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Ernst Nolte (1923-2016)
- Selbstentfremdung und Dialektik im deutschen Idealismus und bei Marx (Dissertation; 1952) -
- Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, italienischer Faschismus, Nationalsozialismus (1963) -
- Die faschistischen Bewegungen (1966) -
- Theorien über den Faschismus (Hrsg.; 1967) -
- Sinn und Widersinn der Demokratisierung in der Universität (1968) -
- Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen (1968) -
- Deutschland und der Kalte Krieg (1974) -
- Marxismus, Faschismus, Kalter Krieg (1977) -
- Zwischen Geschichslegende und Revisionismus?  (Aufsatz, in: F.A.Z., 24.07.1980) -
- Der Weltkonflikt in Deutschland (1981) -
- Marxismus und Industrielle Revolution (1983) -
- Die Vergangenheit, die nicht vergehen will (Aufsatz, in: F.A.Z., 06.06.1986) -
- Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus (1987) -
- Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sogenannten „Historikerstreit“ (1988) -
- Das Vor-Urteil als „strenge Wissenschaft“ (1989) -
- Nietzsche und der Nietzscheanismus (1990) -
- Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert (1991) -
- Martin Heidegger. Politik und Geschichte im Leben und Denken (1992) -
- Martin Heidegger und die Konservative Revolution (Aufsatz; 1992) -
- Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus (1993) -
- Die Deutschen und ihre Vergangenheiten (1995) -
- Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?  (1998) -
- Feindliche Nähe: Kommunismus und Faschismus im 20 Jahrhundert. Ein Briefwechsel (1998) -
- Die Frage nach der historischen Existenz (2001) -
- Der kausale Nexus. Über Revisionen und Revisionismen in der Geschichtswissenschaft (2002) -
- Faschismus. Von Mussolini zu Hitler (2003) -
- Die europäische Philosophie und die Zukunft Europas (Aufsatz, in: Sezession; Juli 2003) -
- Der heutige Islam - im Angriff oder in der Verteidigung? (2004)
- Carl Schmitt und der Marxismus (in: Der Staat, Band 44, Heft 2; 2005) -
- Einblick in ein Gesamtwerk (Gespräch; 2005) -
- Religion vom absoluten Bösen (Gespräch; 2006) -
- Die Weimarer Republik (2006) -
- Geschichte Europas 1848-1918. Von der Märzrevolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (2007) -
- Die dritte radikale Widerstandsbewegung: der Islamismus (2009)

Nolte-Zitate. Da ich Ernst Nolte für einen großartigen Geschichtsphilosophen halte, möchte ich ihm eine
separate Seite widmen und aus folgenden seiner Werke zitieren:      

 

- Der Faschismus in seiner Epoche (1963) -
- Die faschistischen Bewegungen (1966) -
- Die Vergangenheit, die nicht vergehen will (1986) -
- Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 (1987) -
- Historische Existenz (1998) -
- Die Frage nach der historischen Existenz (2001) -
-Der kausale Nexus (2002) -
- Der heutige Islam (2004) -
- Einblick in ein Gesamtwerk (2005) -
- Religion vom absoluten Bösen (2006) -
- Die Weimarer Republik (2006) -

 

 

 

Die Weimarer Republik. Demokratie zwischen Lenin und Hitler (2006)

 – Vorwort (S. 9-12)
 – Einleitung (S. 13-48)
 – Teile I bis IV (S. 49-228)
 – Engagierte Reflexion (S. 229-333)
 – Schlußbetrachtung (S. 335-350)
 – Bibliographischer Essay über: Politische Broschürenliteratur der Weimarer Republik (S. 351-382)
 – Anhang
: Parteien der Weimarer Republik (von Hubert Brune)
- Tabellen
- Abbildung
- Graphik

Vorwort
„Man kann nicht sagen, daß die »Weimarer Republik« zu den in Publizistik und Wissenschaft, ja in den Alltagsdiskussionen der Politik allzu wenig behandelten Realitäten gehört. Man darf sogar behaupten, daß die intellektuelle Debatte der Nachkriegszeit seit 1945 in mancher Hinsicht nicht viel mehr war als eine Fortsetzung der Erörterung von Streitpunkten der Weimarer Zeit und des nahezu allgemeinen Bestrebens, die Ursachen des Scheiterns der Demokratie herauszufinden und Wege zu entdecken, mittels derer eine Wiederholung des Übergangs zu der totalitären Einparteienherrschaft der nationalsozialistischen Epoche und damit auch des katastrophalen Kriegsendes von 1945 vermieden werden könnte ....“ (Ebd., 2006, S. 9).

„Das erste Ziel, das ich mit diesem Buch verfolge, unterscheidet sich nicht von den Zielen einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Historikern, nämlich die Distanz zur Weimarer Epoche, die sich durch den Zeitverlauf eigestellt hat, wissednschaftlich zu einer »Historisierung« fortzuführen, innerhalb deren zwar bei weitem nicht ein intellektuelles Ringen um ein adäquates Verständnis dieser Zeit aufgehört hat, die aber nachdrücklich die Einhaltung grundlegender wissenschaftlicher Maximen verlangt: die möglichst umfassende Kenntnisnahme des Gegenstandes, den Verzicht auf die Artikulierung emotionaler Reaktionen der Bewunderung und der Verwerfung, die Breitschaft, auch nach der »anderen Seite« vielbekämpfter Phänomene zu fragen, den Versuch, den »rationalen Kern« bestimmter Thesen und Verhaltensweisen zu eruieren, die Abwägung zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten der Interpretation.“ (Ebd., 2006, S. 9-10).

„Im Rahmen dieser Gemeinsamkeit unterscheidet sich mein Vorgehen von dem anderer Historiker dadurch, daß ich nicht mit der »Novemberrevolution« in Kiel, Berlin, München und vielen anderen Städten beginne. Ich beziehe vielmehr Vorgänge und Berichte ein, die nach allgemeiner Auffassung mit der Weimarer Republik »nichts zu tun haben«, und stelle den »Sozialisten der französischen Revolution«, Babeuf (1760-1797, hingerichtet), als den Repräsentanten jener »Utopie« an den Anfang, die eine uralte Menschheitshoffnung zum Ausdruck bringt, nämlich die Hoffnung, daß eines Tages eine gerechte und friedliche Gemeinschaft, die es - wenngleich nur in der Gestalt weit verstreuter kleiner Gruppen - in Urzeiten gegeben habe und die durch eine unglückliche Fügung verloren gegangen sei.“ (Ebd., 2006, S. 10).

Einleitung
„Im Jahre 1843 fanden an vielen Orten des »Deutschen Bundes« große Feiern zur Erinnerung an den » Vertrag von Verdun« des Jahres 843 statt, durch den das Karolingerreich unter die drei Söhne des Kaisers Ludwig des Frommen geteilt worden war. Dabei hatte Ludwig der Deutsche den östlichen Teil erhalten, und es schien mithin Grund genug vorhanden zu sein, mit Stolz der tausendjährigen Existenz eines deutschen Staates zu gedenken. Es waren freilich vornehmlich die Liberalen, welche die Erinnerung wach zu halten oder zu erwecken wünschten, und dabei wandten sie sich nicht in erster Linie der Vergangenheit zu, sondern der Zukunft, weil sie ein einheitliches Deutschland schaffen wollten, das nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem 1815 ins Leben gerufenen »Deutschen Bund« aus 35 souveränen Fürsten und vier freien Städten haben würde. Dieser Deutsche Bund war ja ein außergewöhnliches Gebilde, das von der Einheitlichkeit eines »modernen Nationalstaates« wie Frankreichs oder Englands weit entfernt war, das zwei rivalisierende Großmächte in sich schloß, nämlich Preußen und Osterreich, und zu dessen Mitgliedern drei ausländische Könige gehörten, welche die »feudale« Herrschaft über drei seiner Staaten ausübten: der König von England als König von Hannover, der König der Niederlande als Großherzog von Luxemburg und der König von Dänemark als Herzog von Holstein. Außenpolitisch war dieses Staatsgebilde deshalb so gut wie handlungsunfähig, und daran nahmen die liberalen Patrioten vor allem Anstoß, aber wenn es als solches angegriffen wurde und wenn die beiden Vormächte ihre Pflichten erfüllten, war es mindestens potentiell jeder angreifenden Koalition anderer europäischer Staaten überlegen. Man durfte den Deutschen Bund daher die »europäische Friedensmacht« nennen, und kaum einer jener Patrioten hätte wohl das Geständnis gemacht, er wolle stattdessen eine »Kriegsmacht« begründen. Freilich gehörten wichtige Teile der Staatsgebiete von Preußen und Osterreich nicht zum »Deutschen Bund«: Ost- und Westpreußen zum Beispiel oder die Lombardei und Venetien, und es war nicht ausgeschlossen, daß der Deutsche Bund dadurch in kriegerische Händel verwickelt werden würde. So konnte man den Sorgen und Wünschen derer, die 1843 das tausendjährige Bestehen Deutschlands feierten, nicht in jeder Hinsicht Unrecht geben.“ (Ebd., 2006, S. 13-14).

„Wenn Bismarck das Deutsche Reich als einen Nationalstaat mit »völkischen« oder irredentistischen Ansprüchen nach Analogie Italiens oder Serbiens verstanden hätte, würde er ein festes Bündnis mit Rußland geschlossen und Österreich dem Schicksal des Zerfalls in seine nationalen Bestandteile überlassen haben, so daß schließlich das Großdeutschland vieler Revolutionäre von 1848 zustande gekommen wäre.“ (Ebd., 2006, S. 21).

„François Noël Babeuf (1760-1797, hingerichtet), der den Namen »Gracchus« annahm, war ja als Urheber der »Verschwörung der Gleichen« von 1796 und als Opfer des nachjakobinischen »Dierktoriums« nie vergessen worden, und Filippo Buonarrotti hatte die Kenntnis seiner Gedanken den nachfolgenden Generationen übermittelt. Für Babeuf stand der »Krieg der Armen gegen die Reichen« im Zentrum, und er klagte den Reichtum als die grundlegende Ungerchtigkeit an, welche die ursprüngliche Gesellschaftsverfassung, diejenige der Gleichheit, zerstört und die Menschen einer »Kaste von Raffgierigen, von Rechtsbrechern« ausgeliefert habe. Diese Kaste ist das Patriziat oder die Aristokratie, und sie ist von »verbrecherischen Lastern« geprägt, während das gemeine Volk die Tugenden bewahrt hat, die im noch nicht korrumpierten Naturzustand allgemein waren: Gerechtigkeit. Menschenliebe, Opfermut. Eben diese Tugenden sollen durch die Revolution wieder zu allgemeinen Eigenschaften gemacht werden, nachdem die Geschichte sich lange Zeit in die Gegenrichtung entwickelt hat, nämlich hin zum Unglück des Volkes und zum Glück einer geringen zahl von Privilegierten. Gleichheit aller und mithin die Herausgabe alles Gestohlenen ist also das oberste Ziel des nunmehr entbrannten Krieges zwischen den Armen und den Reichen, den Guten und den Bösen.“ (Ebd., 2006, S. 30).

„Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert ist das Kapitel der französischen Selbstkritik nicht abheschlossen; die Klagen über das Zurückgebliebensein Frankreichs gegenüber Deutschland, seinen irregulären und fragilen Parlamentarismus und die »französische Dekadenz« wollen kein Ende nehmen, und es findet sich sogar die Empfehlung, Frankreich müsse durch Zurückdrängung des Latinismus und durch Protestantismus eine bescheidene und friedliche Nation werden, die jede Eroberung ablehne, keine große Armee zu besitzen wünsche und trotzdem eine »große Nation« sein könne. Erst im Zuge der »Dreyfus-Affäre« gewann die überlieferte Rühmung der französischen Revolution und der parlamentarischen Demokratie wieder an Kraft.“ (Ebd., 2006, S. 35).

„1919 ... verkünden die »Richtlinien der Kommunistischen Internationale« den Beginn einer völlig neiuen Periode der Weltgeschichte: »Der imperialistische Krieg verwandelt sich in den Bürgerkrieg.« .... »Indem wir die Halbheit, Lügenhaftigkeit und Fäulnis der überlebten offiziellen sozialistischen Parteien (SPD u.a.; Anm. HB) verwerfen, fühlen wir, die in der Dritten Internationale (Anfang 1919) vereinigten Kommunisten, uns als die direkten Fortsetzer der heroischen Anstrengungen und des Märtyrertums einer langen Reihe revolutionärer Traditionen, von Babeuf bis Karl Marx und Rosa Luxemburg.«. (Manifeste, Richtlinien, Beschlüsse des 1. Kongresses der 3. Internationale, 1919, a.a.O., S. 21, 17).“ (Ebd., 2006, S. 43).

„Und ... insofern handelte es sich um eine Kriegserklärung an die ganze Welt, ganz wie es sich bei der positiven Zielsetzung um jene allgemeine Tendenz handelte, die heute »Globalisierung« oder auch »Demokratisierung« genannt wird.“ (Ebd., 2006, S. 44).

„Es ist in hohem Grade wahrscheinlich, daß ein so totales Unterfangen nur möglich ist, wenn nicht kluge Kalkulationen und realistische Einschätzungen die Grundlage bilden, sondern eine alle vorhandene Realität übersteigende Zielsetzung und eine exorbitante Hoffnung - mit anderen Worten: wenn die im Alltag so völlig abwesende »Utopie« ins Spiel gebracht wird, die ja jener »ewige Menschengedanke« ist. Die Frage ist legitim und unumgänglich, ob auch Lenin, der als Politiker und Staatsmann so realistische und scharfe Urteile fällen konnte, letzten Endes von der Vorstellung der Utopie erfüllt und angetrieben war. Die eindeutigste Antwort gibt seine Schrift über »Staat und Revolution«, die er am Vorabend der Oktoberereignisse verfasste. Dort schreibt er, die moderne Entwicklung habe alle gesellschaftlichen Funktionen so sehr vereinfacht, daß sie jedem Nichtanalphabeten (und die waren in Rußland von extrem hoher Zahl! Anm. HB) zugänglich seien. Daher seien Sonderfunktionen bestimmter Menschengruppen nicht mehr erforderlich und in Zukunft würden die Menschen »die seit Jahrtausenden gepredigten« Regeln einhalten, ohne daß jener Zwangsapparat vorhanden sei, der »Staat« genannt werde. Dann würden sich alle rasch daran gewöhnen, daß alle, auch die Köchinnen, an der Lenkung des Gemeinwesens Anteil nähmen und daß eben deshalb »keiner regiert«. (W. I. Lenin, Ausgewählte Werke, Band XXXVI, S. 138). Das ist also nichts anderes als Babeufs Gemeinschaft ohne fixe Arbeitsteilung, ohne Polizisten und Henker, ohne Unsittlichkeit und Verbrechen, welche auch Lenin als Ziel der Weltgeschichte gilt: der utopistische Grundgedanke der »Ewigen Linken«. Und einen utopistischen Charakter haben auch die Zwischenstadien bzw. die Beschreibungen des Endzustandes, von denen Lenin wie schon Marx in der Regel Abstand nimmt ....“ (Ebd., 2006, S. 44-45).

„Aber weniger als für andere Sozialisten durfte für Lenin gelten, daß die Feinderklärung, der Vorstellung nach, die Weltgeschichte auf einen einfachen und einleuchtenden Weg bringen würde. Für Marx war »das kapitalistische System« der Feind, und er faßte die Geschichte als die große Helferin auf, die in Europa auf dem Boden des vollentwickelten Kapitalismus die Zahl der Unternehmer und Geldbesitzer so sehr vermindern würde, daß die gewaltige Überzahl der Proletarier das System ohne viel Gewaltanwendung vernichten und den Sozialismus einführen könne. Doch Lenin hatte schon vor dem Weltkrieg eine Abhandlung über »Das rückständige Europa und das fortgeschrittene Asien« geschrieben, in welcher er ein Bündnis zwischen den unterdrückten Ländern Asiens und dem europäischen Proletariat ins Auge faßte, das »der Weltrevolution« einen völlig anderen Verlauf geegben hätte, als Marx ihn vorsah.“ (Ebd., 2006, S. 45-46).

„War Lenins Marxismus also vielleicht radikal-revisionistisch, und war Lenin selbst vielleicht ein bedenkenloser Herrenmensch, der, wie Gorki 1918 behauptete, ein »ausgesprochen herrisches, mitleidloses« Verhältnis zu den Volksmasen hatte?  (Maxim Gorki, Unzeitgemäße Gedanken über Kultur und Revolution von 1917/18, 1918, a.a.O., S. 98). Oder hatte sein beständiges Drängen auf mehr Terror, auf umfangreichere Erschießungen, auf die erbarmungslose Vernichtung von »Bourgeois« und »Volksfeinden« in erster Linie einen anderen Grund, nämlich die Erinnerung an die Pariser Kommune, die zu nachsichtig mit ihren Feinden umgegangen sei und deshalb zum Opfer eines ungeheuren Blutbades wurde?  (Sebastian Haffner schreibt in seinem Beitrag »Die Pariser Kommune - Ein Prolog zum 20. Jahrhundert«: »Aber die wirklich weltgeschichtliche Rache für den Pariser Blutmai (1871) ... ist in Rußland vollzogen worden, und der wirkliche Rächer der Kommune heißt Lenin.« [Ebd., 1985, S. 54]).“ (Ebd., 2006, S. 46).

„Wie immer diese Frage beantwortet werden mag, sicher ist so viel: Die bolschewistische Revolution war nicht nur eine enthusiastische und enthusiasmierende Revolution ohnegleichen, sondern sie war auch die Schrecken erregende Umwälzung kat'exochén.“ (Ebd., 2006, S. 46).

„Was sich in den letzten Oktobertagen an Widerstand gegen den »illegalen und konterrevolutionären Aufstand« regte, wurde mit rücksichtsloser Entschlossenheit niedergeworfen, und zu der »Vogelfreierklärung« einer ganzen Partei gab es keinen Präzedenzfall. Die im Januar 1918 gegründete und unter den Befehl des Polen Dserschinski gestellte Tscheka erschoss in wenigen Monaten weit mehr Menschen - Offiziere, »Bourgeois« und Anarchisten -, als die zaristische Ochrana es in Jahrzehnten getan hatte, und es wurde bald offenbar, daß der »rote Terror« jenen Volksaufruhr der jüngsten Vergangenheit ermutigte und systematisierte, indem er auf die Ausrottung ganzer sozialer Gruppen abzielte, deren Wünschbarkeit sich in der Tat aus den marxistischen, wenngleich ganz anders gemeinten Vernichtungsprinzipien ableiten ließ. So konnte man in einer Tscheka-Zeitung Folgendes lesen: »Die alten Systeme der Moral und der ›Menschlichkeit‹ lehnen wir ab. Sie wurden von der Bourgeoisie erfunden, um die ›unteren Klassen‹ unterdrücken und ausbeuten zu können. Unsere Moral ist ohne Vorbild und unsere Menschlichkeit absolut, denn sie basiert auf einem neuen Ideal: jegliche Form von Unterdrückung und Gewalt zu zerstören. Uns ist alles erlaubt, denn wir sind die Ersten in der Welt, die das Schwert nicht zur Unterdrückung und Versklavung erheben, sondern um die Menschheit von ihren Ketten zu befreien. .... Blut? Mag es in Strömen fließen! Denn nur Blut kann das schwarze Banner der Piratenbourgeoisie in eine rote Fahne verwandeln, die Fahne der Revolution ....«  (Stéphane Courtois u.a., Das Schwarzbuch des Kommunismus - Unterdrückung, Verbrechen, Terror, 1997, S. 117f. [**]).“  (Ebd., 2006, S. 46-47).

„Als am 30. August 1918 zwei linksgerichtete Attentäter (jüdischer Herkunft) in Petersburg auf den Tscheka-Chef Uritzki und in Moskau auf Lenin Pistolenschüsse abfeuerten, um Tscheka-Hinrichtungen bzw. die Auflösung der Nationalversammlung zu rächen, wodurch Uritzki getötet und Lenin verwundet wurde, da brach nicht nur im ganzen Lande ein Sturm von Racheaktionen unter Parolen wie »Für einen von uns müssen tausend von euch sterben« gegen Offiziere und Bourgeois aus, sondern die Regierung legalisierte und verschärfte diese Aktionen durch ihr »Dekret über den roten Terror«. Es dauerte nicht lange, bis Lenin selbst den »Tod« für die große Klasse der »Kulaken«, d.h. der besser gestellten Bauern (die z.B. eine Kuh besitzen; Anm. HB), forderte und von den »Hunden und Schweinen der sterbenden Bourgeoisie« sprach. Ein wohlwollender deutscher Beobachter, der Korrespondent der »Frankfurter Zeitung« Alfons Paquet, schrieb voller Entsetzen von dem »Gräßlichen«, das in Rußland geschehe, der »Vernichtung einer ganzen Gesellschaftsklasse«, und er bildete den Begriff des »Totalismus Lenins«. (Alfons Paquet, Im kommunistischen Rußland - Briefe aus Moskau, 1919, S. 15). Hans Vorst wiederum, der Korrespondent des »Berliner Tageblatts«, rückte besonders das Schicksal der zahllosen und völlig unschuldigen Geiseln ins Licht, die zu Tausenden, ja Zehntausenden erschossen würden. (Hans Vorst, Das bolschewistische Rußland, 1919, S. 152). Auch in Deutschland war also das Publikum sehr genau darüber unterrichtet, daß in Rußland etwas völlig Präzedenzloses vor sich ging, ein wahrer »Kulturbruch«, weil »Absolutisten« die Macht ergriffen hatten, deren letzte und laut verkündete Zielsetzungen Enthusiasmus hervorzurufen vermochten und deren konkrete Handlungen den Beweis erbrachten, daß die äußerste Unmenschlichkeit die Folge ist, wenn man im Sinne der ältesten Utopie alle Unmenschlichkeit zu extirpieren versucht.“ (Ebd., 2006, S. 47).

„Um die Mitte des Jahres 1918 verkündete der General Alexejew, der aus Moskau geflohene ehemalige Stellvertreter Kornilovs, wenn die Bolschewiki fortführen, die Bürger zu verhaften und umzubringen, würde kein einziger Jude in Rußland unter 60 Jahren mit dem Leben davonkommen. (Winfried Baumgart [Hrsg.], Von Brest-Litowsk zur deutschen Novemberrevolution - Aus den Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen von Alfons Paquet, Wilhelm Groener und Albert Hopmann, März bis November 1918, 1971, S. 125). In der Sache konnte er sich auf die allgemein anerkannte und leicht begreifliche Wahrheit stützen, daß Angehörige der »Fremdvölker« - Juden, Letten, Georgiere - in der bolschewistischen Revolution eine höchst auffallende und weit überproportionale Rolle gespielt hatten und weiterhin spielten. (Sonja Margolina, nach der Wendung ihres Buches Tochter eines Vaters, »der Kommunist und Jude war«, konnte 1992 eine allgemeine Aussage zum Verhältnis von Judentum und bolschewistischer Revolution machen, die nach dem baldigen Verschwinden ihres Buches vom Markt kaum noch zitiert wurde: »Die Tragödie des Judentums bestand darin, daß es keine politische Option gab, um der Rache für die geschichtliche Sünde der Juden - ihre exponierte Mitwirkung am kommunistischen Regime - zu entgehen. Der Sieg des Sowjeregimes hatte sie zeitweilig gerettet, die Vergeltung stand ihnen noch bevor.« [Sonja Margolina, Das Ende der Lügen - Rußland und die Juden im 20. Jahrhundert, 1992, S. 66]. Schon im Jahre 1918 hatte sich der große jüdische Historiker Simon Dubnov nach den Attentaten auf Uritzki und Lenin in einem ganz ähnlichen Sinne geäußert. Vgl. Ernst Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 194 {**}.]). Aber die Juden herauszunehmen und nur ihnen Vergeltung anzudrohen, ließ sich noch weniger rechtfertigen als der entsprechende kollektivistische Schuldvorwurf der Bolschewiki gegen »die Burshui«. Doch da die Juden eine so viel längere und bedeutendere Geschichte hatten als die Letten und die Georgier, war nicht von vornherein auszuschließen, daß den Absolutisten der Vernichtung des Kapitalismus und der Unternehmer neuartige Absolutisten der Vernichtung der Juden entgegentreten würden. Wenn das zur Tatsache würde, könnte man die ganze europäische Geschichte der folgenden Periode als den Kampf zweier feindlicher Absolutismen verstehen, so gewiß es möglich sein würde, durch die Herausstellung von bloß-politischen Ereignissen oder von Alltagstatsachen dieses Ringen an den Rand zu drängen.“ (Ebd., 2006, S. 47-48).

Teile I bis IV
„Die deutsche Öffentlichkeit war noch bis zur Mitte des Jahres 1918 von starken und nicht unbegründeten Siegeshoffnungen erfüllt gewesen, und ein informelles deutsches Imperium erstreckte sich von der Nordsee bis Mesopotamien und von der Umgebubg von Reims bis über Kiew hinaus (**).“ (Ebd., 2006, S. 49).

„Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ..., zwei Personen, die unter den Sozialisten ganz Europas einen Ruf genossen, der hinter demjenigen Lenins und Trotzkis nicht zurückstand. (Vgl. dazu eine Aussage Lenins vom 12. Januar 1919: »Als der deutsche ›Spartakusbund‹ mit so weltbekannten und weltberühmten ... Führern wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und Franz Mehring endgültig ... den Namen ›Kommunistische Partei Deutschlands‹ annahm, ... da war die Gründung einer wahrhaft proletarischen, wahrhaft internationalistischen, wahrhaft revolutionären III. Internationale, der Kommunistischen Internationale, (faktisch) Tatsache geworden.« [W. I. Lenin, Werke, Band 28, S. 441f.]). Die hatten die »Spartakusbriefe« herausgegeben, und was darin schon im September 1916 zu lesen war, hatte sich nun als richtig erwiesen: »Nicht im Parlament könnten die Würfel über Krieg und Frieden, über die Internationale, über den Massenhunger fallen, sondern in den Fabriken, in den Wewrkstätten, auf der Straße.«“ (Ebd., 2006, S. 51).

„Aber die entscheidenden Erfolge trugen zunächst doch die von Liebknecht und Luxemburg so heftig angegriffenen »Regierungssozialisten« der Mehrheitssozialdemokratie davon, die sich an die Spitze der ... Volksbewegung stellten, um zu verhindern, daß »der Bolschewismus« in Deutschland den Sieg davontrage. (Schon im Gründungsaufruf der USPD wurde sehr negativ zu der Entwicklung der SPD zur »national-sozialen Regierungspartei« Stellung genommen [zum Zusammenhang siehe Wilhelm Dittmann, Erinnerungen, a.a.O., Band 3, S. 3]. Der Linkssozialist Heinrich Ströbel sprach im Vorwort zu seiner 1920 publizierten Broschüre »Die deutsche Revolution und ihre Rettung« mit ganz negativem Akzent von dere »Bewilligung der Kriegskredite durch die deutschen Nationalsozialisten« [!]).“ (Ebd., 2006, S. 52).

„Es gelang den Mehrheitssozialdemokraten nicht ohne Mühe, sich einer große Mehrheit in dem vom 16. bis zum 20. Dezember tagenden »Zentralrat« der deutschen Arbeiter- und Soldatenräte zu sichern. Dieser machte sich die Absicht Eberts, in nächster Zukunft die Nationalversammlung wählen zu lassen (**), ebenso zu eigen wie dessen Willen, den durch die lokalen Räte verursachten Turbulenzen ein Ende zu machen.“ (Ebd., 2006, S. 53).

„Schon jetzt ließ sich erkennen, daß auch die Mehrheitssozialisten für eine weltgeschichtliche, wenngleich unspektakuläre Sache standen, nämlich für den Verzicht der größten sozialistischen Partei auf den Absolutheitsanspruch der marxistischen ideologie und ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den »bürgerlichen« Parteien, die eben dadurch den Charakter eines dem Block gläubiger Sozialisten entgegengesetzten Blocks verloren. Sie konnte sich dabei auf soziale Entwicklungen stützen, die der Gewerkschaftler August Winnig später auf die Formel »Vom Proletariat zum Arbeitertum« (**) brachte. Rosa Luxemburg und Katl Liebknecht hielten dagegen an dem alten Konzept der »Todfeindschaft« der beiden Blöcke fest, der mit dem endgültigen Sieg »des Proletariats« im Klassenkampf (d.h. im Klassen- oder Bürgerkrieg) enden müsse. Das Beispiel Frankreichs (von England und den USA nicht zu reden) wies auf die erste Möglichkeit hin, das Beispiel Rußlands auf die zweite.“ (Ebd., 2006, S. 53).

„Aber wenn Ebert Ende Dezember (1918; Anm. HB) einen großen Sieg erfochten zu haben schien, ... so hatte in den Gemütern der Massen die entgegengesetzte Tendenz Raum gewomnnen. .... Ebert schlief Nacht für Nacht in Wohungen von Freunden, damit die Spartakisten die Reichskanzlei leer fänden, wenn sie anrückten. (Philipp Scheidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten, 1928, Band 2, S, 335; Konrad Haenisch, Persönliche Erinnerungen an Friedrich Ebert, 1925, in: Sebastian Haffner, Die Pariser Kommune - Ein Prolog zum 20. Jahrhundert, 1985, S. 175), und der neue Volksbeauftragte Gustav Noske schien noch Hoffnung auf einen günstigen Ausgang zu haben, da er in den westlichen Vororten Berlins versprengte Soldaten zu »Freikorps« zusammenzustellen vermochte. Diese besaßen freilich nur noch wenig Ähnlichkeit mit jenen regulären Truppen des »alten Heeres«, die der Nachfolger Ludendorffs in einer kaum noch existenten »Obersten Heeresleitung«, der General Wilhelm Groener, ihm zur Verfügung stellen wollte, bevor sie sich zum Weihnachtsfest bis auf geringe Reste aufgelöst hatten. Der so genannte »Pakt« zwischen Ebert und Groener und die viel erörterte »geheime Telefonleitung«, mittels deren er realisiert wurde, hatten wohl kaum die Bedeutung, die ihnen häufig zugeschrieben wird.“ (Ebd., 2006, S. 53-54).

„Und dennoch war die Regierung der mehrheitssozialistischen Volksbeauftragten unzweifelhaft die legitime Regierung Deutschlands, denn sie verfügte in der Nation über eine beträchtliche, wenngleich nicht absolute Mehrheit, wie der Ausgang der auf den 19. Januar 1919 angesetzten Wahlen zur Nationalversammlung sehr deutlich zeigen sollte (**). Eberts sozialistische Feinde dagegen wollten unter dem Zeichen ihres Ideals offensichtlich vollendete Tatsachen schaffen, bevor der empirische Wille des Volkes sich artikulieren konnte. Vom 30. Dezember 1918 bis zum 1. Januar 1919 tagte der Gründungskongreß der »Kommunistischen Partei Deutschlands« in Berlin ....“ (Ebd., 2006, S. 54).

„Die »Deutsche Arbeiterpartei«, die bald den Namen »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei« annahm, war zunächst nur ein kleiner und unbedeutender Teil davon, denn Ludendorff, der in München Wohnung genommen hatte, wwollte kein Parteiführer, sondern der Chef der ganzen »Nationalen Bewegung« sein. Daher läßt sich kaum abschätzen, was aus der DAP geworden wäre, wenn sie nicht schon bald in Adolf Hitler ihren Propagandisten und Führer gefunden hätte.“ (Ebd., 2006, S. 100).

„Die Polemik gegen »Versailles« springt ständig ins Auge (Hitler will vor allem nachweisen, daß der Friede von Brest-Litowsk keinesfalls mit dem Diktat von Versailles auf eine Stufe gestellt werden dürfe, sondern weitaus milder gewesen sei. In dieser Einschätzung stimmte er mit Lenin überein.) ....“ (Ebd., 2006, S. 101).

„Am 4. Oktober 1922 rief Hitler bei einem »Deutschen Tag« dazu auf, »nach Italien zu blicken«, und Ende Oktober schrieb er während der tage von Mussolinis »Marsch auf Rom«, »gleich der faszistischen Bewegung in Italien« habe es die junge Bewegung bisher verstanden, selbst bei einer Minorotät an Zahl durch rücksichtslosesten Kampfwillen den jüdisch-marxistischen Terror niederzubrechen. In der Tat hatte der »Partito Nazionale Fascista« in Italien gegen die Sozialistische Partei innenpolitisch einen sehr viel härteren und gewaltätigeren Kampf geführt, als die NSDAP es in Bayern getan hatte. So konnte Hitler schon Anfang November 1922 zustimmend dagen: »Man nennt uns deutsche Faschisten« - es gebe zwar einige Unterschiede, aber »die unbedingte Vaterlandsliebe, den Willen, die Arbeiterschaft aus den Klauen der Internationale zu reißen und den frischen kameradschaftlichen Frontgeist haben wir mit den Faschisten gemein.« Der eigentliche Hintergrund war jedoch offenbar die Überzeugung, die er um die gleiche Zeit in einer Rede abermals formulierte: Die Gegenwart sei bestimmt durch den »Kampf auf Leben und Tod zwischen zwei Weltanschauungen ..., in deren Kampf es nur Sieger und Vernichtete geben wird .... Diese Einstellung ist dem Marxismus in Fleisch und Blut übergegangen (siehe Rußland). ein Sieg der marxistischen Idee bedeutet die vollständige Ausrottung des Gegners.« (**). “ (Ebd., 2006, S. 103-104)

„Außerhalb allen Vergleichs mit Mussolini standen seit 1925 bzw. 1927 die beiden Bände von Hitlers »Mein Kampf«, und schon dadurch wird es notwendig, sich nicht mit dem Begriff »Faschismus« zu begnügen, sondern den Nationalsozialismus Hitlers als »Radikalfaschismus« zu definieren. In flüchtigem Umriß lassen sich drei Hauptkennzeichen von »Mein Kampf« herausstellen:
Die Mythologisierung des antimarxistischen Kampfes als Folge eines genuinen ideologischen Glaubens, der »Demokratie« und »Marxismus« als Methoden »des Juden« zur Zertrümmerung der nationalen Unabhängigkeit und zur Zerstörung der »Blutreinheit« verstehen will. Als Anklage gegen »Zersetzung« und einen »Anschlag« auf die überlieferte Kultur knüpft sie an die ältesten Gedankengänge der historischen Rechten an, doch gewinnt sie einen neuartigen Charakter durch die Bezugnahme auf den als »jüdisch« verstandenen Bolschewismus, so daß sich ein Begriff wie »der Blutjude« bilden läßt.
Die außerordentliche Radikalisierung der außenpolitischen Konzeption: Nicht die »Grenzen von 1914« sind anzustreben und erst recht nicht eine Wiederaufnahme des Weltkriegs; vielmehr soll ein Bündnis mit Italien sowie mit England geschlossen werden, um den »Germanenzug nach Osten« wieder aufzunehmen und die Existenz des Volkes durch einen großen Raumeroberungskrieg im Osten endgültig zu sichern. Zugleich aber wird ein Teil der Wilsonschen Konzeption bewahrt und verengt: »Denn unterdrückte Länder werden nicht durch flammende Proteste in den Schoß eines gemeinsamen Reiches zurückgeführt, sondern durch ein schlagkräftiges Schwert«. (Adolf HItler, Mein Kampf, 1925-1926, S. 689). Es handelte sich also um eine Fortsetzung der Siegfriedenskonzeption, die jedoch durch das Motiv der nationalen Befreiung verändert und gestärkt war.
Die Bekämpfung der »völkischen Wanderscholaren« und damit die Tendenz zur Sammlungsbewegung, zu umfassender Organisation, zur Nachahmung kommunistischer Methoden. Hier lag das eigentlich Neue: Die Rechte wurde durch Hitler modernisiert und auch demokratisiert. Hitler erwies sich als Fanatiker und Demagoge, wie es die Kommunisten waren, als Menschenverächter und Vergangenheitsfreund wie die traditionellen Konservativen (**), als Opportunist nach dem Vorbild der Parteien der Mitte: Eine so einzigartige Mischung des anscheinend Heterogenen in einer charismatischen, überaus massenwirksamen Persönlichkeit hatte es bis dahin in Deutschland und in der Welt noch nicht gegeben.
Hitler als »Kleinbürger« zu charakterisieren und ihn dadurch mit vielen Millionen anderer Menschen gleichzusetzen, ist schlechthin grotesk. Seine Zeit mußte kommen, wenn die »stabilen« oder sogar »goldenen« Jahre der Weimarer Republik in einer Wirtschaftskrise größten Ausmaßes zu Ende gingen, so daß viele Millionen von Menschen für einfache, aber erhellende Botschaften empfänglich wurden.“ (Ebd., 2006, S. 161-162).

„Der Plan des US-Amerikaners Owen D. Young sollte den Dawes-Plan ablösen .... Er ... setzte eine hohe Endsumme fest und verteilte Zahlungen über mehrere Jahrezehnte (6 Jahrzehnte, genauer: 59 bis 60 Jahre, d.h. bis 1989; doch in Wirklichkeit ist eine Ende gar nicht abzusehen, denn auch heute zahlt Deutschland munter weiter! Anm. HB). Das war eine Entsprechung zu der Regelung der alliierten Schulden gegenüber den USA. Aber für die Deutschnationalen war diese Regelung wohl nicht bloß Vorwand für die Ausrufung eines »nationalen Widerstandes«. Die Agitation überschritt jedoch bald alle Grenzen der Vernunft, ja des Anstandes: Auf weit verbreiteten Plakaten schwang ein gehörnter Teufel mit Judenfratze seine Peitsche über die Enkel des Jahres 1980 (denn: bis 1989 waren ja jährlich mindestens ca. 34,5 Milliarden Goldmark [insgesamt also: 2035,5 bis 2070 Milliarden Goldmark] zu zahlen! Anm. HB), die als Schuldsklaven vor einem Pflug gespannt sind. So wurde im September 1929 von den Deutschnationalen im Verein mit den Nationalsozialisten und dem »Stahlhelm« im Reichstag ein Gesetzentwurf »gegen die Versklavung des deutschen Volkes« vorgelegt. Dieses sogenannte »Freiheitsgesetz« des »Reichsausschusses für das Volksbegehren« war ein Stück demagogischer Agitation, zu der es bloß auf kommunistischer Seite Ähnlichkeiten gab.“ (Ebd., 2006, S. 163).

„Die Regierung Brüning bedeutete von Anfang an einen gewissen Rechtsruck, auch aufgrund von Brünings eigenen Überzeugungen. Sein Kabinett war keineswegs ein »Young«-Kabinett, wie das Kabinett Marx 1924 ein »Dawes«-Kabinett gewesen war, denn er hatte am 12. März 1930 den Young-Plan ein »Diktat« genannt, wie es für die Rechtsparteien selbstverständlich war, und in seinem Kabinett gab es mehrere Männer, die gegen den Young-Plan gestimmt hatten. Tatsächlich war ja in Deutschland die konkrete Einsicht in die Notwendigkeit von »Reparationen« so gut wie verschwunden, denn Frankreich befand sich, anders als noch 1926, in einer ausgezeichneten finanziellen Lage, und der Wiederaufbau der zerstörten Gebiete war nahezu beendet. Der Zusammenhang mit den Schulden der Alliierten gegenüber den USA wurde selten wirklich wahrgenommen, und fast immer folgten neue Forderungen auf die jeweiligen Konzessionen der Alliierten. Es war bezeichnend und beklagenswert, daß bei den Feiern zur Räumung der Rheinprovinz im Jahr 1930 kein Wort des Dankes an Stresemann fiel, sondern daß sofort die Saarfrage ins Spiel gebracht wurde. Ähnliches gilt für das »Begräbnis erster Klasse«, welches das Auswärtige Amt mit Zustimmung Brünings dem »Europa-Plan« Briands bereitete, weil darin eine Fixierung des Status quo enthalten zu sein schien. Alles Entgegenkommen gegenüber der Rechten stimmte indessen weder die extreme Rechte noch gar die extreme Linke milder: Im Rahmen der gleichen Konzeption siegt unter außergewöhnlichen Umständen im Regelfalle die entschiedenere Version. So wurde in einem Wahlkampf von unerhörter verbaler und teilweise schon handgreiflicher Wildheit die Regierung von Kommunisten und Nationalsozialisten als » Young-Sklavenhalter« oder »Young-Verbrecher« angegriffen, und der Erfolg gab den extremen Parteien in der bereits extremen Situation Recht: die Kommunisten setzten ihren Aufstieg fort und errangen 77 Sitze, die Nationalsozialisten aber gelangten zu dem schlechthin sensationellen Resultat von 107 Mandaten. (**). Von den anderen Parteien erlitten die Sozialdemokraten geringe und die Deutschnationalen erhebliche Verluste. (**). Die beiden liberalen Parteien hatten ebenfalls beträchtliche Einbußen zu verzeichnen, während das Zentrum und die Bayerische Volkspartei einigermaßen stabil blieben. (**). Der Sondercharakter des Nationalsozialismus wurde am Beispiel dieses Wahlergebnisses schon sehr deutlich. Einen so plötzlichen Aufstieg - nahezu eine Verzehnfachung der Mandate (genauer: eine Ver-8,9-fachung, nämlich von 12 auf 107! Anm. HB) - hatte es in der deutschen Parteiengeschichte noch nie gegeben. Der Aufstieg der SPD vor dem Krieg hatte sich bis hin zu den eminenten Erfolg der Reichstagswahlen von 1912 viel allmählicher vollogen (**) ....“ (Ebd., 2006, S. 183).

„Noch im Februar 1932 sagte der Chef der Heeresleitung von Hammerstein-Equord zu dem britischen Botschafter Sir Horace Rumbold, es sei ganz verkehrt, Hitler mit Mussolini zu vergleichen; Hitler sei in Wahrheit eine ganz mittelmäßige Persönlichkeit.“ (Ebd., 2006, S. 197).

„Das Grundproblem für die NSDAP bestand daher nicht so darin, wie sie Anhänger gewinnen und sich finanzielle Unterstützung verschaffen könnte, sondern wie sie ihre Indivdualität behaupten und scharf herausstellen sollte, die aus der unerwarteten und paradoxen, wenngleich im Zuge der Zeit liegenden Durchdringung zweier älterer und entgegengesetzter Denk- und Lebensweisen bestand, der »nationalen« und der »marxistischen«. Eine überzeugende Distanzierung sowohl nach links wie nach rechts war für sie notwendig, und zur Veranschaulichung sollen drei Beispiele dienen: die Aktivität von Goebbels in Berlin, das Verhalten Hitlers gegenüber seinen Bundesgenossen in Harzburg und seine Rede im Industrie-Klub zu Düsseldorf am 27. Januar 1932.“ (Ebd., 2006, S. 197-198).

