenige Englands, und man wird sich fragen müssen, ob nicht selbst Beneschs Pläne hinsichtlich eines Transfers der Sudetendeutschen unter den Begriff des Völkermordes subsumiert werden können. Daß Churchills Plan der »Westverschiebung Polens« und damit der Austreibung der deutschen Bevölkerung aus den ostdeutschen Gebieten jenseits von Oder und Neiße hier einzuordnen ist, kann jedenfalls keinem Zweifel unterliegen.“ (Ebd., 1987, S. 462-463).

„Und dennoch gehören Hitlers Genozide in eine andere Kategorie. Der Unterschied liegt nicht darin, daß sie etwa durchweg quantitativ umfassender gewesen wären. Von den Zahlen her gesehen, scheinen im »Generalgouvernement« nicht wesentlich mehr ehemalige Offiziere erschossen worden zu sein als im sowjetisch besetzten Teil Polens. Aber Hitler machte einen Grundsatz aus der Ausrottung und verlangte schon früh, »alle Vertreter der polnischen Intelligenz umzubringen«. Und vor allem war hier das Verhältnis von Zweck und Mittel umgekehrt. Nicht mehr der Sieg im Verteidigungskrieg war der Zweck, während die Luftangriffe und Umsiedlungen ein durch die Umstände erzwungenes Mittel zur siegreichen Beendigung des Krieges darstellten, sondern die Schaffung von freiem Raum war der Zweck und der Krieg ein bloßes Mittel. Der Völkermord hörte also mit dem Ende des Krieges nicht auf, sondern er sollte durch den Sieg gerade in größerem Umfang ermöglicht werden. Selbst eine Kapitulation half den betroffenen Völkern nicht, und ihre Bereitschaft, sich auf die deutsche Seite zu stellen, galt sogar als Gefahr. Schon im Januar 1941 hatte Himmler in einer Rede auf der Wewelsburg gesagt, im Osten hätten dreißig Millionen Menschen zu verschwinden, und noch im Jahre 1944 hielt er an der Forderung fest, die Volkstumsgrenze im Osten um 500 Kilometer hinauszuschieben. Der »Generalplan Ost« sah die Aussiedlung von 31 Millionen Menschen nach Sibirien und die »Umvolkung« weiterer Millionen vor, und wenn das Massensterben der Kriegsgefangenen im Winter 1941/’42 auch zu einem guten Teil auf die unbezwingbaren Umstände, nicht zuletzt auf Stalins Vernichtungsbefehle, zurückzuführen war, so kam doch als bedeutendes Moment Hitlers Wille zur biologischen Schwächung des russischen Volkes hinzu, ein Wille, zu dem es auf Stalins Seite keine rechte Analogie gab, obwohl Ilja Ehrenburgs Aufruf »Töte« schon im Jahre 1942 eine Entsprechung zur biologischen Vernichtungsintention Hitlers war. (Vgl. Ortwin Buchbender, Das tönende Erz, 1978, S. 305). Gewiß hatte die »Lebensraumpolitik« verschiedene Motive, und sie ging keineswegs allein aus dem Willen Hitlers hervor: Angst vor der demographischen Überlegenheit der »Ostvölker«; Träume vom gesunden bäuerlichen Leben, das allein den sozialen Konflikten die Spitze abbrechen und die Deutschen vor dem »Zivilisationstod« retten könne; Anglophilie in der Form des Dranges nach einem »deutschen Indien«; nicht zuletzt die Erinnerung an die englische Blockade im Ersten Weltkrieg und deren Folgen.“ (Ebd., 1987, S. 463-464).

„Und darum führte Erich Koch in der Ukraine eben doch Hitlers Politik durch, wenn er eine Kolonialpolitik wie »unter Negern« betrieb, wenn er ukrainischen Abordnungen, die ihn begrüßen wollten, das dargereichte Brot und Salz aus den Händen schlug, wenn er immer wieder Auspeitschungen vornehmen ließ. Damit trieb er eine Politik des mentalen Völkermordes, des Genozids durch Verachtung und Herabsetzung, und er mußte die eigenartige Erfahrung machen, die ihn so gut wie Hitler widerlegte, daß die Bevölkerung heftiger und nachdrücklicher auf Herabsetzung und Mißachtung reagierte als auf Erschießungen. Die Bolschewisten nämlich hatten - so formulierte es ein Memorandum - zwar viele Menschen erschossen, aber nicht einen einzigen öffentlich prügeln lassen, und der klügste Kopf im Ostministerium, der Diplomat Dr. Bräutigam, zog daraus in einer bemerkenswerten Denkschrift den Schluß, daß Russen und Ukrainer nun um die Anerkennung ihrer Menschenwürde gegen die Deutschen kämpften. Und so kam es, daß in der Sowjetunion kein antibolschewistischer Kampf für Freiheit und Menschenwürde der Individuen gegen das despotische System Stalins geführt werden konnte, obwohl zahllose Menschen - Russen, Ukrainer und auch Deutsche - dazu bereit waren, sondern daß letzten Endes nur ein Eroberungs- und Vernichtungskampf geführt wurde, der als solcher keine Ideologie hatte, weil er weiter nichts als lichtloser Volkstumskampf und unbegrenzter nationaler Egoismus war.“ (Ebd., 1987, S. 464).

„Dagegen scheint die sogenannte Endlösung der Judenfrage eine ganz und gar ideologisch bedingte Tat gewesen zu sein, denn Hitler und Goebbels haben es wiederholt und anscheinend in aller subjektiven Überzeugtheit für einen »Dienst an der Menschheit« erklärt, die »jüdische Gefahr« zu beseitigen oder das »jüdische Geschwür aufzustechen«. In der Tat ist der Zusammenhang mit dem Antibolschewismus vielleichter erkennbar als im Falle der Lebensraumpolitik, aber auf der anderen Seite ist es unbestreitbar, daß der nationalsozialistische Antisemitismus eine außerordentliche Verengung und Zuspitzung des Antibolschewismus und erst recht des Antimarxismus darstellte, weil er weit mehr den Charakter der Interpretation als denjenigen der Erfahrung besaß. Er gehört daher nur als eine besondere Art zur Gattung des Antibolschewismus, und nicht einmal alle Nationalsozialisten machten ihn sich mit gleicher Entschiedenheit zu eigen. Trotzdem besaß er unzweifelhaft einen übernationalen Appell und ist insofern als Ideologie zu bezeichnen. Aber auch diese Subsumtion bedarf der Qualifizierung, wie noch zu zeigen sein wird. Man kann die praktische Verwirklichung der Endlösung mit der Boykottaktion vom 1. April 1933 beginnen lassen, und es ist auch sicherlich der Erwägung wert, ob nicht die erste Vorwegnahme der Genozidpolitik in dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933 zu erblicken ist. Aber obwohl sich nicht leugnen läßt, daß schon in ganz frühen Äußerungen Hitlers eine physische Vernichtung der Juden andeutungsweise ins Auge gefaßt wird (vgl. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, 1963, S. 407f.) darf daraus nicht die Vorstellung abgeleitet werden, Hitler habe sich seit 1933 oder gar seit 1923 von einem festen Plan leiten lassen. Er machte auch die Judenpolitik nicht allein, so gewiß er der wichtigste aller einzelnen Faktoren war, und sie hing überdies, wie alle Politik, von vielen äußeren Umständen ab. Die Bemühungen einzelner Autoren, einen einheitlichen »Vernichtungsprozeß« zu konstruieren, an dem die gesamte deutsche Bürokratie beteiligt war, leiden unter einem Mangel an Differenzierung. Es ist vielmehr angebracht, verschiedene Phasen und Momente zu unterscheiden, welche zunächst den Begriff des Genozids noch nicht erfüllen und schließlich durch die Methode, die Intention und die tendenzielle Vollständigkeit der Vernichtung darüber hinausgehen.“ (Ebd., 1987, S. 464-465).

