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| Prämoderne | Moderne | Postmoderne | |
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KANT
und HEGEL mit Kind und Kegel |
Friedrich Schlegel |
Arthur Schopenhauer |
Friedrich Nietzsche |
Oswald Spengler |
Martin Heidegger |
Jean François Lyotard |
Niklas Luhmann |
Peter Sloterdijk |
Im engeren Sinne ist jede Moderne eine Spätkultur-Moderne. Das liegt am Aufschub. Wer die Geburt vorverlegt, wird spät erwachsen und erlebt so die Moderne als Herbst. (Vgl. Progenese & Neotenie). Demzufolge beginnt die Moderne im Abendland mit der Industriellen Revolution () bzw. mit der Bürgerlichen Revolution (). Sie ist also eine Industrie-Moderne oder Zivil-Moderne ! (Nebenbei bemerkt: Alle Kulturen sind, weil sie Schriftkulturen bzw. Historienkulturen sind, als Gesamtphänomen eine Moderne der Neanthropinen-Kultur [] und, weil die Neanthropinen-Kultur eine Moderne der Menschen-Kultur [] ist, eine Moderne der Moderne der Menschenkultur; doch das ist eine Definition im weiteren Sinne!). Jede Kultur ist von Anfang an auf Moderne hin angelegt, denn erst wenn ihre Moderne beginnt, beginnt auch ihr Erwachsensein. Und weil die abendländische Moderne, die besonders stark durch Technik und Ökonomie, vor allem durch die Industrielle Revolution, geprägt worden ist, als ein explosives Feuer mit besonders radikalen Global-Konsequenzen bezeichnet werden kann, können die Modernen aller anderen Kulturen nur noch als harmlose Lagerfeuer betrachtet werden. Die Abendland-Kultur ist als einzige ein spätmodernes Phänomen der Neanthropinen-Kultur ist. Die Abendland-Kultur ist die Spätmoderne der Neanthropinen-Kultur; demnach ist die Abendland-Moderne die Moderne der Spätmoderne der Neanthropinen-Kultur; also ist die Abendland-Spätmoderne die Spätmoderne der Spätmoderne der Neanthropinen-Kultur. Was auch immer das bedeutet () !
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Ludwig Wittgenstein (1889-1951) beschäftigte sich zunächst mit einer Idealsprache zur Abbildung der Tatsachenwelt, und dann, mit seiner Idee der Sprachspiele, der Umgangssprache. Alle Philosophie ist Sprachkritik, sagte Wittgenstein: Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemeint haben muß, um sie darstellen zu können - die logische Form. Um sie darzustellen, müßten wir uns mit dem Satz außerhalb der Logik aufstellen können, d.h. außerhalb der Welt. Er kam zu dem zum Schluß: Das Resultat der Philosophie sind nicht philosophische Sätze, sondern das Klarwerden von Sätzen. .... Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.In den Philosophischen Untersuchungen (erschienen 1953) revidierte Wittgenstein diese Ansichten teilweise: Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Wittgensteins Kunde, daß alle Philosophie Sprachkritik, der Rest Schweigen und alle Wahrheit auf das klar Sagbare, also die Naturwissenschaft, eingegrenzt sei, verrät, weil ja die Eingrenzung selbst beredt ist, den Grund seiner Philosophie: eine unsagbare private Subjektivität. |
7 Haupt-Sätze (nach Wittgenstein): 1) Die Welt ist alles, was der Fall ist. 2) Was der Fall
ist, die Tatsache, ist 3.)
Das logische Bild der Tatsachen 4.) Der Gedanke ist der sinnvolle Satz. 5.) Der Satz ist
eine Wahrheitsfunktion 6.)