„Wenn »die Industrie« Hitler gegenüber konsequent feindlich gewesen wäre, würde dessen »Machtergreifung« im Sinne einer friedlichen Machtübernahme mit Sicherheit unmöglich gewesen sein; aber weshalb hätte sie so feindlich sein sollen, da sie in den Kommunisten schon Todfeinde in großer Zahl hatte und sicherlich die alte Regel kannte, daß der Feind meines Feindes mein Freund ist. Weit verwunderlicher war der Umstand, daß Hitler keineswegs schon früh von der Industrie als Freund und Verbündeter betrachtet wurde. Er hatte noch 1931 lediglich einige Freunde und Anhänger unter Industriellen wie Fritz Thyssen und Emil Kirdorf, aber »die« Industrie stand ihm eher mißtrauisch gegenüber, weil sie den »Sozialismus« im Namen von Hitlers Partei doch nicht als ein bloßes Mittel zur Täuschung der Massen ansah. Hitler mußte also um die Unternehmer werben, und der Aufsehen erregendste Akt dieses Werbens war seine Rede im Industrieklub zu Düsseldorf am 27. Januar 1932. (Original: Vortrag Adolf Hitlers vor westdeutschen Wirtschaftlern im Industrie-Klub zu Düsseldorf am 27. Januar. Erstaunlich ist, daß aus dieser so leicht als »demaskierend« anzuklagende Rede von seiten der NSDAP durchaus kein Geheimnis gemacht wurde: Die Broschüre erschien in der ersten Auflage im »1.-102. Tausend«.). Zu Beginn konnten die versammelten Industriellen des Rhein- und Ruhrgebiets den Eindruck haben, einen Nationalliberalen zu hören, und wer »Mein Kampf« gelesen hatte, der wußte, daß es sich um genuine Überzeugungen Hitlers handelte: Das Persönlichkeits- und Leistungsprinzip sei die Grundlage jeder effizienten Wirtschaft, aber es sei gegenwärtig durch die Demokratie und den Pazifismus gefährdet, welche auf dem Gedanken der allgemeinen Menschen-und Völkergleichheit beruhten und damit den Konkurrenztrieb und den Ehrgeiz zerstörten. Die größte aller geschichtlichen Errungenschaften sei der Wille der weißen Rasse und insbesondere der Angelsachsen zur Ungleichheit, der in der Praxis »die Ausübung eines außerordentlich brutalen Herrenrechts« sei, aber allein den höheren Lebensstandard der »weißen Welt« sichere. Inzwischen breite sich aber, parallel zu der langsamen Verwirrung des europäischen weißen Denkens, eine Weltanschauung in einem Teil Europas und einem großen Teil Asiens aus, die drohe, diesen Kontinent - Asien - aus dem Gefüge der internationalen wirtschaftlichen Beziehungen herauszubrechen. Diese Erscheinung sei nichts anderes als der Bolschewismus, der indessen sein Ziel einer umfassende Senkung des wirtschaftlichen und kulturellen Niveaus nicht verwirklichen könnte, wenn sich nicht auch innerhalb des deutschen Volkes und der weißen Rasse insgesamt ein »Riß« aufgetan hätte, der es ihm erlaube, an die überall vorhandenen geringwertigen Elemente zu appellieren und durch die Parole von den »Proletariern aller Länder« die politische Kohäsion der weißen Nationen zu zerstören. Und so gelangt Hitler zu einer Prophezeiung, welche die gesamte Weltgeschichte im Blick hat und die, wenn sie isoliert wird, sogar als große Respektdbezeugung vor dem Kommunismus und insbesondere vor Lenin betrachtet werden kann: »Der Bolschewismus wird, wenn sein Weg nicht unterbrochen wird, die Welt genauso einer vollständigen Umwandlung aussetzen wie einst das Christentum. .... In 300 Jahren wird man, wenn diese Bewegung sich weiter entwickelt, in Lenin nicht nur einen Revolutionär des Jahres 1917 sehen, sondern den Begründer einer neuen Weltlehre, mit einer Verehrung vielleicht wie Buddha. Es ist nicht so, daß diese gigantische Erscheinung etwa aus der heutigen Welt weggedacht werden könnte. Sie ist eine Realität und muß zwangsläufig eine der Voraussetzungen zu unserem Bestand als weiße Rasse zerstören und beseitigen.« Offenkundig sieht Hitler sich als den einzigen Mann, der in der Lage wäre, diese als verhängnisvoll eingeschätzte Entwicklung anzuhalten und sogar umzukehren, indem er - mit einem kennzeichnenden Sprung von einer internationalen zu einer völkischen Betrachtungsweise - sich zum Ziel setzt, »aus diesem Konglomerat von Parteien, Verbänden, Vereinigungen, Weltauffassungen, Standesdünkel und Klassenwahnsinn wieder einen eisenharten Volkskörper« zu machen, wodurch allein der endgültige Untergang Deutschlands verhindert werden könne. Heute ist die Kennzeichnung dieser Rede als »eurozentrisch« und »rassistisch«, als »westlerisch« und »antiegalitär« nur allzu selbstverständlich, und man darf sogar vermuten, daß Hitler über weite Strecken den Industriellen nach dem Munde geredet habe. Aber daß er hier sein eigenes Denken vereinfacht hat, geht schon aus der Tatsache hervor, daß die Juden nirgendwo erwähnt werden. Das Schwanken zwischen Hochschätzung und Verwerfung läßt sich auch bei anderen Ausführungen erkennen. Aber auf jeden Fall zwingt diese Rede dazu, mindestens die Frage zu stellen, ob nicht das Verhältnis zum Kommunismus das tiefste und bewegendste Motiv in Hitlers Ideologie ist, dem gegenüber sowohl »Versailles« als auch das Alldeutschtum wie die gutliberale Lehre vom kämpferischen Überleben der Tüchtigsten in den Hintergrund treten. Wie immer der Gehalt dieser Rede zu ergänzen und auszulegen sein mag, jedenfalls standen Hitler und sein Nationlsozialismus schon im Januar 1932 im Mittelpunkt der deutschen Politik, und wenn man den eindeutigsten Sinn der Rede nicht in Zweifel zieht, dann mußte für Hitler der Kampf zwischen der NSDAP und der KPD das zentrale Ereignis der nächsten Zukunft sein. Aber für eine nüchterne Betrachtung unter primär nationalgeschichtlicher Perspektive stellte sich der Nationalsozialismus zwar als eine bedeutende, aber auch paradoxe und vielgesichtige Erscheinung dar: als plebejischer Aristokratismus und revolutionärer Revolutionshaß, als antichristliche Verteidigung des christlichen Abendlandes, als demokratische Demokratiefeindschaft, als kollektivistischer Individualismus - prokapitalistisch und antikapitalistisch in einem, allem Vorhandenen ähnlich und doch allem Vorhandenen feindlich, vom Zufall der Hitler'schen Persönlichkeit abhängend und doch von beträchtlicher geschichtlicher Notwendigkeit. Wenn die Mittelparteien als Verkörperung des nüchternen Denkens untereinander im Prinzip einig blieben, konnten sie den Sieg über ihre beiden Feinde erringen; wenn sie sich teilen ließen, würde allenfalls ein Eingreifen der Reichswehr verhindern können, daß die letzte Entscheidung im Kampf zwischen den beiden extremsitischen Parteien fiele.“ (Ebd., 2006, S. 199-202).

„Schleichers großer Plan der Bildung einer »Querfront« außerhalb des bisherigen Parteienstreits scheiterte im Grunde schon nach wenigen Wochen. Die Spaltung der NSDAP gelang ihm nicht, die Kontaktaufnahmen der Gewerkschaftsführer mit ihm wurden von der Führung der SPD nißbilligt und unterbunden. Die SPD versagte sich ihrem Staat, den sie zwar mitgeschaffen, aber doch nie als den ihren anerkannt hatte, weil sie den Zwang zur Synthese und damit das Wesen des Liberalen Systems nicht begriff oder nicht bejahte. Otto Braun allerdings legte jetzt ein Verhalten an den Tag, das seiner eigenen Vergangenheit widersprach und die Linie Gustav Noskes wieder aufgriff. In einer Unterredung mit Schleicher am 6. Januar 1933 schlug er vor, der Kanzler möge die Verordnung über Preußen aufheben. Braun werde wieder die Regierung übernehmen; gemeinsam werde man die Auflösung von Reichstag und Landtag in die Wege leiten, die Wahlen bis weit in das Frühjahr verschieben und einen nachdrücklichen Kampf gegen den Nationalsozialismus führen. Aber Schleicher ging auf diesen Vorschlag nicht ein, der zu einem viel zu späten Zeitpunkt ein Zusammenwirken zwischen SPD und Reichswehr geschaffen hätte, dessen Fehlen für die ganze Geschichte der Weimarer Republik kennzeichnend gewesen war.“ (Ebd., 2006, S. 224).

„Über die Ereignisse der vier Januarwochen (vor Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933; Anm. HB) ist viel geschrieben worden und vornehmlich über die Verhandlungen und Kontaktaufnahmen zwischen einzelnen Personen wie das Zusammentreffen von Hitler und Papen im Hause des Kölner Bankiers von Schröder am 4. Januar oder das Gespräch zwischen Hitler und Oskar von Hindenburg (Sohn von Paul von Hindenburg; Anm HB). (.... Heute ist bei jüngeren, und hier und da auch bei älteren Historikern eine beträchtliche intellektuelle Anstrengung erforderlich, wenn die geistige politische und nicht bloß die parlamentarische Realität der Weimarer Zeit vor das geistige Auge treten soll. ....).“ (Ebd., 2006, S. 224-225).

Engagierte Reflexion

 - Engagement und Reflexion (S. 229-235)
 - Die Kriegschuldfrage (S. 235-250)
 - Die Linke  (S. 251-268)
 - Die Rechte (S. 268-287)
 - Die Mitte (S. 287-305)
 - Das Ringen um die Geschichte der Weimarer Republik (S. 305-333)

Engagement und Reflexion

„»Engagierte Reflexion« wäre also derjenige Teil der intellektuellen und politischen Auseinandersetzungen, der sich durch Distanz und Niveau von politischer Propaganda oder direkter Parteinahme unterscheidet. Aber für diese Unterscheidung gibt es keine eindeutigen Kriterien, und manchmal ist es nur der Mangel an Niveau, der bestimmte parteipolitische Stellungnahmen ausschließt. Das gilt besonders dann, wenn im folgenden die Einteilung nach politischen Kriterien erfolgt, nämlich nach den Begriffen »links«, »rechts« und »Mitte«. Dadurch entsteht die Gefahr, daß diejenigen Autoren, die diesen Begriffen nicht mit Bestimmtheit zuzuordnen sind, durch die Subsumtion unter eine Kategorie das Wichtigste verlieren, nämlich ihre Wandlungsfähigkeit, ihr Hindurchgehen durch mehrere Positionen und damit jene Art von prononcierter Reflexion, die mit Fort- und Übergängen verknüpft zu sein pflegt. Gerade in der Weimarer Republik fehlt es nicht an Beispielen dafür, zumal wenn man die Vorkriegszeit und die Kriegsjahre mit in die Betrachtung einbezieht.“ (Ebd., 2006, S. 230).

„Walther Rathenau, jüdischer Großindustrieller, Mitorganisator der Kriegswirtschaft und bedeutender Staatsmann der Weimarer Republik, vertrat in der Vorkriegszeit Auffassungen, die man heute »antisemitisch« und »rassistisch« nennen würde. Er bezeichnete seine Glaubensgenossen, die anderen Juden, als »eine asiatische Horde auf märkischem Sand«; er sah in den Offizieren der deutschen Armee einen höheren Menschentypus als in den Mannschaften; er entwickelte eine Anthropologie von den Furcht- und den Mutmenschen, wobei seine Bewunderung ganz und gar den (aristokratischen und germanischen) »Mutmenschen« galt, und wenn er schon früh deren Niederlage vorhersah, so war seine Wertung durchaus pessimistisch. Aber dann machte ihm der Sieg des Bolschewismus in Rußland einen großen, fast rundum positiven Eindruck, und er sagte ihm den weltweiten Sieg voraus, wenn auch nur für die ferne Zukunft und in einer tief greifend veränderten Gestalt. Und schon für die Gegenwart verlangte er die Ablösung der einst so bewunderten mehrschichtigen Gesellschaft durch eine »einschichtige«, die allerdings mit der »klassenlosen Gesellschaft« von Marx nicht identisch sein sollte. (Vgl. Ernst Nolte, Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert, S. 98-110).“ (Ebd., 2006, S. 230).

„Max Scheler hatte zu Beginn des Krieges eines der hervorstechenden Bücher der deutschen Kriegsliteratur geschrieben, dessen Inhalt schon durch den Titel kenntlich wird: »Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg«. Er war also ein Hauptvertreter der so genannten »Ideen von 1914« .... So ist für Scheler dieser Krieg schon deshalb ein gerechter Krieg, weil es darin um die »Macht im Herzen der Welt - ja um das Herz des Herzens der Welt, um die Hegemonie in Europa« geht. (Deutschland war die einzige Hegemonialmacht in Europa und mußte diese Hegemonie in Europa ja verteidigen! Anm. HB). Aber es ist gerade kein bloßer Machtstaat, der in die Arena tritt. Vielmehr sind Deutschland und Österreich-Ungarn »derjenige Teil der germanisch-keltischen Völker Westeuropas, in denen der Geist des Edelsinns noch die Herrschaft im Staate besitzt« und der sich daher weder von einseitigen reaktiven Racheimpulsen wie in Frankreich noch vom rein kapitalistischen Räubergeist wie England leiten läßt. Aber nicht nur dieser Krieg ist Schelers Thema, sondern auch der Krieg als solcher, der »ein dynamisches Prinzip kat’ exochén der Geschichte ist«, angesichts dessen die positivistisch-pazifistische Geschichtstheorie ultrareaktionär sei. In der Zeit der Weimarer Republik schrieb Scheler jedoch seinen Aufsatz über den Menschen »im Weltalter des Ausgleichs«, der sich ganz »westlich« ausnimmt, und er hielt den Vortrag über »Die Idee des Friedens und der Pazifismus«. Sowohl durch die eine als auch durch die andere Schrift ist es gerechtfertigt, Scheler einen prominenten Platz unter den Denkern der »Mitte« zuzuweisen, obwohl sich bei genauerem Hinsehen zeigt, daß man dennoch nicht von einem Übergang zu einer »positivistisch-pazifistischen Geschichtstheorie« sprechen darf. (Vgl. ebd., S. 248-256).“ (Ebd., 2006, S. 230-231).

„Thomas Mann hatte während des Krieges jene »Betrachtungen eines Unpolitischen« geschrieben, die noch schärfer, als Scheler es tat, Deutschland und »den Westen« einander entgegensetzten: Deutschtum das sei »Kultur, Seele, Freiheit, Kunst« und nicht »Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht. ....«, die von den westlichen Alliierten auf ihr Banner geschrieben worden seien. Was die »Zivilisationsliteraten« (nicht zuletzt sein Bruder Heinrich) als »Obrigkeitsstaat« herabsetzen, ist für Thomas Mann das feste Gehäuse, in dem die Grundmächte des Lebens wie Zeugung, Tod, Religion und Liebe sich zur »Kultur« entfalten können, während der Westen im ewigen Geschwätz der politisierten Massen nur zum Haß auf jede Überlegenheit, jede sachverständige Autorität führen und nichts Besseres als »ein Geschäfts- und Lusteuropa a la Edward the Seventh« hervorbringen könne. Allerdings macht sich in seinen Tagebüchern bereits zu dieser Zeit eine unverkennbare Neigung für Kommunismus, Spartakismus und Bolschewismus bemerkbar, und er erklärt ausdrücklich die Gerüchte über seinen Anschluß an die USPD für »nicht sinnlos«, doch der Grund ist ausschließlich der, daß diese Linke zu großen Teilen »national und anti-ententistisch« ist. Nach dem Ende der Räterepublik aber, sechs Wochen später, formuliert Thomas Mann im Gespräch mit seiner Frau eine Wendung, der Hitler keine noch radikalere hätte entgegensetzen können, wenn er damals schon zu schriftlichen Stellungnahmen aufgefordert worden wäre: » .... Wir sprachen auch von dem Typus des russischen Juden, des Führers der Weltbewegung, dieser sprengstoffhaften Mischung aus jüdischem Intellektual-Radikalismus und slawischer Christus-Schwärmerei. Eine Welt, die noch Selbsterhaltungsinstinkt besitzt, muß mit aller aufbietbaren Energie und standrechtlicher Kürze gegen diesen Menschenschlag vorgehen.« (Thomas Mann, Tagebücher 1918-1921, S. 233). Schon im Jahre 1922 nahm Thomas Mann indessen von dieser Interpretation, an der Hitler zeit seines Lebens festhielt, auf dezidierte Weise Abschied, indem er seine Rede »Von deutscher Republik« hielt, das meiste von dem, was er bis dahin als bloße Zivilisation abgetan hatte, mit einem positiven Akzent versah und unter Berufung auf Walt Whitman »Humanität« und »Demokratie« für »einerlei« erklärte. Der Vortrag zu Ehren Gerhart Hauptmanns klang zum Mißfallen des großenteils studentischen Publikums in den Ruf aus: »Es lebe die Republik!«  Von noch viel konkreteren politischen Stellungnahmen war die Rede erfüllt, die Thomas Mann unter dem Titel »Ein Appell an die Vernunft« nach den Septemberwahlen von 1930 (**) hielt und die eine ganz unzweideutige Verurteilung des Nationalsozialismus als eines Bestandteils der »Riesenwelle exzentrischer Barbarei und primitiv-massendemokratischer Jahrmarkthohlheit« enthält, die durch die Welt gehe. Zwar subsumiert er unter das »Massendemokratische« nicht nur das »Dritte Reich«, sondern auch die »proletarische Eschatologie«, aber die stärkere Abneigung gilt offenbar der »blauäugig gehorsamen und strammen Biederkeit«, die merkwürdigerweise mit dem »Veitstanz des Fanatismus« Hand in Hand geht. Das konkrete politische Postulat lautet, der Platz des deutschen Bürgertums sei heute an der Seite der Sozialdemokratie. Dennoch handelt es sich nicht um eine parteipolitische Rede, denn am Ende stellt er »voll Sorge und Liebe« einen Namen in die Mitte »wie 1914 (!) und 1918, den Namen Deutschland«. Der Thomas Mann der Weimarer Republik hat den Thomas Mann des Weltkrieges also keinesfalls nur fortgestoßen. Aber einer der jugendlichen Zuhörer, berichtet Joseph Goebbels zu dessen unverkennbarer Befriedigung, er und einige Gesinnungsgenossen hätten Thomas Mann auf den Kopf gespuckt, weil er »die Bewegung« aufs schwerste beleidigt habe. (Vgl. Joseph Goebbels, Tagebücher, Band 1, S. 620)“ (Ebd., 2006, S. 232-233).

„In Martin Heideggers »Sein und Zeit« kommt kein einziger Name eines Weimarer Politikers oder einer Weimarer Partei vor, so gewiß das Buch nach verbreiteter Meinung das »Lebensgefühl« der Weimarer Zeit zum Ausdruck brachte, etwa durch die zentrale und negative Position, die dem »man« zugewiesen wird, jenem Aufgehen im Anonymen, dem das Dasein verfällt, wenn es sich nicht zur Höhe des existenziellen, des todbereiten Selbstseins erhebt. Und doch kommt in dieser anscheinend zeitenthobenen, an keine bestimmte Epoche gebundenen Ontologie der »Geschichtlichkeit« im § 74 plötzlich das »Geschick« als das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes, auf, und mit der Wahl dieses Begriffs erklärt sich Heidegger offenbar gegen den marxistischen Begriff der Klasse als der am tiefsten prägenden Gemeinschaft. Und daß Heidegger nicht völlig über den politischen Wassern Weimars schwebte, geht noch anschaulicher aus einem Brief hervor, den er im Oktober 1928 über seine Vortragsreise nach Riga an eine seiner Studentinnen schrieb: Riga habe die Jahre des Krieges und der Bolschewistenherrschaft noch nicht überwunden, die Schicksale der Balten seien erschütternd. In einem anderen Briefe erinnert er einige Zeit später, im Sommer 1932, an frühere Gespräche, in denen er gegen den Liberalismus als eine Macht der Nivellierung und der Herabsetzung der Maßstäbe Stellung genommen habe - gegen den Liberalismus, der durch den »Jesuitismus« der Zentrumspartei und Brünings gefördert worden sei. Und er gelangt zu dem erstaunlichen, ohne politische Leidenschaft gar nicht vorstellbaren Satz: »Kommunismus u.a. ist vielleicht grauenhaft, aber eine klare Sache -Jesuitismus aber ist, verzeihen Sie, teuflisch« (Martin Heidegger, Briefewechsel 1918-1969, S. 52).“ (Ebd., 2006, S. 234).

„Alle diese Nähen und Fernen zwischen »Engagement« und »Reflexion« muß man sich vor Augen halten, wenn man sich mit der »engagierten Reflexion« zahlreicher Denker, Schriftsteller und Publizisten der Weimarer Republik befassen will. Die »Kriegschuldfrage« dürfte ein geeigneter Ausgangspunkt sein, denn sie berührte alle Menschen der Weimarer Republik aufs tiefste und auf die dauerhafteste Weise; ihr gegenüber bildeten sich am frühesten und klarsten die Denkwege und Parteinahmen aus, die es vor dem Kriege als solche noch nicht hatte geben können, auch wenn sie auf vielfältige Weise in Denkansätzen und Parteidoktrinen vorbereitet worden waren. Danach wird die Einteilung in »Linke«, »Rechte« und »Mitte« maßgebend sein, wobei zur »Mitte« auch diejenigen gezählt werden sollen, die nicht der radikalen Linken oder Rechten angehören. Sowohl die extreme Linke als auch die extreme Rechte sind in aller Regel so sehr vom Feuer politischer Leidenschaft erfüllt, daß von ihnen Reflexion in dem gekennzeichneten Sinne nicht erwartet werden darf. Daß nur beispielgebende Repräsentanten herangezogen werden und enzyklopädische Vollständigkeit nicht erstrebt wird, dürfte sich von selbst verstehen.“ (Ebd., 2006, S. 234-235).

Die Kriegsschuldfrage

„Der »Weltkrieg« des Jahres 1914 war in seinen Anfängen ein europäischer Krieg, d.h. ein Krieg zwischen den Großmächten Europas, und er war als solcher nichts völlig Präzedenzloses: In den Dreißigjährigen Krieg des 17. Jahrhunderts, in den Spanischen Erbfolgekrieg des frühen 18. Jahrhunderts und in die napoleonischen Kriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren mehr oder weniger alle Mächte Europas verwickelt, und die Menschenverluste waren ungeheuerlich gewesen. Aber jedesmal war ein Friede geschlossen worden, in dem die Kontrahenten sich trotz ihrer Kriegsverluste bzw. -gewinne gegenseitig von neuern anerkannten und einander das »Vergessen« einräumten, welches das Fortschwären der Wunden des Krieges verhindern sollte. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870-1871, das letzte große kriegerische Ereignis auf europäischem Boden vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts, hatte lokalisiert werden können, aber er hatte auf der Seite der Unterlegenen eine tief sitzende Erbitterung und einen Wunsch nach »Revanche« hinterlassen, zu denen es nach den früheren Friedensschlüssen keine rechte Analogie gegeben hatte. Vermutlich war dafür der Umstand nicht ohne Bedeutung, daß Frankreich eine »Kriegsschuld« eingestanden hatte und daß dieses Eingeständnis ohne positive Folgen geblieben war, denn der Frankfurter Friede war sehr hart und entriß Frankreich zwei seiner schönsten Provinzen, die freilich erst 105 bis 190 Jahre zuvor erobert (geraubt! Anm. HB) worden waren. Und das Schuldeingeständnis bezog sich nicht auf »Frankreich«, sondern ausschließlich auf den gestürzten Herrscher, Napoleon III., und es war zugleich eine Waffe in dem seit zwei Jahrzehnten tobenden Kampf zwischen den Gegnern des »Bonapartismus« und den Anhängern des Kaisers. Die Nationalversammlung in Bordeaux drückte einem längst vollzogenen Akt nur das letzte Siegel auf, als sie am 1. März 1871 feierlich erklärte, Napoleon und seine Dynastie seien abgesetzt und er sei »responsable de la ruine, de l'invasion et du démembrement de la France«. Aber die Geschichte der inneren Auseinandersetzungen der Franzosen um das richtige Verständnis dieser Niederlage war damit noch längst nicht beendet, und führende Denker wie Ernest Renan und Hyppolite Taine schrieben Abhandlungen voller »engagierter Reflexion«, während die großen Parteien der Liberalen und der Katholiken den Schuldspruch zwar erweiterten, nämlich auf die Preußenfreunde in Frankreich selbst, aber von der Eindeutigkeit des Verdammungsurteils keine Abstriche machten (siehe oben, S. 35f.).“ (Ebd., 2006, S. 235-236).

„Die folgenden Jahrzehnte sahen den erstaunlichen Aufstieg der sozialistischen Parteien in ganz Europa und vornehmlich in Deutschland und Frankreich, und deren konkretes Hauptangriffsziel war der drohende Krieg als eine aus dem kapitalistischen System unmittelbar resultierende Gefahr, so daß ein Pazifismus ganz neuer Art entstand, der sich nicht mehr primär in der Abwehr begriffen sah, indem er sich auf »Humanität« und »Zivilisation« berief, sondern für den die »Abschaffung des Krieges« ein bloßer Teil eines viel umfassenderen »Abschaffens« war, nämlich des kapitalistischen oder marktwirtschaftlichen Systems und dessen Ersetzung durch das planwirtschaftliche, auf Bedarfsdeckung und nicht auf Profit oder Erweiterung ausgerichtete klassen- und staatenlose System des Sozialismus. Der Wille zum Frieden war hier also - mindestens in der Theorie - eng mit dem Willen zu einer Kriegsmaßnahme der umfassendsten Art verknüpft, welche sich allerdings in einer » Weltrevolution« vollziehen sollte, die überall nur den so gut wie unblutigen Sturz einer kleinen »aneignenden« und also ausbeuterischen Gruppe von Kapitalmagnaten implizieren würde. Diese idyllische Zukunftserwartung war in ihrem Charakter als Utopie mit ältesten Menschheitshoffnungen eng verwandt und knüpfte ebensosehr an die edelsten Motive großer Massen von Menschen - keineswegs nur von »Arbeitern« - an, wie sie einen rücksichtslosen Kampfwillen auslösen konnte, sobald sich herausstellte, daß der drohende Kriegsausbruch nicht durch das Zaubermittel des gesamteuropäischen Generalstreiks verhindert werden konnte. gewiß hatte sich längst in allen sozialistischen Parteien eine Trennung zwischen »Sozialisten« oder Revolutionären und »Sozialdemokraten« oder Reformisten herausgebildet, und damit zeichnete sich am Horizont die Möglichkeit eines »Bruderkampfes auf Leben und Tod« zwischen den beiden Flügeln »der Arbeiterbewegung« ab. Aber auch der sozialdemokratische Flügel stellte sich den kriegsgegnerischen Emotionen nicht in den Weg und trug zu jener Massenstimmung bei, die den Kriegsausbruch 1914 von allen bisherigen Anfängen eines Krieges so völlig verschieden sein ließ: als eine große und weit verbreitete Hoffnung zerstört wurde und ganz andersartige Massenemotionen den leeren Platz einnahmen, nämlich auf der Seite Frankreichs und Belgiens der Wille, sich gegen eine unmittelbar drohende Invasion zur Wehr zu setzen, und in Deutschland die Vermutung, einem Angriff des russischen und weithin als »barbarisch« empfundenen Zarismus entgegentreten zu müssen.“ (Ebd., 2006, S. 236-237).

„So war es von vornherein unwahrscheinlich, daß jene (nach der Formulierung Max Schelers) »edelsinnige« oder »ritterliche«, vom damaligen völkerrecht gestützte Auffassung sich hätte durchsetzen können, welche die Frage der »Kriegsschuld« gegenstandslos gemacht hätte und die sich im Munde Wilhelms II. folgendermaßen hätte artikulieren können: »Mein Bundesgenosse ist zum Angriffsobjekt einer kriegsähnlichen Handlung geworden, und er muß sich mit einer radikalen Gegenmaßnahme zur Wehr setzen, d.h. mit einem Krieg gegen Serbien. Ich unterstütze ihn gemäß dem Sinn und dem Wortlaut unserer Verträge; wenn die formellen oder informellen Freunde Serbiens diesem Lande Hilfe leisten wollen, so ist das ihre Entscheidung; dann werfen alle Mächte, wie ich es tue, ihr Schwert in die Waagschale, und über den Ausgang wird ›Gott allein‹ entscheiden; moralistische Urteile einzelner oder auch vieler Menschen sind ohne jeden Belang.«“ (Ebd., 2006, S. 237).

„Was hier (in Versailles; Eröffnung am 18.01.1919, Unterzeichnung am 28.06.1919, Inkrafttreten am 10.01.1920; Anm HB) verurteilt wurde, war ... nicht etwa nur das Verhalten der deutschen Regierung in der Juli-Krise und auch nicht das herausfordernde Auftreten des Kaisers in früheren zeiten, sondern es war die Existenz des Bismarck-Reiches als eines solchen, und die Vermutung mußte sich aufdrängen, daß unter der »Wiedergutmachung« des »Übels« nichts anderes verstanden wurde als die Zurückversetzung Deutschlands in den Zustand des »Deutschen Bundes« (auch deshalb ist es kein Zufall, daß nach dem 2. Weltkrieg der Staat in West-Deutschland die »Bundesrepublik Deutschland« wurde;  und wer daran das größte Interesse hatte, ist bekannt;  Anm HB), der doch von nahezu allen deutschen Parteien als ein Zustand der politischen Ohnmacht bekämpft worden war. Gegn diesen Schuldvorwurf und dessen abzusehenden Konsequenzen mußte ... das ... Nationalgefühl geradezu aufbrennen, und kein geringerer als Max Weber machte sich zu dessen Sprecher, als er nicht nur einen Teil der deutschen Antwort formulierte, sondern in Aufsätzen und Artikeln einen heftigen Zorn, verbunden mit Drohungen, artikulierte, die hinter Gambettas Zorn und seinen Willen zur Revanche nicht zzurückstanden. Die große Mehrheit des deutschen Volkes scheint einen solchen Zorn aber erst empfunden zu haben, als der Wortlaut des »Diktats« und damit der Wortlaut des »Kriegsschuldparagraphen« 231 bekannt wurden (**) .... Aber daß die ganze Härte des Vertrages ohne den Vorwurf der Kriegsschuld nicht zustande gekommen wäre (aha!), ist eine richtige Einsicht, und diese rief sofort zwei Gegenvorwürfe hervor: Die Alliierten hätten ihrerseits einen beträchtlichen (einen größeren!) Anteil an der Kriegsschuld (**), und bestimmte deutsche Kräfte - Pazifisten wie Bloch u.a., aber auch die USPD, ja möglicherweise der ganze »Marxismus« einschließlich der Mehrheitssozialdemokratie - trügen die Schiuld am Verlust des Krieges.“ (Ebd., 2006, S. 244).

„Ebenso wie die Publikation der »Großen Politik« wissenschaftlich ertragreich war, aus welchen Motiven immer sie ursprünglich entstanden sein mochte, so war auch die Gründung einer eigenen Zeitschrift für die Erörterung der »Kriegsschuldfrage« unter eben diesem Titel für die Wissenschaft von beträchtlichem Wert, obwohl die Motive des vom Auswärtigen Amt unterstützten Herausgebers Alfred von Wegerer zweifellos von »revisionistischer« oder »rechter« Art waren (vgl. Zentralstelle für die Erforschung der Kriegsursachen [Hrsg.], Die Kriegsschuldfrage - Monatsschrift für internationale Aufklärung, Jahrgang I und II; später lautete der Titel: Berliner Monatshefte). Nicht wenige der Studien stammten von ausländischen Gelehrten, und wenn auch diese, wie etwa der US-Amerikaner Harry Elmer Barnes (**), überwiegend zur Verneinung einer exklusiven deutschen Kriegsschuld gelangten, so kam die entgegengesetzte Auffassung doch häufig genug zu Wort, daß zwar nicht alle einzelnen Abhandlungen, aber doch jedenfalls die Zeitschrift im Ganzen zur Gattung der »engagierten Reflexion« zu zählen sind. Vor allem wurden Tatsachen und Geschehnisse in die Betrachtung einbezogen, die von den Juli-Ereignissen weit entfernt und dennoch für den Charakter des Krieges aufschlußreich waren, etwa die kriegshetzerische Sprache der maßgebenden serbischen Zeitschrift » Politika« vor dem Krieg und die Vergewaltigung des neutralen Griechenland durch die Alliierten im Krieg (**).“ (Ebd., 2006, S. 246).

„Für beträchtliche Zeit waren die Fronten noch nicht vollständig verhärtet, und man konnte in Büchern prominenter Staatsmänner und Feldherren beider Seiten Äußerungen und Feststellungen finden, die der Gegenseite ein gewisses Recht zugestanden, so wenn der Großadmiral von Tirpitz in seinen Erinnerungen von »unseren ohne zwingenden Grund ... erfolgten Kriegserklärungen an Rußland und Frankreich« sprach (vgl. Alfred von Tirpitz, Deutsche Ohnmachtspolitik im Weltkrieg, 1926, S. 13; das Buch, von tiefer Bitterkeit gekennzeichnet, entwirft das Bild einer »Polykratie«, das von all denjenigen zur Kenntnis genommen werden sollte, die einer Ausdehnung des Begriffs auf das Hitler-Regime das Wort reden) oder wenn Winston Churchill die äußerst bedrohliche Lage der Alliierten im Jahre 1917 beschrieb, aus der sie nur durch die Intervention der USA, also einer nichteuropäischen Macht, gerettet worden seien (**).“ (Ebd., 2006, S. 246).

„Aller Wahrscheinlichkeit nach war es das ungeplante Zusammenwirken zahlreichet »kleiner« Ursachen und Urheber, das zum »großen« Ausbruch des Krieges führte, und die Suche nach konkreten Schuldigen war ebenso verständlich wie letzten Endes schon von der Sache her inadäquat, und am inadäquatesten war sie dann, wenn - wie von seiten des Spartakusbundes materielle Faktoren als Ursachen und nicht als Folgen angeführt wurden. Es war gewiß richtig, daß viele Kriegsgewinnler große Profite machten und reichlich über Lebensmittel verfügten, aber was bedeutete ihnen das, wenn es ihnen allenfalls in ganz seltenen Fällen erlaubte, ihre Söhne vor den Gefahren des Krieges zu bewahren? Und die Junker und Junkersöhne erlitten als Offiziere im Krieg so überproportionale Verluste, daß sie ihre frühere Vorherrschaft, die für sie die Erhaltung einer altüberlieferten Lebenswelt mit ihren Leistungen, Normen und Gewohnheiten bedeutete, schon aus biologischen Gründen in der Nachkriegszeit nicht unverändert hätten aufrechterhalten können. Bewiesen wurde in der langen und erbitterten Schulddiskussion nicht viel mehr, als daß Deutschland den Österreichern freie Hand für eine Strafaktion gegen Serbien gegeben hatte, aus der mit einiger Wahrscheinlichkeit ein großer Krieg entstehen konnte, aber wenn schon die Inkaufnahme dieser Möglichkeit so viel wie Schuld bedeutete, dann waren die Bündnissysteme und -verpflichtungen der europäischen Staaten die wahren Schuldigen an diesem Krieg. (Erst seit dem 11. September 2001 weiß die Welt, wie eine Großmacht reagiert, wenn sie auf ihrem eigenen Gebiet zum Ziel eines terroristischen Anschlags auf einen symbolischen Ort oder auf eine symbolische Person wird. Aber schon inmitten der Aufregung über das österreichische Ultimatum stellte ein Engländer die Frage, wie England sich wohl verhalten würde, wenn der britische Kronprinz auf den Straßen Peshawars von »Terroristen« bzw. »Freiheitskämpfern« erschossen worden wäre.).“ (Ebd., 2006, S. 250).

Die Linke

„Im Juli 1916 schrieb der junge Max Horkheimer ...: »Wir sind Menschenfresser, die sich darüber beklagen, daß das Fleisch der Geschlachteten Bauchweh macht. .... Du genießt die Ruhe und den Besitz, für den die draußen ersticken, verbluten, sich in Krämpfen winden und drinnen schlechte Schicksale erdulden, wie das Katharina Krämers. .... Andere verbrennen lebendig, bei Bewußtsein an giftigen Gasen, damit Deinem Vater das Geld erhalten bleibe, mit dem Du Deine Therapie bezahlst. ....« (Offenbar reichte die Zeichnung eines noch so bedrückenden Elendsbildes Horkheimer nicht aus, sondern er bezieht den Krieg ein, wie die Wendung im Schlußsatz deutlich macht.). Max Horkheimer läßt sich offenbar von dem Empfinden leiten, das man ein menschliches oder »bürgerliches« Urempfinden nennen kann, demjenigen eines gesellschaftlichen Unterschieds und der eigenen Bevorzugung. Aber zugleich vollzieht er den Übergang zur Selbstanklage: Die eigene Bevorzugung ist durch die Benachteiligung des anderen Menschen, ja einer ganzen Menschenklasse verursacht und deshalb ungerecht. Dies ist die Wurzel der »linksbürgerlichen« Einstellung, und sie hat hohen Respekt verdient. Aber auch eine ganz andere Auslegung ist möglich: Die »Reichen« sind im industriellen System nichts anderes als die Vorhut der allgemeinen Verbesserung und Hebung des Lebensstandards; selbst krasse Unterschiede dürfen nur durch Armenfürsorge oder Sozialpolitik gemildert, aber keinesfalls gewaltsam beseitigt werden, da die einzige Alternative, die der gleichheitlichen Verteilung, zu einer weit umfassenderen Armut für alle führen würde. Eine solche Überlegung würde Horkheimer als unmoralisch zurückgewiesen haben, und der Marxismus bot ihm einen zufrieden stellenden Ausweg an: Der moderne Sozialismus sei kein Verteilungssozialismus, sondern ein überlegenes Produktionssystem, das viel mehr an Reichtum erzeugen werde als das anarchische, krisengeschüttelte System des Kapitalismus. Aber ein zwingender Beweis war nicht zu erbringen, und damit kam ein anderer, ein ebenfalls menschlicher und »bürgerlicher« Grundimpuls ins Spiel: Den Sperling in der Hand nicht für die Taube auf dem Dach aus der Hand zu geben und die Realität nicht zugunsten einer Utopie zu verspielen - am wenigsten dann, wenn die ebenso wohltuende wie unheilvolle These aufgestellt wurde, man brauche nur die Profite der Unternehmer unter die Arbeiter zu verteilen, um zu einem gerechten sozialen System zu gelangen. So war die »rechtsbürgerliche Auffassung mit hoher Wahrscheinlichkeit die richtigere, aber das linksbürgerliche Empfinden war (scheinbar) moralischer.“ (Ebd., 2006, S. 254-256).

„Aber es war faktisch nicht möglich, die Anhänger nur durch die Parole der »Weltrevolution« und der künftigen globalen Gesellschaft zu einigen. Vielmehr ziehen sich durch die ganze Geschichte der KPD Versuche, ein positives Verhältnis zu der konkreten Gemeinschaftsform der »Nation« zu gewinnen, und aus den Kreisen der bürgerlichen Sympathisanten wuchs der Partei viel an Unterstützung, aber auch an Konfliktmöglichkeiten zu. Der entsprechende Oberbegriff, unter dem diese Tendenzen häufig zusammengefaßt wurden, war »Nationalbolschewismus« (»Nationalkommunismus«; Anm. HB), und dieser machte schon durchs ein Dasein sowohl die Stärke als auch die Schwäche der kommunistischen Vorstellungen und Zielsetzungen offenbar.“ (Ebd., 2006, S. 257-258).

„Es ist ja durchaus umstritten, ob er überhaupt der Linken und nicht vielmehr der Rechten zuzuzählen ist. Eindeutig rechts waren ohne Zweifel alle Bestrebungen, die Existenz Sowjetrußlands für den Kampf gegen die westlichen Alliierten nutzbar zu machen, wie sie sogar bei Seeckt erkennbar waren und zunächst auch Thomas Manns Einstellung bestimmten. Ebenso wenig wird man diejenigen für Linke halten dürfen, die in der bolschewistischen Realität Kennzeichen der eigenen Welt- und Lebensanschauung wahrnahmen, etwa die Hochschätzung von Disziplin, Über- und Unterordnung, Dienst-Ethik und ähnlicher Tugenden. Aber ganz anders stand es um die »Hamburger Nationalkommunisten« um Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim (**), die aus aufrichtiger Überzeugung den Anti-Versailles-Impuls (**) in das Handeln der Kommunistischen Partei einbringen wollten, und anders stand es insbesondere um jene Schlageter-Rede, in der Radek sich auf Scharnhorst und Gneisenau berief und die Begriffe »Volk« und »Nation« mit einem positiven Akzent versah. Ähnliches galt für das Programm zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes« vom August 1930 und nicht zuletzt für den »Scheringer-Kurs« vor der nationalsozialistischen Machtübernahme. Undurchsichtig waren die letzten Motive jener Nationalrevolutionäre um Otto Straßer und in dessen Nachbarschaft, die verlangten, Deutschland solle im Befreiungskampf der unterdrückten Völker die Führung übernehmen, und die nicht selten Lenin als Vorbild hinstellten. Ein klares Kriterium stellte dann die Reichspräsidentenwahl vom März/April 1932 dar: Mehrere nationalbolschewistische Gruppen unterstützten direkt oder indirekt die Wahl Thälmanns und stellten sich damit eindeutig gegen diejenigen, die bloß aus nationalistischen Gründen, wie vor 1926 auch der junge Goebbels, der »Oststorientierung« das Wort geredet hatten. Nicht ganz wenige, wie Bodo Uhse und Bruno von Salomon, traten zur KPD über, Harro Schulze-Boysen, später einer der entschlossensten Vorkämpfer des Widerstands gegen Hitler, verfocht in seiner Zeitschrift »Gegner« eine Art Synthese von Marx und Nietzsche (auch der junge Sozialist Mussolini versuchte, eine Synthese von Marx und Nietzsche zustande zu bringen; vgl. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, 1963, S. 200-218), die aber in der politischen Praxis eine Entscheidung für die KPD und die Sowjetunion bedeutete.“ (Ebd., 2006, S. 258).