„Die erste Phase reichte bis 1941 und kann die Phase der Diskriminierung genannt werden. Das Hauptziel bestand darin, die Charakterisierung der Juden als eines Volkes statt einer Konfession durchzusetzen. Diese Tendenz war nicht spezifisch nationalsozialistisch, sondern sie war auch unter den Juden selbst mächtig und resultierte letzten Endes aus dem jüdischen Selbstverständnis, das sich nicht ohne weiteres damit abfinden konnte, die jahrtausendealte Gemeinde auf den Status einer bloßen Konfession innerhalb eines religiös neutralen Staates reduziert zu sehen. Insofern waren die Zionisten die echtesten Juden, und ihr Verlangen nach einem jüdischen Staat resultierte keineswegs bloß aus dem Wunsch, antisemitischen Anfeindungen entzogen zu sein. Der Kampf der Zionisten gegen die »Assimilanten« war daher ein Kampf um die Behauptung der gefährdeten Eigenart, während das Bildungsbürgertum in der Regel den Untergang der überlieferten Ethnizität bejahte, sich aber der Hoffnung hingab, der modernen Welt einige Grundzüge des jüdischen Ethos aufprägen zu können. So standen sich schon im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die zionistischen und die sozialistischen bzw. kommunistischen Söhne und Töchter des jüdischen Bildungsbürgertums als extreme Flügel in schroffer Feindschaft gegenüber, und Alfred Rosenberg brachte in seiner Schrift »Der staatsfeindliche Zionismus« 1921 die Vermutung zum Ausdruck, es handle sich um ein raffiniertes Zusammenspiel zum Zweck der Erringung der jüdischen Weltherrschaft. In der Praxis aber stellte sich der siegreiche Nationalsozialismus vollständig auf die Seite der Zionisten, und durch das Haavara-Abkommen von 1935 förderte er die jüdische Kolonisation Palästinas mehr als irgendein anderer Staat. Trotzdem war die spätere Behauptung Adolf Eichmanns, die SS und die Zionisten seien in ihrer Zielsetzung »Geschwister« gewesen (vgl. Rudolf Aschenauer, Ich, Adolf Eichmann, 1980, S. 505), eine grobe Verzerrung der Tatsachen. Denn es handelte sich nie um eine Diskriminierung im neutralen Wortsinne, nämlich Trennung oder Scheidung, sondern um die negative Diskriminierung der Zurücksetzung und Aussonderung. Das wurde ja schon durch die Nürnberger Gesetze klar, die den sexuellen Kontakt zwischen Juden und Deutschen zu einem kriminellen Tatbestand machten, während alle anderen Nicht-Staatsbürger in ihren Beziehungen zu Deutschen keinen spezifischen Beschränkungen unterworfen waren. Schon 1933 und 1935 lag also ein mentaler Genozid vor, demjenigen Erich Kochs in der Ukraine ante festum vergleichbar, freilich mit dem schwerwiegenden Unterschied, daß nicht die Verachtung, sondern die Angst (vor Ansteckung, Vergiftung oder Zersetzung) die grundlegende Emotion war. Als drittes Moment kam dasjenige der Beraubung einer materiell bevorzugten Minderheit hinzu oder, in der nationalsozialistischen Sprache, das Motiv der Wiedergewinnung des von Parasiten angeeigneten deutschen Volksvermögens, und insofern war die Judendiskriminierung diejenige Form des Klassenkampfes und der Klassenenteignung, die sichtbar genug war, um alte Ressentiments zu befriedigen, und begrenzt genug, um nicht unüberwindbare Widerstände hervorzurufen - mithin der defiziente, aber in europäischen Verhältnissen allein mögliche Modus der Expropriation der Bourgeoisie. Nach Kriegsbeginn trat an die Stelle der Förderung der Auswanderung nach Palästina für kurze Zeit der Plan, die Juden in Madagaskar anzusiedeln, aber die Entwicklung der Verhältnisse ließ ihn bald unrealistisch werden.“ (Ebd., 1987, S. 465-466).

„Ab Ende 1941 folgte als zweite Phase die Deportation der deutschen Juden und dann auch der Juden aus vielen europäischen Ländern nach Osten. Die Frage ist, ob diese Deportationen als solche und von vornherein Teile eines Vernichtungsprozesses waren. Auch hier sind Distinktionen angebracht. Die entscheidende Vorfrage ist die, ob die Juden als eine kriegführende, d.h. unverrückbar feindselige Gruppe bezeichnet werden durften. Sie ist für einen beträchtlichen Teil der deutschen Juden jedenfalls bis zum Pogrom vom November 1938 mit Entschiedenheit zu verneinen. Keineswegs nur die Kriegsteilnehmer, aber sie in besonderem Maße, fühlten sich trotz der Nürnberger Gesetze als deutsche Staatsbürger, und so gewiß man von den deutschen Juden nicht erwarten konnte, daß sie Anhänger und Verehrer Adolf Hitlers waren, so gewiß wünschten sie Deutschland als ihrem Vaterland nichts Schlechtes, und es gibt keine Beweise, daß eine nennenswerte Anzahl von ihnen aktiv für die Sache der Alliierten eingetreten wäre. Diese Feststellung kann gleichwohl nicht das letzte oder alleinige Wort sein. Die Äußerung Chaim Weizmanns vom September 1939 über den Kampf der Juden an der Seite der Alliierten ist bereits angeführt worden. (**)(**). Im August 1941 richtete eine Versammlung prominenter sowjetischer Juden einen noch weit leidenschaftlicheren Appell an die Juden in aller Welt, den gerechten Kampf der Sowjetunion und ihrer Verbündeten zu unterstützen. 1961 formulierte ein Autor wie Raul Hilberg, der in seinem Buch über die »Vernichtung der europäischen Juden« immer die Passivität und den Mangel an Widerstand auf seiten der Juden hervorhebt, den Satz: » Während des ganzen Zweiten Weltkriegs machten die Juden die Sache der Alliierten zu ihrer eigenen ... und trugen nach Kräften zur Erringung des Endsiegs bei«. Wenn man sich daran erinnert, daß die US-Amerikaner nach dem 7. Dezember 1941 ihre eigenen Staatsbürger japanischer Herkunft ein schließlich der Frauen und Kinder in Internierungslager brachten und daß die Engländer einen beträchtlichen Teil der antifaschistischen deutschen Emigranten als »feindliche Ausländer« nach Kanada transportieren ließen, wird man nicht von vornherein in Abrede stellen dürfen, daß die Deportationen als solche in den Augen der deutschen Bevölkerung als unvermeidbar gelten durften. Im Herbst 1941 lebte allein in Berlin noch die erstaunlich hohe Zahl von über 70000 Juden, und wenn man sich vor Augen hält, daß Stalin in seiner Rede vom 3. Juli 1941 bei seiner Aufzählung der gefährlichen Elemente innerhalb der sowjetischen Bevölkerung auch die »Gerüchtemacher« nicht ausließ, dann wird man die Berechtigung von Vorsichtsmaßnahmen erst recht nicht bestreiten können. Aber ebenso wie die Phase der Förderung der Emigration infolge der Nürnberger Gesetze einen anderen als den zionistischen Charakter erhielt, so stand die nächste Phase, die der Deportation, dennoch sogar für den bloßen Zuschauer unter ganz anderen Vorzeichen als der amerikanisch-japanische oder der englische Fall. Die Juden wurden nämlich durch den »Judenstern« kenntlich gemacht, und damit griff man auf eine ausgesprochen mittelalterliche Methode zurück. Der Artikel des Reichspropagandaministers, der aus diesem Anlaß unter der Überschrift »Die Juden sind schuld« in der Wochenzeitung Das Reich erschien, nahm daher eine ominöse Ähnlichkeit mit dem »Hepp, hepp« der Judenpogrome an.“ (Ebd., 1987, S. 466-467).

„Und was »der Osten« bedeutete, konnte keinem deutschen Soldaten und keinem dort tätigen Zivilisten vollständig verborgen sein. Er bedeutete jedenfalls »Ghetto« und nicht etwa bloß nach Analogie von Theresienstadt in Böhmen, wo eine Anzahl von alten und privilegierten Juden ein zwar abgesondertes, aber doch erträgliches Dasein führte, soweit das Lager nicht als Durchgangsstation für Transporte nach Auschwitz benutzt wurde. Zwar scheint es für kurze Zeit den Plan gegeben zu haben, in der Nähe des Bug ein größeres Gebiet für einen regelrechten »Judenstaat« zu reservieren, aber er wurde bald aufgegeben, und die deportierten Juden konnten nirgendwo Platz finden als in den furchtbar übervölkerten, hungernden, vom Fleckfieber heimgesuchten, durch Mauern abgeschlossenen Ghettos wie in Warschau oder in Lodsch, das nun Litzmannstadt hieß, oder aber in eigens errichteten Konzentrationslagern. Dort wurde wieder zum Endpunkt, was der Ausgangspunkt des jüdischen Geschicks in der Neuzeit gewesen war: das »Schtetl«, aus dessen noch mittelalterlicher Enge Hunderttausende von Juden ausgezogen waren, um im kultivierten Westen Deutsche, Franzosen und US-Amerikaner oder auch Zionisten zu werden, und das nun als ein nur allzu modernes Konzentrationslager wieder ihr Aufenthaltsort wurde.“ (Ebd., 1987, S. 467-468).

„Wo die deutsche Wehrmacht aber direkt auf das sowjetische Judentum mit seinen immer noch weithin geschlossenen Siedlungsgebieten traf, ist eine weitere Unterscheidung angebracht, die in der Regel durch den Terminus Endlösung verwischt wird. Es handelt sich um die Aktionen der »Einsatzgruppen« der SS, die bekanntlich den vordringenden Armeen in der Sowjetunion auf dem Fuße folgten und die viele Hunderttausende von Juden »erledigten«, wie ihre Führer sich in den Ereignismeldungen UdSSR auszudrücken pflegten, Meldungen im übrigen, die keineswegs ausschließlich oder auch nur vorwiegend die immer wieder zitierten und kaltherzig konstatierenden Sätze über Massentötungen enthalten, sondern auch Nachrichten über Erschießungsaktionen des abziehenden NKWD sowie informative, oftmals für eine bessere Behandlung der russischen und ukrainischen Bevölkerung plädierende Lageberichte. Auch hier ist eine Vorfrage zu stellen, die in der Literatur sehr häufig übergangen wird. Nicht nur die Einsatzgruppen selbst, sondern nicht wenige Angehörige der Wehrmacht bis zu den Generälen hinauf haben in Berichten, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, die Juden für die Hauptträger des Partisanenkampfes erklärt, und daher wollten sie die Judenaktionen als Repressalie verstanden wissen. Die bekannten Erlasse der Feldmarschälle von Reichenau und von Manstein und ähnliche offizielle Verlautbarungen gehen von dieser Voraussetzung aus und lassen zum Teil überdies erkennen, wie lebendig die Erinnerung an die Zeit des deutschen Bürgerkrieges und des Kampfes zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten während der Weimarer Zeit noch war. Es wäre in der Tat sehr sonderbar gewesen, wenn nicht zahlreiche Juden Stalins Befehl zur Partisanentätigkeit befolgt hätten. Aber für die Aktionen der Einsatzgruppen war gerade kennzeichnend, daß nicht nur die Bürgerkriegsproportion des 1:100 nicht selten überschritten wurde, sondern daß man die Partisanen oder die Vernichtungsbataillone der Roten Armee ohne jede weitere Prüfung mit den Juden identifizierte. So waren die Prämissen des Blutbades in der Schlucht von Babij Jar bei Kiew, dem 33000 Juden zum Opfer fielen, ein großer Brand sowie umfangreiche Sprengungen in der Stadt, bei denen mehrere hundert deutsche Soldaten den Tod gefunden hatten. Aber Urheber war ein Vernichtungsbataillon der Sowjetarmee gewesen, und es gab nicht die geringste Wahrscheinlichkeit, daß es ausschließlich oder auch nur überwiegend aus Juden bestanden hätte. In der Literatur sind die Meinungen über die jüdische Beteiligung am Partisanenkampf geteilt: Die westlichen Werke heben die Passivität der Juden hervor, die sich meist widerstandslos zur Erschießung hätten führen lassen; die kommunistische Literatur dagegen ist voll von Berichten über heroische Aktivitäten - nicht zuletzt im Kampf gegen jüdische »Kollaborateure« und »Verräter« -, während deutsche Berichte bald das eine, bald das andere akzentuieren. In zahlreichen Fällen konnte jedoch, wie gerade aus den Ereignismeldungen unwidersprechlich hervorgeht, von Repressalien überhaupt nicht die Rede sein, sondern Tausende und Zehntausende von Juden wurden zusammengetrieben und von SS-Männern und manchmal auch von einheimischen Hilfskräften erschossen. Die Gesamtzahl der Opfer der Einsatzgruppen in der UdSSR wird von Gerald Reitlinger auf über eine Million, von Raul Hilberg auf 1,3 und von Krausnick-Wilhelm auf 2,2 Millionen geschätzt! Gerade wenn man sich die Taten des NKWD vor Augen hält und sich vergegenwärtigt, daß Katyn mit Sicherheit nur ein Fall unter anderen Fällen war, wird man zu dem Ergebnis kommen müssen und dürfen, daß die Aktionen der Einsatzgruppen schlimmer waren als diejenigen des NKWD. Der NKWD hatte die führende Schicht der Polen zu töten gesucht, die in seinen Augen gegenrevolutionär war; die Einsatzgruppen aber taten im fremden Lande nun dasjenige, was in Deutschland zu tun unmöglich war: sie rotteten tendenziell die Masse der als revolutionär betrachteten Bevölkerung aus. Wenn die Gegenrevolutionäre sich die Revolutionäre mit aller Konsequenz zum Vorbild nehmen, müssen sie weit schlimmere, weil quantitativ umfassendere Taten begehen. Aber daß Kommunisten und Nationalsozialisten auch hier nicht einfach die Idealtypen von Revolution und Gegenrevolution verkörperten, wurde durch die Tatsache klar, daß in Wahrheit nur ein Teil sogar der sowjetischen Juden der revolutionären, d.h. stalintreuen Bevölkerung zuzuzählen war, während umgekehrt auch zahlreiche Russen und Ukrainer sich mit dem Sowjetstaat identifizierten. (Den Einsatzgruppenführern fehlte nicht durchweg ein Bewußtsein dieses Tatbestandes. So heißt es in einem Bericht der Einsatzgruppe C vom 17. September 1941: »Selbst dann, wenn eine sofortige hundertprozentige Ausschaltung des Judentums möglich wäre, würde dadurchj noch nicht der politische Gefahrenherd beseitigt. Die bolschewistische Arbeit stützt sich auf Juden, Russen, Georgier, Armenier, Letten, Ukrainer ...«, zitiert von Hilberg, a.a.O., S. 244). Auf der anderen Seite wandte sich Stalin ebenfalls gegen ganze Bevölkerungen wie die Wolgadeutschen, die er, nach Chruschtschovs Worten (vgl. a.a.O.), »mitsamt allen Kommunisten und Komsomolzen« deportieren ließ, weil er in ihnen potentielle Helfer des Feindes sah. Auch hier lag ein Überschießen, eine Verallgemeinerung, eine kollektivistische Schuldzuschreibung vor, aber die Zahl der Wolgadeutschen war vergleichsweise gering, und es genügte, sie lediglich zu verschicken. Daher sind die Aktionen der Einsatzgruppen das radikalste und umfassendste Beispiel einer präventiven und über alle konkreten Erfordernisse der unmittelbaren Kriegführung weit hinausgehenden Bekämpfung von Feinden, und Nikolajewsk wie Katyn mußten als Aktionen von weit geringerer Schrecklichkeit erscheinen! Vor allem aber standen diese Massentötungen nach der Intention des Urhebers und im Bewußtsein der wichtigsten Beteiligten innerlich mit dem letzten und abschließenden Stadium in enger Verbindung, der quasi-industriellen Massentötung in Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau, Treblinka und Belzec.“ (Ebd., 1987, S. 468-470).