„Der bekannteste Repräsentant des Nationalbolschewismus (Nationalkommunismus; Anm. HB) war Ernst Niekisch, und an seinem Beispiel läßt sich am einmfachsten zeigen, daß die linken Motive bei ihm und in seinem Umkreis stärker waren als die rechten. Für einige Wochen war Niekisch 1919 ja der Präsident des Zentralrats der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte Bayerns, also der oberste Funktionär der ersten der nichtkommunistischen Räterepublik gewesen .... Aber auch Spengler beeinflußte ihn tief, den er im Gefängnis las, nachdem er zu einer Haftstrafe verurteilt worden war. Danach für kurze Zeit Fraktionsführer der USPD im Bayrischen Landtag, widmete er sich vornehmlich der Lektüre von Marx, Engels und Lenin und teile mit seiner Partei die Überzeugung, daß »das besitzende Bürgertum abzudanken« habe und daß das Hauptmotiv die enge Verbundenheit »mit allen Elementen der Tiefe, mit den Schwachen, mit den Unterdrückten, mit den Ausgeplünderten« sein müsse. (Vgl. Friedrich Kabermann, Widerstand und Entscheidung eines deutschen Revolutionärs - Leben und Denken von Ernst Niekisch, 1973, S. 36).“ (Ebd., 2006, S. 258-259).

„»Weltbühne« ... war das Organ des militantesten Pazifismus und damit der heftigsten Anklage gegen die »Kriegsschuldigen« ....“ (Ebd., 2006, S. 259).

„Rein positiv ist jedoch die frühe Stellungnahme zur Revolution, die im ersten Heft (der »Weltbühne«) des Jahrgangs 1919 folgendermaßen formuliert wird: »Das große Ziel der Revolution ist eine neue Welt, ein neuer Geist, ein neuer Mensch, dieses insbesondere: die Wiedergeburt des Menschen, den der Kapitalismus zum Hebel einer Maschine, der Militarismus zur Ladevorrichtung einer Waffe erniedrigt hatte -der Fabrikant beschäftigte nicht Menschen, sondern soundsoviel »Hände«, der General warf nicht Menschen, sondern soundsoviel »Gewehre« in die Feuerlinie. Jetzt endlich soll der Mensch wieder Mensch werden.« In dem »wieder« steckt schon eine eigenartige Vergangenheitsorientierung, die in der Zeitschrift nicht selten zu finden ist und sich neben der betonten »Modernität« auf den ersten Blick widersprüchlich ausnimmt: Erst wenn das deutsche Volk »Einkehr gehalten« und »zu einem fruchtbaren Selbsthaß« (!) gelangt sei, werde »jenes fromme und romantische Leben wieder auferstehen, das ihm (einst) die Zuneigung und Sympathien der ganzen Welt verschafft hat.« (Ebd., 1919, S. 250). Es war nur allzu wahrscheinlich, daß so hochgesteckte Hoffnungen immer wieder enttäuscht wurden, und so tritt allmählich eine oftmals geradezu zügellose Polemik mehr und mehr hervor. Angesichts des drohenden englisch-sowjetiischen Krieges im Jahr 1927 vergißt Kurt Tucholsky alles Maß so sehr, daß er sich zu den schlimmsten Verwünschungen nicht etwa gegen die englischen, sondern die deutschen Mittelschichten hinreißen läßt: »Möge das Gas in die Spielstuben eurer Kinder schleichen. Mögen sie langsam umsinken, die Püppchen. Ich wünsche der Frau des Kirchenrats und des Chefredakteurs ... und der Schwester des Bankiers, daß sie einen bitteren qualvollen Tod finden, alle zusammen. Weil sie (durch ihre angebliche Hinneigung zum Kriege) es so wollen, ohne es zu wollen.« (Ebd., 1927, S. 152f.) Offenbar lag Tucholsky, der nicht selten als »jüdischer Antisemit« betrachtet wurde, der Gedanke fern, daß diese Art von kollektivistischem Schuldvorwurf und ein ähnlicher Vernichtungswille ebenfalls gegen »die Juden« gerichtet werden konnten, und zwar auch unter Hinweis auf die »Weltbühne«, unter deren Autoren ein frappierendes Übergewicht von jüdischen Autoren zu finden war. (Istvan Deak fand 42 Autoren jüdischer Abstammung und 24 Nichtjuden. Vgl. Istvan Deak, Weimar Germany's Left-wing Intellectuals - A Political History of the Weltbühne and its Circle, 1968, S. 24). Und auf seine Weise bestätigte Arnold Zweig als Autor der »Weltbühne« ebenfalls die »antisemitischen« Vorwürfe, obgleich mit entgegengesetzter Akzentuierung, wenn er in einer Artikelfolge über »Die antisemitische Welle« von dem »jüdischen Blut« sprach, »welches den Sozialismus jeder Form in die Welt gebracht hatte, von Moses (!) bis zu Gustav Landauer«, und wenn er den Gegensatz zwischen »den Juden« und »den Deutschen« als Völkern hervorhebt. (Vgl. Die Weltbühne, 1919, I, S. 381f., 417ff., 442ff.). Carl von Ossietzky nimmt als Chefredakteur der letzten Jahre die selbstzerstörerische Polemik gegen das »Kleinbürgertum« wieder auf, die ein Mann wie Radek gerade einzuschränken versucht hatte - jene Weise von »Todesurteil, Henker und Grab«, die trotz Radek in der kommunistischen Propaganda eine zentrale Rolle gespielt und die Entwicklung eines Gegen-Willens geradezu postuliert hat. Erst in den letzten Heften wird hier und da über eine »Mitschuld der Linken« nachgegedacht und vor der »Sucht« gewarnt, »den Feind kleiner zu machen, als er ist«. (Ebd., 1932, II, S. 698. Die Spannweite der Weltbühne wird im Jahrgang 1931 besonders evident. Auf S. 360 (II) äußert sich George Bernard Shaw folgendermaßen über »Das mißverstanden Rußland«: »In Rußland gibt es keine Arbeitslosen. Das Volk ist gesund, lebt sorgenfrei und voller Vertrauen auf die Zukunft.« Dort gibt es auch keine Müßiggänger: »Sie müssen entweder arbeiten, oder sie werden kurzerhand erschossen, weil sie nicht wert sind, daß die Gesellschaft sie durchfüttert.« Sein Hauptmotiv ist offenkundig gesellschaftlicher und innenpolitischer, vornehmlich gegen Churchill gerichteter Art. Kurz zuvor war er in der Sache von Hans Siemsen scharf kritisiert worden: Wer die GPU nicht wahrgenommen habe, könne sich kein richtiges Bild von Rußland machen. »Die GPU liquidiere [wie würden sagen ›rottet aus‹] das Kulakentum« und erschießt »auf dem Verwaltungswege« Menschen, die sich nicht mehr hatten zuschulden kommen lassen, als hundert Silberrubel »gehamstert« zu haben. Er habe selbst mit einer Frau gesprochen, deren Mann eines Tages »abgeholt« wurde. Vierzehn Tage später habe ein GPU-Mann der Frau die Kleider des Mannes gebracht. »Das war alles. Kein Gerichtsverfahren, keine Anklage, kein Urteil - nur eine Erschießung.« [Ebd., I, S. 719ff.]. Um die gleiche Zeit wird von den grauenhaften Zuständen in der seit 1920 polnischen - »West-Ukraine« berichtet, und zu dieser Art von grausamen Folterungen und Vergewaltigungen zwecks Terrorisierung der nicht-polnischen Mehrheitsbevölkerung gab es im nationalsozialistischen Deutschland bis zum Kriegsausbruch keine Analogie. [Vgl. Jakob Links, Die Folterkammer Europas, ebd., I, S. 272ff.]).“ (Ebd., 2006, S. 260-261).

„Die Kultur ist ... in der Tat wesentlich eine Unterdrückung, aber diese läßt sich so wenig abschaffen wie der Kampf zwischen Eros und Thanatos, Lebenstrieb und Destruktionstrieb (Todestrieb; Anm. HB). (Vgl. Sigmund Freud, Werkausgabe, Band II, S. 403ff.). Sublimierung der Triebe ist die beste menschliche Möglichkeit, nicht aber der Sieg des »guten« Lebensstils über den »bösen« Todestrieb, denn beide gehören wesentlich zum menschlichen Dasein. Unter dem Gesichtspunkt der Politik dürfte das heißen, daß Konservativismus und Progressivismus zwar miteinander kämpfen und sich aneinander verwandeln müssen, daß aber jeder Versuch vergeblich und gleichwohl verdammenswert ist, eine der beiden Mächte aus der Welt zu bringen. So hätte sich die Linke, wie tendenziell bei Horkheimer, durch Freud selbst »relativiert« und wäre dem absolutistischen Utopismus Blochs entgegengetreten. Dadurch und durch die Einbeziehung des jüdischen Aspekts hätte das linke Denken unter Beweis gestellt, daß es »engagierte Reflexion« und nicht bloße Agitation war, auch wenn, wie in der »Weltbühne«, die Reflexion nur potentiell durch die Nebeneinanderstellung unterschiedlicher Einseitigkeiten zustande kommt. Aber wenn die Weimarer Linke auf der unteren Ebene nicht viel anderes als Vulgärantikapitalismus ist, so wird auf der höheren Ebene das historische Lebensrecht der Rechten nicht bestritten, und der Frage ist nicht auszuweichen, ob die radikale und die extreme Rechte eine ähnliche Selbstrelativierung vornehmen und dem Vulgärantisemitismus nicht mehr an Raum lassen, als die Linke dem Vulgärantikapitalismus zugesteht.“ (Ebd., 2006, S. 268).

Die Rechte

„Es kann keine »Rechte« geben, solange »die Herrschenden« die Sache der jeweiligen »Ordnung« mit Entschiedenheit und gutem Gewissen vertreten, weil sie diese nicht für »jeweilig«, sondern für »gottgewollt« halten. Diese Ordnung kann allenfalls temporär gestört sein und muß dann wiederhergestellt werden. Von eben dieser Konzeption ließen sich noch alle Reformatoren von Luther bis Calvin leiten, und nur Thomas Münzer und sein Umkreis dürfen, wie zuvor die Hussiten und die Anhänger Wyclifs, als »Linke« betrachtet werden. Allerdings büßte diese Ordnung an Festigkeit überall dort ein, wo es ernsthafte Spannungen innerhalb der herrschenden Schicht gab, etwa diejenige zwischen Monarchie und Adel, zwischen Kirche und Staat, zwischen Städten und Landbevölkerung einschließlich des grundständigen Adels, und das war tendenziell in ganz Europa der Fall. Aber erst in der Zeit der Aufklärung begannen einflußreiche Teile der herrschenden Schicht der übetlieferten und also christlich-konfessionellen Ordnung mt Skepsis und Zweifeln gegenüberzutreten, doch im Umkreis eben dieser Schichten entstand auch ein Kampfwille, der der angegriffenen Regierung und der bedrängten Religion gegen die »Cacouacs« (die Aufklärer) zu Hilfe kommen wollte. Schon die Epoche der französischen Revolution kann als die Zeit eines europaweiten Bürgerkrieges zwischen Linken und Rechten dargestellt werden und hat sich zum Teil selbst so verstanden, wie ja schon das jakobinische Motto des »Krieg den Palästen, Friede den Hütten« zeigt. Aber all das wurde bald vom Kaisertum Napoleons I. überdeckt, der durch seine Ehe mit der Habsburgerin Marie-Luise seinen Frieden mit den europäischen Dynastien zu machen suchte. In der Zeit der »Restauration« konnte es noch einmal so aussehen, als führten nur die Regierungen den Kampf gegen die »Partei der Bewegung« und als wäre die Unterstützung durch die Denker und Dichter der Romantik bloß etwas Nebensächliches. Das änderte sich endgültig mit der Revolution von 1848/49 trotz deren »Scheiterns«. Man mußte den Neffen Napoleons I., den neuen Kaiser Napoleon III. als den Bezwinger der linken Revolution zu der aufkommenden »Rechten« zählen, obwohl er als Vorkämpfer des Prinzips der Nationalität in gewisser Weise immer ein Linker blieb. (Siehe oben, S. 29). Daß Bismarck ein Repräsentant der Rechten war, stellt schon der Haß unter Beweis, der ihm über die Jahrzehnte hinweg von seiten der Linken entgegengebracht wurde, aber als Gründer des 2. Deutschen Reiches trennte er sich von dem preußischen Konservativismus, dem er doch selbst entstammte. Eine ganz klare Sonderung zwischen »rechts« und »links« entstand erst mit dem Aufkommen einer extremistischen, d. h. grundsätzlich auf Gewalt und auf einen kriegsartigen »Klassenkampf« ausgerichteten und auf die rotale Verwandlung der menschlichen Gesellschaft im Ganzen abzielenden Partei, nämlich der marxistischen Sozialdemokratie, welche die weitaus staatsnähere Partei Lassalles zurückdrängte und schließlich in sich einbezog. Aber wenn auch alle anderen Parteien des nunmehr voll ausgebildeten, wenngleich von der Teilnahme an der Regierung fern gehaltenen Parteiensystems gegen den Marxismus der Partei Bebels waren, so war doch das kaiserliche System stabil genug, daß sich keine primär gegen die Sozialdemokratie gerichtete Großpartei oder Parteienkoalition bildete. Der »Reichsverband gegen die Sozialdemokratie«, von einem pensionierten General geführt, gewann keine nennenswerte Bedeutung, und ein Gedanke wie derjenige Giolittis in Italien, die gemäßigten Sozialisten Filippo Turatis an der Regierung zu beteiligen und dadurch von den extremistischen Sozialisten unter Benito Mussolini zu trennen, blieb unvollziehbar.“ (Ebd., 2006, S. 268-269).

„Aber nicht alle Parteien lehnten die Hauptpunkte der marxistischen Doktrin mit gleicher Entschiedenheit ab: Die Linksliberalen der Fortschrittspartei standen dem Gedanken einer Weltgesellschaft, ja eines » Weltstaates« positiv gegenüber, und sie näherten sich auch der Vorstellung, eine große Gruppe von Menschen könne stärker durch ihre gegenwärtige »Klassen«lage als durch die aus einer langen Vergangenheit herkommenden Kennzeichen des »Volkes« oder der »Nation« geprägt sein. Die auch in den Parteien der Mitte vertretenen Pazifisten lehnten den weithin noch als selbstverständlich geltenden Gedanken ab, der Krieg sei ein Glied in Gottes Weltordnung. Der große Krieg schwächte diese Gegensätze zum Teil ab, weil er die klare Unterscheidung zwischen gemäßigten und radikalen bzw. extremistischen Sozialdemokraten entstehen ließ. Zum anderen jedoch trieb er sie auf die Spitze, weil der 1918 scheinbar siegreiche Internationalismus sich wie eine Sache der Kriegsgegner ausnahm und als Gegenzug einen Nationalismus von radikaler Art hervorbrachte, der zugleich dem »Klassen«prinzip auf die schärfste Weise entgegentrat. Hand in Hand damit gelangte der neue Nationalismus der Besiegten, die sich noch im Frühjahr 1918 nicht ohne Grund als Triumphatoren über die ganze Welt gefühlt hatten, zu einer Art von Kriegsbejahung, wie sie während der Kaiserzeit so gut wie unbekannt gewesen war.“ (Ebd., 2006, S. 270).

„In dieser Perspektive kann ein junger, mit dem höchsten Orden ausgezeichneter Offizier als die Leitfigur einer »neuen Rechten« angesehen werden, der jenem »positiven Kriegserlebnis« die vernehmlichste Stimme gab, welches dem »negativen Kriegserlebnis« der gesamten Linken auf das schroffste entgegengesetzt war. In unterschiedlichen Stufen der Abschwächung wurde es von Hunderttausenden, ja von Millionen Soldaten geteilt. Die vielleicht wichtigste Demokratisierung des Krieges hatte ja darin bestanden, daß das Offizierskorps sich zahlenmäßig trotz der großen Verluste mehr als verzehnfacht hatte und daß jeder, der in den Bahnen der Vorkriegspolemik gegen »den Militarismus« zu Felde zog und vornehmlich das Offizierskorps meinte, nun nicht mehr gegen eine abgehobene Adelsschicht, sondern gegen einen besonders wichtigen und starken Teil des Volkes polemisierte. Gewiß schlossen sich einige ehemalige Offiziere wie Ludwig Renn (eigentlich »Vieth zu Golssenau«) und Hans Kippenberger der KPD und nicht ganz wenige der SPD an, während große Massen der Mannschaften seit 1924 bzw. 1926 in das »Reichsbanner« und in den »Roten Frontkämpferbund« strömten. Aber der »Stahlhelm, Bund der Fontsoldaten« war viel stärker, als er hätte sein dürfen, wenn das linke Entsetzen über die Blutmühle des Krieges statt einer stolzen Erinnerung an männliche Tapferkeit und an nationale Willenseinheit die allein bestimmende Erfahrung der Kriegsteilnehmer gewesen wäre. Und so wurden die erstaunlichen Schriften jenes Kriegsleutnants Ernst Jünger »In Stahlgewittern« (1920) und »Der Kampf als inneres Erlebnis« (1922) bereits häufig gelesen, als die negative Kriegserfahrung der Linken noch kaum über die schlichten Formulierungen weit verbreiteter Massenemotionen hinausgelangt war. Und es waren offenbar viele Zehntausende, die sich sogar in den zugespitztesten Formulierungen Jüngers wieder erkannten: in der Wendung vom »wilden Auffluten des Lebens«, das sich im Kriege in seinem eigentlichen Sinn »als ein prächtiges, blutiges Spiel« offenbare, »an dem die Götter ihre Freude hatten«, in der Behauptung, »Wir Frontsoldaten haben das neue Gesicht der Erde gemeißelt« oder in der Prophezeiung »Der Krieg ist eine große Schule, und der neue Mensch wird von unserem Schlage sein«.“ (Ebd., 2006, S. 270-271).

„Aber was würde der Sieger von Königgrätz, das große Vorbild des preußischen Soldatentums, der General von Moltke, zu so sonderbaren Sätzen wie den folgenden gesagt haben: der Eros als auf die Spitze getriebenes Mannestum müsse auch die Beziehung der Geschlechter verändern und er werde »dem Phallus schimmernde Tempel errichten«. Ratlos stehe »der in Waffen gesteckte Spießbürger« vor dem Verhalten der »Auserlesenen«, das »die dünne Tünche einer sogenannten Kultur« hinwegfege? Diese »neue Rechte« war etwas ganz anderes, als es die alte Rechte des Kaiserreichs in der Festigkeit ihrer Überlieferungen gewesen war, und sie wandte sich unmittelbar der politischen Auseinandersetzung zu, wie Ernst Jünger es tat, als er zum regelmäßigen Mitarbeiter der »Standarte« wurde, der Sonderbeilage der Stahlhelmzeitung. Und Jünger erfüllte auch die Forderung, sich mit Beschreibungen und Stellungnahmen nicht zu begnügen, sondern auf der obersten Ebene in den Kampf zu treten, der Ebene des Begreifenwollens, das über den politischen Willen des Alltags hinausgreift. Dem dienten die theoretischen Bücher, die er in den letzten Jahren der Weimarer Republik veröffentlichte: »Die totale Mobilmachung« (1931) und vor allem »Der Arbeiter« (1932), mit dem Jünger offenbar der Linken einen der mächtigsten ihrer Zentralbegriffe zu entreißen suchte und dennoch einen wesentlichen Teil davon bestätigte, wie sich schon an einigen Kapitelüberschriften erkennen lässt: »Die Ablösung des bürgerlichen Individuums durch den Typus des Arbeiters«, »Die Technik als Mobilisierung der Welt durch die Gestalt des ›Arbeiters‹«, »Der Übergang von der liberalen Demokratie zum Arbeitsstaat«.“ (Ebd., 2006, S. 271).

„Was bei Ernst Jünger - bis auf einige Nebenbemerkungen - vollständig fehlt, ist der Versuch, die Mächte des Niedergangs und Verfalls, die zum Verlust des Krieges geführt haben, wie etwa Liberalismus und Demokratie, auf konkrete Urheber zurückzuführen und diese anzugreifen. Hier wäre die ganze »antisemitische« Literatur vom »Handbuch der Judenfrage« bis zu den »Protokollen der Weisen von Zion« zu lokalisieren, aber durch die Auswahl von besonders simplen und vulgären Wendungen wird in der heutigen Literatur nicht selten der Eindruck erweckt, es handle sich um ein abseitiges Gebiet, in dem nur bösartige Agitatoren gewirkt hätten, die zwecks Ablenkung der Massen von den eigentlichen Problemen der Zeit nach einem »Sündenbock« suchten. Dabei wird nicht zur Kenntnis genommen, daß die Kennzeichnung einer bestimmten Gruppe als »Urheber« verhängnisvoller Realitäten von dem linken Konzept der »Kapitalisten« geradezu erzwungen wurde, da als relativ unpolemische Alternative allenfalls »die Intellektuellen« in der Spitzengruppe der Kommunistischen Partei zur Verfügung standen. Und das Beispiel der Frühsozialisten läßt unter Einschluß Englands deutlich erkennen, daß »die Juden« als Angriffsziel erst allmählich von »den Kapitalisten« abgelöst wurden - hauptsächlich durch die Lehre von Marx, der mit seinem Aufsatz »Zur Judenfrage« paradoxerweise die ältere und historisch weit tiefer greifende Konzeption noch einmal artikulierte. Und daß der »Antisemitismus«, der in Wahrheit ein »Antijudaismus« ist (!), auch von Denkern hohen Ranges vertreten und durch einige ihrer Gefolgsleute auf der intellektuellen Ebene noch stärker radikalisiert werden konnte, als es auf der politischen Ebene durch Polemiker und Demagogen geschah, läßt sich besonders gut am Beispiel von Ludwig Klages erkennen, welcher der Urheber der Lehre vom »Geist als Widersacher der Seele« und damit in unverkennbarer Filiation der Inspirator der Doktrin von der verhängnisvollen »Logokratie« des Abendlandes und in eins damit der »grünen« Bewegung war (!), die den »Naturschutz« auf ihre Fahnen schrieb.“ (Ebd., 2006, S. 272).

„In der Einführung zu den »Fragmenten und Vorträgen aus dem Nachlaß« seines Freundes Alfred Schuler, die er 1940 publizierte, legt er seine Theorie von den »lebensfeindlichen Machtzentren« dar, und er beruft sich auf Marx' Konzeption vom »Christentum als dem sublimen Gedanken des Judentums«, um eine Metaphysik des Antijudaismus und der Antichristlichkeit zu entwickeln, die alle konservativen Denker des 19. Jahrhunderts mit Entsetzen zurückgewiesen hätten. Die These, daß die »Drahtzieher« des Ersten Weltkrieges und die Geldgeber der russischen Revolution Juden gewesen seien, fügt sich ohne weiteres in eine Kette ein, von der ein Glied auch die inneren Auseinandersetzungen der Schule Stefan Georges umfaßt. Von Schuler wiederum stammt ein Fragment, das aufs deutlichste die innere Nähe dieser antirationalistischen Lebensphilosophie zum Antijudaismus erkennen läßt: »Ans Herz des Lebens schlich der Marder Juda. Zwei Jahrtausende tilgt er das heiße, pochende, schäumende, träumende Mutterherz .... Das Herz der Erde als Hölle der Christen.« Und gleichwohl liest man in den Fragmenten dieses Denkers der »radikalen Rechten« Wendungen, die jedermann der radikalen Linken zuordnen würde: Die Gegenwart ist »die Periode des zerspaltenen Lebens, der Entfremdung der Menschen untereinander, des Zwangs, der Kastenbildung«, während im offenen Leben der Urzeit, »kein Besitz, kein Eigentum« existierte, so daß der Begriff der proprietas völlig fehlte.“ (Ebd., 2006, S. 272-273).

„Auch das Denken der intellektuellen Rechten um Jünger und Klages ist mithin so vielfältig und widerspruchsreich, daß es zu »engagierter Reflexion«, ja zum wissenschaftlichen Abwägen herausfordern konnte. Die Frage ist, wie die untere Ebene des politischen Massen- und Alltagskampfes sich charakterisieren läßt und ob sich auch dort Ansatzpunkte für eine weiterführende Reflexion finden. Von niemandem wurde dieser Kampf härter und mit größerer Erbitterung geführt als von Adolf Hitler und seinen Gefolgsleuten, und die innere Voraussetzung wird von ihm mit großer Klarheit formuliert: »Wird der Sozialdemokratie eine Lehre von besserer Wahrhaftigkeit, aber gleicher Brutalität der Durchführung entgegengesetzt, wird diese siegen, wenn auch nach schwerstem Kampfe.« (Adolf Hitler, Mein Kampf, 1925, S. 44-45).“ (Ebd., 2006, S. 273).

„Dem Bolschewismus einen Antibolschewismus von bolschewistischer Entschlossenheit entgegenzusetzen, bleibt in wechselnden Formulierungen eins der Hauptpostulate Hitlers. Damit erkennt er die zeitliche und inhaltliche Priorität des Bolschewismus und schon des Marxismus an, und er schreibt seiner eigenen Bewegung einen imitativen Charakter zu, der aber nur eine Nachahmung der Methode und nicht des Inhalts sein soll. Ein solcher Kampf einer Bewegung gegen eine andere und ältere politische und ideologische Bewegung, welcher sie zugleich feindlicher und benachbarter ist als jede andere Partei, muß der erbittertste aller politischen Kämpfe sein, und Hitler ergießt seinen ganzen Spott über den antibolschewistischen Kampf etwa der Stresemann-Partei DVP (**), wobei er allerdings übersieht, daß deren Antikommunismus mit den Antikommunismen anderer Parteien zusammengesehen werden muß. Jedenfalls ist es für Hitler die selbstverständlichste Voraussetzung, daß der Hauptfeind, die ältere und in bestimmter Hinsicht nachahmenswerte Partei, sehr mächtig ist und an starke gesellschaftliche Tendenzen anzuknüpfen vermag. Deshalb spricht er von dem »gegen uns tobenden Mordterror der Untermenschen«, von den »durch den Marxismus rasend gemachten Massen«, von der »großen drohenden roten Faust«, von der »kommunistischen Welle, die immer höher und höher steigt«, von der »Bolschewisierung der breiten Massen«, die rapide vorwärtsschreite«. (Die ungemein aufschlußreiche Wendung stammt aus dem Schreiben Hitlers an Hindenburg vom 21.11.1932). Man mag all das für Panikmache zum Zweck des Machtgewinns erklären, aber dieser polemischen Deutung dürfte eine allzu enge Vorstellung vom politisch-ideologischen Kampf zugrunde liegen.“ (Ebd., 2006, S. 273-274).

„In Joseph Goebbels’ Tagebüchern finden sich ganz ähnliche Wendungen voller Haß, Erbitterung und tiefer Besorgnis, ja Angst - man sollte nie vergessen, daß der Kampf des Gauleiters von Berlin keineswegs zur »Eroberung« der Reichshauptstadt führte, sondern immer ein Minderheitskampf blieb, in dem er sich in seinen Anfängen aufkaum mehr als einige hundert SA-Leute stützen konnte - gegen etwa 10000 Mitglieder des Roten Frontkämpferbundes. Bei den Novemberwahlen des Jahres 1932 war die KPD in Berlin zahlenmäßig stärker als die NSDAP und die SPD zusammen, und Goebbels’ Tagebücher sind voll von Erbitterung gegen den »Janhagel«, gegen den »roten Mob«, die »tobenden Massen«, die »Kommune«, die »rote Mordpest«. Noch am 12. Juli 1932 erzählt er von einer Propagandafahrt durch das Ruhrgebiet folgendes: »Wir pauken uns durch den tobenden Janhagel in Düsseldorf und Elberfeld .... In unserer ganzen Harmlosigkeit fahren wir im offenen Auto ungetarnt in Uniformen nach Hagen herein. Die Straßen sind schwarz voll von Menschen. Alles Mob und kommunistischer Pöbel. .... Wir hauen mitten durch die Meute. Jeder von uns hat die Pistole in der Hand und ist entschlossen, wenn es ernst wird, so teuer wie möglich zu fallen. ....« (**). Sogar am 23. Januar 1933 bestätigt er praktisch die siegessichere Zuversicht seiner Feinde: »... Bülowplatz. Die Straßen wimmeln von Mob und Kommune. Lebensgefährlich, hier durchzufahren.«“ (Ebd., 2006, S. 274).

„Man sollte nicht versuchen, diesen Männern ihren Hauptfeind fortzunehmen, indem man ihn über Gebühr verkleinert und »verharmlost«, und man sollte so nahe liegende Empfindungen der Besorgnis, des Hasses und der Erbitterung nicht für bloße Phantasien erklären. Unter der Fahne Lenins glaubten gerade im Jahr 1932/33 noch riesige Massen von Menschen zu kämpfen, und noch riesigere Massen fingen an, trotz aller bitteren Kämpfe der Vergangenheit mit ihnen zu sympathisieren. Allerdings waren es nicht weniger große Massen, die sich unter der Fahne Hitlers zusammengefunden hatten, und diese beiden Tatsachen bildeten das entscheidende Gewicht bei den Überlegungen der Politiker und Staatsmänner der Weimarer Republik, die der Beauftragung Hitlers vorhergingen. Und doch läßt sich inmitten der politischen Kampfeswut nicht weniges aufzeigen, was sogar Hitler und Goebbels hätte in den Stand setzen können, Reflexionen anzustellen, statt auf den Feind bloß einzuschlagen. Schon ganz früh stellt Hitler fest, die Gruppe der Internationalen umfasse bei uns »die lebendigsten und stärksten, willfährigsten Naturen der Nation« (»willfährig« dürfte hier so viel wie »willensstark« bedeuten), und das entspricht dem Sinne nach genau jenen frühen und erstaunlich objektiven Uneilen von Karl Radek und Clara Zetkin über die Soziologie des faschistischen Feindes. (**). Kurz vor dem Ende seines Lebens bestätigt Hitler ausdrücklich, was er auch vorher des öfteren angedeutet hatte: die jüdische Rasse sei vor allem eine »Gemeinschaft des Geistes«, d.h, eine jüdische »Rasse« gebe es als Einheit und Ursache so wenig, wie es eine einheitliche deutsche Rasse gebe. (Daß Hitler sich zumal gegen Ende seines Lebens recht negativ über »die Deutschen« äußert, ist bekannt. Ein kurioses Beispiel findet sich in der Rede, die er am 10. Februar 1939 vor Truppenkommandeuren des Heeres hielt. Hier ging es ihm darum zu zeigen, daß das deutsche Volk mit seinen 80 Millionen Menschen »allein im Reichsgebiet« das stärkste Volk der Welt sei. Die Engländer hätten nur 46 Millionen im Mutterland, und in den Vereinigten Staaten lebten nicht mehr als 10 Millionen »wirkliche Angelsachsen«, alle anderen seien »Deutsche [größter Bevölkerungsanteil in den USA; Anm. HB], Iren, Neger, Juden u.s.w.« [Jost Dülffer / Jochen Thies / Josef Henke, Hitlers Städte - Baupolitik im Dritten Reich, 1978, S. 296f.]).“ (Ebd., 2006, S. 274-275).

„Auch bei Goebbels lassen sich einige Aussagen finden, die für ihn den Anlaß zum Nachdenken hätten bieten können. So erklärt er 1929 mit deutlicher Wendung gegen seinen Gauleiterkollegen Julius Streicher, der Jude sei »nicht an allem schuld«. Im Zusammenhang der Krise um Otto und Gregor Straßer spricht er sich so kritisch gegen den »bürgerlichen« und entscheidungsschwachen Hitler aus, daß der von ihm betriebene Führerkult für ihn selbst jede Glaubwürdigkeit eingebüßt zu haben schien. Im März 1932 gesteht er der KPD ohne jede Herabsetzung zu, sie habe im Lustgarten mit kolossalem Schwung und Anhang demonstriert. Nach einer Fahrt durch Harnburg und Altona schreibt er am 27. Juli 1932, also nach dem »Preußenschlag« vom 20. Juli: »Beide Städte schwimmen in Rot«, und dabei kann es sich doch unmöglich um eine Aktion von »Untermenschenen« gehandelt haben.“ (Ebd., 2006, S. 275).

„Aber was haben Hitler und Goebbels dem kommunistischen Feind an positiven Ideen entgegenzusetzen? Während des 2. Weltkriegs und dem Sinne nach oftmals vorher nennt Hitler den Krieg »die stärkste und und klassischste Ausprägung des Lebens«. In seinem Testament wiederholt er die These, die sich schon in seinen frühesten Reden finden läßt: Der Nationalsozialismus kenne im Gegensatz zu dem Trug der Internationalisten »nur das Deutschtum«. Beide Orientierungen hätten ihm eine Anzahl von Anhängern unter den ehemaligen Soldaten und unter den gewöhnlichen deutschen Nationalisten verschaffen können, aber sie hätten schwerlich große Massen angezogen. Nur wenig an Zustimmung hätte er durch sein anti-intellektualistisches Zukunftsbild erhalten, das ihn in ferner Zukunft die Menschen als »Riesenköpfe auf einem Nichts an Körper« sehen ließ. Eine noch so starke Reaktion des mit der Vernichtung bedrohten Bürgertums hätte ihm nicht genug an weiteren Anhängern verschafft. Nur die marxistische Fehleinschätzung des »Liberalen Systems« war für seine überwältigenden Wahlerfolge ursächlich: Die großen Massen der »Kleinbürger« und der »Arbeiteraristokratie« gingen nicht, wie die ständig wiederholte Behauptung der Kommunisten es wollte, zugrunde, indem sie die Reihen des genuinen Proletariats verstärkten, sondern sie behaupteten und wandelten sich, so daß die von der NSDAP zahlenmäßig dominierte, aber noch keineswegs beherrschte »Rechte« die Wahlerfolge vom Juli und November 1932 und vom März 1933 zu erringen vermochte.“ (Ebd., 2006, S. 275-276).

„Aber das Beispiel des Feindes trieb Hitler noch weiter vorwärts. Obwohl er der Vorkämpfer »des Deutschtums« sein wollte, führte ihn gerade der Universalismus des Feindes zu einer »Rassenlehre«, nach der jedes europäische Volk aus verschiedenen Rassen zusammengesetzt war, welche füreinander mehr Sympathie empfanden als für die andersrassigen Volksgenossen, und die Hochschätzung des Krieges brachte ihn zu einem anderen Extrem: In jener vorgeschichtlichen Zeit, welche die Marxisten als diejenige des friedlichen »Urkommunismus« und der ursprünglichen Harmonie interpretierten, gab es nach der völkisch-nationalsozialistischen Auslegung nur kriegerische Gemeinschaften, die in beständigem Kampf gegeneinander existierten. Für die gewaltige Überzahl der modernen Menschen handelte es sich dabei aber um eine »negative Utopie«, während die Kommunisten und alle genuinen Marxisten über den unschätzbaren Vorteil verfügten, an die so viel sanftere und wohltuendere »positive Utopie« anknüpfen zu können. Solange große Massen nur von einer radikalen Lösung Rettung erhofften, gab es vermutlich nur eine einzige Möglichkeit, diesen Nachteil auszugleichen: ständig auf die Differenz zwischen Utopie und Realität hinzuweisen und eine der Utopie besonders zuneigende Menschengruppe anzuklagen, nämlich die Juden. Insofern hatte der Antijudaismus in Hitlers Ideologie einen unverzichtbaren Platz, obgleich mit dieser Feststellung das letzte Wort noch nicht gesagt ist. (Siehe unten, S. 347f.). Es bleibt zu untersuchen, welche Fragestellungen und Lösungsvorschläge die »großen Intellektuellen« in die Debatte hineinbrachten, welche es auf der rechten Seite ebenso gab wie auf der linken.“ (Ebd., 2006, S. 276).

„Den höchsten Grad der Popularität erreichte Oswald Spengler, nämlich eine weltweite, epochenübergreifende Bekanntheit, während sowohl Ernst Bloch wie Max Weber nur in den vergleichsweise engen Kreisen der ausgeprägten Linken und der Sozialwissenschaftler allgemein bekannt waren. Aber Oswald Spengler erlangte seinen Ruhm nicht als politischer Philosoph oder als Professor der Soziologie, sondern als Geschichtsdenker und Kulturmorphologe: Kaum je hat das erste Buch eines völlig Unbekannten einen so gewaltigen Eindruck gemacht wie sein »Untergang des Abendlandes«, dessen erster Band Ende 1917 bzw. Anfang 1918 erschien.“ (Ebd., 2006, S. 276-277).

„Aber dieser Eindruck beruhte gutenteils auf einem irreführenden Verständnis des Titels: Die besiegten Deutschen identifizierten den »Untergang des Abendlandes« mit dem »Untergang Deutschlands« und seiner großen Kultur, die jetzt, wie in der übrigen Welt, von einer materialistischen »Zivilisation« abgelöst werde. In Wirklichkeit hatte Spengler, der jahrelang als Lehrer an einem Hamburger Gymnasium tätig gewesen war, bei der Niederschrift des Buches noch fest an den bevorstehenden Sieg Deutschlands geglaubt. Doch auch unter dieser Prämisse prophezeite er, daß ein »seelenloser Amerikanismus« die Herrschaft antreten werde (vgl. Oswald Spengler, Briefe, S. 29), da die deutsche Kultur in der Tat untergegangen sei, aber nicht infolge militärischer Ereignisse und ebenso wenig als »deutsche« Kultur, sondern aufgrund eines unerbittlichen Geschichtsgesetzes, das überall die großen, in der heimatlichen Landschaft etwa des vorderen Orients oder Indiens verwurzelten Kulturkreise zu einem Endstadium führe, demjenigen der kulturellen Erschöpfung und der bloßen Zivilisation. Spengler wollte indessen keineswegs dazu aufrufen, dieser Entwicklung Widerstand zu leisten, sondern er wollte ganz im Gegenteil die Deutschen auffordern, dieses Schicksal zu bejahen und für ihre Weltstellung nutzbar zu machen, die von »Weltherrschaft« nicht weit entfernt sein würde. In eins damit vollzog Spengler aber eine Neubestimmung des »Subjekts« der Weltgeschichte: Nicht mehr »die Menschheit« und deren Entwicklung war dieses Subjekt, sondern es zerfiel in die Pluralität der Kulturen, von denen jede eine unverwechselbare Identität aufwies, aber wie ein Lebewesen auf jenes Endstadium ausgerichtet war, auf den Tod. Insofern knüpfte Spengler an die »Kulturkreislehre« an, die vor ihm von Nikolaj Danilewski, ja von Montesquieu umrissen und von dem Berliner Historiker Kurt Breysig entfaltet worden war.“ (Ebd., 2006, S. 277).

„Da alle Kulturen in genauer Entsprechung zueinander entstehen, sich entwickeln und dem Ende zugehen, wird es möglich, das zeitlich ganz Unterschiedliche zu vergleichen, ja in gewisser Weise in eins zu setzen: Die indische Kultur hatte ebenso ein Mittelalter wie die abendländische, obwohl die beiden Zeitalter durch Jahrtausende voneinander getrennt waren. Aber trotz dieses »relativistischen« Grundansatzes schrieb Spengler der abendländischen Kultur eine Singularität zu, für die er den eindrucksvollen Begriff »faustisch« fand: sie ist die Kultur des Ausgreifens nach dem Unendlichen, der Entdeckungen, des Geschichtsbewußtseins, der Entwicklung einer Maschinenwelt, während die antike Kultur, die Spengler in den Fußstapfen Nietzsches eine »apollinische« nennt, das Sein im plastischen Körper und in der Zeitlosigkeit des Kosmischen fand. Und daher war die faustische Kultur eine Kultur der Welterschließung und Weltbemächtigung, so daß offenbar auch ihre Zivilisation sich von den Zivilisationen unterscheidet, die aus anderen Kulturen hervorgewachsen sind. Die meisten Charakterisierungen, die Spengler der abendländischen und inzwischen zu weltweiter Ausdehnung gelangten Kultur des Okzidents zukommen läßt, deuten darauf hin, daß es sich nicht um ein erstarrtes, bewegungsloses System handelt, sondern daß große Kämpfe möglich sind und grundlegende Alternativen existieren. Mit nicht bloß negativem Akzent, sondern mit kampfbereitem Pathos werden die Phänomene der europäischen Müdigkeit und Greisenhaftigkeit beschrieben: die Nützlichkeitsideale von »Aufklärung«, »Weltfrieden« und »Humanität«, die »Gehirnmenschen« der Weltstadt und der Verneinung des Eigentums, das Vordringen von Intellekt und Geld. Insofern liegt dem Denken Spenglers eine Lebensphilosophie wie diejenige von Nietzsche, Bergson und Klages zugrunde, die bei ihm in einer Art von Darwinismus gipfelt, wenn er schreibt: »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: sie hat immer dem stärkeren, volleren, seiner selbst gewissen Leben Recht gegeben, Recht nämlich auf das Dasein, gleichviel ob es vor dem Wachsein recht war, und sie hat immer die Wahrheit und Gerechtigkeit der Macht, der Rasse geopfert und die Menschen und Völker zum Tode verurteilt, denen die Wahrheit wichtiger war als Taten und Gerechtigkeit wesentlicher als Macht.« (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 1194).“ (Ebd., 2006, S. 277-278).