„Nun ist freilich die Faktizität dieser letzten und äußersten Stufe, der Tötung von etwa drei Millionen Juden, welche durchweg nicht aus Partisanengebieten der Sowjetunion stammten, in den Gaskammern der Vernichtungslager von einigen Autoren bestritten worden, während die Aktionen der Einsatzgruppen noch von niemandem in Abrede gestellt worden sind. Diese Literatur stammt keineswegs ausschließlich von Deutschen oder von Neofaschisten!(**)  Die Beweisführung besteht in der Regel darin, daß die Echtheit von zentralen Dokumenten wie etwa des Protokolls der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 in Zweifel gezogen wird oder daß die Autoren auf die Widersprüchlichkeit von Zeugenaussagen und die großen Unterschiede zwischen den Zahlenangaben der Experten hinweisen. Nicht selten wird behauptet, Massenvergasungen (**) dieses Umfangs seien mit den vorhandenen Mitteln technisch nicht möglich gewesen. Aber selbst wenn man sich angesichts dieser Argumente des Urteils enthielte und die zahlreichen weiteren Zeugnisse - darunter diejenigen von Eichmann (vgl. Rudolf Aschenauer, Ich, Adolf Eichmann, 1980, S. 52), von dem Auschwitz- Kommandanten Höß und von zahlreichen Insassen der Lager - unberücksichtigt ließe, bleibt das Faktum des Todes von vielen Hunderttausenden und das weitere Faktum, daß ein auffallend großer Teil dieser Toten Juden waren (**).“ (Ebd., 1987, S. 470).

„Am 17. Februar 1942 sagte Hitler im Führerhauptquartier zu seinen Tischgästen, unter denen sich auch Heinrich Himmler befand: »Das Phänomen der Antike -der Untergang der antiken Welt - war die Mobilisierung des Mobs unter dem Motto Christentum, wobei dieser Begriff mit Religion so wenig zu tun hatte, wie der marxistische Sozialismus mit der Lösung der sozialen Frage .... 1400 Jahre hat das Christentum gebraucht, um sich zur letzten Bestialität zu entwickeln. Wir dürfen deshalb nicht sagen, daß der Bolschewismus schon überwunden ist. Je gründlicher aber die Juden herausgeworfen werden, desto rascher ist die Gefahr beseitigt. Der Jude ist der Katalysator, an dem sich die Brennstoffe entzünden. Ein Volk, das keine Juden hat, ist der natürlichen Ordnung zurückgegeben .... Würde die Welt auf einige Jahrhunderte dem deutschen Professor überantwortet, so würden nach einer Million Jahren lauter Kretins bei uns herumwandeln: Riesenköpfe auf einem Nichts von Körper.« (Vgl. a.a.O.). Was Adolf Hitler also mit dem Wort »Jude« eigentlich meinte, ist nichts anderes, als was fast alle Denker des 19. Jahrhunderts mit positivem Akzent den Fortschritt genannt hatten, jenen Komplex von wachsender Naturbeherrschung und Naturentfremdung, von Industrialisierung und Handelsfreiheit, von Emanzipation und Individualismus, den erstmals Nietzsche und nach ihm einige weitere Lebensphilosophen wie Ludwig Klages und Theodor Lessing für eine Gefährdung des Lebens erklärt hatten. Für Hitler ist dieses Leben identisch mit der natürlichen Ordnung, d.h. der zugleich bäuerlichen und kriegerischen Struktur der Gesellschaft, die nach seiner Meinung im gegenwärtigen Japan noch auf klassische Weise gegeben ist, während sie in Europa zuerst von der Friedensutopie des Christentums und dann durch eine maßlose Industrialisierung mit ihren Krisen- und Zersetzungserscheinungen gefährdet wurde. Hitler hat also den gleichen weltgeschichtlichen Prozeß im Auge, der für Marx zugleich Fortschritt und Niedergang gewesen war, jenen Prozeß, den man die Intellektualisierung der Welt nennen könnte. Aber trotz einiger Ansätze waren Marx und Nietzsche, Lessing und selbst Klages immer weit von der Behauptung entfernt geblieben, es lasse sich eine konkrete, menschliche Ursache dieses Prozesses aufweisen. Hitler jedoch tat diesen Schritt, der eine radikale Umkehrung aller bisherigen Ideologie war, aber selbst nicht mehr Ideologie in einem ursprünglichen Sinne genannt werden sollte, weil er einer Menschengruppe die Macht zuschreibt, einen transzendentalen Prozeß hervorzurufen. Dennoch war die These nicht etwa bloß unsinnig, denn die Juden hatten schon als »Volk der Schrift« und dann als eine durch die Emanzipation scheinbar besonders geförderte und in Wahrheit besonders tief getroffene Gruppe in der Tat eine hervorstechende Beziehung zu jener lntellektualisierung, aber sie waren nicht Ursache, sondern Erscheinungsform. Insofern war es nicht ohne Konsequenz, daß Hitler in seiner Verteidigung des Krieges als unverzichtbaren Teils der natürlichen Ordnung die genozidalen Tendenzen des modernen Krieges vor allem gegen die Juden richtete. Aber ein Genozid, der in dieser Absicht erfolgt, ist kein bloßer Genozid mehr. Wie sehr für Hitler die Umkehrung der Geschichtsphilosophie, die Verteidigung der natürlichen Ordnung und die Revolutionserfahrung von 1918 Hand in Hand gingen, wird unwidersprechlich klar, wenn noch ein Satz hinzugenommen wird, den er am 22. Juli 1941 zu dem kroatischen Marschall Kwaternik sagte: »Wenn auch nur ein Staat aus irgendwelchen Gründen eine jüdische Familie bei sich dulde, so würde diese der Bazillusherd für eine neue Zersetzung werden.« (Vgl. Andreas Hillgruber, Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler - Vertrauliche Aufzeichnungen über Unterredungen mit Vertretern des Auslandes 1939-1941, 1967, S. 614). Zwar erwähnte er im folgenden Madagaskar und Sibirien als mögliche Aufenthaltsräume für die europäischen Juden. Aber Madagaskar war ihm schon verschlossen, und Sibirien sollte ihm bald ebenso verschlossen sein. Wenn er die Juden aus Deutschland und dem übrigen Europa nach Polen hätte bringen lassen, damit sie dort in Ghettos lebten, so wäre er weiter nichts als ein Schwätzer gewesen. Deutsche Geisteskranke hatte er zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Kwaternik bereits durch Gas töten lassen, und es ist durchaus möglich, daß diese Methode ihm besonders »human« erschien. Wer Hitler ernst nimmt, kann die Vernichtungsaktionen von Auschwitz und Treblinka und auch die Gaskammern nicht leugnen. Das bedeutet nicht, daß er alle Zahlenangaben akzeptieren muß, was sowieso eine Unmöglichkeit wäre. Hinsichtlich Auschwitz bewegten sich die meisten Schätzungen zwischen vier Millionen und einer Million, bis die offizielle Festlegung auf 1 bis 1,5 Millionen erfolgte.“ (Ebd., 1987, S. 470-472).

„Aber es ist nicht zu bestreiten, daß diese transzendentale Vernichtung in der größten Verborgenheit vor sich ging. Wer, wie Hilberg, die Meinung vertritt oder zu suggerieren sucht, alle Mitglieder des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS oder sogar alle Eisenbahner, die Züge nach Auschwitz abfertigten, müßten von den Gaskammern gewußt haben, der sollte konsequenterweise leugnen, daß der »Befehl Nr. 1«, niemand dürfe mehr wissen, als für die Ausführung seiner unmittelbaren Aufgaben unbedingt erforderlich sei, die Menschen noch mehr voneinander trennte, als es die Arbeitsteiligkeit der modernen Gesellschaft sowieso tut, und daß hundert Spezialisten Panzerwagen bauen können, während Tausende von anderen Spezialisten des Glaubens sind, sie hätten Einzelteile für Raupenschlepper produziert. Hilberg selbst berichtet davon, daß Frau Schirach in Amsterdam zur Zeugin einer nächtlichen Zusammentreibung von Juden geworden sei und sich deshalb so sehr erregt habe, daß sie ihrem Mann davon berichtete. Dieser habe ihr geraten, bei ihrem nächsten Besuch im Hauptquartier den Führer selbst auf solche »Mißstände« aufmerksam zu machen. Hitler habe ihr aber nur »ungnädig« zugehört und nach einem »Wortwechsel« habe das Ehepaar Schirach den Raum verlassen. Und der neben Rommel berühmteste der deutschen Panzergenerale, Guderian, sagte noch im März 1945 in offenkundiger Aufrichtigkeit vor Vertretern der Presse, er habe lange im Osten gekämpft, aber er habe nie etwas von den »Teufelsöfen, Gaskammern und ähnlichen Erzeugnissen einer krankhaften Phantasie« bemerkt, mit denen ein Befehl des Marschalls Schukov die »Haßgefühle der primitiven Sowjetsoldaten« aufzustacheln versuche.“ (Ebd., 1987, S. 472-473).

„Die Endlösung ist ohne Zweifel die extremste und kennzeichnendste unter allen Taten des Nationalsozialismus, aber ihre Verborgenheit gehört ebenso wesentlich dazu wie jene Umkehrung der überlieferten Geschichtsphilosophie, die öffentlich vorzutragen auch Hitler niemals wagen durfte. Als tendenziell vollständige Vernichtung eines Welt-Volkes unterscheidet sie sich wesentlich von allen Genoziden und ist das genaue Gegenbild zur tendenziell vollständigen Vernichtung einer Welt-Klasse durch den Bolschewismus, und insofern ist sie die biologistisch umgeprägte Kopie des sozialen Originals. Aber eben deshalb ist sie keine bloß biologische Vernichtung, sondern sie bedeutet eine Entscheidung im Hinblick auf den Geschichtsprozeß im ganzen, eine Entscheidung gegen den Fortschritt, aber auf der Basis fortschrittlicher Wirklichkeiten, während der Bolschewismus eine Entscheidung für den Fortschritt war, aber in enger Verknüpfung mit sehr zurückgebliebenen Realitäten. Trotzdem ist die Endlösung nicht die einzige Perspektive, in der das Verhältnis von Nationalsozialismus und Bolschewismus gesehen werden darf. Bolschewismus und Nationalsozialismus waren immer Gegensätze, und sie blieben es bis zum Ende, aber sie waren doch zu keinem Zeitpunkt einander auf kontradiktorische Weise entgegengesetzt, und je mehr sich der Krieg seinem Ende näherte, um so stärker wurde ein »Wechsel der Merkmale« erkennbar.“ (Ebd., 1987, S. 473).

„Wortzusammensetzungen geben nur dann einen klaren Sinn, wenn der Akzent wirklich auf dem Substantiv liegt und wenn das hinzugefügte Adjektiv bloß eine zusätzliche, wenngleich wesentliche Bestimmung zum Ausdruck bringt. Der Nationalsozialismus war indessen nie primär ein Sozialismus, d.h. eine hauptsächlich von den Motiven einer inneren Klassenauseinandersetzung bestimmte Bewegung, sondern er war ein Sozialnationalismus des faschistischen Typs, und zwar in dessen radikalster Erscheinungsform.“ (Ebd., 1987, S. 478-479). ** ** ** ** ** **

Schlußbetrachtung: Vom europäischen Bürgerkrieg 1917-1945 zum Weltbürgerkrieg 1947-1990
„Heute braucht man nicht mehr zu fordern, daß die Welt sich immer weiter von der Epoche des Faschismus und des europäischen Bürgerkriegs entfernen müsse, denn dieses Sich-Entfernen ist längst eine unübersehbare Realität. Aber dadurch ist es keineswegs sicher geworden, daß die Welt einer konfliktfreien oder auch nur konfliktarmen Zukunft entgegengeht; nur der mit allen technischen Mitteln geführte Krieg zwischen gleichrangigen Großmächten ist undenkbar und praktisch unmöglich geworden. Ein definitives historisches Urteil über den Gewaltsozialismus, der 1917 in Rußland die macht eroberte, und auch über den Gewaltnationalismus, der sich unter dem Namen Nationalsozialismus in Deutschland durchsetzte, wird erst gefällt werden können, wenn deutlich geworden ist, welche Folgen die fessellose »kapitalistische Globalisierung« und der stetig voranschreitende Liberalismus nach sich gezogen haben.“ (Ebd., 1987, S. 502).

„Wer die neuartigen und großen Probleme des 21. Jahrhunderts in die Fragestellungen und Emotionen des 20. Jahrhunderts einzuzwängen sucht, wer also etwa die Termini »Kommunismus« und »Faschismus« benutzt, obwohl bei den politischen Gegnern die betreffende Selbstbezeichnung nicht gegeben ist und wesentliche Differenzen erkennbar sind, tut der Zukunft einen schlechten Dienst. Gewiß gibt es in der Geschichte Kontinuitäten und Renaissancen, aber der Bolschewismus Lenins und Stalins und erst recht der Faschismus Mussolinis und Hitlers sind seit 1991 so sehr vergangen, daß sie nun endgültig zu Gegenständen wissenschaftlichen Nachdenkens statt zu Objekten oder Vorwänden parteipolitischer Polemik werden sollten.“ (Ebd., 1987, S. 503).

Brief von François Buret an Ernst Nolte


Lieber Herr Kollege,

Paris, den 3. April 1996

„Man muß den Bann dieses magischen Gedankengangs brechen; darum bereue ich mein Tun ....“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 448).

„Was auch immer die jeweilige Situation der deutschen und französischen Historiker hinsichtlich des Verständnisses vom 20. Jahrhundert war, ist es klar, daß die Obsession des Faschismus und damit des Antifaschismus von der kommunistischen Bewegung als Mittel instrumentalisiert worden ist, um die eigene Realität vor den Augen der öffentlichen Meinung zu verbergen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, diese Sichtweise, welche die Macht einer Theologie erlangt hat, in Frage zu stellen, um sich der realen Geschichte des Faschismus und des Kommunismus zu nähern. In dieser Hinsicht haben Sie den Weg gebahnt, und mit dem Verfließen der Zeit wird das in zehn oder fünfzig Jahren, wenn wie mehr Abstand gewonnen haben, für jedermann klar sein.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 550).

„Mit vorzüglicher Hochachtung


François Furet

Aus dem Französischen von Klaus Jöken und Ernst Nolte.“ (Ebd., 1987 bzw. 1997, S. 553).

Zitate: Hubert Brune, 2007 (zuletzt aktualisiert: 2009).

 

Anmerkungen:


Das „Liberale System“ ist laut Ernst Nolte u.a. dadurch charakterisiert, daß zu ihm wie selbstverständlich auch der Links-Sozialismus (z.B. Kommunismus, Marximus u.ä.) und der Rechts-Sozialismus (z.B. Faschismus, Nationalsozialismus [„Radikalfaschismus“, so Nolte] u.ä.) gehören. „Erst viel später wurde mir der Begriff des »Liberalen Systems« geläufíg, welches in seinem Ursprung das »europäische System« des Neben- und Miteinanders geschichtlicher Kräfte ist, die zunächst den Gegner vernichten wollen und sich doch damit begnügen müssen, ihn zu schwächen und zurückzudrängen, um dann an seiner Seite einen Platz einzunehmen, der den eigenen Erwartungen nicht entsprach, der aber das Ganze reicher und vielfältiger sein läßt, als der Teil es mit seinem Abolutheitsanspruch je hätte sein können. So erging es dem Protestantismus, der Aufklärung, dem Positivismus und der Lebensphilosophie, und schon in der Einheit des »mittelalterlichen« Katholizismus gab es eine Spaltung oder - besser - eine Differenzierung zwischen Staat und Kirche, zwischen Monarchie und Adel, zwischen Bürgerstädten und Landbevölkerung. Bis in die jüngste Zeit ist keiner dieser Faktoren völlig untergegangen ....“ (Ernst Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 340-341 **). Vgl. auch die im „Liberalen System“ enthaltenen „Liberalismus“ und „Liberismus“.