„Wenn das richtig ist, dann gibt es eine Unterscheidung, die tiefer greift als diejenige von »Kultur« und »Zivilisation«, nämlich die Unterscheidung von Selbstbehauptung und Selbstaufgabe, die in der Zivilisation ebenso grundlegend ist wie in den Kulturen. Und so erweist sich der Kulturdeterminist Spengler als ein Zivilisationsvoluntarist, der große Alternativen herausarbeitet und zu bestimmten Entscheidungen aufruft: zur Entscheidung der gebildeten Bürger gegen die vom Marxismus angekündigte »weiße« Weltrevolution des Proletariats und zur Entscheidung der führenden Schichten ganz Europas und Amerikas gegen die »farbige Weltrevolution«, die von einem Mann wie Gandhi, aber auch von den kommunistischen Parteien der Welt vorangetrieben wird. Angesichts dieser überwältigenden Gefahren bleibt »der weißen Menschheit« eine Alternative zur Dekadenz einer geschwätzigen und »englischen«, d.h. vornehmlich diskutierenden Demokratie, nämlich der »Cäsarismus« im Sinne der charismatischen Herrschaft eines überragenden Führers. Die innere Nähe zu den fast gleichzeitigen Ausführungen Hitlers in seiner Düsseldorfer Rede vom Januar 1932 springt ins Auge (**), und es entsprach sicherlich Spenglers eigener Auffassung, als ein Hamburger Briefpartner ihm im Januar 1932 schrieb, Deutschland steuere entweder auf den Bolschewismus oder den Nationalsozialismus zu und es sei unumgänglich, die zweite Alternative vorzuziehen (**). Aber schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt war offenbar geworden, daß neben dem deutschen Nationalismus, der rasch in einen pro-okzidentalen Europäismus überging, ein ausgeprägter Antimarxismus eins der Hauptmotive in dem großen Werk des Kulturmorphologen Spengler war, nämlich in der Schrift von 1919 über »Preußentum und Sozialismus«. Hier versuchte Spengler, das Kernthema des Marxismus, nämlich den Gegensatz zwischen einer »ungeheuren Mehrzahl« von Proletariern oder Armen oder Ausgebeuteten und der winzigen Minderheit von kapitalistischen oder »bürgerlichen« Ausbeutern dadurch zu überwinden, daß er »nationale« Kategorien an die Stelle der »sozialen« setzte: Das Denken von Karl Marx will antinational oder übernational sein, aber es ist in Wahrheit »englisch« - ein Produkt jener eigentümlichen Staatsferne, die das Leben des ungefährdeten Inselvolkes kennzeichnet, dem der Krieg nur als Piraterie mittels der eigenen Flottenmacht präsent ist.“ (Ebd., 2006, S. 278-279).

„Zwar sind Deutsche und Engländer beide germanische Völker, aber beide entwickelten sich ob ihrer unterschiedlichen geographischen und historischen Situation in verschiedene Richtungen, die Engländer in die des Individualismus und die preußischen Deutschen in die des Sozialismus, nämlich der Lebensform einer überpersönlichen Einheit, die alle Schichten zum »Dienst« verpflichtet. So ist das englische Volk »nach dem Unterschied von reich und arm, das preußische nach dem von Befehl und Gehorsam aufgebaut.« (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, in:ders., Politische Schriften, S. 45). Damit zeigt sich, daß die Begriffe »Kapitalismus« und »Sozialismus« einen ganz anderen Sinn haben als den vom Marxismus propagierten: Es handelt sich um »die menschlichen Ordnungen, die sich auf dem Reichtum und auf der Autorität aufbauen« und die sich heute als fundamentale Wirtschaftsprinzipien gegenüberstehen: als das Prinzip des Freihandels auf der einen Seite und als das Prinzip der Verwaltung durch streng rechtliche und unbestechliche Beamte. Marx aber nahm eine Verwürfelung folgenreichster Art vor: Er übertrug »den Instinktgegensatz« der beiden germanischen Rassen auf den materiellen Gegensatz zweier Schichten. Er schrieb dem »Proletariat«, dem vierten Stande, den preußischen Gedanken des Sozialismus und der »Bourgeoisie«, dem dritten Stande, den englischen des Kapitalismus zu. (Vgl. ebd., S. 73). Jeder Marxist würde geantwortet haben, die Dinge lägen genau umgekehrt: Spengler wolle die soziale, die »klassenmäßige« Konzeption von Marx durch eine »rassische« (nein! Spengler war kein ›Rassist‹! Spengler verstand ›Rasse‹ nicht im Sinne der Zoologie! [**]) oder ethnizistische verdrängen, und mit diesem Unternehmen werde er nur wenig Zustimmung finden.“ (Ebd., 2006, S. 279-280).

„Und dennoch geht aus dieser Masse des »Reaktionären« eine Beschreibung der gegenwärtigen Welt hervor, die nach dem Verlauf von beinahe hundert Jahren mit leichten Modifikationen als »modern« erscheinen kann: »Das ist die furchtbare Gefahr einer Versklavung der Welt durch das Händlertum. Ihr Mittel ist heute der Völkerbund, das heißt ein System von Völkern, die ›Selbstregierung‹ nach englischer Art besitzen, das heißt in Wirklichkeit ein System von Provinzen, deren Bevölkerung von einer Händleroligarchie mit Hilfe erkaufter Parlamente und Gesetze ausgebeutet wird, wie die römische Welt durch Bestechung der Senatoren, Prokonsuln und Volkstribunen.« (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, in: ders., Politische Schriften, S. 94).“ (Ebd., 2006, S. 280).

„Und es könnte sein, daß Spengler nicht nur durch die Anerkennung der »Demokratisierung« als einer unumgänglichen Notwendigkeit über das »Reaktionäre« hinausgelangte, das seinen politischen Schriften so unverkennbar inhärent ist. Vielleicht war »der Marxismus« als eine die Arbeiter und die Intelligenz gleichermaßen gewinnende Lehre nur so lange möglich, wie der uralte Kampf der Armen gegen die Reichen eine Gestalt angenommen hatte, in der die Überwältigung und Vernichtung der »Reichen« aufgrund des revolutionären Prinzips des allgemeinen Wahlrechts immerhin möglich schien, so daß das Beispiel des erfolgreichen Gewaltsozialismus in einem Nachbarlande noch bedrohlicher aussah (**). Eine Demokratie ist erst dann »gefestigt«, wenn weder der Aufruf zum »bewaffneten Aufstand« noch der entgegengesetzte Wille zur gewaltsamen Selbstverteidigung der geistig entwaffneten »Minorität« riesige Massen von Menschen in Bewegung zu setzen vermag. Wenn das richtig ist, ist auch dem Antimarxismus von Spengler, so gewiß es ein bloßes Strategem sein würde, wenn er nicht von einem bedeutenden Geschichtsdenker entwickelt worden wäre, ebenso ein begrenztes historisches Recht zuzuschreiben wie der deutschen radikalen, aber nicht-extremistischen Rechten insgesamt.“ (Ebd., 2006, S. 280-281).

„Spengler wurde nach dem 30. Januar 1933 nicht zum Anhänger des extremistischen Nationalsozialismus, obwohl Goebbels und sogar Hitler ihn eine Zeitlang umwarben. Schon sein Buch »Jahre der Entscheidung« löste heftige Kritik von nationalsozialistischer Seite aus. Über die Nachricht von den »Staatsmorden« des 30. Juni 1934 geriet er nach dem Bericht seiner Schwester »außer Fassung und weinte«. Aus anderer Quelle sei die Nachricht gekommen, daß »die Tscheka« (die nationalsozialistische) über 100 Leute umgebracht habe, von denen er nicht wenige kannte. Für Spengler war Hitler nun nur noch »der Verderber Deutschlands«. (**). Er starb in München am 8. Mai 1936.“ (Ebd., 2006, S. 281).

„Arthur Moeller van den Bruck, Kunsthistoriker und guter Kenner Italiens, war vor dem Weltkrieg auch der Herausgeber der Werke Dostojewskis im Piper-Verlag, und diese Beschäftigung mit Rußland dürfte einer der Anlässe gewesen sein, die ihn 1919 dazu führten, für sich selbst und die Deutschen ein ähnliches Manifest zu schreiben, wie es Spengler mit »Preußentum und Sozialismus« um die gleiche Zeit vorlegte .... Moeller van den Bruck geht ... offenbar von der in Deutschland weit verbreiteten Vorstellung des englischen Neides und der französischen Erstarrung aus: ... diejenigen, die »mit zurückgehender Arbeitskraft und zurückgebliebener Arbeitsweise, die sich eines überlegnen Wettbewerbers zu entledigen suchen« und die daher »mit ... Mißgunst ... die deutsche Entwicklung verfogen.« (Arthur Moeller van den Bruck, ebd., 1919, S. 18).“ (Ebd., 2006, S. 281).

„Dieser ... Ansatz legt ... die Bezugnahme auf den Marxismus und den Versuch nahe, diesem einen seiner wichtigsten Begriffe, nämlich denjenigen des »Klassenkampfes«, ebenso zu entwinden, wie Spengler ihm den Begriff des »Sozialismus« entwinden wollte.“ (Ebd., 2006, S. 281-282).

„Ein ganz ähnliches Konzept wurde von einem Schüler Rosa Luxemburgs verfochten, der zu den wenigen gehört hatte, welche sich nach dem 4. August 1914 voller Niedergeschlagenheit in deren Wohnung zusammengefunden hatten, und der sich dann immer weiter »nach rechts« entwickelte, bis er 1926 sein Leben als Chefredakteur einer führenden konservativen Zeitung beendete: Paul Lensch. Und war dasselbe Konzept nicht in Lenins Lehre vom Rentnercharakter der westlichen Staaten und von der Verbürgerlichung ihrer Arbeiterschichten enthalten? Ja es bestimmte sogar den dritten, postum veröffentlichten Band von Marx' »Kapital«, in dem die fortgeschrittenen Völker unter Einschluß ihrer Arbeiterklasse als Ausbeuter der zurückgebliebenen Völker erschienen.“ (Ebd., 2006, S. 282).

„»Westen ist überall, wo Kultur, Industrie, Verkehrsverdichtung, Menschenhäufung, Großstadtbildung vorherrscht. Osten ist überall, wo es Bauern gibt. Beides mischt sich in den einzelnen Ländern .... Aber je mehr wir uns vom Westen entfernen, desto mehr nimmt Östlichkeit zu, nimmt Natur zu und die natürliche Schichtung des Lebens.« (Arthur Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, 1919, S. 101). Und daraus ergibt sich zwangsläufig, daß die schlichte Zuordnung Deutschlands zu »den jungen Völkern« nicht richtig sein kann. Deutschland ist nämlich halb industriell und halb agrarisch, halb alt und halb jung, wie man sagen könnte, »ein altes Land mit einem jungen Volke«  (Ebd.). Und eben daraus leitet Moeller einen neuen und altbekannten Vorzug für Deutschland ab: daß es das »Land der Mitte« ist. Daher rühren offenbar jene Komplizierungen, die es Deutschland unmöglich machen, das nationalbolschewistische Bündnis mit Sowjetrußland einzugehen oder sich ... zu einem antibolschewistischen »Kreuzzug« zu verbinden. Aber »der Westen« und »das Alter« sind keine fixen und regungslosen Sachverhalte. Sie sind vielmehr expansiv und in Deutschland selbst wirksam. Ihr Name ist »Liberalismus«. Und daher steht der Kampf gegen den Liberalismus für Moeller van den Bruck noch mehr im Vordergrund als die Selbstverteidigung gegen Bolschewismus und Marxismus. Mit dem Satz »An Liberalismus gehen die Völker zugrunde (ders., Das Dritte Reich, 1923, S. 69, 102) gelingt es ihm, ebenso ein Feldzeichen aufzurichten, um das sich große Mengen von Menschen versammeln können wie mit dem Begriff der »jungen Völker«. Moeller stellt den Liberalismus in einen engen Zusammenhang mit dem Freimaurertum und mit »der Aufklärung«, und beide sind in seinen Augen Phänomene der Auflösung und der Zersetzung: »Liberalismus hat Kulturen untergraben. Er hat Religionen vernichtet. Er hat Vaterländer zerstört. Er war die Selbstauflösung der Menschheit« (d.h. einer nach Völkern, gesellschaftlichen Ordnungen und Kulturen gegliederten Menschheit; vgl. Arthur Moeller van den Bruck / Heinrich von Gleichen / Max Hildebert [Hrsg.], Die Neue Front, 1922, S. 19). Moellers Polemik ist bewußt und nachdrücklich antiaufklärerisch, wie es 30 Jahre später mit anderer Akzentsetzung die Polemik von Horkheimer und Adorno war, denn die Aufklärung hat »aus dem denkenden Menschen einen berechnenden Menschen« gemacht. Daraus resultiert aber bei ihm die Forderung, »zu den Bindungen zurückzukehren, ohne die eine Aufklärung auszukommen glaubte, die vor lauter Vernunft den Verstand verlor«. (Ebd., 1922, S. 33).“ (Ebd., 2006, S. 282-283).

„Wieder gelten ihm Marx und der Marxismus als die Hauptschuldigen, da sie die Keime eines nationalen Sozialismus zuschütteten, welche bei Wilhelm Weitling und Johann Karl Rodbertus lagen. Erst wenn es gelungen sein wird, die Arbeiterschaft in die Nation einzugliedern und den Gedanken des Klassenkampfes zum Völkerkampfgedanken zu steigern, werden die Deutschen ihr »Drittes Reich« erobert haben. (Arthur Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich, 1923, S. 93, 59).“ (Ebd., 2006, S. 284).

„Moeller stand zusammen mit seinen Freunden und Anhängern wie Heinrich von Gleichen, Eduard Stadtler, Max Hildebert Boehm, Martin Spahn und vielen anderen im Mittelpunkt eines Kreises, der in der Zeitschrift »Das Gewissen« und im »Ring-Verlag« einflußreiche Organe besaß und ein Zentrum der überaus vielfältigen »Konservativen Revolution« bildete. .... »Das Proletariat ist nicht die Nation - und in einem so entwickelten und gegleiderten Volke wie dem deutschen schon gar nicht. Es könnte hier eher so kommen, daß das deutsche Proletariat vor lauter Klassenkampf seinen Freiheitskampf verliert .... Das deutsche Proletariat ist kein revolutionäres Proletariat. .... Und dem Genie der Revolution wurde es entfremdet, das immer ein Genie des Konservatismus war. Sowjetrußland hat die deutsch-russische Verständigung nicht paritätisch, sondern bolschewistisch betrieben, hat sich die deutsche Revolution nicht deutsch, sondern russisch vorgestellt und dadurch die deutsche antibolschewistische Bewegung erst möglich gemacht.« (Arthur Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, 1919, S. 86, 88, 90).“ (Ebd., 2006, S. 284).

„Auch Carl Schmitt konnte man in der Weimarer Zeit der »Konservativen Revolution« zuzählen, denn er nahm nicht selten an jenen Treffen im Kloster Maria Laach teil, welche katholische Erneuerer der Liturgie und österteichisch orientierte »Reichstheologen« zusammenführten und deren Teilnehmer jedenfalls den herrschenden Konzepten von »Liberalismus« und »Demokratie« sehr kritisch gegenüberstanden. In der Tat hatte der junge Gelehrte aus dem Sauerland, der sich schon bald nach dem Krieg einen großen Ruf als glänzender Jurist und viel zitierter Staatsrechtslehrer erworben hatte, bereits in seiner ersten weithin bekannt gewordenen Schrift, der »Politischen Romantik« von 1919, die Romantik der »individualistisch aufgelösten Gesellschaft« und dem »privaten Priestertum« zugeordnet, deren Trägerschicht, das neue Bürgertum, 1789 über Monarchie, Adel und Kirche triumphiert hatte, sich aber bereits 1848 gegen das revolutionäre Proletariat hatte verteidigen müssen. Seine Sympathie gehörte anscheinend ohne Einschränkung jenen französischen und spanischen Gegenrevolutionären, die für die meisten »konservativen Revolutionäre« eine »terra incognita« darstellten, den de Maistre, Bonald und Donoso Cortes, die sich in ihrer klaren Entschiedenheit aufs deutlichste »von der persönlichen Zerfahrenheit und der politischen Achselträgerei« eines Romantikers wie Adam Müller unterschieden. Aber offensichtlich polemisiert Schmitt nach dem Vorbild von Charles Maurras gegen die Romantik nicht so sehr um des gedanklichen Gehalts willen, sondern weil deren »Erhabenheit über Definition und Entscheidung sich in ein dienstbares Begleiten fremder Kraft und fremder Entscheidung« verwandelt. (Vgl. Carl Schmitt, Politische Romantik, 1919, S, 26). Zweifellos müßte diese Kraft »unbürgerlich«, ja »antibürgerlich« sein, und die stärkste Kraft dieser Art war in der Weimarer Republik zweifellos der Marxismus. Hätte Schmitt sich ihm also nicht anschließen sollen?“ (Ebd., 2006, S. 284-285).

„Aber von dieser Konsequenz blieb Schmitt weit entfernt, und er bewegte sich weiterhin in den Bahnen des Katholizismus, obwohl er infolge eines Eheproblems mit der Kirche in Konflikt kam und nicht mehr als »praktizierender Katholik« gelten durfte. In einem Buch von 1923 kritisiert er über das liberale Bürgertum hinaus einige Hauptkennzeichen der Moderne an sich wie den Mangel »an der allein wesentlichen Rationalität des Zweckes« und der »repräsentationslosen Unbildlichkeit und Traditionslosigkeit des modernen Betriebes«, ja er legt ein sehr klares und konkretes Bekenntnis politischer Art ab, das ihm eigentlich einen Platz in der politischen Mitte Weimars zuweisen müßte: Es gebe seit dem 19. Jahrhundert in Europa zwei große Massen, die der westeuropäischen Tradition und Bildung fremd gegenüberständen, »das klassenkämpferische Industrieproletariat und das von Europa sich abwendende Russentum«. (Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, 1923, S, 26).“ (Ebd., 2006, S. 285).

„Aber heute gilt Carl Schmitt mit seiner Bestimmung der Politik als eines Verhältnisses von »Freund und Feind« als ein wichtiger Wegbereiter Hitlers und dann ab 1933 als der »Kronjurist des Dritten Reiches«. Beide Kennzeichnungen beruhen jedoch auf Mißverständnissen. In der berühmten Schrift über den »Begriff des Politischen« geht es ja um den politischen Feind als den »zivilen« Feind, der gerade nicht mit dem »absoluten«, »ideologischen« Feind identisch ist, welcher sowohl das Denken der liberalen Anhänger der »universalen Gesellschaft« bzw. des »Weltstaates« als auch dasjenige der Marxisten bestimmt. Diesem »diskriminierenden« Feindbegriff, der den Feind nicht als ernst zu nehmenden Menschen, sondern als »Verbrecher«, als »Unmenschen« betrachtet und der in einen » Weltbürgerkrieg« hineinführen muß, will Carl Schmitt gerade entgegentreten. Und seit den Septemberwahlen von 1930 (**) war er davon überzeugt, daß die Weimarer Republik sich in einer extremen Situation befand, da nirgendwo in der Welt ein Staat von zwei großen, einander und dem Staat radikal feindlichen Kräften in schwerste Bedrängnis gebracht wurde, und daß nur eine »Notstandsdiktatur« helfen könne. Jetzt wurde Carl Schmitt zum »Kronjuristen«, dem Verteidiger und Unterstützer der Präsidialregierungen Brünings, Papens und Schleichers. Er verteidigte die Regierung Papen in dem großen Prozeß, den die Regierung Braun und die Sozialdemokratie angestrengt hatten, um den »Staatsstreich« vom 20. Juli rückgängig zu machen. In einer eigenen Schrift rechtfertigte er die »Diktatur des Reichspräsidenten«, in dem er gerade den »Hüter der Verfassung« sah, und die These dürfte nicht unbegründet sein, daß Carl Schmitt wie Brüning, Papen und Schleicher die Demokratie durch eine zeitweilige Verstärkung derjenigen undemokratischen Elemente wie des Artikels 48 retten wollte, welche in jeder repräsentativen Demokratie vorhanden sind und selbst in plebiszitären Demokratien nicht fehlen. Noch während der letzten Tage der Regierung Schleicher geriet er in einen schweren Konflikt mit dem Prälaten Kaas, dem Vorsitzenden der Zentrumspartei, der dasjenige Argument zugunsten der Regierungsübernahme durch Hitler formulierte, welches man »das parlamentarische« nennen könnte: Nicht der Weg der Notstandsdiktatur sei der richtige, sondern die Rückkehr zum normalen parlamentarischen Verfahren, das den Führer der weitaus stärksten Partei nicht ausgrenzen könne.“ (Ebd., 2006, S. 285-286).

„Wenn Carl Schmitt am 30. Januar 1933 gestorben wäre, so müßte die rückblickende Betrachtung ihn dem rechten Fügel jener Verteidiger der Weimarer Republik zurechnen, die wußten, daß »der Staat«, »die Nation«, ja die ganze Politik der westlichen Zivilisation mit ihrer Zähmung der Feindvorstellung nicht überleben konnte, wenn eine der beiden totalitären Parteien, die Anhänger Lenins oder Hitler selbst, zur Macht gelangten.“ (Ebd., 2006, S. 286).

„Aber Carl Schmitt starb nicht wie Spengler nach bitteren Einsichten zu einem frühen Zeitpunkt, er wurde nicht am 30. Juni 1934 ermordet wie Kurt von Schleicher und Edgar Julius Jung, er schloss sich nicht dem »Widerstand gegen Hitler« an wie Claus von Stauffenberg, sondern er durchlebte trotz einiger gefährlicher Angriffe von seiten der SS die ganze Zeit des Dritten Reiches in einflußreicher Position, er schrieb 1934 den berüchtigten Artikel »Der Führer schützt das Recht« (**), und er entwickelte später jenen »Großraum«gedanken, welcher der nationalsozialistischen »Einigung Europas« sehr zu Hilfe kam, ja er organisierte eine Tagung, in der das »jüdische Problem« ganz allein im Zentrum stand, das in seinen Weimarer Werken wie in denjenigen von Spengler und Moeller van den Bruck nur am Rande aufgetaucht war.“ (Ebd., 2006, S. 286-287).

Die Mitte

„Die Mitte der intellektuellen Szene der Weimarer Republik stand natürlich in engem Zusammenhang mit den Mittelparteien .... Aber wenn schon diese Parteien ein breites Spektrum von Auffassungen und Vorschlägen umfaßten, so gilt das für die Welt der mittleren Reflexion - zwischen politischen Artikeln oder Kampfschriften und eigentlicher Philosophie - noch mehr. Längst nicht immer ist eine eindeutige Zuordnung möglich. Viele Auseinandersetzungen nehmen sich wie Fortsetzungen von Debatten der Vorkriegszeit aus; ein Philosoph wie Max Scheler würde es vermutlich abgelehnt haben, sich als einen »politischen Denker der Weimarer Republik« bezeichnen zu lassen; Max Weber übte zwar gleich in der Anfängen durch sein Eintreten für die Volkswahl des Reichspräsidenter einen großen Einfluß auf die Gestalt der Republik aus, und seine Äußerungen zu den Friedensbedingungen lassen die künftige Stärke des deutscher Revisionismus erahnen, aber er starb zu früh, um die Weimarer Republik in sein Denkgebäude einbeziehen zu können. Die früheste Bewegung auf die Republik und die Mitte hin ging von jenen »Herzensmonarchisten« aus, die zu » Vernunftrepublikanern« wurden - sofern man das Verharren bei den Paradigma der Hohenzollernmonarchie der »Rechten« zuordnet.“ (Ebd., 2006, S. 287).

„Immer wieder nimmt Troeltsch gegen »die Extremen von rechts und links« Stellung und erweist sich so ante festum als Verfechter eines »antitotalitären« Grundkonsenses, der aber nur schwer herzustellen ist, denn SPD und Zentrum müssen zusammenarbeiten, sind aber »innerlich durch eine tiefe Kluft getrennt«, eine Kluft, so könnte man hinzufügen, die sowohl die Kommunisten als auch die aufkommenden Nationalsozialisten durch hemmungslose Polemik ständig zu vertiefen suchen. So legt Troeltsch gegen die europäischen Weltkriegsfeinde nicht wenig an Trotz und an Willen zur Selbstbehauptung an den Tag, aber letzten Endes ist seine Feststellung, der eigentliche Sieger des Krieges sei »der amerikanische Kapitalismus, eingehüllt in die demokratische Tugendideologie«, nicht bloß resignativ, denn Amerika (soll bedeuten: USA; Anm. HB) bedeutet ja zugleich teine Sicherung gegen den Bolschewismus. Und doppeldeutig ist auch das Zukunftsbild, das er schon früh (im Juni 1919) entwirft und das demjenigen sehr ähnlich ist, das Max Weber um die gleiche Zeit skizziert: Man müsse sich darein schicken, daß eine deutsche Weltpolitik in Zukunft unmöglich sein werde, denn gesiegt habe der angelsächsische Individualismus: »Die europäischen Völker werden zweisprachig werden, für die Welt englisch reden und schreiben müssen und für ihre Privatzwecke ihre alten Sprachen wie Dialekte weiter benützen. .... So wäre unser Schicksal in vieler Hinsicht ähnlich dem der (alten) Griechen?«“  (Ebd., 2006, S. 299).

„Max Scheler, schon vor dem Krieg ein führender Kopf der von Edmund Husserl begründeten phänomenologischen Schule und Konvertit zum Katholizismus, hatte sich während des Krieges weit mehr als Troeltsch für die »deutsche Sache« engagiert und konnte als der Philosoph des deutschen Adels- und Kriegerstaates gelten, wenngleich nicht im trivialen Sinne des Wortes. Aber nach 1918 wandte er sich vom Katholizismus ab, weil er den Begriff des »allmächtigen und guten Gottes« nicht mehr akzeptierte und an dessen Stelle eine Ontologie des Ringens zwischen »Drang« und »Geist« setzte, innerhalb dessen der Mensch an der »Realisierung Gottes« mitzuwirken vermag. Seit 1919 Professor an der neu gegründeten Universität Köln, setzte er sich nun auf durchweg tiefgründige und gelehrte Weise mit der in der Weimarer Republik vorherrschenden Ideenwelt auseinander, etwa dem Pazifismus, den Weltanschauungen, dem Menschen inmitten der Geschichte. Es darf als symptomatisch gelten, daß er seinen Vortrag über »Die Idee des Friedens und der Pazifismus« im Januar 1927 im Reichswehrministerium hielt (dieser Vortrag wurde als Broschüre publiziert).“ (Ebd., 2006, S. 299-300).

„Am Anfang stellt er vier grundlegende Fragen: Ist der »Ewige Friede« ein positiver Wert und überhaupt menschenmöglich?-  Ist in der Geschichte die Richtung einer Realisierung des Ewigen Friedens erkennbar?-  Deutet die gegenwärtige Lage der Welt auf eine absehbare Verwirklichung dieser Idee hin?-  Gibt es praktische Willensmethoden und Einrichtungen, um schon heute den Ewigen Frieden herbeizuführen? Zur Beantwortung nimmt Scheler eine Fülle von Unterscheidungen vor, etwa zwischen dem heroisch-individualistischen Pazifismus der Kriegsdienstverweigerer und der Quäker, dem christlichen, dem ökonomisch-liberalen, dem juristischen, dem großbürgerlichen und dem kulturellen Pazifismus sowie dem Halbpazifismus des Marxismus. Alle diese Erscheinungsformen werden breit und kritisch erörten, aber gleich am Anfang trifft Scheler eine persönliche Entscheidung fundamentaler Art: »Die erste Frage ist positiv zu beantworten - der Ewige Friede soll sein, und er ist möglich.« Damit weist er ausdrücklich den berühmten Satz des Generals von Moltke zurück, der Ewige Friede sei »ein Traum und nicht einmal ein schöner«, und er bringt seine Überzeugung zum Ausdruck, die Liebe zum Krieg, der »Gesinnungsmilitarismus« sei auch in Deutschland »unwiederbringlich dahin« und er könne nicht wiederkehren. Daraus leitet er eine konkrete und spezifisch »Weimarische« Folgerung ab, für die er im Reichswehrministerium schwerlich ungeteilten Beifall erhoffen durfte, aber offenbar auch keine schroffe Zurückweisung erwartete: Aus der Denkart des deutschen Volkes, insbesondere seiner führenden Oberschichten, seien alle Elemente zu entfernen, die dem Krieg und damit dem Heer eine mehr als instrumentale Bedeutung zuschrieben.“ (Ebd., 2006, S. 300).

„Alle unterschiedlichen Pazifismen lassen sich auf die eine oder andere Weise mit diesem Grundpostulat vereinbaren, aber wie steht es mit dem eigenartigen Begriff des »Halbpazifismus«? Es handelt sich dabei um die marxistische und bolschewistische Vorstellung, den Ewigen Frieden geradeg durch Krieg, nämlich durch den »Weltrevolutlonskrieg« zu verwirklichen. Diese Konzeption ist durch die Revolution Lenins aus dem Reich der Vorstellungen in die Realität eingetreten: »Aller Kommunismus der Welt erhielt dadurch einen Rückhalt, ein gelobtes Land und Zion, auf das sich alle zu erwirkenden »roten Armeen« aller Staaten und Länder stützen können.« Aber diese Konzeption erklärt Scheler nachdrücklich für falsch, da auch die These unrichtig sei, »daß der Kapitalismus die wesentliche Ursache der modernen Kriege gewesen sei«: Der »Ewige Friede kann und darf nicht auf einem Meer von Blut errichtet werden, das zugleich die Vernichtung der Kultur des ganzen bisherigen Abendlandes« bedeutet. Daher gelangt Scheler zu der Aussage: »Der Weltrevolutionskriegsgedanke ist eine große Gefahr für den Frieden.«“ (Ebd., 2006, S. 300-301).

„Aber schon auf der folgenden Seite spricht er bei der Erörterung des »imperialistischen Weltreichspazifismus« von der »Todesangst des westlichen und amerikanischen Großbürgertums vor dem Bolschewismus« und dessen Ideen. Sollte mithin nicht ein Weltbürgerkrieg zwischen zwei Halbpazifismen zu erwarten sein, und würde die deutsche Reichswehr dabei nur eine bloß instrumentelle Rolle zu spielen haben, oder würde sie sich eine der beiden feindlichen Ideologien zu eigen machen müssen? Diese Frage wirft Scheler nicht auf, sondern er begnügt sich am Schluß mit der Forderung, »Europa vor einem neuen Krieg zu bewahren, der die totale Vernichtung ... der europäischen Kultur« bedeuten würde.“ (Ebd., 2006, S. 301).

„Mit einer verkürzenden Formel könnte man sagen: Scheler bejahte hier, was Hitler verneinte, und dasselbe gilt für den Vortrag über das »Weltalter des Ausgleichs«, den er wenige Monate vor seinem Tode in der Deutschen Hochschule für Politik im November 1927 hielt. Es handelt sich um eine kurzgefaßte und überaus dichte Deutung der ganzen modernen Weltgeschichte, die durch den Begriff des »Ausgleichs« die extremen Begriffe der nivellierten Menschheit eines definitiven Endstadiums und des sich stets nur verschärfenden Kampfes zwischen menschlichen Großgruppen zu vermeiden sucht. Es muß genügen, hier ein längeres Zitat anzuführen: Die umfassende Tendenz des kommenden Weltzeitalters sei am besten durch den Begriff »Ausgleich« zu fassen - »... Ausgleich der Rassenspannungen, Ausgleich der Mentalitäten, der Selbst-, Welt- und Gottesauffassungen der großen Kulturkreise, vor allem Asiens und Europas ..., Ausgleich der Spezifitäten der männlichen und weiblichen Geistesart. ... Ausgleich von Kapitalismus und Sozialismus ..., Ausgleich zwischen den politischen Machtanteilen von sogenannten Kultur-, Halbkultur- und Naturvölkern .... Unweigerlich wird fortschreiten der Rassenausgleich, die Blutmischung. .... Wer das Heil der Welt in der Erhaltung einer ›reinen‹, nach seiner Meinung einer ›Edelrasse‹ sieht ..., der ziehe sich zurück mit seinen Rasseedlen auf eine Insel und verzweifle! Die Entwicklung der Selbständigkeit der farbigen Völker hat schon jetzt reißende Fortschritte gemacht. Ein Ausgleich zwischen Weißen und Farbigen wird notwendig kommen ....«“ (Ebd., 2006, S. 301-302).

„Aber in allen Schattierungen des weltgeschichtlichen Gemäldes, das Scheler skizziert, wird deutlich, daß er alle diese - nicht nivellierenden, sondern differenzierenden - Ausgleichsprozesse nur dann für festgegründet hält, wenn die abendländische Menschheit von ihrer christlichen und einseitigen Verehrung des geistigen und allmächtigen Gottes zu einer Philosophie der immer neuen Synthesen von Drang und Geist gelangt, in denen sich die Realisierung Gottes vollzieht. Und wieder stößt Scheler bei seinem Bemühen, innerhalb des Notwendigen Spielräume der Entscheidung offen zu halten, auf die Sowjetunion, von der es zu einem wesentlichen Teil abhängen wird, ob der notwendige Ausgleich zwischen kapitalistischer und sozialistischer Wirtschaftsordnung sich auf friedlichem Wege oder unter blutigen Klassenkriegen vollziehen wird. Und in dieser Hinsicht fühlt er sich zu einem optimistischen Ausblick berechtigt, denn Rußland habe »seit der Existenz der Sowjetrepublik und der neuen Wirtschaftspolitik immer mehr Kapitalismus in sich aufnehmen müssen« und auch als Staat gewinne es »mit dem steigenden Übergewicht der Bauernschaft wieder mehr sein nationales Gepräge zurück«. - Ein gravierenderes Fehlurteil hätte ein bedeutender Philosoph im Jahre 1927, am Beginn der Beseitigung der NEP und der großen »Kulaken«vernichtung schwerlich fällen können, und in diesem Punkte ist Hitler ihm gegenüber Recht zu geben.“ (Ebd., 2006, S. 302).

„Auch für Karl Jaspers, den neben Heidegger bekanntesten Begründer der »Existenzphilosophie«, geht es in seiner zuerst 1930 erschienenen Schrift »Die geistige Situation der Zeit« um die »Herkunft der gegenwärtigen Lage« und deren »Erhellung« im Blick auf die mögliche Zukunft. Aber er hält sich von so konkreten und irrtumsunterworfenen Feststellungen und Vorhersagen fern, wie Max Scheler sie zu machen wagte, und wenn man eine grobe Vereinfachung nicht scheut, so lassen sich die Gedankengänge dieser Schrift auf einen fundamentalen Gegensatz zurückführen, den kulturellen Gegensatz zwischen der modernen »Massenordnung« mit ihrem universalen Daseinsapparat zur Versorgung zahlloser Menschen und dem eigentlichen Menschsein oder »Selbstsein«. In dieser Ordnung wird das Individuum in seine gesellschaftliche Funktion aufgelöst, und es ist nur noch ein Sein als »wir«. Dadurch werden die Menschen »aus den substantiellen Lebensgehalten herausgelöst, die früher als Tradition die Menschen umfingen, und sie werden »wie Sand durcheinander geschüttet«.“ (Ebd., 2006, S. 302-303).

„Betrieb, Bürokratie, Organisation sind Merkmale des »Apparats«, von dem alle abhängen - Max Weber, auf den Jaspers häufig Bezug nimmt, hatte vom »ehernen Gehäuse der Hörigkeit der Zukunft« gesprochen. Es gibt aber Gegentendenzen gegen die Entwicklung zu einer universalen Daseinsordnung, in welcher am Ende der Mensch selbst »erlöschen« müßte. Eine davon ist »das Führertum«, die Existenz von Menschen, die »aus eigenem Ursprung« das Steuer auch gegen die Masse ergreifen können, wenn an Wendepunkten der Daseinsordnung die Frage nach Neuschöpfung oder Untergang entsteht. Eine andere Gegentendenz ist »das Leben des Hauses«, das Leben in der Ehe, das dem einzelnen Menschen heute in höherem Maße Halt bedeutet als in früheren Zeiten, wo »die Substanz des öffentlichen Geistes« weniger aufgelöst war als in der Gegenwart. Daher ist es nach Jaspers unmöglich, den Planeten jemals in die von den Massen betriebene Riesenfabrik zu verwandeln, in der alle Konflikte und Schwierigkeiten abgeschafft sind, so daß »kampflos und schicksalslos die Daseinsfreude der Menschen in unabänderlicher Zuteilung bei kleiner Arbeitszeit und viel Zeitvertreib« besteht. Aber dieser Zustand, der offenbar dem utopischen »Sozialismus« der Marx'schen Theorie entsprechen soll, wird immer wieder an den unvermeidlichen Kämpfen zwischen geburtenstarken und geburtenschwachen Gruppen sowie an Einwirkungen unberechenbarer Naturgewalten scheitern; eine perfekte Organisation wie diejenige der Bienenstaaten ist für Menschen nicht erreichbar, und sie ist nicht einmal wünschbar. Allerdings ist die Beschreibung realer Vorgänge noch erschreckend genug, und sie erhält einen anderen Akzent als bei Scheler: Mit der Vereinheitlichung des Planeten hat ein Prozeß der Nivellierung begonnen, den man »mit Grauen erblickt. .... Dieselben Schlagworte eines aus Aufklärung, angelsächsischem Positivismus und theologischer Tradition gemischten Sprachbreis erobern sich das Erdrund. .... Die Rassen mischen sich. Die geschichtlichen Kulturen lösen sich von ihrer Wurzel und stürzen in die technisch wirtschaftliche Welt und in eine leere lntellektualität.«“ (Ebd., 2006, S. 303).

„Mit den heute üblichen Begriffen ist eine Charakterisierung dieses Denkens schnell gefunden: Es handelt sich um die Kulturkritik eines gegenüber der »Globalisierung« negativ eingestellten Bildungsbürgers. Aber wer so argumentiert, wird nach einem Augenblick des Nachdenkens immerhin einräumen müssen, daß eine ähnliche »Kulturkritik« auch von Ernst Bloch und Max Horkheimer, ja im Grunde hundert Jahre zuvor von dem jungen Marx geübt wurde. Und die Art und Weise, wie Jaspers im weiteren Verlauf historische und soziale Phänomene unter seinem leitenden Gesichtspunkt zu Themen macht - Staat, Krieg und Frieden, politisches Handeln, Erziehung, Bildung, Spezialisierung, geistiges Schaffen, Kunst und Wissenschaft - kann nicht mit kurzen Formeln abgetan werden, und es ist bedenkenswert, wenn Jaspers »Bolschewismus und Faszismus« als Auswege zu einer leichteren Möglichkeit charakterisiert oder der zur Massenerscheinung gewordenen »Diskussion« die »echte Kommunikation« gegenüberstellt. Aber Jaspers' Gegner haben häufig und teilweise mit Recht daraufhingewiesen, daß nicht wirklich klar wird, was er unter »Selbstsein« versteht, wenn es mehr sein soll als die Haltung des Philosophen vor dem » Umgreifenden« und der »Transzendenz«, die nicht zu richtigen Sätzen, sondern zur »Existenzerhellung« führt. Der allzu häufige Gebrauch des Wortes »echt« hilft hier nicht recht weiter. Indessen war Jaspers 1930 offenbar von dem Empfinden nicht frei, daß er nicht ausschließlich von Entwicklungen und Tatsachen sprechen sollte, die sich wie Vermassung, Nivellierung und Daseinsfürsorge in jedem zivilisierten Staat finden lassen, sondern auch vom Spezifischen der Weimarer Republik. Er tut das erst wenige Seiten vor dem Ende: »Die ergreifenden Berichte, wie im Kriege zuletzt in weichender Front hier und dort Deutsche standhielten, als Einzelne sich sahen, in ihrem Sichbehaupten und Sichopfern doch das bewirkten, was kein Befehl vermochte, den vaterländischen Boden tatsächlich auch im letzten Augenblick noch vor Zerstörung zu bewahren und ein Bewußtsein von Unbesiegtheit in die deutsche Erinnerung zu senken, diese Berichte zeigen eine sonst kaum erreichte Wirklichkeit wie ein Symbol der gegenwärtigen Möglichkeit überhaupt. Es ist das erste Menschsein, das vor dem Nichts im Untergang nicht mehr seine Welt, aber für die kommende den Anspruch verwirklichen konnte.«“ (Ebd., 2006, S. 303-304).

„In diesem Zustand angesichts des Nichts entsteht für Jaspers »die Kraft des Selbstseins in der Glaubenslosigkeit«, welche weiß, daß sie scheitert , aber »sie liest im Scheitern die Chiffre des Seins. Sie ist der Glaube, der philosophisch ist und sich in der Kette der Einzelnen, welche sich die Fackel reichen, neu erzeugen kann.«“ (Ebd., 2006, S. 304).

„Sätze wie diese, geschrieben von einem Mann, der nie Soldat war, hätten Bloch und Horkheimer, ja selbst Stampfer und Lensch nicht schreiben können und nicht schreiben wollen. Aber sie lassen die Frage aufkommen, ob eine Republik, in der zwei so entgegengesetzte und doch ähnliche Arten der »Kulturkritik« und zwei einander so verschiedenartige Kriegserfahrungen in feindlicher Nähe existierten, je zu einem »Ausgleich« in einer neuen Mitte gelangen konnte oder ob es unumgänglich war, daß von den zwei so wenig nur politischen Extremen das eine das andere vernichtete.“ (Ebd., 2006, S. 304-305).

Das Ringen um die Geschichte der Weimarer Republik

„Der Kampf um die Einschätzung der Weimarer Republik begann bereits im Akt ihrer Entstehung: In zahllosen Artikeln und Aufsätzen aller Zeitungen und Zeitschriften Deutschlands bildeten sich in den Stellungnahmen zu den Ereignissen schon bis Mitte 1919 die beiden grundlegenden Auslegungen der Revolution heraus, die dann auch zu den Hauptkennzeichen der Interpretationen der Republik im Ganzen wurden: Entweder erschien die Revolution als »verraten«, oder sie stellte sich als »verräterisch« dar, und unter diesem Kriterium schieden sich die Linke und die Rechte am unmittelbarsten und eindeutigsten. Von beiden Seiten wurde der Charakter der Weimarer Republik als »bürgerliche Demokratie« indessen fast gleichermaßen bekämpft, wobei von der Linken das Adjektiv »bürgerlich« als »bloß bürgerlich« und also »nicht-sozialistisch« verstanden wurde, während die Rechte eine »allzu bürgerliche«, d.h. nicht-autoritäre oder nicht-monarchistische Gesellschaftsordnung verurteilte. .... Es bleibt zu fragen, ob dieser politische Kampf auch in der Geschichtsdarstellung eine Stätte gefunden hat, wo er sich in ein »Ringen« verwandeln mußte, weil geschichtliche Darstellungen, wenn sie dem Charakter der Geschichtsschreibung auch nur nahe kommen wollen, von sich aus einiges von jener Distanz an sich haben müssen, die ein Merkmal der engagierten Reflexion ist. Berichte der Mitwirkenden über ihre Aktivitäten sind mithin auszuschließen, ob es sich um Dokumentationen oder um Erinnerungen handelt (**).“ (Ebd., 2006, S. 305).