Der Begriff „Liberismus“ „sucht ein bestimmtes Entwicklungsstadium dessen zu fassen, was ich das »Liberale System« genannte habe. »Liberismus« ist ein Entwicklungsmoment dieser vielpoligen Gesellschaft, mit dem der Liberalismus in gewisser Weise totalitär wird. Aber der totalitäre Liberalismus weist grundsätzlich andere Merkmale auf als andere Totalitarismen: er ist hedonistischer Individualismus und damit die Verneinung des Begriffs der Pflicht. Insofern ist der liberale Totalitarismus von präzendenzloser Art.“ (Ernst Nolte, in: JF, 03.07.1998 **). Der Liberalismus ist ja schon von seinem Anfang an verknüpft mit dem Glauben an den Individualismus und tendiert zum Anarchismus; darum verwundert es nicht, daß er, indem er immer totalitärer wird - als „Liberismus“, so Nolte -, den endgültigen Untergang der Gemeinschaft bedeutet. Darüber hinaus ist der Liberalismus der Grund für sein eigenes Verschwinden, denn er muß ja gemäß seines Selbstverständnisses auch tolerant gegenüber denjenigen sein, die ihn abschaffen.

François Noël Babeuf (1760-1797, hingerichtet), genannt „Gracchus“, entwickelte sozialrevolutionäre Ideen einer »Republik der Gleichen«, in der das Privateigentum abgeschafft werden sollte. Nach Fehlschlag seines gegen die Direktorialregierung gerichteten Umsturzversuchs im Mai 1796 wurde er 1797 mit einigen Mitverschwörern zum Tode verurteilt und hingerichtet. Babeufs Ideen wirkten auf den europäischen Kommunismus.

Internationale als die internationalen sozialistischen (bzw. inter-nationalsozialistischen!) Vereinigung im Rahmen der Arbeiterbewegung: (1) seit 28.09.1864 I. Internationale; (2) seit Juli 1889 II. Internationale; (3) seit März 1919 III. Internationale; (4) seit September 1938 IV. Internationale.

„Robert Conquest zitiert in seinem »Harvest of Sorrow«, London 1986, eine höchst charakteristische Wendung aus eienm sowjetischen Roman von 1934, welche sich auf die Kulaken (ukrainische Bauern; sie waren eines der vielen Beispiele, die schuldig bzw. ein »Klassenfeind« waren, weil sie ein Kuh besaßen, und deshalb als »Klasse« verrnichtet wurden; Anm. HB) bezieht: »Not one of them was guilty of anything, but they belonged to a class that was guilty of everything« (S. 143). In schweren sozialen Krisensituationen drängt sich eine solche Auffassung den Benachteiligten gegenüber dem »Klassenfeind« geradezu auf, während der Ausweitung der »kollektivistischen Schuldzuschreibung« auf ein Volk oder eine Kultur in aller Regel ein erhebliches Maß an konstruierender Reflexion vorangehen wird. Die Kulaken freilich waren sicher nicht Opfer der »Dorfarmut«, sondern eines Entschlusses der Staatspartei.“ (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 508, Anmerkung 68).

„Kommunistische Autoren setzen den Gehalt des Begriffs mit großer Selbstverständlichkeit voraus, sprechen gewöhnlich lieber von »Weltrevolution«, da für sie die Feinde im Grunde »Agenten des Kapitals« und allenfalls »Kleinbürger« sind; größeres Gewicht hat der Begriff bei Ernst Jünger (1895-1998) und Carl Schmitt (1888-1985); in der wissenschaftlichen Literatur wurde er zuerst von Hanno Kesting und Roman Schnur verwendet.“ (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 508, Anmerkung 71).

Schreckbilder und Schreckgespenster waren im übrigen während der Weimaer Zeit keineswegs auf vdie angeblich besonders ängstlichen Kleinbürger beschränkt. So sagte z.B. Anfang 1929, als noch kaum ein Mensch Hitler ernst nahm, der kommunistische Abgeordnete Stöcker im Reichstag: »Im Wehretat stecken Hunderte von Millionen für geheime Aufrüstung. Wieviel Panzerzüge besitzt denn die Reichsbahn, und wie viele davon sind schon auf die russische Gleisbreite umgestellt?«  Bei den nichtkommunistischen Abgeordneten rief diese Aussage »schallende Heiterkeit« hervor.“ (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 511, Anmerkung 33).

Vgl. hierzu auch: Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 226, wo das Zitat ebenfalls zu finden und in der Fußnote angegeben ist: „Zitiert nach Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 339.“ (Peter Sloterdijk, ebd.).

Vgl. hierzu auch: Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 226, wo das Zitat ebenfalls zu finden und in der Fußnote angegeben ist: „Zitiert nach Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 89 und 513f..“ (Ebd.). Ernst Nolte: „Die Äußerung wird von David Shub (Lenin, 1957) folgedermaßen zitiert: »Um unsere Feinde erfolgreich zu bekämpfen, müssen wir unseren eigenen sozialistischen Militarismus haben. Von den hundert Millionen Einwohnern in Sowjetrußland, müssen wir neunzig davon für uns gewinnen. Was den Rest anbetrifft, so haben wir ihnen nichts zu sagen; sie müssen ausgerottet werden.« (Grigorij Sinovjew). Als Fundstelle wird angegeben: »Severnaia Kommuna«, Abendausgabe vom 18. September 1918, S. 375. .... Weil diese Äußerung trotz der Quellenangabe auf den ersten Blick tatsächlich unglaubwürdig erscheint, habe ich mir große Mühe gegeben, sie nachzuprüfen. .... Das Zitat David Shubs erwies sich als essentiell korrekt. Es findet sich allerdings in der Nr. 109 vom 19. September 1918 auf S. 2 (**) ...“ (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 513-514, Anmerkung 41).

„»Wir und sie können nicht auf einem Planeten leben. Wir brauchen einen eigenen sozialistischen Militarismus zur Überwindung unserer Feinde. Von den hundert Millionen der Bevölkerung in Sowjetrußland, müssen wir neunzig für uns gewinnen (wörtlich: hinter uns herziehen). Mit den übrigen haben wir nicht zu reden; wir müssen sie ausrotten. ...«“ (Grigorij Sinovjew, in: »Severnaia Kommuna« Nr. 109 vom 19. September 1918, S. 2, zitiert in: Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 514). **

Seeds of Conflict, Series 4: »The Opposition at Home and Abroad«, Band 1, S. 8 (Nachdruck: 1975). Einen bemerkenswerten Beitrag zur Bestimmung des qualitativ Neuartigen im bolschewistischen Terror gab einige Jahre später J. Steinberg, der im Winter 1917/'18 als linker Sozialrevolutionär der Justizkommissar im Rat der Volkskommissare gewesen war. In seinem Buch »Gewalt und Terror in der Revolution (Oktoberrevolution oder Bolschewismus)«, Berlin 1931, schreibt er: »... Ich will nur einen Akt der sozialistischen Staatsgewalt erwähnen, der der künftigen Selbstjustiz von oben (also nicht von unten) den Weg bahnte. Es war die Erklärung vom Dezember 1917 gegen die bürgerlich-liberale Kadettenpartei. Die letztere wurde »außerhalb des Gesetzes gestellt«. ... Das Dekret bedeutete, daß von nun an keine reale Person wegen eines realen Verbrechens angeklagt wurde und daß eine politische und soziale Abstraktion (die Kadettenpartei) dem allgemeinen Verdacht, der allgemeinen Wut ausgeliefert wurde, daß ferner die zu dieser Abstraktion gehörenden Menschen als lebende, leidende Wesen zu existieren aufhörten .... Mit diesem mit dem Geist des Sozialismus in schreiendem Widerspruch stehenden Akt sagte man den Massen zum ersten Male: Bei euren gegenwärtigen oder künftigen Leiden seid ihr nicht mehr verpflichtet, nach der Schuld der Schuldigen zu forschen. .... Ihr könnt einfach an einem gegebenen Sündenbock Vergeltung üben, euch direkt rächen und eure Feinde wie Kriminalverbrecher strafen und vernichten. Erst durch dieses Dekret der Räteregierung wurde die gegenseitige Haftpflicht und die Institution der Festnahme von Geiseln, die jetzt, wie ein eiserner Reifen, die ganze Revolution umklammern, geschaffen.« (S. 35). – Zur Frage der Vergleichbarkeit von Massenverbrechen ist die folgende Äußerupg von Wichtigkeit, die dem Bulletin des Zentralkomitees der Partei der linken Sozialrevolutionäre Nr. 1 vom Januar 1919 entnommen ist: »Im Gouvernement Tambov fand eine absolut spontane Erhebung in 40 Gemeinden statt. Man unterdrückte sie in der unmenschlichsten Weise. Panzerautos und giftige Gase wurden in Anwendung gebracht ...« (S. 71). Auf S. 329 bezeichnet der ehemalige Volkskommissar Lenin mit Nachdruck als »den Urheber des Terrors«.“ (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 517, Anmerkung 5).