„Anders sehen die Dinge aus, wenn Mithandelnde aus einem gewissen zeitlichen Abstand heraus die eigene Rolle in größerem Zusammenhang zu sehen versuchen wie etwa Richard Müller, der als Führungsfigur der »Revolutionären Obleute« ein wichtiger Protagonist der Revolution gewesen war und der sich doch schon früh als Besiegter empfinden mußte: als ein sowohl von rechts als auch von der noch radikaleren Linken Besiegter. Das bemerkenswerteste Beispiel dieser Gattung ist das zuerst 1943 in Zürich publizierte Buch des ehemaligen preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun »Von Weimar zu Hitler«. Es ist zugleich ein Beispiel für eine Merkwürdigkeit der geschichtlichen Darstellungen der Weimarer Republik durch Autoren, die selbst ein Teil des Weimarer politischen Lebens waren, nämlich daß die meisten erst lange Zeit nach dem Ende Weimars entstanden, weil die Verfasser erst in der Emigration die Gelegenheit hatten,ihre Deutungen zu Papier zu bringen, und oftmals erst nach 1945 imstande waren, einen Verlag zu findenDaher sollen im Folgenden auch einige Bücher berücksichtigt werden, die bis zum Jahre 1950 publiziert wurden und von denen man also annehmen kann, daß sie auf Gedanken und Urteilen beruhen, welche die Verfasser schon bald nach dem Ende der Republik in der Emigration entwickelt haben. Es braucht kaum eigens erwähnt zu werden, daß es sich um einen Abstieg um zwei oder gar drei Stufen handelt, wenn von Philosophen und Geschichtsdenkern wie Bloch, Spengler und Scheler der Übergang zu Autoren wie Arnold Brecht und Friedrich Stampfer gemacht wird, aber auch deren Bücher enthalten neben dem selbstverständlichen Engagement ein gewisses Maß an Reflexion, und sie berücksichtigen nicht selten solche Tatbestände, die in der späteren und umfangreichen Historiographie der Weimarer Republik keine oder nur wenig Beachtung finden.“ (Ebd., 2006, S. 305-306).

„Zwischen 1919 und 1932 ist nur eine einzige umfangreiche Darstellung erschienen, welche »die Weimarer Republik« als solche zumThema machte, nämlich das vierbändige Werk von Karl Siegmar von Galéra »Geschichte unserer Zeit«. Es ist »national« orientiert und sieht in der Revolution einen Verrat, der schon im Juli 1917 begonnen habe, als »die Sozialdemokraten« verhindern wollten, daß die bevorstehende Frühjahrsschlacht in Frankreich von Deutschland gewonnen werden würde. Die Schrecken des Bolschewismus hebt er besonders hervor, und die Grausamkeiten und Mordtaten der Linken, insbesondere diejenigen nach dem Kapp-Putsch. unterstreicht er mit derselben Einseitigkeit, wie es die Gegenseite mit den Grausamkeiten und Mordtaten der Freikorps tat. Aber er läßt schon ab 1924 den » Wiederaufstieg zu neuer Weltgeltung« beginnen, und die Tugenden des Historikers, nämlich Distanz und Maßhalten, werden auch bei ihm erkennbar, wenn man sich etwa das extrem negative Urteil vor Augen hält, das Oswald Spengler 1919 in »Preußentum und Sozialismus« über die Revolution gefällt hatte (**).“ (Ebd., 2006, S. 306).

„Unter allen von ehemaligen Mitwirkenden geschriebenen Darstellungen der Weimarer Republik, die nach 1945 erschienen sind, darf diejenige von Ferdinand Friedensburg am ehesten den Rang der Wissenschaftlichkeit beanspruchen. Friedensburg war zwar nur als hoher Beamter in der preußischen Verwaltung tätig gewesen, aber sein Buch (Die Weimarer Republik, 1945) macht vor allem auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte den Eindruck intimer Kennerschaft, die auch in einer Fülle von statistischen Angaben zum Vorschein kommt. Als Kriegskosten nennt Friedensburg die Summe von ca. 157 Milliarden Goldmark; da das gesamte Volksvermögen vor dem Kriege auf 310 Milliarden geschätzt wurde, ging mithin durch den Krieg die Hälfte verloren, und auf der anderen Hälfte lagen beträchtliche Lasten. Die Härten und die schlimmen Konsequenzen des Friedensdiktats (Versailler Diktat) werden von ihm sehr hervorgehoben.“ (Ebd., 2006, S. 309).

„Deutschland blieb sogar während der Krise im Bereich der Exporte an der ersten Stelle in der Welt (kein Wunder, denn schon zur Zeit des 2. Kaiserreiches war Deutschland in allen Bereichen Weltmeister [**]), und die soziale Bilanz der Republik war sehr positiv ([**|**]; wie zuvor auch die des 2. Kaiserreiches [**]): Nach seiner Verfassung und gutenteils auch nach der Realität war die Weimarer Republik der führende »Sozialstaat« der Welt, und die Einkommensdifferenzen innerhalb des Volkes hatten sich erheblich verringert. Von den 28 wissenschaftlichen Nobelpreisen, die von 1919 bis 1927 verliehen wurden, entfielen die weitaus meisten, nämlich 11 (**), auf Deutsche - Deutschland hatte seine führende Stellung im Bereich der Wissenschaft also weiterhin behauptet.“ (Ebd., 2006, S. 310).

„Arnold Brecht, dessen Buch über Weimar 1948 publiziert wurde, war ein hoher Beamter gewesen - zunächst im Reichsinnenministerium als Leiter der Verfassungsabteilung und dann als Hauptbevollmächtigter Preußens im Reichsrat. 1932 trat er in das Licht der großen Politik, als er die Sache Preußens und der Reichsverfassung vor dem Staatsgerichtshof verteidigte. .... Die Konjunktive der Fomel »was wäre gewesen, wenn ...« spielen bei ihm eine große Rolle ...: Wenn das us-amerikanische oder britische (Mehrheits-)Wahlsystem in Deutschland gegolten hätte, würden die Nationalsozialisten höchstens 10 oder 20 Sitze (also: höchstens 1,43% oder 3,47% der Sitze im Reichstag [**]) errungen haben; wenn die Westmächte Brüning auf vernünftige Weise entgegengekommen wären, würde Hitler voraussichtlich nie zur Macht gelangt sein; ... hätte Großbritannien das Verhältniswahlrecht gehabt, so würde seine Geschichte einen ganz anderen Verlauf genommen haben. .... »Kein Churchill, Lloyd George, Clemenceau, Poincaré oder Roosevelt hätte eine solche Demokratie kraftvoll führen können, außer - ja außer in dem Falle, daß sie sich entschlossen hätten, die von der Verfassung ihnen gesetzten Grenzen zu überschreiten.«“ (Ebd., 2006, S. 310-311).

„Friedrich Stampfer, ehemals Chefredakteur des »Vorwärts« und damit einer der führenden Männer der SPD, gab seinem 1947 in Offenbach erschienen Buch »Die ersten 14 Jahre der deutschen Republik« einen umfassenden und anspruchsvollen Titel .... Es ist deshalb noch von Interesse, weil es einige allgemeine Thesen der Sozialdemokratie unterstreicht und mancherlei Sachverhalte anführt, die in späteren Darstellungen kaum noch erwähnt werden.“ (Ebd., 2006, S. 311-312).

„Auch Stampfer sieht im Versailler Vertrag (Diktat !) »eine Hauptursache für den Zusammenbruch der deutschen Republik«. Ein für seine Partei sehr unangenehmes Eingeständnis macht er mit der Feststellung, in Berlin sei ein Großteil der sozialdemokratischen Mitglieder schon um die Jahreswende 1919/'20 zur USPD übergegangen.“ (Ebd., 2006, S. 312).

„Der bedeutendste Politiker der Weimarer Zeit, der ... eine Gesamtinterpretation zu geben versuchte, war der langjährige Ministerpräsident Preußens, Otto Braun, in seinem Buch »Von Weimar zu Hitler«. Gleich im Vorwort stellt er die These auf: Wenn man ihn frage, wie es in Deutschland zu der Hitler-Diktatur habe kommen können, könne er immer nur antworten: »Versailles und Moskau« (also: Diktat und Bolschewismus!).“ (Ebd., 2006, S. 313).

„Heinrich August Winkler identifiziert sich ... in seinem erstmals 1993 erschienen, ebenso voluminösen wie zuverlässigen Buch »Weimar 1919-1933 - Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie« ganz weitgehend mit der Position der Mehrheitssozialdemokratie, d.h. mit Ebert und den »Reformisten«, die ab 1914 die deutsche Sozialdemokratie auf den Weg des Kompromisses mit den »bürgerlichen« Parteien und damit in den Augen der »revolutionären Sozialisten« auf die Bahn des » Verrats am Sozialismus« geführt hatten. Auch er konstatiert den »antibolschewistischen Grundkonsens der alten Eliten«, aber er hält ihn für besser begründet, als Mommsen es tut (vgl. Hans Mommsen, a.a.O.), und er erweitert ihn beträchtlich durch die Einbeziehung »der Alliierten«. Die Forderung der radikalen Linken nach einem »totalen Bruch mit der Vergangenheit« erklärt er für irreal, und in der Sache erscheint ihm deren Konzept als dasjenige einer »unmöglichen Revolution«. Lenin taucht als ein durch Appelle und Verlautbarungen Mithandelnder relativ früh auf, aber längst nicht in dem Ausmaß wie bei Ruge (vgl. Wolfgang Ruge, a.a.O.).“ (Ebd., 2006, S. 321-322).

„Sogar der »Antisemitismus« der Rechten findet eine nachvollziehbare Erklärung: Ein erheblicher Teil der Akteure der Münchener Räterepublik entstammte ostjüdischen Familien, und das bedeutete einen mächtigen Antrieb für die neu aufkommende, in so fanatischer und radikaler Gestalt bis dahin nicht vorhandene Judenfeindschaft. Rosa Luxemburg erlitt auf der Gründungsversammlung der Kommunistischen Partei zwar eine Niederlage durch die Gegner einer Beteiligung an der Wahl zur Nationalversammlung, aber nachdem der Spartakus-Aufstand am 4. Januar ausgebrochen war und, auch durch die Unterschrift Liebknechts, den Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann proklamiert hatte, kapitulierte sie vor jener Spontaneität der Massen, die sie immer so sehr gerühmt hatte. So gewiß Winkler die moralische Empörung über die Ermordung von Liebknecht und Luxemburg teilt, schreckt er doch vor der These nicht zurück, die ermordeten kommunistischen Führer hätten in hohem Maße die Verantwortung für das Blut, das in den Januarkämpfen vergossen wurde, zu tragen. Die Niederwerfung des Kapp-Putsches wird nicht ebenso sehr gerühmt wie von Ruge und Mommsen, denn die Fragwürdigkeit des scheinbar von den sozialdemokratischen Ministern unterzeichneten Aufrufs zum »Generalstreik« mit seiner extrem linken Phraseologie wird hervorgehoben, und die nachfolgende Entstehung der »Roten Armee an der Ruhr« wird nicht durch ein Wort wie »Unruhen« verharmlost, ja es wird den Männern um Kapp nicht jedes verständliche Motiv abgesprochen, denn die Forderung nach Auflösung der schon viel zu lange tagenden Nationalversammlung und nach Ausschreibung von Wahlen für den ersten Reichstag war berechtigt. Natürlich wird die Ermordung von Erzberger und später von Rathenau mit Nachdruck verurteilt, aber aus Anlaß der Beauftragung des parteilosen Wilhelm Cuno mit der Regierungsbildung im November 1922 übt Winkler scharfe Kritik an der »eigenen Partei«, denn er konstatiert ein Versagen der SPD, »der eigentlichen Staatspartei der Republik«, die sich einer parlamentarischen Krisenlösung verweigert und damit die präsidiale Lösung durch Ebert - eine Präfiguration der späteren präsidialen Lösungen durch Hindenburg - erst möglich gemacht habe. Tadel erfährt auch das Bündnis der sächsischen Sozialdemokraten mit den Kommunisten 1923 und die Zustimmung zu dem kommunistischen Vorschlag eines Zusammengehens bei der Frage der Fürstenenteignung. So kann trotz aller Zustimmung Winklers zu vielen politischen Aktionen und Maßnahmen der Mehrheitssozialdemokratie durch seine Darstellung der Eindruck aufkommen, daß die SPD nicht die »eigentliche Staatspartei der Republik« gewesen sei, auch deshalb, weil eine spätere Äußerung des Vorsitzenden der DVP (**), Ernst Scholz, ohne Kritik zitiert wird, die SPD sei »offiziell für Schwarz-Rot-Gold, im Herzen aber für die rote Fahne«. Daraus ließe sich die Folgerung ableiten, daß nicht so sehr das Widerstreben der alten Eliten als vielmehr das Fortleben des schon geschwächten sozialistischen Glaubens in der angeblichen »Staatspartei der Republik« die gravierendste Erblast für die Weimarer Republik gewesen sei. Wie anders hätte der rechte Flügel der USPD nach der Wiedervereinigung mit der Mutterpartei und dem Übergang des linken Flügels zu den Kommunisten eine so wichtige Rolle spielen können? Und wohl deshalb spricht Winkler nicht, wie Ruge und bis zu einem gewissen Grade auch Mommsen, in bloß abfälligen Termini von der NSDAP: Die NSDAP war in höherem Grade eine »Volkspartei« und insofern moderner als alle anderen Parteien; individueller Terror wurde nicht ausschließlich von den Anhängern Hitlers, sondern auch gegen sie geübt, der ermordete SA-Führer Horst Wessel war kein Zuhälter, wie Mommsen suggeriert, und »die Angst vor den Kommunisten« war zwar exzessiv und durch Propaganda verschärft, aber »gleichwohl real«. Es ist sogar ein Satz zu lesen, der sowohl für Ruge als auch für Mommsen irreführend, ja empörend gewesen wäre: »Die SA-Männer standen den Kommunisten an physischer Gewalttätigkeit kaum nach.« Die Schilderung der letzten Monate Weimars weicht von der heute als »korrekt« angesehenen Auffassung erheblich ab: Die SPD fürchtete bei Neuwahlen »die Katastrophe der Überflügelung durch die Kommunisten«, nicht alle Intrigen und Verfassungsverstöße erfolgten zugunsten Hitlers, sondern einige der wichtigsten richteten sich gegen ihn; gerade die Schwächung der Nationalsozialisten in den Novemberwahlen rief berechtigte Sorge hervor, und der »Vorwärts« fürchtete aus gutem Grund die »Verbrüderung von Nazis und Kozis«. (**).“ (Ebd., 2006, S. 322-323).

„Im Nachwort unterstreicht Winkler noch einmal die »Priorität der radikalen Linken«, und in seinen Augen waren es die Kommunisten, die den Bürgerkrieg offen propagierten und dadurch den Nationalsozialisten Gelegenheit gaben, »den Ordnungsfaktor zu spielen« An manchen Stellen könnte man vermuten, Winkler habe ein Buch über den »Europäischen Bürgerkrieg« zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus schreiben wollen, aber er vermeidet jede Bezugnahme auf ein Buch dieses Titels, und im Ganzen wird man sagen müssen, daß er ein sehr kenntnisreiches und trotz gelegentlicher Abweichungen durchaus sozialdemokratisches Buch geschrieben hat, das indessen nicht »parteilich« ist und mit Recht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben darf. (**).“ (Ebd., 2006, S. 324).

„Hier schließe ich das Buch von Detlef Peukert an, der trotz seines frühen Todes und trotz des beachtlichen Werkes, das er geschaffen hatte, als vertreter einer »jüngeren Generation« gelten muß und den Tendenzen der »Achtundsechziger« nahe stand, ohne daß er meines Wissens zu den Protagonisten zu zählen wäre. .... Sein Zentralbegriff ist der der »Modernisierung«, und von hier aus gelangt er zu aufschlußreichen und vom Üblichen teilweise erheblich abweichenden Ergebnissen oder Fragestellungen. Es gibt für ihn kein »normales« Muster von Modernisierung, von dem aus einzelne Modernisierungsprozesse ohne weiteres als »gelungen« oder »verfehlt« eingestuft werden könnten. »Modernisierung« vollzog sich überall in Europa im Rahmen des »widersprüchlichen und hochkomplexen Charakters einer modernen industriellen Klassengesellschaft«. Industriegesellschaftliche Modernisierung ist also in sich und notwendigerweise »krisenhaft«. .... Von dieser Komplexität zeichnet Peukert ein anschauliches Bild: von der »demographischen Revolution« in einigen europäischen Ländern (darunter auch Deutschland), welche die Gefahr der »Vergreisung« in sich schloß und das Schreckensbild des »Volkstodes« hervorrief, vom Sinken des Anteils der Selbständigen, von der Unterschiedlichkeit jener vier Generationen, deren Angehörige während der Weimarer Zeit miteinander und gegeneinander kämpften, auch in Gestalt der »jungen« Parteien KPD und NSDAP gegen die »alte« Partei der Sozialdemokraten, von der Entstehung einer »Freizeitkultur«, die nicht zuletzt mit der Einführung des Achtstundentages (gesetzlich seit 1918) als einer Hauptfolge der Revolution verknüpft war und entpolitisierend wirken konnte, von der »Rationalisierung der Sexualität«, die ein neues Rollenbild der Frau, aber auch das Aufkommen der »Eugenik« nach sich zog, und nicht zuletzt die Rationalisierung in der Wirtschaft, die in hohem Grade »modern« war und gerade deshalb beträchtliche Schwierigkeiten verursachte, indem sie u.a. »Desolidarisierung« unter den von Erwerbslosigkeit bedrohten Arbeitern hervorrief. Schwerwiegende weltpolitische Konsequenzen mochten sich aus der Tatsache ergeben, daß der Produktivitätsfortschritt in Deutschland größer war als in England ....“ (Ebd., 2006, S. 324-325).

„Besonders viel Aufmerksamkeit widmet Peukert den einzelnen »Milieus«, die keineswegs nur ein Überbau über sozialen Klassen waren und etwa die katholischen Arbeiter von den sozialistischen Arbeitern weit entfernt hielten, obwohl Auflösungstendenzen unverkennbar waren. Neben dem »alten Mittelstand« tauchte die neue Schicht der »Angestellten« auf, deren Existenz von Siegfried Kracauer »zum fatalen Symbol der rationalisierten, sinnentleerten und konsumorientierten Welt der Moderne« stilisiert wurde. Aber gerade diese Negativität stärkte die Anziehungskraft jener Parteien und Ideologien, die einen sinnvollen Entwurf propagierten, vornehmlich die Kommunisten und die Nationalsozialisten. Andererseits schien die sinnentleerte und bloß konsumfreudige Moderne mehr an Zukunft in sich zu haben, und Peukert zitiert eine aufschlußreiche Aussage eines linksorientierten Schriftstellers: Gerade aus der näheren Kenntnis des Volkes erwachse die Vermutung, daß »nicht etwa der Sozialismus, sondern der Amerikanismus das Ende aller Dinge« sein werde. So ertönte das Lied, das die »Jungsozialisten« sangen, möglicherweise auf ganz unsicherem Grund: »Demokratie, das ist nicht viel; Sozialismus ist das Ziel«. Und die Dynamik, die sie der sozialdemokratischen Bewegung zuschrieben, wurde jedenfalls in jener Zeit von der Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung weit übertroffen, die für Peukert das Image einer »neuen unverbrauchten Kraft« hatte und die erste klassenübergreifende »totalitäre Volkspartei« war. Aber auch sie war in der Weimarer Zeit nur eine Kraft unter anderen Kräften, bloß Teil einer hochkomplexen, vielschichtigen und widersprüchlichen Gesellschaft. Und so gelangt Peukert zur Skizze einer Vorreiterrolle Deutschlands in der Krisenzeit der Moderne: Auch in den anderen Industriestaaten existierten die entsprechenden Krisensymptome, aber Deutschland war »antitraditionaler und revolutionärer als Frankreich und England«, und gerade deshalb setzte sich hier die Modernisierung in den zwanziger Jahren »brutaler, unverblümter« durch als in anderen Ländern. Daß die beiden totalitären Parteien in Deutschland weitaus stärker waren als irgendwo sonst in der Welt - außer in den Ländern ihrer Alleinherrschaft Sowjetunion und Italien -, muß als Konsequenz aus der extrem krisenhaften Lage gesehen werden, aber ihre Lösungsvorschläge gelten Peukert offenbar allesamt als verhängnisvoll. Der Ausblick in die Zukunft ist für ihn ambivalent und zweifelhaft wie in jenem Zitat über den möglichen Sieg des Amerikanismus, und rundum positiv nimmt sich nur die Äußerung über das Denken und die Tätigkeit der ganz überwiegend mit den linken Parteien sympathisierenden »jüdischen Intellektuellen« aus, einer Avantgarde, in deren Denken »Umrisse einer international ausgerichteten und säkularisierten Zukunftskultur (aufleuchteten), die jene traditionellen und nationalistischen Schranken beseitigte, aus denen sich die Diskriminierung der Juden gespeist hatte.« Aber mußte nicht diese entschränkende und oft genug widersprüchliche, weil mit der zionistischen Idee einer »Rückkehr in die verlorene Heimat« verknüpfte Tendenz in den nicht nur begrenzten, sondern sich selbst immer stärker begrenzenden, von anderen unterscheidenden Nationalstaaten Europas und zumal in Deutschland Reaktionen hervorrufen, die sich mit dem Kampf zwischen den beiden totalitären Parteien verknüpften und durch den verharmlosenden Ausdruck der »Judenverfolgung« nicht adäquat erfassen lassen? Jedenfalls aber stellte Peukerts bei Suhrkamp erschienenes und schon deshalb stark beachtetes Buch unter Beweis, daß die »sozialgeschichtliche Methode« nicht wenig zur Entwicklung neuer Ansätze und Resultate im Hinblick auf die Weimarer Republik beizutragen vermochte.“ (Ebd., 2006, S. 326-327).

„Hagen Schulze publizierte sein Werk über »Weimar - Deutschland 1917-1933« erstmals im Jahre 1982 im Rahmen der viel gelesenen Reihe »Die Deutschen und ihre Nation«. Er war damals schon als ein Weimar-Spezialist bekannt, da 1977 sein bis heute maßgebendes Werk über den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun erschienen war. Später wurde er als Lehrstuhlinhaber an der Freien Universität Berlin mit der Leitung des Deutschen Historischen Instituts in London betraut; er nimmt also seinen Platz sozusagen in der »Mitte der Mitte« der deutschen Geschichtswissenschaft ein.“ (Ebd., 2006, S. 327).

„Deutlicher als viele andere hat er den emotionalen Hintergrund seiner Studien über die Weimarer Republik beschrieben, denn im Vorwort ist der folgende Satz zu lesen: »Meine Sympathie gilt jenen, die unter ungewöhnlich schweren Umständen und mit unzulänglichen Mitteln versucht haben, nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland eine dezente, liberale, anständige Demokratie zu errichten, und die dabei gescheitert sind.“ (Ebd., 2006, S. 327).

„Seine Sympathie gilt also nicht wie diejenige Mommsens den Linkssozialisten der USPD und nicht wie diejenige Winklers der Mehrheitssozialdemokratie, sondern offenbar dem System der freiheitlichen repräsentativen Demokratie im Ganzen .... Schulze scheint mithin die extremistischen Parteien, die eine nicht-liberale und nicht-dezente Ordnung erstrebten, sowohl die KPD wie die NSDAP, auszuschließen, aber er kann sie nicht als bloße Fremdkörper betrachten, denn auch sie gehören zu diesem System; wie schon am Beispiel ihrer Vorläufer im 18. und 19. Jahrhundert erkennbar wird.“ (Ebd., 2006, S. 327-328).

„Unter Berufung auf die Memoiren Scheidemanns läßt Schulze die ganze Schutz- und Hilflosigkeit der Regierung Ebert in den ersten Januartagen des Jahres 1919 anschaulich werden. Die Plakate der Freikorps stellten den Bolschewismus im Bild eines finsteren Verbrechers oder eines Rudels von Wölfen dar, und auch hier war eine wechselseitige Todfeindschaft zu konstatieren. Der von den Kommunisten so stark hervorgehobene Generalstreik zum Sturz Cunos wird zwar nicht erwähnt, aber wenig später heißt es, in Sachsen seien »sowjetische Bürgerkriegsspezialisten« eingetroffen, um die kommunistischen Kampfverbände, die »Proletarischen Hundertschaften«, zu schulen«, und nicht nur für diese kurze Phase betrachtet Schulze den »latenten Bürgerkrieg« als die »Grundkonstellation Weimars«, Daß die NSDAP erst nach der KPD zu einem Faktor dieser Grundkonstellation wurde, ist für Schulze evident, und er gibt dem Kapitel, das der Frühgeschichte der Partei gewidmet ist, den Titel »Aufstieg einer Glaubensbewegung«. Vom »Charisma« Hitlers ist allerdings kaum die Rede. Vielmehr wird von dem frühen Hitler gesagt, er sei »eigentlich ein Sektengründer« gewesen, der seinen Zuhörern ein »eklektizistisches Theorien-Gemisch« angeboten habe, der sich jedoch auf die mächtigen Überzeugungen von einer »deutschen Sendung« und dem Glauben »an die rassische und kulturelle Überlegenheit der Deutschen« habe stützen können. Erst in der Verknüpfung mit anderen Motiven wie etwa dem Antisemitismus entstand jene außerordentliche »Durchschlagskraft« des Nationalsozialismus, welcher auf der »anständigen und dezenten« Seite nur »die matten, kaum geglaubten Programme und Grundsätze der konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Parteien« entgegenstanden. Es war daher nicht die Rhetorik Hitlers, welche die Menschen »weit über das eigentliche Bürgertum hinaus« mobilisierte, sondern weit eher das »Pathos« und der »Glaube«, der die kommunistischen Massen auf den Straßen erfüllte, denen gegenüber man ein eigenes Pathos, einen eigenen Glauben entwickeln mußte, wenn man nicht kampflos kapitulieren wollte. Was unter dem Banner des Marxismus möglich war, hatte ja eine faszinierte und entsetzte Nation »am russischen Beispiel« studieren können, wo Lenins Programm ausdrücklich verkündete und der Fortgang der Revolution hinreichend bezeugte, daß es »um die Vernichtung des Bürgertums als Klasse« ging.“ (Ebd., 2006, S. 328-329).

„Schulze schreibt Brüning den ernsten Willen zu, zwar nicht unbedingt den Patlamentarismus, wohl aber den Kern des Systems in dieser außerordentlichen Situation zu bewahren, und sogar sein Wunsch, die Monarchie wieder einzuführen oder seine Kontaktaufnahme mit Hitler werden nicht nachdrücklich getadelt, da beides dem Wunsch entsprang, die Fehler, die das Wilhelminische Reich durch die schroffe Bekämpfung und Ausgrenzung der Sozialisten gemacht hatte, nicht gegenüber den Nationalsozialisten zu wiederholen. Aber was Brüning mit all seinem guten Willen den Menschen nicht geben konnte, waren »Sinn und Hoffnung«. Sinn und Hoffnung, so muß man ergänzend sagen, konnten KPD und NSDAP geben, selbst wenn es sich um bloße Illusionen handelte. Und so ist es nicht ganz überzeugend, wenn Schulze am Ende die These aufstellt, die verfassungswidrigen Rettungspläne, die der längst entmachtete Ministerpräsident Preußens, Otto Braun, Anfang Januar dem schon sehr geschwächten Reichskanzler von Schleicher vorlegte, seien »die letzte Chance« gewesen, die die Republik besaß. So kann die Frage nicht unzulässig sein, ob nicht das Buch von Hagen Schulze letzten Endes auf eine Zustimmung zu der Alternative hinausläuft, die von den beiden feindlichen Parteien immer wieder unterstrichen und plakatiert, aber keineswegs nur von ihnen als real und unausweichlich angesehen wurde, nämlich die Alternative »Sowjetstern oder Hakenkreuz«! Zweifellos müßte dieses Ergebnis den Autor und wohl viele seiner Leser mit tiefem Pessimismus erfüllen, wenn nicht doch Hilfen gegen einen ausweglosen Determinismus vorhanden wären, und zwar über den schwachen »dritten Weg« von Otto Braun hinaus, nämlich etwa ein früherer Verzicht der Alliierten auf weitere Reparationszahlungen, eine französische Zustimmung zu dem deutsch-österreichischen Zollunionsplan oder ein deutsches Eingehen auf die Europa-Konzeption von Briand.“ (Ebd., 2006, S. 329-330).

„Wenn ich das Buch von Horst Möller »Die Weimarer Republik« an das Ende dieser Übersicht stelle, so tue ich das nicht deshalb, weil Möller sich im Kern der Sache, der inneren Zustimmung zum System der pluralistischen Demokratie als einer Version des »Liberalen Systems«, von Schulze unterschiede, indem er etwa größere Sympathie für Carl Schmitt oder Ernst Jünger an den Tag legte, sondern deshalb, weil in der erweiterten Neuauflage von 2004 des zuerst 1985 publizierten Buches eine umfangreiche Bibliographie zu finden ist, die bis in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts reicht. Überdies gehört Möller als Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München und ordentlicher Professor der Ludwig-Maximilian-Universität wie Schulze seiner Postition nach ganz in die »Mitte der Mitte« der deutschen Geschichtswissenschaft.“ (Ebd., 2006, S. 330-331).

„Der Sieg des Nationalsozialismus sei eine genuine Revolution gewesen, freilich nicht eine Revolution nach dem idealtypischen und normativen Modell des Marxismus, und sein Aufstieg habe trotz vieler reaktionärer Vorstellungen »den Sieg des Neuen über das Alte« bedeutet, ja er habe über weite Strecken eine »gesellschaftliche Modernisierung sowie einen Generationswandel großen Ausmaßes« dargestellt. (Vgl. Horst Möller, Die Weimarer Republik, 1985, S. 28, 215, 277).“ (Ebd., 2006, S. 333).

„Daß es sich dabei nicht um eine Bejahung oder gar eine positive Würdigung des Nationalsozialismus handelt, braucht nicht unterstrichen zu werden. Es ist ein Fortschritt des Denkens, wenn der Nationalsozialismus in einen anderen Rahmen gestellt wird als den von vielen Historikern bevorzugten der »Reaktion« und des »Reaktionären« - ein Fortschritt, zu dessen Urhebern Horst Möller gehört. Aber wenn man sich an die Kennzeichnung Friedrich Eberts als der »Symbolfigur des »Neuen« erinnert, dann muß an Horst Möller die folgende Frage gerichtet werden: Ist eine Spaltung innerhalb des »Neuen« zu verzeichnen oder sogar eine Dreiteilung oder Mehrfachteilung? Denn offenbar gehörten doch auch Bolschewismus und »Amerikanismus« dazu. Sind die verschiedenen Erscheinungsformen des »Neuen« vielleicht nicht zuletzt durch ihr unterschiedliches Verhältnis zum »Alten« zu kennzeichnen? Aber letzten Endes richtet sich diese Frage an die ganze Literatur über die Weimarer Republik, und eine vorläufige Antwort wäre in der Annahme zu sehen, »das Ringen um die Geschichte der Weimarer Republik« müsse zu einem weit umfassenderen Ringen in Beziehung gesetzt werden.“ (Ebd., 2006, S. 333).

Schlußbetrachtung

 - Leistungen und Grundcharakter der Weimarer Republik (S. 335-342)
 - Die Hauptschwäche der Weimarer Republik (S. 342-350)

Leistungen und Grundcharakter der Weimarer Republik

„Die Stärken und Leistungen sind vornehmlich im wirtschaftlichen Bereich und in der damit eng zusammenhängenden Sozialpolitik zu lokalisieren. Vorgreifend läßt sich sagen, daß die Weimarer Republik hinsichtlich der Sozialpolitik die führende Rolle in der ganzen Welt spielte ([**|**] - wie übrigens zuvor auch schon das 2. Kaiserreich [**]) und daß ihre Erfolge in diesem Bereich zugleich einer der Gründe für ihren Untergang darstellten, so daß sich gerade hier eine saubere Trennung zwischen »Stärke« und »Schwäche« nicht vornehmen läßt. .... Ohne die Voraussetzung einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung kann es offenbar keine erfolgreiche Sozialpolitik geben, und die erste Frage muß den Prozessen der Produktion und der Produktivität oder der »Industrialisierung« gelten. .... Aber es läßt sich ebenso wenig in Abrede stellen, daß die führenden Schichten ein jeweils sehr verschiedenes Verhältnis zu diesem Fundamentalvorgang haben können und daß er Anlaß zu ganz verschiedenartigen politischen Zielsetzungen geben kann ....“ (Ebd., 2006, S. 335-336).

„Hinsichtlich der Industrie und des Volksvermögens trat die Weimarer Republik ein fürchterliches Erbe an. Die Finanzierung des Krieges war nicht durch Steuern, sondern im Wesentlichen durch Anleihen erfolgt, durch Anleihen bei der eigenen Bevölkerung, deren Summe sich auf mehr als 50 Milliarden Mark belief, d. h. die Realität der«Verpulverung« der Werte wurde verdeckt, die Inflation wurde auf den Weg gebracht, und das Volksvermögen wurde um mindestens ein Drittel vermindert. Zusätzlich erfolgten schwere Einbußen durch den Versailler Vertrag (Diktat!): Der Verlust von Elsaß-Lothringen und von Ostoberschlesien war besonders gravierend, denn dadurch gingen 75 Prozent der Eisenerze und 25 Prozent der Kohlenförderung verloren. Alle Handelsschiffe mit mehr als 1600 Bruttoregistertonnen waren den Alliierten zu übergeben, das gesamte deutsche Privatvermögen im Ausland wurde konfisziert, und eine große Menge an Eisenbahnmaterial mußte schon bald nach dem Waffenstillstand abgeliefert werden. (Dazu noch die Ausbeutungen der größten deutschen Kohlenreviere und die Internationalisierung der größten deutsche Flüsse sowie viele weitere Ausbeutungen, die hier aus Platzgründen gar nicht alle aufgezählt werden können; Anm HB). Die nach dem Londoner Zahlungsplan zu bezahlende Reparationssumme von 132 Milliarden Goldmark war eine nahezu untragbare Last, und einige Experten erkannten bald, ohne viel Gehör zu finden, daß daraus schwere weltwirtschaftliche Gleichgewichtsstörungen resultieren mußten, daß die Nachteile also nicht auf Deutschland beschränkt sein würden.“ (Ebd., 2006, S. 336).

„Es gab aber auch positive Tatbestände: Der verbleibende Produktionsapparat war unzerstört, und der Warenhunger sowie die Reparationserfordernisse brachten ihn gleich auf hohe Touren. Die Inflation lud die Lasten des Krieges einseitig auf die Schultern des Mittelstandes (ist das wirklich »positiv«? Anm. HB), hielt die Löhne der Arbeiter vergleichsweise niedrig (ist das wirklich »positiv«? Anm. HB) und förderte die industrielle Konzentration, während die Erzberger'sche Finanzreform die Kraft des Reiches stärkte. Das Resultat war der paradoxe Sachverhalt, daß die ersten Nachkriegsjahre die einzige Periode der Weimarer Republik waren, in der »Vollbeschäftigung« herrschte, so daß das besiegte Land eine Wirtschaftsblüte zu erleben schien, als in den Ländern der Alliierten massenhafte Arbeitslosigkeit zu konstatieren war. Der schwerste Rückschlag war politisch bedingt, hatte aber auch mit dieser Schein-Wirtschaftsblüte zu tun: die Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen und Belgier im Jahre 1923.“ (Ebd., 2006, S. 336-337).

„Mit der Stabilisierung der Währung und dem Inkrafttreten des Dawes-Plans setzte ein außerordentlicher Aufschwung ein. Bis 1932 stiegen die Spareinlagen von nahezu Null auf über 12 Milliarden, und damit waren zwei Drittel des überaus günstigen Vorkriegsstandes wieder erreicht. Die Erneuerung und Rationalisierung des Produktionsapparates erfolgte weitgehend auf dem Wege der Selbstfinanzierung, wenn auch ausländischen Krediten ein gewisser Anteil zuzusprechen war. .... Die chemische, die elektrotechnische und die optische Industrie gewannen ihre führende Stellung in der Welt (wie zur Zeit des 2. Kaiserreiches [**]) zurück, die Ausfuhr übertraf 1929 den Stand von 1913 um 34 Prozent. Die deutsche Handelsflotte befand sich nach starker Staatshilfe 1930 schon beinahe wieder auf dem Stande von 1914, und sie war nun viel moderner. Besonders im Steinkohlenbergbau war die Vervollkommnung der Technik augenfällig. Bereits 1926 war die Verwendung von Bohrhämmern, Drehbohrmaschinen, Abbauhämmern, Schrämmaschinen u.s.w. auf das vier- bis achtfache des Vorkriegsstandes gestiegen; die Arbeitsleistung pro Mann, d.h. die Produktivität, hatte sich 1930 auf 150 Prozent der Vorkriegsleistung vergrößert, während die Steigerung in England nur 3,8 Prozent und in Belgien 10 Prozent betrug; in Frankreich war sogar ein Rückgang um 10 Prozent zu verzeichnen (dies ist auch deshalb besonders bemerkenswert, weil diese Länder neben den USA doch angeblich zu den »Siegerstaaten« gehörten und Deutschland neben allen Reparationen, Demonatagen und sonstigen harten Verpflichtungen deren Schulden an die USA zurückzahlte). 1926 entstand die »IG Farbenindustrie« mit dem damals in Europa kaum vorstellbaren Kapital von 1100 Millionen Reichsmark; die »Vereinigen Stahlwerke« faßten seit 1926 über 40 Prozent der deutschen Erzeugung von Eisen und Stahl und 22 Prozent der Steinkohlenförderung zusammen. Eine ähnlich starke Position nahmen Firmen wie Siemens, Hapag-Lloyd, AEG u.a. ein. Die Zahl der Großbetriebe (mit mehr als 1000 Beschäftigten) verdoppelte sich von 1907 bis 1925. Überall setzten sich die Prozesse der Konzentration und der Kartellbildung, die vor dem Krieg begonnen hatten, mit erheblicher Beschleunigung fort. Der Produktionsindex überschritt schon 1927 den Vorkriegsstand und lag 1929 um fast ein Fünftelüber dem Stand von 1913; die Ausfuhr an Fertigwaren war 1928 die weitaus größte der Welt. Im Ganzen gesehen handelte es sich um einen fast unglaublichen Wiederaufstieg.“ (Ebd., 2006, S. 337-338).

„So viel ist gewiß, daß die Weimarer Republik diesen staunenswerten industriellen Aufschwung zumindest nicht behindert hat. Im Gegenteil spricht alles dafür, daß dieser ohne die Verständigungs- und Erfüllungsbereitschaft, welche die Republik verkörperte, sich nicht hätte vollziehen können. Die These Hitlers von der »Herabwirtschaftung einer gesunden Firma« (»Die Tatsache nun, daß es gelingt, in 13 Jahren ein gesundes Unternehmen vollständig zahlungsunfähig zu machen« sei keine Garantie, daß im 14. Jahr der Wiederaufstieg beginne [vgl. Memorandum vom 15.01.1932, in: UuF, Band VIII, S. 383]) ist nicht nur unhaltbar, sondern im Grunde unverständlich. Daß sie trotzdem Glauben finden konnte, hatte seinen Grund neben politisch-geistesgeschichtlichen Ursachen ausschließlich in der Weltwirtschaftskrise, für welche die Weimarer Republik nicht verantwortlich war und die vermutlich auch in dem Gesamtkomplex der Versailler Regelungen nur zu einem Teil impliziert war. So ging die industrielle Produktion von 1929 bis 1933 um ein volles Drittel zurück, aber das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung war noch 1931 kaum 15 Prozent geringer als 1913 - die weltweite Krise der Landwirtschaft mit ihrem Preisverfall hatte zu dieser Differenz wesentlich beigetragen. Zugleich hatte sich ein erstaunlicher Einkommensausgleich innerhalb des Volkes vollzogen: 1913 hatten 14000 Personen ein jährliches Einkommen von mehr als 100000 Mark mit einem Gesamtbetrag von 3,9 Milliarden, 1928 betrug die entsprechende Summe nur noch 5000 mit rund einer Milliarde Gesamteinkommen, obwohl das Gesamteinkommen des Volkes von 69 auf 75 Milliarden gestiegen war. (Ich verwende zum guten Teil die Zahlenangaben von Ferdinand Friedenburg, Die Weimarer Republik, 1945, S. 90, 137, 153, 184, 203, 262).“ (Ebd., 2006, S. 338).

Das war nun offenbar keine bloß automatische Entwicklung, sondern zum Teil das Resultat der »Sozialpolitik« (**|**). Auch hier baute die Weimarer Republik auf den Grundlagen des Kaiserreichs auf, denn die Bismarck'sche Sozialgesetzgebung war in der Welt vorbildlich gewesen (weltweit führend [**]), und eine Neigung zu Staatseingriffen in die Wirtschaft hatte sich früh gezeigt. Aber die Sozialpolitik des Kaiserreiches war primär ein Verteidigungsmittel des adlig-bürgerlichen Staates im Kampf gegen die Sozialdemokratie; erst in der Weimarer Republik wurde sie um ihrer selbst willen und weitgehend im Einvernehmen mit den Gewerkschaften betrieben. Die Kranken-, Unfall- und Invaliditätsversicherung wurden quantitativ sehr stark ausgeweitet und verbessert. Die Krönung war das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927, dessen Prinzip -keine Bedürftigkeitsprüfung nach dem Muster der überlieferten Armenfürsorge - noch wichtiger war als die Praxis, und dieses Gesetz wurde bekanntlich eine entscheidende Mitursache für den Untergang der Weimarer Republik.“ (Ebd., 2006, S. 338-339).

„Im Ganzen gesehen wurde nämlich die Position der Lohnarbeiter und Unselbstständigen in einem Maße verbessert, das auch für unbeteiligte Beobachter bedenklich sein mußte, da es die Kapitalbildung und die Investitionstätigkeit gefährdete. Es war eine charakteristische Tatsache, daß 1928 die Arbeitnehmer 62 Prozent des Volkseinkommens erhielten und 1932 sogar 64 Prozent, 1938 aber nur noch 57 Prozent bei freilich erheblich gesteigertem Gesamtvolumen. Die Position der Gewerkschaften war stark, und Tarifverträge wurden zur Regel. Die Löhne wurden daher immer stärker politisch bestimmt, nicht zuletzt durch die Einrichtung der staatlichen Schlichtungsstellen. Hervorragende Leistungen wurden im Wohnungsbau erbracht, weitgehend mit staatlicher Hilfe: von 1919 bis 1933 wurden mehr als zweieinhalb Millionen Wohnungen geschaffen, weitaus mehr als unter vergleichbaren Umständen irgendwo sonst in der Welt. In merkwürdigem Kontrast zu den nicht seltenen Klagen über »Volkstod« und »Dekadenz« standen die realen Fortschritte im Kampf um die Volksgesundheit. (Dieses »Paradoxon« ist aber - ähnlich dem »demographisch-ökonomischen Paradoxon« [**|**|**|**|**] - für eine »zivilisierte Gesellschaft« symptomatisch; Anm. HB). Die Säuglings- und die Tuberkulosesterblichkeit wurden weit heruntergedrückt; der Verbrauch von Bier und Branntwein ging um die Hälfte, ja stellenweise sogar um drei Viertel zurück. Für den großen Aufschwung des Sports, des Jugendwanderns u.s.w. waren nicht zuletzt die Anstrengungen der Kommunen verantwortlich. Trotz starker politischer Widerstände entstanden mindestens tausend neue Siedlerdörfer; Großgtundbesitz von dreiviertel Million Hektar wurde in Siedlerstellen umgewandelt. In der Zeit der Weimarer Republik wurden weitaus mehr Moorflächen kultiviert als z.B. in Italien von Mussolini, und zwar mit erheblich geringerem Propagagandaaufwand. Es läßt sich schwerlich bezweifeln, daß auch die sozialpolitischen Erfolge des Nationalsozialismus (»Volksgemeinschaft«, »Kraft durch Freude«, »Schönheit der Arbeit«, Verbesserungen des »Arbeiterschutzes«) kaum mehr als spektakuläre Einkleidungen bzw. Fortsetzungen desjenigen waren, was an Substanz in der Weimarer Republik erarbeitet worden war. Das Tragische bestand darin, daß gerade diese substanziellen Änderungen der Weimarer Republik mächtige Feinde schufen und dennoch einige der unabdingbaren Voraussetzungen dafür waren, daß der Nationalsozialismus zu siegen und sich zu behaupten vermochte.“ (Ebd., 2006, S. 339-340).

„Dieser Sachverhalt war in der »Bildungspolitik« besonders evident. Die entscheidenden Schritte auf eine »Bildungseinheit des Volkes« zu, d.h. zum Abbau der auf dem Besitz von Vermögen beruhenden »Bildungsprivilegien« und zur Einschränkung des Vorrangs der klassischen humanistischen Bildung wurden von der Weimarer Republik getan, die aber gleichzeitig einen bemerkenswerten Respekt vor dieser Tradition an den Tag legte. Die zentrale und charakteristische Figur in der Bildungspolitik war der Professor für Orientalistik Carl Heinrich Becker, von 1919 bis 1930 Staatssekretär bzw. Minister (1921,1925-1930) im preußischen Kultusministerium. Als großbürgerlicher Geistesaristokrat, der von sich sagte »Ich gehöre zur Partei der Bildung«, war er ein überzeugter Verfechter der deutschen Universitätsideale und gleichzeitig ein bedeutender Reformer. Als sein Ziel bezeichnete er »die Mitarbeit der breiten Masse am geistigen Leben der Nation«. Als einen Bestandteil dieser Zielsetzung betrachtete er die Überwindung der hierarchischen Klassenordnung an den Universitäten, die Gleichstellung der Technischen Hochschulen, die Mitarbeit der Nichtordinarien in den Fakultäten, die Beschränkung des Kolleggeldsystems. Die neuen kommunalen Universitäten in Frankfurt und in Köln entsprangen dem Geist der Weimarer Republik.“ (Ebd., 2006, S. 340).

„Im Bereich der Volksschule erfolgte die Beseitigung der geistlichen Schulaufsicht, die Sicherung der Gewissensfreiheit für Lehrer und Schüler, Schritte zur Einführung einer kollegialen Schulleitung (neben den Rektoren standen nun »Konrektoren«), Einrichtungen von Bezirks- und Kreislehrerräten alles wichtige Schritte einer sachgerechten »Demokratisierung«. Im Gebiet der Höheren Schule wurde neben den Gymnasien die »Deutsche Oberschule« als neue Form institutionalisiert; im Zentrum des Unterrichts stand ein deutschkundlicher Kern anstelle der alten Sprachen, die ästhetische und die Ganzheitserziehung erhielt einen höheren Rang, die »Arbeitsschule« wurde gefördert. Von besonderer Wichtigkeit war, daß für das Studium der Lehrer »Pädagogische Hochschulen« gegründet wurden, die an die Stelle der alten »Präparanden«ausbildung treten sollten und eine beträchtliche Akademisierung dieses Studienganges zur Folge hatten. Bis 1930 wurden 14 Akademien dieser Art eröffnet. Auch die Volkshochschulbewegung wurde gefördert; an der Heimvolkshochschule in Jena wirkte Adolf Reichwein, der später der persönliche Referent Beckers und noch später ein wichtiger Mitwirkender im Widerstand gegen Hitler wurde.“ (Ebd., 2006, S. 340-341).

„Von seiten der Rechten war Becker heftigen Angriffen ausgesetzt, die nicht so sehr auf die bildungspolitischen Reformen bezogen waren, sondern auf Beckers scharfe Ablehnung der Einführung des »Arierprinzips« in den studentischen Organisationen, wo der »Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund« sehr stark war. Daran scheiterte die geplante Einführung der Selbstverwaltung für die Studentenschaft. Schließlich mußte Becker infolge der sozialdemokratischen Parteipolitik in Preußen zurücktreten, und mit ihm verschwand eine symbolische Gestalt der Weimarer Republik von der politischen Bühne.“ (Ebd., 2006, S. 341).

„Symbolisch war auch das Urteil, das er nach seiner letzten Weltreise fällte: »Welch ein Glück, daß Deutschland keine Kolonien mehr hat.« Gerade hier war die Rechte völlig anderer Meinung, und den Sieg trug eine neue, ihrerseits demokratisierte, neuartige Rechte davon, die das Kolonialprinzip im überlieferten Sinne aufgab, es aber stattdessen auf eine bisher für unmöglich gehaltene Weise verschärfte, indem sie es auf Europa ausdehnte.“ (Ebd., 2006, S. 341).

„Die Rechte ... sah ... zum weitaus größeren Teil in den Stärken der Weimarer Republik nur Schwächen und schwächte dadurch, ohne es zu wollen, auch die eigene Position gegenüber einem »Dritten Reich«, das dem Bismarckreich ebenso unähnlich war wie der Weimarer Republik.“ (Ebd., 2006, S. 341).

„In einem letzten Kapitel wird die Frage zu stellen sein, weshalb die Weimarer Republik - und mit ihr das »Liberale System« in Gestalt der »Parteiendemokratie« - sich nicht gegen ein Phänomen zu behaupten vermochte, das auf ihrem eigenen Boden entstanden und emporgewachsen war. Daraus ergibt sich vielleicht eine Antwort auf die weiter reichende Frage, was dieser Untergang im Rahmen der Weltgeschichte bedeutete.“ (Ebd., 2006, S. 341-342).

Die Hauptschwäche der Weimarer Republik

„Es sollte zulässig sein, ein Gedankenexperiment anzustellen und ein Bild von der Entwicklung zu umreißen, wie sie hätte sein können, wenn die Weimarer Republik sich relativ autonom hätte entfalten können, etwa in dem Sinne, wie sich das Wilhelminische Kaiserreich trotz der Fülle seiner äußeren Beziehungen relativ autonom entfaltet hatte. Als Hauptgrund ihres Unterganges gilt in vielen Darstellungen, von Arthur Rosenbergs »Geschichte der Weimarer Republik« an, die in der Tat sehr bemerkenswerte Tatsache, daß in ihrer Zeit die deutsche Nation in vier politische Blöcke zerfallen war, die jeweils ihre eigenen Fahnen sowie Weltanschauungen besaßen und nicht zu einer verläßlichen Zusammenarbeit zu bringen waren: das Schwarz-Rot-Gold der Republikaner, das Schwarz-Weiß-Rot der Monarchisten, das Rot der Kommunisten und Linkssozialisten, das Hakenkreuz der Nationalsozialisten. Als der elementare Fehler wird von linksgerichteten Autoren wie Rosenberg das Versäumnis angesehen, die eigene Fahne ... zur einzigen zu machen. Mit dem Überleben der Bürokratie, des Großgrundbesitzes, des alten Heeres und des Kapitalismus sei das Schicksal der Republik bereits besiegelt und ihr Untergang notwendig gewesen. Dagegen ist die Rechte während der Weimarer Zeit nie müde geworden, die Republik für das Resultat eines Handstreichs oder eines Dolchstoßes der Linken zu erklären, so daß sie an ihrer inneren Schwäche und antinationalen Ausrichtung habe zugrunde gehen müssen.“ (Ebd., 2006, S. 342).

„Aber schon die Verwendung des Begriffs der »historischen Notwendigkeit« führt in die Irre, da er die Bedeutung des Zufalls und des menschlichen Handelns aus dem Spiel läßt. Die rückschauende Betrachtung hat generell die Neigung, alles für notwendig zu erklären; der Blick in die Zukunft dagegen erfaßt nur einige allgemeine Tendenzen, geht aber regelmäßig fehl, wenn er konkrete Aussagen zu machen versucht. Der Untergang der Weimarer Republik war in Wahrheit so wenig von zwingender Notwendigkeit wie ihre Entstehung in der konkreten Form, die den Nachlebenden bekannt ist. Hätten Kaiser und Kronprinz sich rechtzeitig zur Abdankung entschlossen und wäre die Marineleitung besonnener gewesen, würde möglicherweise noch heute ein Hohenzollernmonarch in Berlin residieren, ganz wie das Haus Windsor in England »herrscht«, wenngleich ohne nennenswerte Machtbefugnisse.“ (Ebd., 2006, S. 342-343).

„Wäre der General von Schleicher acht Wochen früher zum Kampf entschlossen gewesen, so hätte Adolf Hitler nach allem menschlichen Ermessen kein »Drittes Reich« begründet, mindestens nicht in der Gestalt, in der es heute bekannt ist. Wohl aber gibt es eine relative und strukturelle »historische Notwendigkeit«.“ (Ebd., 2006, S. 343).

„Das liberaldemokratische Parteiensystem ist ja nichts anderes als das Resultat einer Kultur, die durch Nicht-Identität von Staat und Kirche, durch das Nebeneinander verschiedener Konfessionen und Staaten, durch liberale Säkularisierung und sozialistische Tendenzen gekennzeichnet ist und in der es totale Umbrüche gerade deshalb nicht gegeben hat, weil sie in sich selbst einen Umbruch von unvergleichlicher Art darstellt. (Die Kennzeichnung einer Sache oder eines Vorgangs als »unvergleichlich« oder »singulär« darf kein Vergleichsverbot in sich schließen, denn dann wäre sei ein »Absolutismus« ähnlich demjenigen Lenins oder Hitlers).“ (Ebd., 2006, S. 343).

„Es ist eine bestimmte Erscheinungsform des »Liberalen Systems«, das bis in das Mittelalter zurückreicht und ... europäisch ist. Auch in Frankreich gab es nach 1870 verschiedene Flaggen nebeneinander: das Lilienbanner der Legitimisten, die Trikolore der »bürgerlichen Republik« und die rote Fahne der sozialistischen Revolution. In Italien war es seit der Einigung von 1860 im Neben- und Gegeneinander von liberalem Staat und »Schwarzen« sowie »Roten« nicht anders, und 1919 standen sich in Paris und Rom die großen Blöcke kaum weniger feindselig - wenngleich in anderen Proportionen und unter anderen konkreten Voraussetzungen - gegenüber als in Berlin: Konservative, Liberale, Demokraten, Sozialisten. Wenn nirgendwo außer in Rußland die eine Fahne endgültig und auf Dauer über die anderen triumphieren konnte, so lag das vermutlich auch daran, daß das Schichtenbild und die soziologischen Zuordnungen unzureichende Metaphern darstellen. Es war eben nicht so, daß in Frankreich eine fest umrissene adlig-kirchliche Aristokratie durch »den« liberalen Bürgerstand gestürzt worden wäre, dem die sozialistische Arbeiterschaft in der Herrschaft bzw. der schließlichen Herrschaftslosigkeit hätte folgen müssen.“ (Ebd., 2006, S. 343).

„Durch nichts ist Adolf Hitler so sehr charakterisiert wie durch die Tatsache, daß er den Bolschewismus ganz ernst nahm: dessen Anspruch, die Welt einer totalen Veränderung zu unterziehen, und den auf dieses Ziel hin gerichteten Vernichtungswillen gegenüber ganzen Klassen und in erster Linie dem Bürgertum. Hitler ... spricht ... von Lenin, dem » Weltpapst«, dem »Massenmörder«, der »gigantischen Erscheinung« (siehe oben, S. 200f. [**], vgl. »Der große Weltpalast Lenin«, in: Adolf Hitler, Reden, Schriften, Anordnungen, Hrsg.: Institut für Zeitgeschichte, S. 191), dessen »Katechismus« ein anderer Katechismus entgegengeserzt werden müsse, wenn der Kampf nicht von vornherein verloren sein solle. (Vgl. ebd., S. 109). .... So zeichnete sich gerade in der Weimarer Republik ein wesentlicher Teil ... eines späteren Massenmordes, der »Endlösung der Judenfrage«, ... dadurch ab, daß die Urheber - nicht nur Hitler - sich einem früheren Massenmord gigantischen Ausmaßes konfrontiert sahen, nämlich der Vernichtung jener Klasse, die ein so wesentlicher, in Rußland freilich erst schwach entwickelter (in Rußland wurden z.B. Bauern, die nur eine Kuh besaßen, bereits zum Bürgertum, zur »Bourgeosie«, zum »Klassenfeind« gezählt und darum ermordert) Bestandteil des »Liberalen Systems« war, zu der allerdings auch die vielen Hunderttausende von bäuerlichen »Kleinbürgern«, die »Kulaken«, gezählt wurden (also diejenigen, die eine Kuh besaßen und darum zum Bürgertum, zur »Bourgeosie«, zum »Klassenfeind« gehörten und darum ermordet wurden). Insofern empfand sich Hitler zunächst als »europäischer Bürger«, bis ihm die höchst vielfältige und komplexe Natur des Bürgertums als der »unsolidarischen Klasse« deutlich wurde, so daß er schon bald nur noch Verachtung für dessen angebliche Feigheit empfand. Aber den folgenreichsten aller Schritte tat er, als er für seine Partei einen »Antibolschewismus von bolschewistischer Entschlossenheit« postulierte und damit den Nationalsozialismus sowohl als Todfeind wie als Nachahmung eines älteren Phänomens auffaßte. Nicht zuletzt dadurch unterschieden sich er und seine Partei von dem »Partito Nazionale Fascista« Mussolinis, den er mit Recht als verwandt betrachtete und dessen Triumph irn Jahre 1922 ihn mit neuer Zuversicht erfüllte. Wenn er sich aber auf die gleiche Stufe stellen wollte wie Lenin und dessen Partei, dann mußte er auch gewillt sein, ein Feindbild zu entwickeln, auf das er die Lenin'sche Maxime des »Wer wen« anwenden konnte, und als dieserTodfeind konnte nur eine einzige Menschengruppe namhaft gemacht werden, nämlich »die Juden«, die ja bei den Frühsozialisten Fourier und Proudhon weitgehend die Stelle der ... »Kapitalisten« einnehmen.“ (Ebd., 2006, S. 347-348).

„Vor den befürchteten Konsequenzen dieser Interpretation (man fürchtet ..., daß Hitler die Qualität als Originalverbrecher verlieren könnte, wenn er primär im Zusammenhang einer großen Reaktion gesehen wird) schützt man sich in der Regel durch die Behauptung, es gebe keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Hitlers Antibolschewismus und seinem »Antisemitismus« (richtig muß es heißen: »Antijudaismus«; Anm. HB), obwohl doch jene Drohung des Generals Alexejew die in der Sache gewiß verfehlte Verknüpfung zwischen »Bürgern« und »Juden« einige Zeit vor Hitler und dem Nationalsozialismus mit großer Klarheit herausstellt. Wenn man Hitler einen »Antisemiten« (richtig muß es heißen: »Antijudaisten«; Anm. HB) und einen »fanatischen Judenfeind« nennt, glaubt man einen letzten Grund, ein »fundamentum inconcussum«, gefunden zu haben. Aber mit dieser isolierenden Reduzierung unterschätzt man sowohl Hitler als auch die Juden bei weitem. Hitler war nicht ein bloßer Fanatiker, sondern er ist wie Lenin ein »Absolutist« zu nennen, d.h. er setzt etwas absolut, das tatsächlich eine fundamentale Bedeutung hat und jenem Fanatismus keinesfalls gleichgesetzt werden darf, mit dem manche Menschen Anhänger des Glaubens an »Außerirdische« oder Feinde eines Nachbarvolkes sind. Hitler sah in »den Juden« nicht in erster Linie ein kleines und landloses Volk oder gar eine Konfession, und er traf deshalb nicht einmal die notwendigsten Unterscheidungen, sondern sie waren für ihn die Urheber einer umfassenden Welttendenz und also nicht bloß Mitwirkende innerhalb dieses Vorgangs. Als Hinweis mag ein Satz aus »Mein Kampf« angeführt werden, der nicht zu Unrecht als »irrsinnig« gilt, wenn er gedankenlos und für sich zitiert wird: »Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totenkranz der Menschheit sein, und dann wird dieser Planet wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen. .... Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.« (Adolf Hitler, Mein Kampf, 1925/'26, S. 69f. [**]).“ (Ebd., 2006, S. 348).

„Offensichtlich ist hier nichts anderes gemeint, als was heute unter »Globalisierung« verstanden wird, und das »Werk des Herrn«, von dem Hitler spricht, ist die Gesamtheit der kriegerischen und souveränen Gemeinschaften, deren Mit- und Gegeneinander bis zur Gegenwart den Inhalt der Weltgeschichte bildete. Und Hitler hatte sogar mit der unzulässigen Einengung auf die Juden etwas Richtiges im Blick, denn seit ihrem Beginn haben sich die Israeliten und die Juden als das »Volk Gottes« und damit als »Volk der Menschheit« gesehen, das in seinen messianischen Hoffnungen auf die künftige Einheit der Menschheit ausgerichtet war. Wenn man glaubt, daß diese Einheit der friedlichen Menschheit tatsächlich das erstrebenswerte Ziel der Geschichte ist, dann kann man vor der Aussage nicht zurückschrecken, daß dem Volk Israel selten eine solche Hochschätzung widerfahren ist wie in diesem Satz seines Todfeindes. Allerdings wird die Globalisierung nicht immer so positiv gesehen, wie es etwa in Max Schelers Begriff des »Weltalters des Ausgleichs« geschieht, sondern oft genug wird sie als Ursache einer universellen Nivellierung betrachtet, die Jaspers »mit Grauen« wahrnahm. Wenn man den Begriff mit Hilfe des Adjektivs »kommerziell« differenziert, wird gerade von seiten der Linken das Urteil möglich, daß diese »kommerzielle Globalisierung« mit ihrer Entfesselung eines egoistischen Individualismus über kurz oder lang den Untergang der Menschheit nach sich ziehen werde.“ (Ebd., 2006, S. 351).

„Doch so gewiß es sich bei der Anklage gegen »die Juden« um eine unheilvolle Konkretisierung handelt, die derjenigen gegen »die Kapitalisten« entspricht, so gewiß hätte Hitler nicht einfach »die Raucher« oder »die Quäker« als symbolische Todfeinde an die Stelle der Juden setzen können. Juden oder Aktivisten jüdischer Herkunft (nicht »die Juden«) waren nach unzweideutigen Aussagen Lenins tatsächlich die stärkste Kraft innerhalb der bolschewistischen Revolution gewesen, und Goebbels wiederholte nur, was für die meisten Frühsozialisten und noch für den jungen Marx selbstverständlich gewesen war, nämlich daß die Juden »die Inkarnation des Kapitalismus« seien. Aber gerade daß aus partiell richtigen oder mindestens ernst zu nehmenden Analysen und Einschätzungen das Schreckliche eher hervorgehen kann als aus vulgären Trivialitäten oder Torheiten, wird am Beispiel Hitlers ebenso deutlich wie an demjenigen Lenins. Und ganz wie der Historiker, dem es um Einsicht und Verstehen, nicht aber um Erfolge in politischen Auseinandersetzungen geht, von Grauen gepackt sein darf und muß, wenn Lenin - nicht als Parteiredner, sondern als leitender Staatsmann - von Millionen Menschen als »Schädlingen« und »Parasiten« spricht, die vertilgt werden müßten, so darf er gerade dann, wenn er nicht im Dienst politischer Interessen Hitler zum bloßen »Bösewicht« und »Mörder« verharmlost, von Grauen erfüllt sein, wenn er in einer wenig bekannten Rede Hitlers aus dem Jahre 1925 den Satz liest: Die Erkenntnis der Hintergründe der Revolution würde »die Ursache eines Strafgerichts sein, wie die Erde bisher noch keines sah.«“ (Ebd., 2006, S. 348-349).

„Nur wenn man auch Hitler ernst nimmt, d.h. in ihm einen von absolutistischen Überzeugungen höchst relevanter, obgleich unheilvoller Art erfüllten und mit einem machtvollen Charisma versehenen Menschen sieht, darf man in einer recht zu verstehenden Kurzfassung die Aussage machen: Die Weimarer Republik ging zugrunde, weil sie als ungefestigte Demokratie zwischen Lenin und Hitler zerrieben wurde. (Wenn man den Sachverhalt »kollektivistisch« ausdrücken will, mag man sagen, die Weimarer Republik sei von der Übergröße der roten Fahne und des Hakenkreuzbanners erdrückt worden.). Aber dies ist kein negatives Urteil, denn nie zuvor hatte sich eine Nation in einer solchen Situation befunden, auch nicht Rußland und auch nicht Italien, von Frankreich ganz zu schweigen. Nur so viel kann in stärkster Verkürzung und aus dem Blickwinkel der Gegenwart heraus gesagt werden: Heute geht das am weitesten verbreitete Schlußurteil über die Weimarer Republik dahin, in ihr habe sich der Nationalismus im Rahmen der »Ersten Welt« zum letzten Mal vor seinem Verschwinden gegen den Internationalismus durchgesetzt. Dieses Urteil ist nicht falsch, aber allzu vereinfachend. Hitlers Nationalismus war kein genuiner Nationalismus, sondern eine potentiell internationale Rassenkonzeption, und Lenins Internationalismus nahm ausgeprägtermaßen gegen die Welttendenz Stellung, die heute »Globalisierung« genannt wird. Auch in der Gegenwart gibt es »Globalisierungsgegner«, und in gewisser Beziehung befinden sie sich in der Spur Hitlers. Die Islamisten sind ihrem Selbstverständnis nach die unzweideutigsten Universalisten, aber sie sind Todfeinde der (us-)»amerikanischen Globalisierung«. Die Bewohner des Staates Israel sind seit 1948 - nach dem Urteil nicht weniger Juden in schroffem Gegensatz zum »jüdischen Universalismus« - die entschiedensten Verteidiger einer partikularen Realität. Auch in der Gegenwart zeigt sich die Weltgeschichte in einer Vielzahl von Paradoxien und Widersprüchen. Ein Kampf wie derjenige zwischen Lenin und Hitler, an dem die Weimarer Republik zugrunde ging, wird sich nach allem menschlichen Ermessen nie wiederholen, aber in der Rolle als Vorkämpfer welthistorischer Tendenzen sind Lenin und Hitler auch in der Gegenwart noch lebendig und ist die Weimarer Republik eine fortexistierende Möglichkeit, wenngleich gewiß nicht in Deutschland oder in anderen Teilen der westlichen Welt.“ (Ebd., 2006, S. 350).

Bibliographischer Essay über: Politische Broschürenliteratur der Weimarer Republik

 - Broschürenliteratur der Kommunisten (S. 353-370)
 - Broschürenliteratur der Nationalsozialisten (S. 371-382)

„Das Wort »Broschüre« kann nur eine vorsichtige und unscharfe Einengung mit sich führen. Oswald Spenglers »Preußentum und Sozialismus« ist der Form nach eine broschierte Schrift von nur etwas mehr als hundert Seiten und dennoch ein bedeutendes Werk politischen Denkens. Unter »Broschürenliteratur« ist also die schriftliche und relativ kurze Fixierung einfacher Vorstellungen und Ziele politischer Art zu verstehen ....“ (Ebd., 2006, S. 352).

„Im Mittelpunkt der Darstellung soll die Broschürenliteratur der Kommunisten und der Nationalsozialisten stehen, die zunächst dem Kampf gegen »das System« galt und dann rasch zu einer Auseinandersetzung zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten wurde.“ (Ebd., 2006, S. 352-353).

„Die Darstellung ist in zwei große Teile gegliedert:
1.Die umfangreicheres und erheblich früher auftauchende Broschürenliteratur der Kommunisten.
2.Die von verwandten Strömungen für geraume Zeit kaum zu unterscheidende und erst ab 1930 einen größeren Umfang gewinnende Broschürenliteratur der Nationalsozialisten.
Jeder der beiden Teile ist nach drei Zeitperioden eingeteilt, nämlich der frühen von 1918 bis 1923, der mittleren von 1924 bis 1929 und der spätennvon 1930 bis Anfang 1933.“ (Ebd., 2006, S. 353).

Broschürenliteratur der Kommunisten

„Der Aufruf zur Maifeier des Jahres 1916 bedeutet die verschärfte Wiederaufnahme der »Klassenkampf«-Konzeption und war so etwas wie eine Kriegserklärung an die deutsche »Bourgeoisie«, die nun als vornehmlich »kriegsschuldige« Klasse an die Stell der »Junker und Militaristen« trat: »Zum zweiten Male steigt der Tag des 1. Mai über dem Blutmeer der Massenmetzelei auf .... Millionen von Männern haben bereits ihr Leben gelassen auf Geheiß der Bourgeoisie .... Und zu wessen«“ (Ebd., 2006, S. 354).

„Flugblatt des Jahres 1917 ...: »Schlagt tot die Kriegsbestie, hängt eure Henker, und ihr seid erlöst, frei und glücklich mit den Brüdern in der ganzen Welt«. Aber es war unmöglich, daß das einfache und weithin populäre Bild von den wenigen »Henkern, Profiteuren und Ausbeutern« auf der einen Seite und der riesigen gequälten Volksmehrheit auf der anderen der Wirklichkeit entsprach: Eine solche Nation hätte unmöglich die Leistungen vollbringen können, die ein »Kampf gegen die ganze Welt« unter Beweis gestellt hatte. Der Partei, welche die schärfste und so leicht verstehbare Feindschaft proklamierte, mußte ein außerordentliches Maß an ebenso leicht verstehbarer Feindschaft begegnen, und wenn sie nicht sehr bald einen definitiven Sieg errang, mußte diese Todfeindschaft mehr als alles andere für die Nachkriegsgeschichte des besiegten Deutschland - dessen Sieg noch wenige Monate zuvor seinen Feinden vor Augen gestanden hatte - zu einem der bestimmendsten Faktoren werden.“ (Ebd., 2006, S. 355).

„Freilich würde diese Feindschaft weder gleichgewichtig noch geradlinig sein. Die Kommunisten hatten ein Bild der Zukunft vor Augen, das weit über ihre eigenen Reihen hinaus Sympathie zu erwecken vermochte, etwa wenn die im März 1919 gegründete Weltpartei der »Kommunistischen Internationale« glaubwürdig zu versichern vermochte, in ihren Reihen vereinigten sich brÜderlich »Menschen weißer, gelber, schwarzer Hautfarbe«. Andererseits proklamierten sie nun mit viel Emphase eine Feindschaft, die ihren deutschen Feinden, denen bloß die Revision der Waffenstillstandsbedingungen bzw. des Friedensvertrages als Ziel vorschwebte, zu helfen vermochte, indem sie nämlich mit großem Nachdruck »den japanischen, amerikanischen, englischen, französischen und allen anderen Welträubern« den »Krieg aufLeben und Tod« erklärte. (Vgl. Hermann Weber, Die Kommunistische Internationale, 1966, S. 50, 95).“ (Ebd., 2006, S. 355).

„Die von früh an gegebene und verwirrende Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit wieder zu beseitigen und sie durch große einfache Linien zu ersetzen, war das Ziel der vielen Kampfbroschüren aus den Reihen der Kommunisten und ihrer Sympathisanten, die als symptomatische Erzeugnisse ohne genaue chronologische Reihenfolge ins Auge gefaßt werden sollen: Karl Radek, ein ukrainischer Jude, aber nach zionistischer Terminologie bis hin zu »antisemitischen« Neigungen »entjudet«, (vgl. dazu seine Schrift: »Die Bermat-Sozialdemokratie« von 1925) war in der unmittelbaren Nachkriegszeit so etwas wie Lenins Botschafter oder Beauftragter in Deutschland. Nicht wenige bedeutende Vertreter der neuen parlamentarischen Demokratie, wie etwa Walther Rathenau, pflegten gute Beziehungen zu ihm, und er erwies sich als ein ebenso umgänglicher wie geistreicher Kopf. Auf dem intellektuellen Feld griff er gleich in die erste große »innersozialistische« Auseinandersetzung ein, welche die junge Kommunistische Partei zu bestehen hatte, nämlich in diejenige um den »Terrorismus«, die Karl Kautsky - vor dem Krieg der maßgebende Theoretiker des Marxismus als Ganzen - mit seiner Schrift gegen den Terror in Sowjetrußland initiiert hatte, in der er das sowjetkommunistische Regime als »socialismus asiaticus« scharf und negativ dem orthodoxen und westeuropäischen Marxismus entgegengesetzt hatte.“ (Ebd., 2006, S. 355-356).

„Radek reagierte in seiner Broschüre über »Proletarische Diktatur und Kommunismus« mit Hilfe des Begriffs des »bürgerlicher Terrors«, der dem proletarischen vorangegangen sei, vor allem in Gestalt der Kriegstoten, aber auch nach dem Krieg als Hinmetzelung von 30000 Arbeitern in Finnland und nicht zuletzt durch das »Grauen des Koltschak-Regimes«. Gewiß seien auf seiten der Bolschewiki »Taten wilder Vergeltung« vorgekommen, aber sie seien das Werk der in Soldatenuniform gekleideten Bauern gewesen, nicht die der organisierten Arbeiter. Indessen beeinträchtigte Radek seine Glaubwürdigkeit nicht nur dadurch, daß er die Realität der staatlich geleiteten Klassenvernichtung in Rußland nicht einmal erwähnte, sondern weil er voraussagte, im Westen mit dessen ausgedehnter Arbeiteraristokratie würden wahrscheinlich die Kämpfe um die Macht viel schärfer sein als in Rußland, zumal sich hier vor der Machtergreifung des bewaffneten Proletariats schwerlich je eine Mehrheit der Bevölkerung den Kommunisten anschließen werde. Er sagte also für Deutschland nichts Geringeres vorher als die blutige und terroristische Herrschaft einer Minderheit.“ (Ebd., 2006, S. 356).

„Grigorij Sinovjew (von seinen Gegnern meist mit seinem Geburtsnamen »Apfelbaum« genannt) war während des Krieges einer der engsten Mitarbeiter Lenins und spielte früh eine führende Rolle in der »Internationale«. Im Jahre 1919 hatte er den Jubel über die Siege der »Weltrevolution« und die zuversichtliche Erwartung von deren bevorstehendem Sieg mit viel Nachdruck und Enthusiasmus formuliert, aber er hatte auch als »Führer der nördlichen Kommune«, Leningrads, die Vernichtungsforderung gegenüber zehn Millionen »Bourgeois« und Kleinbürgern besonders unverhüllt erhoben. (Vgl. hierzu auch: Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945, 1987, S. 558f. [**|**|**|**]). lm Oktober 1920 hatte er auf dem Parteitag der USPD in Halle durch seine große Rede wesentlich dazu beigetragen, daß die KPD durch den Anschluss des linken Flügels der »Unabhängigen« zur Massenpartei geworden war.“ (Ebd., 2006, S. 356-357).

„Wenig später erschien im »Verlag der KI« (Verlag der Kommunistischen Internationale) seine Broschüre »Zwölf Tage in Deutschland«. Die ausgedehnte Polemik gegen die »Arbeiteraristokratie« und deren sozialdemokratische Repräsentanten von Dittmann über Crispien bis zu dem russischen Menschewisten Martov war nichts Überraschendes, wohl aber dürften die Marxisten der USPD verwundert den Kopf geschüttelt haben, als der Präsident der Kommunistischen Internationale ihren Zweifeln und Bedenken entgegenhielt: »Sehen Sie , denn nicht ein, daß dieser ›religiöse‹, naive Glaube (der russischen Massen; Anm. d. Verf.) an die Möglichkeit des Sozialismus der wichtigste revolutionäre Hebel der Geschichte ist?«  (Grigorij Sinovjew, Die Weltrevolution und die III. Kommunistische Internationale [Rede auf dem Parteitag der USPD in Halle am 14. Oktober 1920], 1920).“ (Ebd., 2006, S. 357).

„Eine merkwürdige Problematik brachte er dadurch zu Wort, daß er »die aus Haß und Angst wie irrsinnigen Konterrevolutionäre« keineswegs mit »der Bourgeoisie« identifizierte, sondern den Luxus und die Üppigkeit der deutschen Bourgeoisie mit viel moralischer Empörung anprangerte und den festen Willen zu erkennen gab, dieser im Kern dekadenten, ja widermenschlichen Gruppe »den Garaus zu machen«. Aber er forderte auch, die »Menschewisten«, d.h. die reformistischen Sozialdemokraten, »zu erledigen«. Der Vernichtung der »bürgerlichen Gesellschaft« werde dann, wie in Rußland, die »völlige Aufhebung des Geldes« folgen.“ (Ebd., 2006, S. 357).

„Die bevorstehenden inneren Kämpfe und Spaltungen der Kommunistischen Partei kündigten sich bereits 1920 in den Schriften der Hamburger Fritz Wolffheim und Heinrich Laufenberg (**) an, die später »Nationalkommunisten« genannt wurden, weil sie den Akzent fast ebensosehr auf »die Nation« wie auf »das Proletariat« setzten. In dieser Tendenz war sicherlich viel an genuin-linker Emotion zu erkennen, denn die deutsche Nation zählte nun zweifellos zu »den Unterdrückten«. So bleibt Wolffheim in seiner Schrift »Knechtschaft oder Weltrevolution« zwar der kriegsgegnerischen Tradition ganz treu, wenn er von den »Herrenbestien des deutschen Imperialismus« spricht, in deren Augen der Soldat »kein Mensch ..., sondern eine tote Sache« war, aber ein neuartiger Ton wird vernehmbar, wenn er die Errichtung von Revolutionstribunalen verlangt, vor denen nicht mehr die Männer des nun zertrümmerten Deutschen Reiches abgeurteilt werden sollen, sondern diejenigen, »die die Revolution verraten und das Volk wehrlos gemacht haben«. Und wenn für die Gegner des Kommunismus schon die Existenz der »Roten Armee« in Rußland den Stempel eines neuen »Militarismus« trug, dem Radek auch hinsichtlich Deutschlands das Wort geredet habe, als er den Zusammenstoß der deutschen und russischen Arbeitermilizen mit den Heeren der Alliierten prophezeite, so mochte man einen neuartigen »Imperialismus wahrnehmen, wenn Wolffheim im Frühjahr 1919 die Herstellung einer Verbindung zwischen den drei Sowjetrepubliken in Moskau, Budapest und München verlangte und ein »einheitliches proletarisches Reich bis zur Südsee, von Frankreich bis zur japanisch-chinesischen Grenze in der Entstehung begriffen sah“ (Ebd., 2006, S. 357-358).

„Ihren Gipfelpunkt erreichte diese Tendenz, das »nationale Moment auf einer neuen Ebene zu restituieren, bekanntlich in Radeks »Schlageter-Rede« vom 20. Juni 1923, die auf den Vorschlag der Unterordnung der aus den Freikorps hervorgegangenen Rechten unter die kommunistische Linke in Gestalt einer völlig neuartigen »Volksfront« hinauslief. (Vgl. Hermann Weber [Hrsg.], Der deutsche Kommunismus, 1963, S. 142-147). Dem folgte wenig später die Auseinandersetzung der »rechten Vordenker« Moeller van den Bruck und Graf Ernst Reventlow mit Radek in den Spalten der Zeitschriften »Das Gewissen« und » Reichswart«, die Radek gewichtige Argumente entgegenstellten und doch neue Denkmöglichkeiten und Bündnisse nicht von vornherein ausschlossen. Daß die »Schlageter-Linie« aber die Kommunisten sogar bis in die Nähe des »Antisemitismus« führen konnte, wurde von der eher anarchistischen Zeitschrift »Die Aktion« mit schroffer Ablehnung deutlich gemacht, als sie im Juli 1923 von einer Veranstaltung über das Thema »Kommunismus, Faschismus und die politische Entscheidung der Studenten« berichtete. Danach habe die Führerin der kommunistischen »Linken«, Ruth Fischer, selbst »entjudete« Jüdin, an das studentische Publikum folgende Aufforderung gerichtet: ».... Sie rufen auf gegen das Judenkapital, meine Herren? Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. .... Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber meine Herren, wie stehen Sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner ...?«  (»Die Aktion«, Hrsg.: Franz Pfemfert, 1923, S. 374). Das Schlußurteil des Herausgebers Franz Pfemfert ist sehr eindeutig und sehr negativ: »Wer, als Wortführer einer Arbeiterpartei, mit den ›Völkischen‹ gegen ›französische Fremdherrschaft‹ keift, hetzt damit auch die Arbeiter der übrigen Länder in die Arme des Nationalismus!«  Daher müßten »die Radek, Fröhlich, Ruth Fischer und Konsorten« von dem kommenden Revolutionstribunal abgeurteilt werden.“ (Ebd., 2006, S. 358).

„Die Kommunistische Partei appellierte aber auch an die Bauern. 1919 erschien die Broschüre: »Das Agrarprogramm der KPD (Spartakusbund)«, und dort wurde ein »neuer Bundschuh« vorhergesagt, in dessen Rahmen bald Millionen von Landproletariern »gegen die Junkerschlösser anstürmen« würden. Nach dem Sieg würde der gesamte Großgrundbesitz ohne Entschädigung vom sozialistischen Staat enteignet werden, das Privateigentum der Kleinbauern werde dagegen unangetastet bleiben. Das war offenbar ein Versuch, das in Rußland erfolgreiche Agrarprogramm der Bolschewiki für Deutschland fruchtbar zu machen. Es war indessen einleuchtend, daß das Vorhaben kontraproduktiv sein mußte, wenn die Zahl der selbstständigen Kleinbauern größer war als diejenige der Landarbeiter und wenn es so etwas wie ein »ländliches Gemeinschaftsempfinden« gab, das Großbauern und sogar einen Teil der »Junker« einschloß.“ (Ebd., 2006, S. 358-359).

„Nichtdeutsche Kommunisten und Sozialisten nahmen an dem Broschüren-Kampf sowohl in der einen wie in der anderen Richtung lebhaften Anteil. Der georgische Sozialdemokrat Noe Jordanier schrieb nach der Besetzung des Landes durch sowjetische Truppen voller Empörung eine »Antwort an Trotzki« unter dem Haupttitel »Imperialismus unter revolutionärer Maske«. Darin prangert er das Verfahren an, in einem fremden Staat innenpolitische Unruhen und Aufstände der eigenen Anhänger hervorzurufen und dann mit militärischer Macht zwecks »Befreiung« zu intervenieren: »Ein Häuflein Bolschewisten wird sich in jedem beliebigen Land finden ..., und so eröffnet sich für sie die Perspektive von Kriegen in allen Teilen der Welt«.“ (Ebd., 2006, S. 359).

„In Wahrheit handle es sich jedoch keineswegs um »Befreiungskriege«, sondern Radek habe ausgeplaudert, der Grund bestehe darin, daß Sowjetrußland »die Ausgangswege des Bakuer Naphthas (Erdöls) zum Schwarzen Meer in ihrer Hand halten müsse«. Mithin ist ein neuartiger Imperialismus im Entstehen begriffen, der weitaus kriegerischer und für die Welt gefährlicher ist als der altbekannte der westlichen Mächte, weil er das Wort »Frieden« im Munde führt und überall in der Welt über Gruppen von Gleichgesinnten verfügt.“ (Ebd., 2006, S. 359).

„Mit ebenso großer Empörung äußert sich der us-amerikanische Anarchist Alexander Berkmann über die Niederschlagung des Aufstands in Kronstadt in seiner 1923 erschienenen Broschüre über »Die Kronstadt-Rebellion«. Am 18. März 1921 hätten die Bolschewiki wie in jedem Jahr öffentlich die Erinnerung an die Pariser Kommune von 1871 gefeiert, die von Gallifet und Thiers im Blut der französischen Arbeiter ertränkt worden sei. Zur gleichen Zeit hätten sie ihren »Sieg« über Kronstadt gefeiert, der nicht minder blutig und freiheitsfeindlich gewesen sei und der diejenigen niedergeschlagen habe, welche die Parole von 1917 »Alle Macht den Sowjets« endlich im Widerstand gegen die bürokratische Parteiherrschaft hätten verwirklichen wollen. So habe die Erfahrung abermals bewiesen, daß der Staat als solcher - ob in »bürgerlicher« oder in »sowjetischer« Gestalt - »stets der Todfeind der Freiheit und Selbstbestimmung« sei.“ (Ebd., 2006, S. 359-360).

„Aber um die gleiche Zeit formulierte der finnische Kommunist S. A. Kataja die »proletarische Klassenfeindschaft« gegen die Bourgeoisie in der 1920 publizierten Broschüre »Der Terror der Bourgeoisie in Finnland« auf denkbar radikale Weise: Die Bourgeoisie habe in Finnland mit ihren angeblichen Vergeltungsmassnahmen nichts Geringeres erstrebt als »die Vernichtung der Arbeiterklasse«, und sie sei nichts anderes als »eine Klasse der Raubenden, Tötenden, Verwüstenden, die gestürzt, enteignet und beseitigt« werden müsse.“ (Ebd., 2006, S. 360).