Die russische Revolution und die sozialistische Internationale. Aus dem literarischen Nachlaß von Paul Axelrod, Jena, 1932, S. 180, 183, 186f..“ (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 517, Anmerkung 6).

„Auch hier tut man indessen, sich den entgegengesetzten Extremismus vor Augen zu halten, etwa die These von Theodor Lessing, die einzige Gefahr, die die Welt bedrohe, sei die weiße rasse, eine Äußerung, die Alfred Rosenberg auf dem Nürnberger Reichsparteitag von 1927 scharf attackierte. (Vgl. Der Reichsparteitag der NSDAP, Nürnberg, 19.-21. August 1927 - Der Verlauf und die Ergebnisse der Beratungen, Hrsg.: Alfred Rosenberg & Wilhelm Weiß, 1927, S. 37).“ (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 521, Anmerkung 25).

„»Zu einem einzigen Staat haben wir kein Verhältnis gesucht und wünschen auch, zu ihm in kein engeres Verhältnis zu treten: Sowjetrußland. Wir sehen im Bolschewismus mehr noch als fürher die Inkarnation des menschlichen Zerstörungswillens, Wir machen für diese grauenhafte Ideologie der Vernichtung auch nicht das russische Volk als solches verantwortlich. Wir wissen: Es ist eine kleine jüdisch-intellektruelle Oberschicht, die ein großes Volk in den Zustand dieses Wahnwitzes gebracht hat. Wir stehen daher jedem Versuch einer Ausbreitung des Bolschewismus, ganz gleich, wo er auch stattfindet, mit Abscheu, und dort, wo er uns selbst bedroht, in Feindschaft gegenüber ...« (Adolf Hitler, Rede am 20.02.1938).“ (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 528-529, Anmerkung 17).

„Eine aufschlußreiche Auseinandersetzung des Hauptpropagandisten der KPD mit der nationalsozialistischen Propaganda ist Willi Münzenberg, Propaganda als Waffe, 1937.“ (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 536, Anmerkung 15).

„Curt Geyer, führendes Mitglied der linken USPD, berichtet in seinen Lebenserinnerungen, daß er bei einem seiner Aufenthalte in Moskau von einer in Lumpen gekleideten Dame des ehemaligen Bürgertums angesprochen worden sei, die ihn angefleht habe, sie zu heiraten, damit sie diesem Elend entkomme.“ (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 534, Anmerkung 14).

„Es ist in der Tat auffällig, daß sich nicht wenige Ausländer unter diesen Revisionisten befinden, darunter ehemalige Insassen von deutschen Konzentrationslagern wie Paul Rassinier. Die Motive sind unterschiedlich, aber häufig ehrenwert: Abneigung gegen eine angebliche Fortsetzung bloßer Kriegspropaganda (!!!), Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern (!!!), Weigerung, dem toten Gegner Fußtritte zu geben (!!!). Meist widerlegen sich diese Autoren aber durch unsinnig übersteigerte Thesen selbst, so Faurisson, wenn er behauptet, niemals habe Hitler befohlen oder zugelassen, daß irgend jemand wegen seiner Rasse oder seiner Religion getötet wurde. Gleichwohl stände es um die etablierte Literatur besser, wenn sie sich mit den Auffassungen dieser Autoren ... sachlich auseinandersetzte, statt immer bloß von »Rechtsradikalen« zu sprechen So sind nicht nur gegen das Protokoll, sondern auch gegen die »Wannsee-Konferenz« ernste Zweifel vorgebracht worden, die meines Wissens nirgendwo in der Literatur gründlich erörtert werden. Nicht nur fehlt in der Anwesenheitsliste die wichtigste Person, Reinhard Heydrich, sondern es ist auch weder die Zeit des Beginns noch diejenige des Endes vermerkt. Vor allem aber waren der 19. und 20. Januar sehr wichtige Tage in Prag, nämlich Tage einer Regierungsumbildung, bei welcher der amtierende Reichsprotektor schwerlich hätte abwesend sein können. Der Angriff meldete am 21.01.1942 unter »Prag 20. Januar«, der stellvertretende Reichsprotektor habe um 19.00 Uhr die Mitglieder der neuen Regierung empfangen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Heydrich auf dem Luftwege am 20. bis 19.00 Uhr wieder in Prag sein konnte, und es ist sogar wahrscheinlich, da auch Eichmann mit großer Selbstverständlichkeit von dieser Konferenz spricht (vgl. Rudolf Aschenauer, Ich, Adolf Eichmann, 1980, S. 50ff.; vgl. auch Günther Deschner, Reinhard Heydrich, 1977, S. 25f.). Aber es bleibt beklagenswert, daß die elementare regel der Wissenschaft »audiatur et altera pars« (= »gehört werde auch der andere Teil«; Anm. HB) in der etablierten Literatur so weitgehend außer Kraft gesetzt zu sein scheint (das scheint nicht nur, sondern ist eindeutig auch so! Geschichtswissenschaft ist bei uns keine Wissenschaft mehr, sondern nur noch Religion bzw. Theologie und darin bedeutet »Theo« Siegerjustiz]! Anm. HB). Rundum erfreuliche Zeuignisse eines Willens zur Objektivität sind - außerhalb des Rahmens einer Erörterung der »Endlösung« - die Bücher des us-amerikanischen Historikers Alfred M. de Zayas (für die Zeit vor 1945: Die Wehrmacht-Untersuchungsstelle - Deutsche Ermittlungen über alliierte Völkerrechtsverletzungan im Zweiten Weltkrieg, 1984). Aber gerade sie machen auch wiederum die qualitative Differenz anschaulich.“ (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 541-542, Anmerkung 26).

„Der Frage der technischen Ausführbarkeit ist seit einiger Zeit viel Aufmerksamkeit zugewendet worden; affirmativ von Werner Wegner (Keine Massenvergasungen in Auschwitz?  Zur Kritik des »Leuchter-Gutachtens«, in: Die Schatten der Vergangenheit - Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus, Hrsg.: Uwe Backes / Eckhard Jesse / Rainer Zitelmann, 1990, S. 450-476); negativ bezüglich der von »Augenzeugen« genannten Zahlen in verschieden Arbeiten von Carlo Mattogno (vgl. Grundlagen zur Zeitgeschichte, Hrsg: Ernst Gauss [= Germar Rudolf], 1994). Auch die weitaus detaillierteste, aber dem Titel nur partiell entsprechende Untersuchung verhält sich gegnüber den Zahlenangaben der Sonderkommandos kritisch, nämlich das monumentale Buch von Jean-Claude Pressac, Technique and Operation of the Gas Chambers, 1989.“ (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 542, Anmerkung 27).