„Daß die Russische Revolution im Begriff sei, ein ganz anderes Gesellschaftsgebilde hervorzubringen, als ihren Intentionen und Erwartungen entsprach, fand sogar in späten Äußerungen Lenins eine unzweideutige Formulierung (vgl. dazu die erstaunlichen Äußerungen Lenins, in: ders., Ausgeählte Werke, Band II, S. 926, 974f., bes. 998f.) und machte sich nicht zuletzt im Aufkommen einer »Arbeiteropposition« erkennbar, an deren Spitze mit Alexandra Kollontai eine verdiente Revolutionärin der ersten Stunde stand, die aber bald zusammen mit dem »Trotzkismus« niedergekämpft wurde.“ (Ebd., 2006, S. 360).

„Eine frühe und zukunftsweisende Warnung hatte Lenin bereits 1920 von dem holländischen Theoretiker des »Arbeiterkommunismus« Herman Gorter erhalten, die eine Antwort auf dessen Schrift über den linken Radikalismus als »Kinderkrankheit im Kommunismus« sein wollte. In seinem »Offenen Brief an den Genossen Lenin« wies Gorter darauf hin, daß es in Rußland, Polen und Ungarn keine »kräftige bürgerliche Klasse« gegeben habe und daß darin der Hauptunterschied zwischen Ost- und Westeuropa zu sehen sei. Für die »industriellen Völker« Westeuropas sei eine andere revolutionäre Taktik erforderlich, als sie unter Lenins Führung in dem russischen Bauernvolk erfolgreich gewesen sei. Hier sei die Gesellschaft ein geordneter Körper, zwar kapitalistisch geordnet, aber doch geordnet. Die Macht der in Westeuropa herrschenden (bürgerlichen) Ideologie sei auch in den proletarischen Individuen Englands lebendig. Aus dieser Einsicht resultiert die ungemein negative Vorhersage, die er dem »Genossen Lenin« übermittelt: »Sie werden die furchtbarste Niederlage erleiden und das Proletariat zu den furchtbarsten Niederlagen führen, wenn Sie mit dieser Taktik weitergehen.« (Ebd., S. 80).“ (Ebd., 2006, S. 360).

„Schließlich erwähne ich noch einen Titel, der zwar nicht von einem Kommunisten stammt, der aber implizit die Tragweite und das Recht der kommunistischen Konzeption anerkennt und doch eine grundlegende Verkehrung ins Auge faßt, die sich um 1925 bereits abzeichnete, das Büchlein von Albrecht Wirth über »Nationale Revolutionen«. Die universale Umsturzlehre der Kommunisten verwandle sich in der Regel in eine örtlich begrenzte nationale Bewegung. Das sei an vielen Beispielen, etwa demjenigen Kemal Paschas (gemeint ist: Atatürk; Anm. HB), in der Türkei, zu erkennen, und der schwarze Politiker Markus Garvey wolle sogar sämtliche Neger der Welt vereinigen. Bei unterdrückten Völkern entwickle sich notwendigerweise ein »völkischer Gedanke«, und der habe eine doppelte Wurzel: Sehnsucht nach äußerer Freiheit und Kampf gegen innere Schädlinge, die nicht in erster Linie die einheimischen Kapitalisten seien, sondern Gruppen wie die Wucherer, die Bürokraten, die Kommunisten, die Juden.“ (Ebd., 2006, S. 364).

„In der Tat wurde der Nationalsozialismus von den Kommunisten erst seit 1930 als ein Hauptfeind wahrgenommen, und sogar da nur unter wesentlichen Einschränkungen, da der Kampf gegen den »Sozialfaschismus« der Sozialdemokraten nicht abgeschwächt wurde und nach wie vor »der Kapitalismus« als der eigentliche Feind galt, der lediglich neue Masken vor das Gesicht zog, im Hintergrund Intrigen spann und Manöver in Gang setzte. Allerdings wurde das Moment des »Nationalen« nun in der Regel nicht mehr als ein bloßer Betrugsversuch gegenüber den Arbeitern abgetan, die nach Marx »kein Vaterland« hatten und nach Thälmann nur das »sowjetische Vaterland« liebten, denn der Nationalsozialismus war bereits seit Ende 1929 in unübersehbarem Aufstieg begriffen, und die Programmerklärung zur »nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes« war dazu bestimmt, dem linken Flügel des Nationalsozialismus mit dem Gedanken entgegenzukommen, daß die Existenz »unterdrückter Nationen« nicht in Abrede gestellt werden könne und daß dem Konzept der »nationalen Befreiung« ein gewisses historisches Recht zuzuschreiben sei. So kam es zu »Berührungszonen« zwischen den beiden feindlichen Parteien, und Übertritte von der einen zur anderen wurden möglich, von denen der weitaus spektakulärste derjenige des Leutnants Richard Scheringer war. Aber kaum weniger auffallend, wenngleich im lokalen Rahmen verbleibend, war der Übertritt des Mannheimer Stadtpfarrers Erwien Eckert zur KPD, der in einer eigenen Broschüre dokumentiert wurde. Hier war nicht ein nationaler, sondern ein christlicher Impuls maßgebend, da die erste Aufgabe von Eckert darin gesehen wurde, die leidenden Schwestern und Brüder zu befreien. Unter dem tosenden Beifall von 7000 Anwesenden machte sich der protestantische Geistliche die Hauptforderung der Kommunisten zu eigen: »Der Kapitalismus muß sterben, damit das Volk leben kann.«“ (Ebd., 2006, S. 364-365).

„Aber auf der anderen Seite ging das Entgegenkommen der Kommunisten auf nationalsozialistische Thesen und Forderungen nun mehr und mehr so weit, daß auch offen eingestanden wurde, was von Anfang an als selbstverständlich angenommen werden durfte, nämlich daß der Kampf der Kommunisten ebensosehr den jüdischen wie den christlichen Kapitalisten galt, und es bedurfte keines tiefen Nachdenkens, um zu erkennen, daß dem für alle Kommunisten evidenten Komplement, nämlich daß jüdische und christliche Proletarier ebenso zusammengehörten, eine merkwürdige Schwäche innewohnte, weil nämlich jüdische Proletarier im Sinne von Industriearbeitern kaum zu finden waren. Jedenfalls stellte Walter Ulbricht, schon damals ein führendes Parteimitglied, in einer Rede über »Volksrevolution gegen den Faschismus«, die vom Zentralkomitee der KPD als Broschüre publiziert wurde, die Nationalsozialisten geradezu als Judenfreunde hin, indem er sagte, die Nazis hätten im Reichstag gegen die Millionärsbesteuerung gestimmt, damit »den christlichen und jüdischen Kapitalisten« ihre hohen Zinsen gesichert würden. (Rede des Genossen Walter Ulbricht vor Funktionären der KPD). Bei der Zusammenfassung der kommunistischen Forderungen ließ er die Unterscheidung als etwas Sekundäres aber wieder fallen und berief sich auf »das leuchtende Vorbild der Sowjetunion«, das dem arbeitenden Volke zeige, »daß die Verjagung der kapitalistischen Schmarotzer, der Großindustriellen, Bankiers, Junker, Großkaufleute, bürgerlichen Politiker, Arbeiterverräter, Spekulanten und Schieber und die Zerschlagung ihres Machtapparates die Voraussetzung des Sozialismus ist«. Es ließ sich also gar nicht übersehen, daß die Geringschätzung der Kommunisten für den nationalsozialistischen »Antisemitismus« darin ihre Ursache hatte, daß damit nur ein kleiner Teil eines viel umfassenderen Vernichtungs- und Säuberungsprojekts zwecks Irreführung des Publikums herausgenommen und überdies durch eine biologistische Vorstellung von »den« Juden verunstaltet wurde. Kommunismus schloß also einen richtig verstandenen »Antisemitismus« ebenso gut ein, wie er Antimilitarismus und Anti-Kommerzialismus in sich schloß. Ganz in diesem Sinne heißt es in der ebenfalls von der KPD herausgegebenen Broschüre »Wer regiert? Wer kommandiert? Wer toleriert?«:  »Die Jakob Goldschmidt und Katzenellenbogen sind nicht die einzigen Schuldigen, neben ihnen sitzen so ›nationale Männer‹ wie Borsig ... und Thyssen auf der Anklagebank. .... Das ganze System ist schuld«; die Hitglerpartei aber ist eine Systempartei und »stützt dieses zusammenbrechende, verfaulte kapitalistische System«. Ganz ähnlich lautet die Anklage in der Broschüre: »Worte und Taten - Die Nazis entlarven sich selbst« (1931 veröffentlicht): Hitler sei tief in den »Morast der Erfüllungspolitik« hineingestiegen und erweise sich endgültig als »Lakai der ausländischen Young-Regierungen und Großbankiers«. Er habe einen unglaublichen Briefwechsel mit dem »französischen Nationalchauvinisten Hervé« (er war bis 1914 einer der radikalsten unter den französischen Sozialisten) geführt und seine Partei habe die Gehälter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers bewilligt. Die NSDAP sei daher nichts anderes als die »Schutztruppe des internationalen Kapitals gegen den Bolschewismus und die Schutztruppe des deutschen Bürgertums gegen die rote Klassenfront des Proletariats«.“ (Ebd., 2006, S. 365-366).

„Noch weit mehr als in der vorhergehenden Periode war die KPD gezwungen, die scharfen Angriffe ihrer Feinde gegen die Sowjetunion zurückzuweisen, denn es ließ sich nun nicht mehr in Abrede stellen, daß sich hinter den sorgfältig gesicherten Grenzen des großen Landes ungeheure Ereignisse vollzogen: die Enteignung, Vertreibung und partielle Vernichtung einer mehrere Millionen von Menschen umfassenden Klasse (schon damals sprach man von 30 Millionen Opfern - heute spricht man von über 40 Millionen Opfern; Anm. HB), nämlich des besser gestellten und also »kleinbürgerlichen« Teils der russischen Bauern (für westliche Verhältnisse: sehr kleinbäuerlich, denn wer in der Sowjetunion eine Kuh besaß, war »Bourgeois«, also »Klassenfeind« und wurde ermordet; Anm. HB), so daß diejenige Literatur, die man als »antibolschewistische Hetzliteratur« bezeichnete, einen unübersehbaren Aufschwung nahm.“ (Ebd., 2006, S. 366).

„Anton Erkelenz war ein »bürgerlicher Politiker« und Abgeordneter der DDP, der mit großer Energie gegen Hitler Stellung bezog und ein noch nicht sehr bekanntes Schlagwort zum wirkungsvollen Titel einer Broschüre machte: »Der Rattenfänger von Braunau - Die Tragödie Deutschlands« (1932 veröffentlicht). .... Wie die Kommunisten sieht er also in Hitler einen Strohmann von älteren und stärkeren Kräften, aber eben diese Kommunisten sind für ihn nicht Bündnispartner, sondern »Steigbügelhalter des Faschismus«. Wenn es in Deutschland einen Politiker gab, der ein noch weit entschiedenerer Nationalist war und sein wollte als Hitler, dann war es Ernst Niekisch.“ (Ebd., 2006, S. 368).

„Herbert Weichmann, Sozialdemokrat jüdischer Herkunft, enger Mitarbeiter des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun und nach dem Krieg Regierender Bürgermeister von Hamburg, hat 1932 zusammen mit seiner Frau Elsbeth unter dem Titel »Alltag im Sowjetstaat« einen Bericht über eine Reise durch die Sowjetunion veröffentlicht. Was die beiden - offensichtlich Individualreisende und nicht Mitglieder einer Delegation - in Rußland gesehen haben, ist »das Bild eines einheitlichen klassenlosen Elends«, in dessen Rahmen zwei oder drei Familien bei ganz niedrigem Lebensstandard in winzigen Zweizimmerwohnungen hausen. Jeder Tag in Rußland sei »Alltag, hastender, rauchiger, vom Lärm der Maschinen und vom Kampfe der Menschen erfüllter Alltag. .... Das Privatleben ist verfemt und soll es sein«. Alle »bourgeoisen Elemente« sind vom Bezug der Lebensmittelkarten ausgeschlossen. Der angebliche Arbeiterstaat ist in Wirklichkeit eine Arbeiterkaserne. Die Ursache alles dessen ist für die beiden Reisenden jedoch nicht die Ideologie des Kommunismus, sondern der sehr »staatliche« Tatbestand, daß riesige Mengen an Lebensmitteln und Industrieprodukten gegen gute Devisen ins Ausland verkauft werden, also etwas ganz anderes als der »Aufbau des Sozialismus«, der zur gleichen Zeit in der kommunistischen Broschürenliteratur mit so leuchtenden Farben geschildert wird. Allem Anschein nach führt nicht eine vorgefaßte Abneigung den beiden Autoren die Feder ....“ (Ebd., 2006, S. 369).

„Eine radikale Verwerfung des ganzen kommunistischen Projekts war schon 1919 von seiten eines Mannes erfolgt, der nach seinen Präzedentien zum engsten Kreis der Spartakisten hätte zählen sollen, nämlich Paul Lensch, bis 1914 ein Anhänger Rosa Luxemburgs und am 4. August Teilnehmer an der Versammlung einiger weniger Personen in deren Wohnung, die nach der Zerstörung ihrer sozialistischen Hoffnungen infolge der Zustimmung der sozialdemokratischen Fraktion zu den Kriegskrediten mühsam genug ihre Fassung zurückzugewinnen suchten. Aber Lensch hatte dann im Krieg zu jenen Sozialdemokraten gehört, welche die marxistische Revolutionskonzeption auf die neue Lage anzuwenden versuchten .... Aber die Männer und Frauen um Rosa Luxemburg seien durchaus im Unrecht, weil sie das Dilemma der SPD, die nun mit der Psychologie einer unterdrückten Klasse und der unerschütterten Doktrin einer radikalen Oppositionspartei an der Spitze des Staates stehe, nach rückwärts zu lösen versuchten, nämlich durch die alte marxistische Doktrin des Klassenkrieges zwischen unversöhnlichen Gruppen. So sei sie zur Partei eines Bürgerkrieges geworden statt zur führenden Partei des am weitesten entwickelten Sozialstaats der Welt ([**|**|**]; auch schon zur Zeit des 2. Kaiserreiches [**]). Die deutschen Kommunisten, glücklicherweise nur eine Minderheit gegenüber der Masse der Anhänger einer modernen und zeitgerechten SPD, wären mithin die eigentlichen Reaktionäre, deren Weg ins Verderben führen müsse. Lensch selbst aber blieb nicht in dieser neuen SPD, sondern er beendete 1926 sein Leben als Chefredakteur der von allen Sozialdemokraten als »schwerindustriell« eingestuften »Deutschen Allgemeinen Zeitung«.“ (Ebd., 2006, S. 369).

Broschürenliteratur der Nationalsozialisten

„Leidenschaftlicher Widerstand gegen ein großes Unrecht kam gegenüber den Forderungen der westlichen Siegermächte und damit gegen »Versailles« (Diktat!) früh zum Vorschein, aber es war eine abwehrende und auch von Selbstkritik begleitete Leidenschaft .... Ganz neuartig war dagegen der Widerstand, der einem zuvor völlig unbekannten Phänomen begegnete, einem politischen und ökonomischen Umsturz in einem fremden Land, ..., dem Bolschewismus. Ihm gegenüber waren Emotionen möglich, die gegenüber dem Westen (den Allierten des Westens; Anm. HB) fehlten: Entsetzen wegen präzedenzloser Schreckenstaten und auch ein Empfinden des eigenen Rechts angesichts eines exorbitanten Anspruchs. So schrieb etwa eine Münchener Zeitung im März 1919 unter der Überschrift »Das wahre Gesicht des Bolschewismus«, der sozialdemokratische Pressebeirat der deutschen Botschaft bei den Regierungen Lettlands und Estlands habe eine kleine Flugschrift herausgegeben, die voll von Beweisen »für die Abscheulichkeiten und bestialischen Mordtaten der Bolschewiki in den Ostseeprovinzen« sei und von der »grauenerregenden Entartung jener Vorkämpfer des Bolschewismus« zeuge, »die auf baltischem Boden unbeschreibliche Verbrechen begangen« hätten. (Vgl. Münchener Neueste Nachrichten, 23.03.1919). Aus unmittelbarer physischer Nähe und großer geistiger Distanz, die eine weit ausholende Interpretation möglich machte, redigierte der damals recht bekannte Dichter Dietrich Eckart in den Monaten vor, während und nach der Räterepublik sein Blättchen »Auf gut deutsch« , das aus den Ereignissen der Gegenwart eine Deutung der Weltgeschichte im Ganzen ableiten wollte, und zwar mittels der Entgegensetzung eines »christlichen« und eines »jüdischen« Prinzips, einer Entgegensetzung, die indessen nicht im philosophischen Raum verblieb, sondern etwa durch die von Otto v. Kursell gezeichneten Porträts von Bela Kun, Trotzki und anderen Juden ein Entsetzen hervorzurufen suchte, das für den Zeichner und den Herausgeber schwerlich eine bloße Erfindung war. Und aus Reval kam völlig mittellos der Baltendeutsche Alfred Rosenberg, der nun als Mitarbeiter Eckarts die in Rußland beinahe selbstverständliche Auffassung verbreitete und zuspitzte, daß Juden die eigentlichen Träger der Revolution in Rußland und Urheber des Terrors der Tscheka seien. Die ersten Schriften, die er veröffentlichte, zeugen schon durch ihre Titel von einer Interpretation, die das in Rußland Geläufige zuspitzte und isolierte und offenkundig das Bestreben hatte, der marxistischen Geschichtsphilosophie ein Gegenstück entgegenzusetzen, in dem »der Jude« eine noch größere und frühere Rolle spielte als »die Kapitalisten« im Marxismus: »Die Spur des Juden im Wandel der Zeiten« (erschien 1919) und »Pest in Rußland« (erschien 1922).“ (Ebd., 2006, S. 371-372).

„Wie mächtig diese Atmosphäre auf den jungen Kriegsheimkehrer, »Bildungsoffizier« und künftigen Parteigründer Adolf HitIer wirkte, ist gerade denjenigen Passagen in »Mein Kampf« zu entnehmen, in denen die stärkste und am meisten »geschichtsphilosophische« Leidenschaft zum Ausdruck kommt. Das nationalistische und gegen »Versailles« (Diktat!) gerichtete Moment findet in Hitlers frühen Reden einen weniger prononcierten und individuellen Ausdruck, wie ja im Ganzen die frühen Verlautbarungen von Hitlers Partei oft genug von den Streitschriften alldeutscher und vulgärantisemitischer Herkunft kaum zu unterscheiden sind. Aber auch das antibolschewistische Moment war alles andere als ein Alleinbesitz der Nationalsozialisten Eduard Stadtler, einst Jugendführer des Zentrums, entfaltete nach seiner Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft schon ab Ende 1917 eine hektische Aktivität der Warnung vor den Gefahren des Bolschewismus, und unter der Ägide seines »Generalsekretariat zum Studium und zur Bekämpfung des Bolschewismus« publizierte 1919 der Baltendeutsche Paul Schiemann, der bald als Minderheitenpolitiker im lettischen und europäischen Rahmen erhebliche Bedeutung gewinnen sollte, seine Schrift »Die Asiatisierung Europas«, die einen anderen Schlüsselbegriff zum Verständnis des verstörenden Phänomens des Bolschewismus anbot, indem sie den gewalttätigen Egalitarismus in den Dienst des »asiatischen Machtgedankens« der Attila und Dschingis Chan gestellt sah. Aber noch könne er sich auf die simplen Vorstellungen der »Proletarier« als der »vertretbaren Arbeiter« stützen, und die rettende Gegenbewegung könne nur in der »Kultivierung des Proletariats« und in der Selbstbehauptung der »germanischen Persönlichkeit« bestehen.“ (Ebd., 2006, S. 372).

„Indessen wäre die Vermutung ganz falsch, die antibolschewistische Polemik habe sich nur auf der Rechten entfaltet. Franz Cleinow war offenbar, wie jener Beamte des Auswärtigen Amtes in Riga, ein Sozialdemokrat, und seine Schrift »Bürger; Arbeiter; rettet Europa! Erlebnisse im sterbenden Rußland« erschien 1920 im Berliner Verlag »Die Einheitsfront«. Cleinow war in Kiew - wie übrigens zur gleichen Zeit auch der frühere Diplomat und spätere Freund Hitlers Erwin von Scheubner-Richter in Riga - von den Bolschewiki verhaftet worden und mußte lange Wochen als Geisel für Radek mit zahlreichen Leidensgenossen in Todeszellen verbringen. Seine Behauptung, die Juden seien die Hauptträger der bolschewistischen Bewegung gewesen, ist um vieles glaubwürdiger als eine entsprechende These von Goebbels, zumal sie von der entgegengesetzten These flankiert wird, heute seien unter den wohlhabenden Klassen zahlreiche Juden zu finden. Auch was er von seiner Haft im Konzentrationslager Nowo-Pjeskov erzählt, ist von einer einseitigen Anklage weit entfernt.“ (Ebd., 2006, S. 372-373).

„Der antibolschewistischen und antimarxistischen Leidenschaft, von der Hitler seit seinen ersten Anfängen beherrscht wurde, trat erst allmählich eine nationale Leidenschaft von vergleichbarer Stärke an die Seite, und auch in der Öffentlichkeit dauerte es ja noch einige Zeit, bis nach den frühen Schriften von Ernst Jünger die ersten von einer »positiven Kriegserfahrung« zeugenden Romane publiziert wurden. Daher führe ich noch eine Stelle aus dem ersten Band von »Mein Kampf« an, also von 1925, der man übermäßiges Pathos vorwerfen mag, aber den Impuls genuiner Leidenschaft nicht absprechen sollte: »Mögen Jahrtausende vergehen, so wird man nie von Heldentum reden und sagen dürfen, ohne des deutschen Heeres des Weltkriegs zu gedenken. Dann wird aus dem Schleier der Vergangenheit heraus die eiserne Front des grauen Stahlhelms sichtbar werden, nicht wankend und nicht weichend, ein Mahnmal der Unsterblichkeit. Solange aber Deutsche leben, werden sie bedenken, daß dies einst Söhne ihres Volkes waren.« (Ebd., S. 182).“ (Ebd., 2006, S. 373).

„Mithin darf man sagen, daß zu etwa den gleichen Zeitpunkten nach dem Krieg die beiden großen radikalen Leidenschaften und Interpretationen der Epoche, die beide ihr festes Fundament in der Realität hatten, voll ausgebildet waren: der antikapitalistische Leninismus des Willens zum revolutionären Weg der Erringung einer ...Welteinheit und der antibolschewistische Weg der Selbstbehauptung von partikularen Realitäten wie »Deutschland« oder »Europa«. Jede der beiden Ideologien war nicht ohne historisches Recht, aber jede setzte dieses ihr Recht absolut und verfiel damit in ein Unrecht, das aus dem Abstand von fast hundert Jahren sehr leicht als solches erkennbar ist.“ (Ebd., 2006, S. 373).

„Aber schon durch Lenin wurde der Bolschewismus auf einen Weg gebracht, der die historischen Realitäten weit weniger übersprang und für Freunde wie Feinde verwirrend war. Im Jahre 1921 ermahnte er seine Nachfolger mit folgenden Worten: »Mache Versammlungen, aber regiere ohne das geringste Schwanken, regiere mit festerer Hand, als vor dir der Kapitalist regiert hat. Sonst wirst du ihn nicht besiegen. Denke daran, daß die Regierung noch strenger, noch fester sein muß als früher!«  (Ders., Werke, Band 33, S. 125).“ (Ebd., 2006, S. 373-374).

„Ein 1923 nach einem geglückten Münchener Unternehmen in ganz Deutschland siegreicher Nationalsozialismus wäre ohne Zweifel von der Übermacht seiner außen- und innenpolitischen Gegner erdrückt worden, und für einen höchst hypothetischen späteren Zeitpunkt konnte man so viel mit Bestimmtheit vorhersehen: Der Nationalsozialismus hatte nach seinen nur allzu deutschen und damit verbreitete Abneigung hervorrufenden Präzedentien nur wenig Chancen, die beste seiner Möglichkeiten friedlich oder mittels kurzer Kriege zu verwirklichen, nämlich die Einigung Europas im Zeichen der politischen Selbstbehauptung gegenüber den USA und der Sowjetunion. Wenn Hitler seiner antibolschewistischen Leidenschaft freien Raum geben würde, die Neutralität der »bürgerlichen« Staaten des Westens und die Sympathie des antibolschewistischen Teils der sowjetischen Bevölkerung gewänne, würde er nicht nur Europa einigen, sondern als europäisch-asiatische die stärkste aller Weltmächte gründen; wenn aber die Trivialitäten des staatlichen und nationalen Egoismus die Oberhand gewännen, würde er eine katastrophale Niederlage erleiden.“ (Ebd., 2006, S. 374).

„Erst ab 1925 kann ernsthaft von einer »nationalsozialistischen Broschürenliteratur« die Rede sein. Als deren Anfang darf man eine Rede des noch nicht einmal zum Gauleiter von Berlin ernannten Joseph Goebbels betrachten, die im Februar 1926 in Königsberg gehalten und dann als Broschüre in Zwickau publiziert wurde. Der Titel mußte in der damaligen Zeit als ungeheuer anmassend gelten, denn er lautete »Lenin oder Hitler«. Das Ziel bestand darin, den Nationalsozialismus als revolutionäre und linke Bewegung gleichgewichtig dem Bolschewismus entgegenzusetzen und damit auch die beiden Hauptfiguren als Personifizierungen ihrer Bewegungen auf dieselbe Ebene zu stellen. Das war nicht möglich, solange der Nationalsozialismus als Erscheinungsform der Rechten gesehen wurde. Daher unterscheidet Goebbels den Nationalsozialismus ebenso scharf von der Rechten wie von der Linken und sucht ihn als erfolgreiche Synthese zu verstehen: Er sei »aus dem bürgerlichen Verrat am nationalen und dem marxistischen Verrat am sozialistischen Gedanken entstanden und sei mithin nichts anderes als die Synthese zwischen »wahrem Sozialismus« und »wahrem Nationalismus«. Im Kern aber steht die Bewegung nach Goebbels dem Bolschewismus viel näher als dem bürgerlichen Nationalismus, denn er sieht als »die letzte Scheidung im Volk« diejenige in »die Schaffenden und die Raffenden, die Hungernden und die Satten«, und damit greift er auf die älteste Vorstellung der Linken zurück.“ (Ebd., 2006, S. 374-375).

„Aber wie kommt es bei dieser inneren Nähe der beiden Bewegungen zu der schroffen Feindschaft, die Goebbels nicht nur nicht in Abrede stellt, sondern voll bejaht? Dafür ist nach seiner Auffassung nur ein einziger Urheber verantwortlich, nämlich »der Jude«. Ihm schreibt er eine solche Macht zu, daß er sowohl in den westlichen Demokratien, die »zum Generalfeldzug gegen Sowjetrußland rüsten«, das Heft in der Hand hat, wie auch, freilich »versteckt«, im russischen Bolschewismus. Daher kennzeichnet er das Weimarer System als »bolschewistisch-jüdisch«, obwohl er doch kurz zuvor den Bolschewismus ebenso wie den Nationalsozialismus als »neue Idee« charakterisiert hatte.“ (Ebd., 2006, S. 375).

„Es wäre also nur allzu gut begründet gewesen, wenn die Gegner des humpelnden Nationalsozialisten aus der Rheinprovinz in seiner Broschüre einen weiteren Beweis für die ideologische Abhängigkeit des Nationalsozialismus vom Bolschewismus gesehen und von dem hilflosen Rückgriff auf eine mythologische Gestalt, nämlich »den Juden« als das erzböse Verhängnis der Welt, gesprochen hätten. Und selbst den Gedanken der »Welterlösung« hatte Goebbels ja vom Bolschewismus übernommen: »Wir wollen durch Deutschland die Welt erlösen und nicht durch die Welt Deutschland erlösen.« (Joseph Goebbels, Lenin oder Hitler - Eine Rede vom 19.02.1926 im Opernhaus in Königsberg in Preußen, 1926).“ (Ebd., 2006, S. 375).

„Auch zwischen 1929 und Anfang 1933 standen die Streitschriften von Nationalsozialisten gegen den Kommunismus nicht isoliert im intellektuellen Felde, und die kommunistische Behauptung, sie seien weiter nichts als ein Teil der »bürgerlichen« Polemik, konnte einleuchtend erscheinen. Aber was gemeinsam war, war sicherlich keine bloße Polemik, sondern hatte einen festen Grund in der Realität. Außerdem war dieses bürgerliche Lager tief gespalten, denn der linksliberale oder linksbürgerliche Flügel legte bis in die maßgebenden Presseorgane wie das »Berliner Tageblatt« und die »Frankfurter Zeitung« ein überwiegend positives Interesse an dem »russischen Experiment« an den Tag, das die Nationalsozialisten wiederum veranlaßte, gegen die »jüdische Presse« zu Felde zu ziehen.“ (Ebd., 2006, S. 375).

„Als Beispiel für die bürgerliche Affinität zum Nationalsozialismus führe ich eine Schrift an, die 1930 in Gladbach-Rheydt publiziert wurde und in den Umkreis des Mönchengladbacher »Volksvereins für das katholische Deutschland« gehören dürfte: Professor Dr. Ludwig Berg: »Was sagt Sowjetrußland von sich selbst? (1930). Auch hier läßt sich die Neigung zur Mythologisierung und Diabolisierung des Gegners erkennen, die bei den Kommunisten durch die »soziologische« und in Wahrheit höchst parteiliche Denk- und Redeweise überdeckt wurde. Im Osten stehe der Feind, schreibt Ludwig Berg, dämonisch sei sein Endziel, diabolisch seien die Methoden und Mittel seines Kampfes. Aber im Großen und Ganzen werden doch vornehmlich Aussagen sowjetischer Führer zitiert und tatsächliche Verhältnisse beschrieben oder interpretiert. Von Steuergerechtigkeit könne in der Sowjetunion keine Rede sein, denn der Bauer zahle auf 250 Rubel Einkommen ebenso viel Steuer wie der Industriearbeiter auf 3800 Rubel, die Zahl der Analphabeten aber betrage nach Aussagen des zuständigen Ministers 42 Prozent, während sie in Deutschland unter einem Prozent liege. (**|**|**). Die Zerstörung der Familie sei das unverhüllte Ziel der bolschewistischen Politik, man trenne die Kinder möglichst früh von den Eltern, und das sei ein Bestandteil der von Bucharin erhobenen Forderung, »alles auszurotten, was an die alte bürgerliche Ordnung erinnert«. Es sei nur konsequent, daß über Ehescheidungen innerhalb von Minuten entschieden werde. Die Verfolgung der Religionen sei umfassend, und auch der englische Oberrabbiner Dr. Hertz habe anklagende Worte gefunden. Nicht weniger als 1,5 Millionen Emigranten befänden sich in den westlichen Ländern und die Zahl der Opfer des Roten Terrors habe nach Professor Sarolea schon zu Anfang der 1920er Jahre an die zwei Millionen Tote betragen. Daß die Kritik des abgefallenen Diplomaten Bessedowski angeführt wird, ist nicht verwunderlich, aber Berg beruft sich auch auf den französischen Kommunisten Paul Marion, der einige Jahre später zusammen mit Jacques Doriot auf die Seite Hitlers übergehen sollte.“ (Ebd., 2006, S. 375-376).

„Der Nationalsozialist Hans Schemm behandelt in erster Linie das gleiche Thema, nämlich die völlige Zerstörung der überlieferten Lebensverhältnisse und auch der religiösen Lebenswelten, die von den Kommunisten ja ganz offen als Ziel proklamiert wurde, aber seine Ausdrucksweise ist doch um vieles emotionaler und »katastrophischer« als diejenige von Berg. In seiner Broschüre »Der Rote Krieg. Mutter oder Genossin?« (1931) taucht gleich zu Anfang der Ausdruck »Seelenpest« auf, die dabei sei, »Vernichtung und Chaos über die ganze Welt zu bringen«. Daher sei es klug, jeden Tag wenigstens einmal das Notgebet zu sprechen: »Behüte uns Gott vor Pestilenz, vor der Vernichtung durch das bolschewistische Tier.«“ (Ebd., 2006, S. 376-377).

„Europa aber liege in tiefem Schlaf. Nach Seite 16 finden sich Photographien von Lenin, Leviné, Bela Kun, Radek, Trotzki und Jurowsky, dem » Mörder der Zarenfamilie«. Das erste Glied von drei abschließenden Alternativen ist die »christliche Lebensbejahung«, die der »barbarischen Vernichtung« entgegengesetzt wird, und auf das Gegensatzpaar »Nationalsozialismus oder Bolschewismus« folgt »Hitler oder Stalin«.“ (Ebd., 2006, S. 377).

„Eine realere und festere Stütze erkennt ein »Reichsredner der NSDAP« namens Krischer in der elementaren Abneigung der gesamten deutschen Bauernschaft gegenüber dem Kommunismus, der ja schon in seiner Frühform bei Marx und Engels ausgesprochen bauernfeindlich gewesen sei. Die Bauern ständen nach ihrer ganzen Art den nationalsozialistischen Werten viel näher als die Arbeiter. Ganz ohne Wirkung ist für ihn indessen der kommunistische Versuch, Klassengrenzen innerhalb der Landbevölkerung sicht- und nutzbar zu machen, nicht geblieben, denn er sieht sich zu der Feststellung gezwungen, die Behauptung sei falsch, daß die KPD für die Kleinbauern und die NSDAP für die großen Landwirte eintrete. Der Nationalsozialismus verteidige vielmehr »die Interessen aller Schaffenden gegen die nur Raffenden«. Daher kann er die Titelfrage seiner Streitschrift »Kommt die rote Scholle?«  mit Nachdruck verneinen“ (Ebd., 2006, S. 377).

„Der wichtigste Vorkämpfer derjenigen, die darauf vertrauten, daß auch ein erheblicher Teil der deutschen Arbeiter den kommunistischen Aufruf zum »Klassenkrieg« ablehnten, war Reinhold Muchow, der Begründer der »Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation«. In seiner Schrift »Nationalsozialismus und ›freie Gewerkschaften‹« (1932) lehnt er sich stark an August Winnigs Begriff des »Arbeitertums« an und gelangt nach der Ablehnung des politischen Massenstreiks zu der Forderung, daß eine »Aristokratie von neuen Arbeiterführern der Hand und des Kopfes« herangebildet werden müsse, die »alle Brücken mit der alten liberalistisch-marxistischen Welt abbrechen werde und abbrechen könne, weil diese »neuen Aristokraten der Arbeit aus den Massen der heute entrechteten Proletarier emporsteigen und einen Staat gründen würden, in dem alle Deutschen »freie Volksgenossen« sein würden.“ (Ebd., 2006, S. 377).

„Die Erfolge Muchows und seiner Gesinnungsgenossen unter den Industriearbeitern blieben begrenzt, waren aber erheblich genug, um schon während der Weimarer Republik die Frage aufkommen zu lassen, ob die NSDAP sich nicht vielleicht doch die dritte deutsche »Arbeiterpartei« nennen dürfe; jedenfalls zählte sie nach ihrer Statistik schon vor Ende 1932 prozentual mehr Arbeiter in ihren Reihen, als die SPD an »Kleinbürgern« aufzuweisen hatte. Freilich machte diese Statistik auf ihre Weise evident, wie fragwürdig und unzureichend Begriffe wie »Arbeiter« oder »Kleinbürger« waren.“ (Ebd., 2006, S. 377-378).

„Einer der ensthaftesten nationalsozialistischen Versuche, sich mit dem Marxismus theoretisch auseinanderzusetzen, wurde 1932 von Albert Krebs vorgelegt, der eine Zeitlang Gauleiter in Hamburg war und später zum Kritiker Hitlers wurde. Schon der Titel »Vom Marxismus zum Sozialismus« (1932) hat etwas Frappierendes an sich, denn er dreht das marxistische Selbstverständnis, als »wissenschaftlicher Sozialismus« einem »utopischen Sozialismus« zu folgen, direkt um. Nach dem Urteil von Krebs will ja die kommunistische Gesellschaftsordnung »den Urzustand der kollektivistischen Dorfgemeinschaft auf der höheren Ebene des Maschinenzeitalters« wieder erneuern, und das »Kommunistische Manifest« konnte deshalb eine außerordentliche Wirkung entfalten, weil es an einfachste Sehnsüchte der gewöhnlichen Menschen anknüpfte und, wie man sagen könnte, archaisch und utopistisch zugleich war.“ (Ebd., 2006, S. 378).

„Demgegenüber sieht Krebs in dem gewerkschaftlichen Teil der Arbeiterbewegung positive Ansätze zu einer »organischen Volksgliederung«, die ein Hauptmerkmal des »deutschen Sozialismus« sein werde. Eine solche berufsständische Ordnung werde dem Staat seine autoritative Würde zurückgeben und seine Funktion als »Fürsorgeschwester« zugunsten einer kraftvollen Außenpolitik reduzieren. Er werde aber auf der anderen Seite eine Überspitzung der Staatsautorität zur Despotie einer Person oder einer Schicht verhindern. Von der weit über die Kommunisten hinaus verbreiteten Kritik am Kapitalismus als solchen - ohne die Verknüpfung mit utopistischen Zukunftsentwürfen - nimmt Krebs indessen nichts zurück: »Der Kapitalismus aber frißt sich selbst auf, weil die in den großen Konzernen und Trusts gezüchtete Bürokratie gar nicht mehr wagt, wirtschaftliche Notwendigkeiten gegen den Gewinnwillen der ... Aktionäre durchzukämpfen.« (Albert Krebs, Vom Marxismus zum Sozialismus, 1932, S. 18, 34).“ (Ebd., 2006, S. 378).

„In diesem Rahmen wird der »Antisemitismus« zwar nicht verleugnet, aber er nimmt eine untergeordnete Stellung ein .... Den positiven Teil des zur Nation gelangenden Sozialismus beschreibt Krebs gleichnishaft mit dem Gegensatz zwischen der rücksichtslosen Ausbeutung des Waldes durch den Kapitalismus und dessen ehrfürchtigen Pflege durch den künftigen »deutschen Sozialismus« in einer Weise, die man als »grünen Nationalsozialiismus« kennzeichnen könnte.“ (Ebd., 2006, S. 378-379).

„Dietrich Klagges blieb als häufig schreibender Autor in den »Nationalsozialistischen Briefen« und später als braunschweigischer Ministerpräsident immer in den orthodoxen Reihen, und seine Schrift »Kampf dem Marxismus« (1932) ist in weit höherem Maße eine polemische Broschüre als das Büchlein von Albert Krebs. Immerhin schreibt er dem Marxismus einen »auch wertvolle Menschen mitreißenden Schwung« zu, und er macht die nur indirekt polemische Bemerkung, die modernen Antriebsmaschinen könnten heute in Kleinbetrieben ebenso rentabel verwendet werden wie in Großbetrieben - so daß es nicht, wie im orthodoxen Marxismus, eine zwangsläufige Entwicklung hin zum Großbetrieb geben müsse. Aber er macht sich rasch die Hitler'sche Konzeption zu Eigen, daß die »Judenfrage« der »Schlüssel« zum Verständnis der modernen Entwicklung sei, und so gelangt er zu der Forderung, der Klassenkampf der Schaffenden müsse immer ausschließlicher ein Rassenkampf gegen das Judentum werden. Zwar gebe es auch nicht wenige »weiße Juden«, aber diese seien lediglich ein Werkzeug der »schwarzen Juden«. Der »wahre Sozialismus« unterscheide die »unmittelbare Arbeit« und die »Arbeit der Unternehmer«. Dadurch werde dann in einem zweiten Schritt der gerechte Ausgleich zwischen Arbeit und Eigentum gesichert.“ (Ebd., 2006, S. 379).

„Von einer überraschenden inneren Annäherung der deutschen extremen Rechten an den Bolschewismus hatte schon 1925 das eigenartige Buch des ehemaligen Stabschefs von Ludendorff, des Obersten Max Bauer, Zeugnis gegeben, der bei einer Reise durch die Sowjetunion den Eindruck gewonnen hatte, in diesem Land sei es um Ordnung und Disziplin besser bestellt als ... in den »am Dirnentum zurückgehenden Westvölkern«, deren Erbe einst das als Ganzes natürliche und gesunde russische Volk sein werde. (Vgl. Max Bauer, Das Land der roten Zaren - Eindrücke und Erlebnisse, 1925).“ (Ebd., 2006, S. 379).

„Zum wichtigsten Sprecher einer solchen »Ostorientierung« innerhalb der NSDAP machte sich bekanntlich Otto Straßer, und seine Artikel in den »Nationalsozialistischen Briefen« wie »Die Krise des Kommunismus« und »Der Sowjetstern geht unter« wollen irn Sieg Stalins den Triumph russischer Nationalisten über Trotzki und die marxistischen Internationalisten« erkennen. Aber wenn Straßer auch »Internationalismus« und »jüdische Intellektuelle« weitgehend gleichsetzt, ist er doch von einem Begriff wie »Pest in Rußland« weit entfernt, und die Aufrichtigkeit seines »Sozialismus« läßt sich nicht in Zweifel ziehen, auch wenn er nicht einmal einen größeren Teil des linken Flügels dazu bewegen konnte, mit ihm zusammen die Partei Hitlers zu verlassen.“ (Ebd., 2006, S. 379-380).

„Aber die verstörende Tatsache der »Entkulakisierung« durch den »Nationalisten« Stalin, die als die Vernichtung des agrarischen »Kleinbürgertums« die zweite große Klassenvernichtung durch den Bolschewismus war, blieb in Deutschland nicht unbemerkt, und die Dokumentation »Brüder in Not« des Evangelischen Preßverbandes in Deutschland über den »Massentod und die Verfolgung deutscher Glaubens- und Volksgenossen im Reich des Bolschewismus« erschien zwar erst 1933, war aber keinesfalls ein Produkt nationalsozialistischer Propaganda. Die abgedrucken Briefe von evangelischen deutschen Bauern sind voll von erschütternden Wendungen: »O Bruder, ich bitte um Jesu willen, bitte, bitte, helfen Sie uns, daß wir nicht sterben. .... Es sterben viele, ohne Sarg werden sie ins Grab gelegt ..., aber noch nicht ein Wort Gottes wird gesprochen, da wird die Internationale gesungen.« Zwar wird ausdrücklich herausgestellt, daß von allen Gegenden, d.h. den USA, Deutschland und Holland, Hilfe herbeiströme, aber das sei auch die einzige Hoffnung. »Wenn nicht, dann müssen wir hier alle umkommen.« Die Geistlichen seien ohne Anspruch auf Wohnfläche und »auf die Stufe von rechtlosen Bettlern herabgedrückt.« Im Kommentar heißt es, das deutsche Volkstum evangelisch-lutherischen Bekenntnisses befinde sich im schwersten Kampf mit dem Bolschewismus ..., die religionsfeindliche Vergewaltigung solle es »im innersten Kern seiner Seele treffen und vernichten«.“ (Ebd., 2006, S. 380).

„Aber die evangelischen deutschen Bauern waren nur ein Teil der westlichen Christen, und die Hilfe aus Holland und den USA galt vornehmlich den Mennoniten. Die Millionen der russischen Kulaken hatten keinen Zugang zu Glaubens- und Schicksalsgenossen im Westen. Wenn man auch ihre Klagen und Tränen hätte aufzeichnen und dokumentieren können, wäre ein Riesenbuch von Verfolgung, Elend und Tod entstanden. Es war 1932 nur allzu evident, daß sich in dem großen russischen Staat ein Phänomen entfaltet hatte, dessengleichen es in der Welt noch nie gegeben hatte. Die Vermutung war naheliegend, die in Deutschland existierenden Parteien mit ihren Wurzeln im 19. Jahrhundert seien unfähig, auf das Ungeheuerliche eine angemessene Antwort zu geben. Hier lag einer der Gründe, weshalb die »neue« Massenpartei, der Nationalsozialismus, so stark war und so viele Menschen überzeugte.“ (Ebd., 2006, S. 380).

„Andererseits steckte in den nationalsozialistischen Empfindungen und Konzeptionen so viel von denjenigen Empfindungen und Konzeptionen, die das ältere Phänomen des Kommunismus kennzeichneten, daß unmöglich jene Totalverdammung und bloß negative Interpretation als angemessen gelten durfte, die im Münchener Flügel der NSDAP vorherrschte. Vielleicht hatte der genuine, der einst in Deutschland geborene Sozialismus bloß wegen der vormodernen Verhältnisse in Rußland Deformationen erlitten, und vielleicht würde er eines Tages wieder im alten Glanz erstrahlen. Nur die Überheblichkeit der Nachgeborenen kann aus der Kenntnis des weiteren Geschichtsverlaufs den Zeitgenossen, die mindestens in Deutschland sich einer welthistorisch präzedenzlosen Situation ausgesetzt sahen, harte Anklagen ins Gesicht schleudern. Und nicht zuletzt ist das Schwanken respektabel, das nicht ganz wenige Kommunisten zu den Nationalsozialisten führte und einige Nationalsozialisten zu den Kommunisten. Dabei dürfte der Eindruck schwerlich täuschen, daß in den letzten Monaten vor dem 30. Januar 1933 der Weg vom Nationalsozialismus zum Kommunismus häufiger gewählt wurde als der umgekehrte.“ (Ebd., 2006, S. 380-381).

„Es kann keinen Zweifel geben, daß die oft wiederholte Behauptung mindestens ansatzweise richtig ist, ganze SA-Stürme hätten zumal in Berlin zum guten Teil aus ehemaligen Kommunisten bestanden. Immerhin ein bekannter Kommunist, Berthold Karwahne, schloß sich den Nationalsozialisten an und wurde Reichstagsabgeordneter. In der nationalsozialistischen Presse fanden sich nicht selten Berichte von kommunistischen Arbeitern, die voller Hoffnung in die Sowjetunion ausgewandert waren und nun tief enttäuscht zurückkehrten. Als Broschüre hat einer dieser Berichte den Titel »Als Kommunist nach Sowjet-Rußland; als Nationalsozialist zurück«. Der Verfasser hieß Jakob Berlon und rühmte sich, einst an den Ruhrkämpfen beteiligt gewesen zu sein. Aber die bittersten Erfahrungen hätten ihn belehrt, daß sich in Deutschland viel besser und freier leben lasse als in Rußland und daß es notwendig sei, sich in diejenige Partei einzureihen, die am entschiedensten gegen die Übertragung dieser Verhältnisse auf Deutschland kämpfe. So lautet die Schlußwendung: »Auch Du, deutscher Arbeiter erwache. .... Tod dem Marxismus! Es lebe der nationale Sozialismus! Heil Hitler!«“ (Ebd., 2006, S. 381).

„Doch die Authentizität solcher Berichte konnte in Frage gestellt werden, und sie wurde von Kommunisten nicht selten angezweifelt. Aber daß eine ganze Gruppe die kommunistische Führung verlassen hätte und zu den Nationalsozialisten übergegangen wäre, wurde nie zu einer Realität. Dagegen waren Männer wie Bodo Uhse, Bruno von Salomon und Beppo Römer in der nationalsozialistischen Partei oder in deren Umgebung recht bekannt, und sie gingen unter großer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu den Kommunisten über. So gab es kein Analogon zu der Broschüre »Los von Hitler«, die gegen Ende 1932 vom »Kampfbund gegen den Faschismus« herausgegeben wurden und in der der ehemalige Leiter der SA-Führerschule Gau Brandenburg, W. Korn, und der ehemalige Gaupropagandaleiter der NSDAP Hessen, K. Kees, zu Wort kamen. Ihre Kritik an Hitler bezieht sich vornehmlich auf dessen »antirevolutionären« Kurs, innerhalb dessen sogar eine Koalition mit dem Zentrum ins Auge gefaßt werde, und das sei ein Kurs, der allem ins Gesicht schlage, was Hitler, Straßer und Goebbels ihren Anhängern seit Jahren erzählt hätten. Der groß herausgestellte Radikalismus der NSDAP sei ein bloßer Scheinradikalismus, der schlecht genug die Zusammenarbeit der von den »Trustkönigen« gekauften Partei mit ihren Auftraggebern verdecken solle. Goebbels und Hitler schrien zwar »Die Juden sind schuld«, aber noch kein jüdischer Bankier sei von SA-Leuten auch nur belästigt worden.“ (Ebd., 2006, S. 381-382).

„Offenbar hatte die Geradlinigkeit der KPD mit ihrer nie veränderten Feindschaft gegen die »ausbeuterische« Unternehmer- und Marktwirtschaft ... ihre Anziehungskraft für »die Arbeiterklasse« und erhebliche Teile der Intellektuellen trotz aller »Hetze« gegen Sowjetrußland nicht verloren. Für Hitler war es viel schwieriger, die Vielfalt der Tendenzen, die sich in Entsprechung zur »pluralistischen« Natur des Liberalen Systems in seiner Partei zusammengefunden hatten, zu bündeln und zusammenzuhalten. Am Ende des Überblicks über die Broschürenliteratur drängt sich die Frage auf, ob Hitler nicht auch ein Getriebener war, der einen Radikalismus eigener Art entwickeln mußte, wenn er sich gegenüber einem so mächtigen Feinde behaupten wollte, einen »antisemitischen« Radikalismus freilich, durch den er sich schon seine erste Begegnung mit der marxistischen Arbeiterbewegung verstehbar gemacht hatte, so daß er als Handlungsanleitung dienen konnte.“ (Ebd., 2006, S. 382).

Anhang: Parteien der Weimarer Republik (von Hubert Brune)

- Nationalversammlung und Reichstag (Sitzverteilung in Prozent) -
 KPD (einschließlich USPD)**SPDZentrumBVPSonstige Parteien DDP (ab 1930 DStP)**DVP**DNVP**NSDAP
19.01.1919  5,2338,7221,62-  1,6617,81  4,5110,45-
06.06.192019,1722,2213,944,58  1,96  8,5014,1615,47-
04.05.192413,1421,1913,773,39  6,14  5,93  9,5320,13  6,78
07.12.1924  9,1326,5814,003,85  5,88  6,5010,3420,89  2,84
20.05.192811,0031,1612,633,2610,37  5,09  9,1614,87  2,44
14.09.193013,3424,7811,793,2912,48  3,47   5,20  7,1118,54
31.07.193214,6421,8812,343,62  1,81  0,66  1,15  6,0937,83
06.11.193217,1220,7211,993,42  2,05  0,34  1,88  8,9033,56
05.03.193312,5218,5511,282,94  1,08  0,77  0,31  8,0444,51
- Gewinn und Verlust gegenüber der jeweils vorherigen Wahl (gewonnene und verlorene Sitze in Prozent) -
 KPD (einschließlich USPD)**SPDZentrumBVPSonstige Parteien DDP (ab 1930 DStP)**DVP**DNVP**NSDAP
12.01.1912Wahlen vor dem Ende des 1. Weltkrieges bleiben unberücksichtigt, weil hier ja nur Wahlen der Weimarer Republik behandelt werden sollen!
19.01.1919    +5,23**–11,02  –1,28      +7,21**    –6,79**    –3,85** 
06.06.1920+13,94  –16,50  –7,68+4,58+0,30–9,31+9,65+5,02 
04.05.1924–6,03–1,03–0,17–1,19+4,18–2,57–4,63+4,66+6,78
07.12.1924–4,01+5,39+0,23+0,46–0,26+0,57+0,41+0,76–3,94
20.05.1928+1,87+4,58–1,37–0,59+4,49–1,41–1,18–6,02–0,40
14.09.1930+2,34–6,38–0,84+0,03+2,11–1,62–3,96–7,76+16,10  
31.07.1932+1,30–2,90+0,55+0,33–10,67  –2,81–4,05–1,02+19,29  
06.11.1932+2,48–1,16–0,35–0,20+0,24–0,32+0,71+2,81–4,27
05.03.1933–4,60–2,17–0,71–0,48–0,97+0,43–1,57–0,86+10,95  
National-versammlung, 19.01.1919Wahl zum Reichstag, 06.06.1920Wahl zum Reichstag, 04.05.1924Wahl zum Reichstag, 07.12.1924Wahl zum Reichstag, 20.05.1928Wahl zum Reichstag, 14.09.1930Wahl zum Reichstag, 31.07.1932Wahl zum Reichstag, 06.11.1932Wahl zum Reichstag, 05.03.1933
KPD (einschließlich USPD)
SPD
Zentrum
BVP
Sonstige Parteien
DDP (ab 1930: DStP)
DVP
DNVP
NSDAP

Reichstagswahlen von 1919 bis 1933

Nationalversammlung und Reichstagswahlen

KPD (bis zum 20.05.1928 einschließlich USPD)
SPD
Zentrum
BVP
Sonstige Parteien
DDP (ab 1930: DStP)
DVP
DNVP
NSDAP
Diese Graphik wird im Internet häufig falsch interpretiert. Darum habe ich einen Text in die Graphik geschrieben, um zu verdeutlichen, daß es sich nicht einfach um den graphischen Linien entsprechende Entwicklungen handelt, sondern um Tendenzen, die sich aus den Daten der Wahlen ergeben. Die diese Daten verbindenden Linien stellen keine echten historischen Entwicklungen, sondern allenfalls Tendenzen dar. Vorschnelles Deuten bringt nichts außer der Bestätigung der sowieso schon anwesenden Vorurteile. Wer Internetianer sein will, muß erst einmal ein guter Interpret sein können.

Zitate: Hubert Brune, 2007 (zuletzt aktualisiert: 2009).

 

Anmerkungen:


Das „Liberale System“ ist laut Ernst Nolte u.a. dadurch charakterisiert, daß zu ihm wie selbstverständlich auch der Links-Sozialismus (z.B. Kommunismus, Marximus u.ä.) und der Rechts-Sozialismus (z.B. Faschismus, Nationalsozialismus [„Radikalfaschismus“, so Nolte] u.ä.) gehören. „Erst viel später wurde mir der Begriff des »Liberalen Systems« geläufíg, welches in seinem Ursprung das »europäische System« des Neben- und Miteinanders geschichtlicher Kräfte ist, die zunächst den Gegner vernichten wollen und sich doch damit begnügen müssen, ihn zu schwächen und zurückzudrängen, um dann an seiner Seite einen Platz einzunehmen, der den eigenen Erwartungen nicht entsprach, der aber das Ganze reicher und vielfältiger sein läßt, als der Teil es mit seinem Abolutheitsanspruch je hätte sein können. So erging es dem Protestantismus, der Aufklärung, dem Positivismus und der Lebensphilosophie, und schon in der Einheit des »mittelalterlichen« Katholizismus gab es eine Spaltung oder - besser - eine Differenzierung zwischen Staat und Kirche, zwischen Monarchie und Adel, zwischen Bürgerstädten und Landbevölkerung. Bis in die jüngste Zeit ist keiner dieser Faktoren völlig untergegangen ....“ (Ernst Nolte, Der kausale Nexus, 2002, S. 340-341 **). Vgl. auch die im „Liberalen System“ enthaltenen „Liberalismus“ und „Liberismus“.

Der Begriff „Liberismus“ „sucht ein bestimmtes Entwicklungsstadium dessen zu fassen, was ich das »Liberale System« genannte habe. »Liberismus« ist ein Entwicklungsmoment dieser vielpoligen Gesellschaft, mit dem der Liberalismus in gewisser Weise totalitär wird. Aber der totalitäre Liberalismus weist grundsätzlich andere Merkmale auf als andere Totalitarismen: er ist hedonistischer Individualismus und damit die Verneinung des Begriffs der Pflicht. Insofern ist der liberale Totalitarismus von präzendenzloser Art.“ (Ernst Nolte, in: JF, 03.07.1998 **). Der Liberalismus ist ja schon von seinem Anfang an verknüpft mit dem Glauben an den Individualismus und tendiert zum Anarchismus; darum verwundert es nicht, daß er, indem er immer totalitärer wird - als „Liberismus“, so Nolte -, den endgültigen Untergang der Gemeinschaft bedeutet. Darüber hinaus ist der Liberalismus der Grund für sein eigenes Verschwinden, denn er muß ja gemäß seines Selbstverständnisses auch tolerant gegenüber denjenigen sein, die ihn abschaffen.

François Noël Babeuf (1760-1797, hingerichtet), genannt „Gracchus“, entwickelte sozialrevolutionäre Ideen einer »Republik der Gleichen«, in der das Privateigentum abgeschafft werden sollte. Nach Fehlschlag seines gegen die Direktorialregierung gerichteten Umsturzversuchs im Mai 1796 wurde er 1797 mit einigen Mitverschwörern zum Tode verurteilt und hingerichtet. Babeufs Ideen wirkten auf den europäischen Kommunismus.

Vorläufer der DDP (Deutsche Demokratische Partei) war bis 1918 die FVP (Fortschrittliche Volkspartei), die 1910 aus der Fusion mit der Freisinnigen Volkspartei (FVP), der Deutschen Freisinnigen Partei (DFP; von 1884 bis 1893; von 1893 bis 1910: Freisinnige Vereinigung) und der Deutschen Volkspartei (DVP; 1868 geründet) hervorging. Bei der Reichstagswahl vom 12.01.1912 erreichte die FVP 12,3% der Wählerstimmen und 10,6% der Sitze im Reichstag.

Vorläufer der DVP war die NLP (Nationalliberale Partei), zum Teil aber auch der rechte Flügel der FVP (Fortschrittliche Volkspartei), die 1910 aus Fusion mit der Freisinnigen Volkspartei (FVP), der Deutschen Freisinnigen Partei (DFP; von 1884 bis 1893; von 1893 bis 1910: Freisinnige Vereinigung) und der Deutschen Volkspartei (DVP; 1868 geründet) hervorging. Bei der Reichstagswahl vom 12.01.1912 erreichte die NLP 13,6% der Wählerstimmen und 11,3% der Sitze im Reichstag.

Vorläufer der DNVP war die Deutschkonservative Partei, dazu auch die Freikonservative Partei, die sich auf der Reichsebene Deutsche Reichspartei (DRP) nannte, die Deutsche Vaterlandspartei, der Alldeutsche Verband, die Christlichsozialen, die Deutschvölkischen und verschiedene sehr kleine konservative Parteien. Bei der Reichstagswahl vom 12.01.1912 erreichte die Deutschkonservative Partei 8,5% der Wählerstimmen und 10,8% der Sitze im Reichstag, die Deutsche Reichspartei 3,0% der Wählerstimmen und 3,5% der Sitze im Reichstag., während die anderen Parteien nur sehr geringe Erfolge erzielen konnten.

Vorläufer von USPD und KPD war die SPD. Die Gegner der Zustimmung zu den Kriegskrediten wurden aus der SPD ausgeschlossen und bildeten im März 1916 die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft. Vom 6. bis 8. April 1917 konstituierte sich dann in Gotha die USPD (Unabhägige Sozialdemokratische Pratei Deutschlands). Unter Vorsitz von Hugo Haase (stimmte 1915 gegen die Kriegskredite, leitete seit März 1916 die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft und seit Ostern 1917 die USPD) und Wilhelm Dittmann (stimmte 1915 gegen die Kriegskredite, wurde im März 1916 Mitbegründer und Vorstandsmitglied der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft und im April 1917 Mitbegründer und Vorstandsmitglied der USPD) wurde sie eine Massenpartei. Nach der Novemberrevolution 1918 war sie bis Jahresende neben der SPD im Rat der Volksbeauftragten vertreten. Auf dem Parteitag in Halle (a.d. Saale) im Oktober 1920 kam es zur Spaltung der USPD: Die linke Mehrheit der Delegierten beschloß die Vereinigung mit der KPD, die sich auf einem Parteitag vom 30.12.1918 bis 01.01.1919 durch Zusammenschluß von Spartakusbund (war von Anfang an gegen die Kriegskredite; nannte sich zunächst Spartakusgruppe und gab die Spartakusbriefe heraus) und verschiedenen Linksradikalen (waren ebenfalls von Anfang an gegen die Kriegskredite) gegründet hatte; die rechte Minderheit der Delegierten vereinigte sich im September 1922 auf dem Nürnberger Parteitag wieder mit der SPD.

August Winnig, Vom Proletariat zum Arbeitertum (1930). Winnig war wie so viele sozialdemokratische Gewerkschaftler ein vom Handwerk herkommender, sich und seinesgleichen nicht grundlos »im Aufstieg« sehender Arbeiter, der starke Abneigung gegen die intellektuellen Theoretiker der Arbeiterbewegung empfand, welche er großenteils als »jüdische Eindringlinge« betrachtete. Nach dem (1.) Weltkrieg spielte er als Oberpräsident und »Generalbevollmächtigter des Reiches für die baltischen Lande« in Ostpreußen eine bedeutende Rolle im Kampf gegen den »Bolschewismus« und für die deutschen Freikorps in Baltikum; weil er sich 1920 dem Kapp-Putsch anschloß, verlor er sein Amt, aber vorher wurde sein Verhalten von den sozialdemokratischen Redakteur Viktor Schiff mit der Feststellung verteidigt, daß in Ostpreußen sogar eine Anzahl führender Unabhängiger die Bildung von Freikorps zum Schutz der Grenzen befürworteten. (Vgl. Der letzte Damm gegen den Bolschewismus, in: Berliner Tageblatt, 20.03.1919).“ (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 9, S. 387).

„Diese Rede (**) enthält eine der wenigen, aber auch in späteren Zeiten nicht völlig fehlenden Bezugnahmen auf den Marxismus, die man »positiv« nennen kann: es sei eine »entsetzliche Wahrheit«, daß 40 Prozent der deutschen Gersamtbevölkerung marxistisch-internationalistisch gesinnt seien und daß sich darunter »die aktivsten, tatkräftigsten Elemente« befänden. Ähnlich anerkennende Worte für die Faschisten sind in dieser Zeit auch bei hervorragenden Repräsentanten der Kommunistischen Internationale wie Clara Zetkin und Karl Radek zu finden. (Vgl. Ernst Nolte [Hrsg.], Theorien über den Faschismus, 1967, S. 22ff.).“ (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 36, S. 391).

„Hitler war ein aufrichtiger Verehrer der griechischen und insbesondere der spartanischen Antike; seine rühmende Hervorhebung der deutschen Kaiser des mittelalterlichen Reiches war nicht ganz so unzweideutig.“ (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 58, S. 398).

„Der ehemalige Gauleiter von Halle-Merseburg, Rudolf Jordan, erzählt in seinen Erinnerungen, nach einer Parteiveranstaltung in Halle sei Hitler bei der Rückfahrt in ernste Gefahr geraten, da die Polizei von Leuten der »Antifa« für einen Augenblick von dessen Wagen fortgedrängt worden sei: »Immer noch stumm verbissen stiegen wir aus dem Wagen. Auch in Hitler pochte noch die Erregung. Er sagte mir mit drohendem Blick: ›Zwischen diesem Mordgesindel und uns gibt es keine Verständigung - und keinen Pardon. Zwischen ihnen und uns fällt die Entscheidung.‹«  (Rudolf Jordan, Erlebt und erlitten - Weg eines Gauleiters von München bis Moskau, 1971, S. 49).“ (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 61, S. 410).

„Siehe oben, S. 198 (**), 199-202 (**); vgl. Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung - 1. Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, 1933; besonders S. 10-18; Die weiße Weltrevolution, S. 58-146; Die farbige Weltrevolution, S. 147-165. Die Kritik am Nationalsozialismus kommt bei aller grundsätzlichen Zustimmung nicht nur im Vorwort durch die abschätzigen Bemerkungen über die lärmenden Feiern zum Vorschein, sondern vor allem in der Kritik an dem faschistischen Regime in Italien - nicht am »Caesar« Mussolini: »Man sah eine mögliche Form, den Bolschewismus zu bekämpfen. Aber diese Form ist in der Nachahmung des Feindes entstanden und deshalb voller Gefahren: Die Revolution von unten, zum guten Teil von Untermenschen gemacht und mitgemacht, die bewaffnete Parteimiliz - im Rom Cäsars durch die Banden von Clodius und Milo vertreten -, die Neigung, die geistige und wirtschaftliche Führerarbeit der ausführenden Arbeit unterzuordnen, weil man sie nicht versteht, das Eigentum der anderen gering zu achten, Nation und Masse zu verwechseln, mit einem Wort: die sozialistische Ideologie des vorigen Jahrhunderts. Das alles gehört zur Vergangenheit.« (Ebd.; S. 134).“ (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 68, S. 410-411).

„Vgl. Oswald Spengler, Briefe, a.a.O., S. 657. Hierzu ist die Äußerung von Spenglers Schwester Hilde Kornhardt (vor ihrer Heirat: Hildegard Spengler) zur Juliwahl 1932 (**) heranzuziehen: »Wir wählen Nazisozi« (Anton M. Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, 1968, S. 428). Sie begründet diese Entscheidung durch den Satz: »Im Gedankenhintergrund vieler lauerte eben die Furcht vor dem Wachstum des Kommunismus in der Welt«.“ (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 69, S. 411).

„Spenglers Ablehnung des Bolschewismus ist überall ganz eindeutig. In »Preußentum und Sozialismus« heißt es, dem Bolschewismus liege »der Urhaß der Apokalypse gegen die antike Kultur und etwas von der finsteren Erbitterung der Makkabäerzeit« zugrunde (vgl. Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, in: ders., Politische Schriften, S. 100), die Zahl der Opfer beziffert Spengler ganz wie Hitler mit »dreißig Millionen« (Oswald Spengler, Neubau des Deutschen Reiches, 1924, in: ders., Politische Schriften, S. 203f.). In »Preußentum und Sozialismus« ist von Marx’ »jüdischem Instinkt« die Rede (vgl. Oswald Spengler, Preußentum und Materialismus, 1919, in: ders., Politische Schriften, S. 78) .... Andererseits ist seine Ablehnung des Vulgärantisemitismus eng mit einer geradezu »antideutschen« Wendung verknüpft. Der deutsche Ruf »Juden hinaus!« sei flach und beschränkt; er verkenne völlig die Tatsache, daß die gefährlichsten antideutschen Züge, der Hang zu internationaler und pazifistischer Schwärmerei, der haß gegen Autorität und Machterfolg, tief gerade im deutschen Wesen begründet sei. (vgl. Oswald Spengler, Neubau des Deutschen Reiches, 1924, in: ders., Politische Schriften, S. 203, Anmerkung 1).“ (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 71, S. 411).

„Anton M. Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, 1968, S. 458.“ (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 72, S. 411).

Carl Schmitt, Der Führer schützt das Recht (in: DJZ, 1. August 1934). „Es wird indessen häufig übersehen, daß dieser Aufsatz nicht bloß das Vorgehen Hitlers rechtfertigte, sondern in der Sache die strenge Bestrafung derjenigen forderte, die auf irreguläre Weise außerhalb der von Hitler genannten drei Tage Morde begangen hatten.“ (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 86, S. 412).

„Beispielweise: Eduard Stadler, Die Weltkriegsrevolution - Vorträge, 1920; Max Hölz, Vom weißen Kreuz zur roten Fahne - Jugendkampf und Zuchthauserlebnisse, 1929; Carl Severing, Mein Lebensweg, 1950; Otto Meißner, Staatssekretär unter Ebert, Hindenburg, Hitler - Der Schicksalsweg des deutschen Volkes, wie ich ihn erlebte, 1950.“ (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 114, S. 414).

„»Dem Handstreich der englischen Staatsgegner folgte mit Notwendigkeit im November 1918 der Aufstand des marxistischen Proletariats. Der Schauplatz wurde aus dem Sitzungssaal auf die Straße verlegt. Gedeckt durch die Meuterei der »Heimatarmee« brachen die Leser der radikalen Presse los, von den klügeren Führern verlassen, die nur noch halb von ihrer Sache überzeugt waren. Auf die Revolution der Dummheit folgte die der Gemeinheit. Es war wieder nicht das Volk, nicht einmal die sozialistisch geschulte Masse; es war das Pack mit dem Literatengeschmeiß an der Spitze, das in Aktion trat. Der echte Sozialismus stand im letzten Ringen an der Front oder lag in den Massengräbern von halb Europa, der, welcher im August 1914 aufgestanden war und den man hier verriet. Es war die sinnloseste Tat der deutschen Geschichte. Es wird schwer sein, in der Geschichte andrer Völker Ähnliches zu finden. .... Wie flach, wie flau, wie wenig überzeugt war das alles! Wo man Helden erwartete, fand man befreite Sträflinge, Literaten, Deserteure, die brüllend und stehlend, von ihrer Wichtigkeit und dem Mangel an Gefahr trunken, umherzogen, absetzten, regierten, prügelten, dichteten. .... Die unbeschreibliche Häßlichkeit der Novembertage ist ohne Beispiel. kein mächtiger Augenblick, nichts Begeisterndes; kein großer Mann, kein bleibendes Wirt, kein küner Frevel, nur Kleinliches, Ekel, Albernheiten.« (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, in: Politische Schriften, S. 9-11).“ (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 115, S. 414).

„Ich wiederhole: Rasse, die man hat, nicht eine Rasse, zu der man gehört. Das eine ist Ethos, das andere - Zoologie.“ (Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, 1933, S. 161).

„Vgl. Heinrich August Winkler, Weimar 1919-1933, 1993, S. 122ff., 369, 390, 399, 489, 535, 559, 613. Es ist anerkennenswert, daß Winkler das sonst auch in der wissenschaftlichen Literatur sehr gebräuchliche Schimpfwort »Nazis« nur in Zitaten verwendet. Es ist leicht vorstellbar, welche Beunruhigung, ja Erregung entstehen würde, wenn in einem Buch über die Weimarer Republik durchgängig nur von »Kozis« oder auch bloß »Sozis« gesprochen würde.“ (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 135, S. 415).

„Daß auf »Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 - Nationalsozialismus und Bolschewismus« nicht Bezug genommen wird, fällt angesichts des weitgehenden Boykott-Konsenses in der deutschen historischen Literatur seit der »Wende« kaum noch auf.“ (Ernst Nolte, Die Weimarer Republik, 2006, Anmerkung 136, S. 416).

Nicht zufällig findet sich dieser text unter der Überscrhift „Marxismus als Zerstörer der Kultur“: „Ich war vom schwächlichen Weltbürger zum fanatischen Antisemiten geworden. Nur noch einmal - es war das letztemal - kamen mir in tiefster Beklommenheit ängstlich drückende Gedanken. - Als ich so durch lange Perioden menschlicher Geschichte das Wirken des jüdischen Volkes forschend betrachtete, stieg mir plötzlich die bange Frage auf, ob nicht doch vielleicht das unerforschliche Schicksal aus Gründen, die uns armseligen Menschen unbekannt, den Endsieg dieses kleinen Volkes in ewig unabänderlichem Beschlusse wünsche? Sollte diesem Volke, das ewig nur dieser Erde lebt, die Erde als Belohnung zugesprochen sein? Haben wir ein objektives Recht zum Kampf für unsere Selbsterhaltung, oder ist auch dies nur subjektiv in uns begründet? Indem ich mich in die Lehre des Marxismmus vertiefte und so das Wirken des jüdischen Volkes in ruhiger Klarheit einer Betrachtung unterzog, gab mir das Schicksal selber seine Antwort. - Die jüdische Lehre des Marxismus lehnt das aristokratische Prinzip der Natur ab und setzt an Stelle des ewigen Vorrechtes der Kraft und Stärke die Masse an Zahl und ihr totes Gewicht. Sie leugnet so im Menschen den Wert der Person, bestreitet die Bedeutung von Volkstum und Rasse und entzieht der Menschheit damit die Voraussetzung ihres Bestehens und ihrer Kultur. Sie würde als Grundlage des Universums zum Ende jeder gedanklich für Menschen faßlichen Ordnung führen. Und so wie in diesem größten erkennbaren Organismus nur Chaos das Ergebnis der Anwendung eines solchen Gesetzes sein könnte, so auf der Erde für die Bewohner dieses Sterns nur ihr eigener Untergang. - Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totenkranz der Menschheit sein, und dann wird dieser Planet wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen. - Die ewige Natur rächt unerbittlich die Übertretung ihrer Gebote. - So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“ (Adolf Hitler, Mein Kampf, 1925-1926, S. 69-70).

Es ist heute weitgehend vergessen, daß sich nach dem 1. Weltkrieg eine internationale revisionistische Schule in der Geschichtswissenschaft bildete, welche die im Versailler Vertrag (Diktat !) postulierte Alleinschuld Deutschlands und Österreich-Ungarns widerlegte und stattdesen Serbien, Rußland und Frankreich die Hauptschuld am 1. Weltkrieg zuwies! Zu dieser internationalen revisionsitischen Schule, die Anfang der 1920er Jahre die Hauptschuld am 1. Weltkrieg Serbien, Rußland und Frankreich zuwies und die im Versailler Diktat postulierte Alleinschuld Deutschlands und Österreich-Ungarns widerlegte, gehörten neben deutschen und französischen Historikern u.a. auch zwei us-amerikanische Historiker, nämlich Harry Elmer Barnes und Sidney Bradshaw Fay. Ihre Bücher wurden sofort ins Deutsche übersetzt und zählen bis heute zu den besten, die über den Beginn des 1. Weltkrieges geschrieben worden sind. Die revisionistische Geschichtschreibung erwies sich dabei der ihrer Gegner als weit überlegen - sie bezog die umfangreichen Dokument-Veröffentlichungen der 1920er Jahre mit ein und berücksichtigte konsequent die Politik aller damals beteilgten Mächte. – „Das Odium der Schuld hat Deutschland ... in einem ... diktierten Frieden auf sich nehmen müssen. Dafür hat Europa ein zweites Mal bitter bezahlt. Nur Deutschland hätte die Kraft und die Fähigkeit gehabt, die sich in den letzten beiden Vorkriegsjahrzehnten anbahnende, über die Grenzen der Nationalstaaten hinausreichende europäische Zusammenarbeit von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik auszubauen und voranzutreiben, womit der alte Kontinent sich unter Bewahrung seiner dominierenden Stellung gegenüber den neu entstehenden Zentren in Amerika und Asien hätte erfolgreich behaupten können.“ (Ehrhardt Bödecker, Die europäische Tragödie, 1998, S. 23-24). Weil auch dies durch das von den USA erst ermöglichte Versailler Diktat verhindert wurde, konnten die USA sich mehr und mehr durchsetzen und ab 1945, spätestens aber ab den 1960er Jahren die Rolle Deutschlands übernehmen - mit dem Unterschied, daß sie im Gegensatz zu Deutschland Europa nicht einigten, sondern, und zwar mit Hilfe der Engländer und Russen (Sowjets), spalteten. Ohne das Eingreifen der USA hätte Deutschland beide Weltkriege gewonnen, denn Deutschlands Gegner waren ohne die USA zu schwach. „Die Hauptschuld an dem ganzen Elend, das Deutschland im 20. Jahrhundert widerfahren ist, tragen die Vereinigten Staaten. Warum ist Amerika 1917 in den Krieg gegen Deutschland eingetreten?  Die europäischen kriegführenden Großmächte (vor allem die Kriegsgegner Deutschlands; Anm. HB) waren nahezu am Ende. In dieser Situation hätten die Vereinigten Staaten kraft ihres Gewichtes die Europäer zwingen können, einen vernünftigen Frieden zu schließen. Doch sie zogen es vor - jenseits aller politischen Weisheit - in den Krieg einzutreten. Damit zwangen sie Deutschland zur bedingungslosen Kapitulation. Sie gestatteten Frankreich den Versailler Vertrag, der Deutschland diskriminierte und wirtschaftlich ruinieren sollte (Reparationen waren bis 1988 vorgesehen) und trugen damit ausschlaggebend zu einer Nachkriegssituation in Deutschland bei, die Hitlers politisches Wirken begünstigte, ja, wahrscheinlich überhaupt erst ermöglichte. Das Samenkorn für den Zweiten Weltkrieg war gelegt. In und nach dem Zweiten Weltkrieg geschah durchaus Ähnliches - auch wenn die Umstände andere waren. Die Beweggründe Amerikas, in den Krieg gegen Deutschland einzutreten, waren mit denen von 1917 vergeichbar. Deutschlands Macht sollte gebrochen werden, völlig unabhängig davon, welches politische System bestand. Die nachgeschobenen Begründungen für die Kriegseintritte ... sind falsch. Die Vereinigten Staaten haben sich nie gescheut, mit grausamen Diktatoren zu paktieren (siehe Saddam Hussein, solange es von Nutzen war, Stalin und andere). Hinzu kommt, daß man Funktionen der trotz ihres Sieges geschwächten europäischen Kolonialmächte in der Welt übernehmen konnte und seine eigene Position stärkte.“ (Ernst Fritzsch, in: F.A.Z, 24.05.2007, S. 8). Außerdem vergessen wir nicht: Die USA waren an beiden Weltkriegen von Anfang an beteiligt und haben ihre Verbündeten massiv materiell und finanziell unterstützt - allein schon zu Beginn des 1. Weltkriegs war die Kriegshilfe an England und Frankreich so enorm, daß die USA es sich finanziell und also auch wirtschaftlich gar nicht mehr erlauben konnten, auf die Rückzahlungen zu verzichten, die dann von niemand anders als Deutschland neben vielen anderen Zahlungen geleistet wurden und immer noch geleistet werden (!). Weil die USA, als sie am 06.04.1917 in den 1. Weltkrieg gegen Deutschland eintraten, noch frisch und England, Frankreich, Rußland und alle anderen Kriegsgegner Deutschlands militärisch und wirtschaftlich am Ende waren - nur Deutschland war noch fit -, hätten sie einen Verhandlungsfrieden herbeiführen müssen, und Deutschland war damit ja einverstanden. Weil Deutschlands Kriegsgegner in den USA die glückliche Wende zum Sieg sahen, waren sie (und die USA selbst, besonders aus den eben genannten Gründen) gegen einen Frieden. „Die allgemeine Kriegslage 1916/'17 und der innere Zustand der kriegführenden Mächte erlaubte als einzige Alternative zur Fortsetzung des Gemetzels nur einen Verständigungsfrieden. Bethmann Hollweg im Juni 1916: »Alle Regierungen sind ohne Bildung und Perspektive. Zum Verzweifeln. Nur eine klare Entscheidung kann die Macht der Lüge in allen Ländern durchbrechen. Auch bei uns Lüge, damit das Durchhalten des so weichen Volkes nicht erschwert wird. Bei den anderen aber noch mehr Lüge zu dem Zweck, die Regierungen zu halten. Da die Lage der anderen schlechter ist, muß dort noch mehr gelogen werden.« … Ein Remis-Frieden lag in der Luft. Initiativen zu Friedensgeprächen gab es zahlreiche: Mit ihrem Friedensangebot vom Dezember 1916, das ernst gemeint war (Georges Henri Soutou), hatte die deutsche Reichsregierung offene Friedensgespräche erhofft. Es wurde abgelehnt. Hierfür war nach dem französischen Historiker Georges Henri Soutou die mangelnde Friedenbereitschaft der englischen und französischen Regierung verantwortlich. Man wird hinzufügen können, auch die Weigerung der (us-)amerikanischen Regierung. Das »Vermittlungsangebot« des (us-)amerikanischen Präsidenten, der sich praktisch schon im Krieg gegen Deutschland befand, in seiner Erklärung vom 20.12.1916 und die Wiederholung in seiner Rede vom 22. Januar 1917 waren nur eine Reaktion auf das deutsche Friedensangebot, es sollte nach Vermutungen einiger Historiker zur Vorbereitung und Rechtfertigung des am 6. April 1917 erklärten Kriegseintritts der Vereinigten Staaten dienen. Wie erwartet, wurde das (us-)amerikanische Angebot von den westlichen Verbündeten erneut abgelehnt, wie schon vorher die Friedensfühler Wilsons im Jahre 1915. Die österreichischen Friedensfühler, die keinen Separatfrieden zum Ziel hatten, sondern realistische Angebote im Sinne traditioneller Kabinettspolitik enthielten, die päpstlichen Friedensaktionen und letztlich das Friedensangebot des Deutschen Reichstags vom Juli 1917 sind neben vielen anderen indirekten Friedensbemühungen, die von deutschen Diplomaten ausgegangen sind, als ernsthafte Versuche zu bewerten, ein gleichberechtigtes Gespräch über Friedensbedingungen zustande zu bringen. Alle Menschen sehnten sich nach Frieden. Europa hatte seine letzte Chance. Ein Frieden ohne Gesichtsverlust, ohne Demütigung und ohne Behinderung der Lebensgrundlagen des Kontinents wäre zu diesem Zeitpunkt zu erzielen gewesen. Angesichts der Kriegslage gab es für die europäischen Mächte keinen anderen Ausweg, als sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Jedoch ein Verhandlungsfrieden ohne vorherige Niederwerfung des Deutschen Reiches lag nach Ansicht Wilsons und seiner Kamarilla weder im Interesse Englands noch im Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika, außerdem wäre Wilson mit einem Verhandlungsfrieden nicht in der Lage gewesen, den »Frieden« nach seinen Vorstellungen und den Interessen der USA zu diktieren - ein wichtiges Anliegen Wilsons. - Völkerhaß als Mittel der (us-)amerikanischen und englischen Kriegführung - Die feindliche Stimmung der Mehrheit des Foreign Office, die von Nicolson, Crowe und auch Grey repräsentiert wurde und die sich in den Stellungnahmen, Memoranden und Briefen aus ihrer Feder feststellen läßt, wurde in der öffentlichen Meinungsbildung durch die englische Presse zustimmend begleitet. Erst nach dem Kriege gingen den Europäern die Augen auf: »Die Wissenschaft hat eine harte Aufgabe damit, die Völker von den fluchwürdigen Folgen ihrer Kriegspropaganda zu befreien, von allem ihrem Haß und allen ihren Lügen«, stellten Steinmetz (Amsterdam) und Högstedt (Stockholm) nach dem Ende des Krieges fest. England beherrschte mit dem Besitz der meisten Überseekabel (**) und der größten Nachrichtenagentur Reuter auch die öffentliche Meinung der Weltpresse. … England organisierte nicht nur die Bündnissysteme gegen Deutschland, sondern entfachte ein Propagandafeuer voller Haß und Lügen, wie es die Weltgeschichte bis dahin im Umgang unter Nationen, auch unter kriegführenden Nationen, noch nicht erlebt hatte.“ (Ehrhardt Bödecker, ebd., 1998, S. 91-94). „Der erste Reichskanzler der Weimarer Republik, der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, also ein ganz unverdächtiger Zeuge, hat am 8. Mai 1919 vor dem Reichstag den Vertrag als »Dokument des Hasses und der Verblendung« bezeichnet. Am 12. Mai sprach er von einem »schauerlichen und mörderischen Hexenhammer« und urteilte, diejenige Hand müsse verdorren, die einen solchen Vertrag unterschreibe. 1935 äußerte sich Helmuth Plessner - Soziologe, Philosoph und als Jude Hitlerflüchtling -, ... dieser wahrlich unverdächtige Zeuge urteilte, ... die hetzerische Kriegspropaganda der Alliierten sowie Versailles hätten »die Begriffe von Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmungsrecht der Völker, Fortschritt und Weltfrieden, mit einem Wort das Wertesystem des politischen Humanismus westlicher Prägung, bodenlos entwertet.«  (Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, 1974, S. 39f.). »Bodenlos« entwertet!“ (Franz Uhle-Wettler, Vorwort zu: Das Versailler Diktat, 1999, S. 8). So lautet das Urteil: Schuld am 1. Weltkrieg tragen Serbien, Rußland, Frankreich, England und USA (vor allem Rußland, Frankreich, England und USA, da sie als Großmächte mehr Verantwortung tragen als die nur kleine Macht Serbien, die jedoch extrem terroristisch provozierte - wie das eben für so viele Kleine charakteristisch ist [siehe auch z.B. das Verhalten der kleinen Mächte Polen und CSR vonn 1919 bis 1939]), Schuld am Scheitern eines Verhandlungsfriedens, der Europa gerettet hätte, und damit Schuld am Versailler Diktat , das Europa zerstört hat, tragen USA, England, Frankreich und Rußland (extrem dumm verhielten sich dabei Rußland, Frankreich und England, vor allem weil sie sich an ihrer eigenen Zerstörung beteiligten, da sie Teil Europas sind [oder haben sie das etwa gar nicht gewußt ?], und Europa wurde durch das Versailler Diktat zerstört und ermöglichte den USA ihren weiteren Aufstieg)! Sie haben den 1. Weltkrieg vorbereitet und, was noch viel kriegverbrecherischer und völkerrechtswidriger war, einen Verhandlungsfrieden verhindert. Weil die Schuld am Versailler Diktat bedeutender ist als die Schuld am Ausbruch des 1. Weltkrieges - denn mehr als der Krieg selbst war sein Ergebnis die Tragödie, war sein Ergebnis wirklich die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (**) bzw. die „Große Tragödie des 20. Jahrhunderts“ (**), wirkte sein Ergebnis so zerstörerisch -, sind die Schuldigen auch eindeutig bestimmbar! Und: Ohne Berücksichtigung der Schuld am 1. Weltkrieg und noch mehr am Versailler Diktat ist über die Schuld am 2. Weltkrieg nicht zu urteilen (**|**) ! Mehr ...

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