„Die Literatur über die »Endlösung« stammt zum weit überwiegenden Teil von jüdischen Autoren. Sie ist daher begreiflicherweise ganz auf ein einfaches »Täter-Opfer-Schema« fixiert; insofern zweifellos mit Recht, als die Initiative Hitlers bzw. des Nationalsozialismus hinsichtlich der Juden außer Zweifel steht, nicht erst seit 1939, und weil die »Judenräte« tatsächlich ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft an den Tag legten. Aber andere Aspekte geraten dadurch leicht aus dem Blick und werden oftmals nur in Nebenbemerkungen oder manchmal in aktuell-politischen Auseinandersetzungen zwischen den Autoren greifbar. So bemerkt Gilbert, a.a.0., die Mordkommandos hätten in Rußland wirksame Unterstützung gefunden, denn die Juden seien »von einer extrem feindlichen Landbevölkerung« umgeben gewesen, so daß sie bisweilen schon getötet worden seien, ehe die Einsatzgruppen eintrafen; außerdem hätten viele Pogrome durch »einheimische Antisemiten«, rumänische Truppen u.s.w. stattgefunden. (S. 76) Der internationale Charakter des Antisemitismus und eines Teils der »Endlösung« wird so immerhin nicht vollständig übergangen. Reuben Ainsztein wiederum arbeitet die Aktivität der jüdischen Widerstandskämpfer in der Polemik gegen das Konzept »wie Schafe zur Schlachtbank. so stark heraus, daß er sich gegen diejenigen jüdischen Autoren wenden muß, die seine Auffassung für eine Unterstützung nationalsozialistischer Behauptungen erklären. Es sollte also, weil der Begriff des »jüdischen Bolschewismus. unrichtig ist, das starke Engagement vieler Juden für die Sache des Kommunismus während des Krieges nicht in Abrede gestellt werden. (»Jewish Resistance in Nazi Occupied Europe with a historical survey of the Jew as fighter and soldier in the Diaspora«, 1974, S. XVII f., 913.) Ainsztein scheut sich auch nicht, einen Satz Chamberlains zu zitieren, der im allgemeinen als eine Art Eigentum der rechtsradikalen Literatur angesehen und tabuisiert wird: die US-Amerikaner und die Weltjuden hätten ihn in den Krieg gezwungen. (S. 873, nach den Forrestal Diaries vom 27. Dezember 1945.) Ein von den in Deutschland vorherrschenden Darstellungen abweichendes Bild zeichnet auch - in erster Linie hinsichtlich Frankreichs - Arno Lustiger in seinem Buch »Zum Kampf auf Leben und Tod! Das Buch vom Widerstand der Juden 1933-1945«, 1994. So sollte zwar die »jüdische« Literatur grundsätzlich auch gegen die angeblich »rechtsradikale« Literatur abgewogen werden, sofern diese nicht bloß propagandistisch ist, aber wesentliche Gewinne an Einsicht wären schon dann zu erwarten, wenn die »jüdische« Literatur unbefangen zur Kenntnis genommen würde. So wurde in den »Heften von Auschwitz« Nr. 811964 berichtet, im Juli 1944 seien 400 Männer aus einem Transport griechischer Juden dazu bestimmt worden, die Leichen aus den Gaskammern zu ziehen und zu verbrennen; da sie sich geweigert hätten, seien sie allesamt vergast und verbrannt worden. In der »Voice of Auschwitz Survivors in Israel« (Nr. 36, Oktober 1986, S. 27 ff.) wird jedoch nachgewiesen, daß es sich um ein bloßes Gerücht handelt. Aber sogar an weit weniger versteckter Stelle, wie in der New York Review of Books, findet sich gelegentlich eine Darstellung, in der sehr kritisch über die »conventional ethnic stereotypes - of German murderers, Jewish victims and Polish bystanders and collaborators« sowie über den »exclusive, martyrological approach« geurteilt wird, welcher der »immensely complex world of Eastern Europe« nicht gerecht werde. (Norman Davies: »The Survivor's Voice«, in »The New York Review of Books«, Vol. XXIII, Nr. 18 vom 20. II., 1986, S. 21-23.) Erst wenn die Regeln der Zeugenvernehmung allgemeine Anwendung gefunden haben und Sachaussagen nicht mehr nach politischen Kriterien bewertet werden, wird für das Bemühen um wissenschaftliche Objektivität in bezug auf die »Endlösung« sicherer Grund gewonnen sein.“ (Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus, 1987, S. 542, Anmerkung 29).

Der „Historikerstreit“wurde ausgelöst durch einen von Ernst Nolte (1923-2016) für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 06.06.1986 geschriebenen Artikel. Dem Text lagen Gedanken zu Grunde, die er bereits am 24. Juli 1980 in einem Artikel der FAZ geäußert hatte. Wer die „Hitlersche Judenvernichtung“ nicht in einem bestimmten Zusammenhang sehe, so schrieb Nolte, „verfälscht die Geschichte“, denn „Auschwitz resultiert nicht in erster Linie aus dem überlieferten Antisemitismus und war im Kern nicht ein bloßer »Völkermord«, sondern es handelte sich vor allem um die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution.“ Außerdem meinte Nolte: „Es wird sich kaum leugnen lassen, daß Hitler gute Gründe hatte, von dem Vernichtungswillen seiner Gegner sehr viel früher überzeugt zu sein als zu dem Zeitpunkt, wo die ersten Nachrichten über die Vorgänge in Auschwitz zur Kenntnis der Welt gelangt waren.“ Denn bereits vor dem 1. September 1939 - also: vor Kriegsausbruch - hat Chaim Weizmann als Präsident des jüdischen Weltkongresses und der Jewish Agency for Palestine offiziell geäußert, daß: „die Juden in aller Welt in diesem Krieg auf der Seite Englands kämpfen würden.“ Dies begründe nach Noltes Meinung die These, „daß Hitler die Juden als Kriegsgefangene … behandeln und internieren durfte.“ (Rudolf Augstein u.a.: Historikerstreit, 1987, S. 24). Einen weiteren Anstoß der Debatte bedeutete für die Kritiker das Buch „Zweierlei Untergang“ des Historikers Andreas Hillgruber (1925-1989). In dem Buch parallelisierte Hillgruber den „Holocaust“ mit dem Zusammenbruch der Ostfront und der danach erfolgten Flucht und Vertreibung. – Der Historikerstreit wurde also zweimal, d.h. durch zwei Artikel von Nolte in der FAZ (24.07.1980, 06.06.1986) ausgelöst, obwohl ihm ja Gedanken aus dem Artikel vom 06.06.1986 zugrunde liegen. Der Wissenschaftler behauptet darin, der Archipel Gulag habe „das logische und faktische Prius“ vor Auschwitz, das heißt, der „Rassenmord“ der Nationalsozialisten sei nur aus Furcht vor dem älteren „Klassenmord“ der Bolschewisten entstanden. Der Mord an den Juden, der schon in seinen älteren Thesen nicht zum Wesenskern des Faschismus gerechnet wurde, sei nur eine „überschießende Reaktion“ auf die Gräuel der Oktoberrevolution und habe damit einen „rationalen Kern“. Diese These erweiterte er zur Behauptung eines „europäischen Bürgerkriegs“ von 1917 bis 1945. Nolte rückt hier Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus recht eng aneinander, weshalb seine Thesen nach Meinung der Kritiker auf eine nivellierende Variante der Totalitarismusthese oder gar Geschichtsrevisionismus hinauslaufen. Auch stilisiert er den von jüdischer Seite als Reaktion auf antisemitische Ausschreitungen gestarteten Boykott deutscher Waren im Ausland und die Bekanntgabe einer „Kriegserklärung“ für einen Finanz- und Wirtschaftskrieg im Daily Express vom 24.03.1933 sowie die Loyalitätsbekundung Chaim Weizmanns von 1939 für England zur Kriegserklärung der Juden an das Deutsche Reich und erklärt so die mit Kriegsbeginn eskalierende Judenverfolgung des NS-Regimes als eine „Gegenmaßnahme“. - „Gerade diejenigen, die am meisten und mit dem negativsten Akzent von »Interessen« sprechen, lassen die Frage nicht zu, ob bei jenem Nichtvergehen der Vergangenheit auch Interessen im Spiel waren oder sind. Etwa die Interessen der Verfolgten und ihrer Nachfahren an einem permanenten Status des Herausgehoben- und Privilegiertseins. Die Rede von der »Schuld der Deutschen« übersieht allzu geflissen die Ähnlichkeit mit der Rede von der »Schuld der Juden«, die ein Hauptargument der Nationalsozialisten war. Alle Schuldvorwürfe gegen »die Deutschen«, die von Deutschen kommen, sind unaufrichtig, da die Ankläger sich selbst oder die Gruppe, die sie vertreten, nicht einbeziehen und im Grunde bloß den alten Gegnern einen entscheidenden Schlag versetzen wollen.“ (Ernst Nolte, Die Vergangenheit, die nicht vergehen will, in: F.A.Z., 06.06.1986 **).

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- Literaturverzeichnis -