Die allgemeine Form der 7.) Wovon man nicht sprechen kann, |
Wovon
man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. |
Die Postmoderne ist der Zweifel an allen großen Erzählungen, also auch an Ideologien, Ideale oder Utopien wie Psychoanalyse, Marxismus, Christentum und andere Religionen. (Jean François Lyotard). |
Die Postmoderne, wie Jean François Lyotard (1934-1998) philosophierte, bedeutet problemlose Vielfalt der Lebensformen oder Lebensstile, die ja nach Wittgenstein Sprachspiele sind. Lyotard verfaßte 1979 die Programmschrift Das postmoderne Wissen, wobei er den in amerikanischen Architektur-Debatten bereits gängigen Begriff postmodern aufnahm, welcher Vielfalt der Stile (Codes) bzw. Silelemente in einem Objekt bedeutet, mindestens Zweiheit eines elitären und eines populären Codes. Dieser Begriff aus der Ästhetik, angewendet auf das Wissen, die Sprachspiele, die Diskurse, meint: Ästhetisierung der Vernunft. Alle Denkformen, Sprachspiele, Interpretationen, sind möglich.Anything goes, formulierte Karl Feyerabend (1924-1994) und machte, wie Lyotard, damit einen Befund von Max Weber (1864-1920) geltend, der schon Anfang des 20. Jahrhunderts einen nicht mehr synthetisierbaren Pluralismus und Widerstreit letzter Sinngebungen in der abendländischen Gesellschaft konstatierte. Es gibt keinen umfassenden, maßgebenden Metadiskurs, keine großen Erzählungen mehr wie die Dialektik des Geistes (Hegel), die Hermeneutik, die Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts (Marx), des Sinns (Heidegger), schrieb Lyotard in einer Studie. Das soziale Leben ist ein Ensemble von Zügen in Sprachspielen, die nirgendwo ihre Legitimation haben.Das
Subjekt gelangt zur Wollust durch die Kohabitation der Sprachen |
Nicht falls, sondern weil die Postmoderne Fortsetzung der Moderne ist, ist sie eine Begleiterscheinung der Moderne, besonders der Spätmoderne, denn die Spätmoderne ist eine (wenn auch späte oder letzte) Phase der Moderne. Weil man aber die Abendland-Kultur selbst auch als eine Spätmoderne (der Neanthropinen-Kultur nämlich) bezeichnen kann, ist deren Moderne die Moderne einer Spätmoderne und die späte Phase dieser Moderne einer Spätmoderne nichts anderes als die Spätmoderne einer Spätmoderne. (). Denn die späte Phase der Abendland-Moderne ist ja die Spätmoderne der Abendland-Kultur. Die Abendland-Kultur ist die Spätmoderne der Neanthropinen-Kultur, die Neanthropinen-Kultur die Moderne der Menschen-Kultur, die Menschen-Kultur die Moderne des Höheren Lebens, das Höhere Leben die Moderne der Natur. Also ist die Abendland-Spätmoderne die Spätmoderne einer Spätmoderne der Menschen-Moderne. Das heißt: die Abendland-Spätmoderne ist die Spätmoderne einer Spätmoderne der 3. Moderne überhaupt. Die Natur (Universum, Galaxien u.s.w.) als 1. Kultur ermöglicht die 1. Moderne (Höheres Leben); das Höhere Leben als 2. Kultur ermöglicht die 2. Moderne (Menschwerdung oder: Menschen-Kultur); die Menschen-Kultur als 3. Kultur ermöglicht die 3. Moderne (Historisierung oder: Neanthropinen-Kultur); die Neanthropinen-Kultur als 4. Kultur ermöglicht die 4. Moderne (Historiographik oder: Historien-Kultur); die Historien-Kultur als 5. Kultur ermöglicht die 5. Moderne (Historismus oder: Modernismus). Das zur Theorie der 5 Modernen! Wir können also beruhigt notieren: Unsere Spätmoderne einer Spätmoderne der 3. Moderne verstehen manche nur deshalb als Postmoderne, weil das Späte im Späten für sie so schwer zu denken ist.Gliederung und Definition von Moderne scheinen kompliziert zu sein, dennoch ist evident, daß die Abendland-Kultur, die ja für Globalisierung und Modernisierung steht, eine außerordentlich typische Moderne-Kultur ist und auch schon zu den Zeiten war, als Moderne noch nicht das bedeutete, was sie heute bedeutet. Und heute behauptet so mancher Interpret, daß gerade die 6. Moderne begonnen habe, zumindest aber, daß der Übergang (5. - 6. Moderne) bereits vollzogen werde. Was aber eine allgemeinere Betrachtung angeht, so wird die Moderne entweder mit Neuzeit gleichgesetzt oder aber auf die Zeit nach der Industriellen Revolution bezogen. Beide sind nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich oder sphärisch voneinander abgrenzbar. Sie scheinen zwei verschiedene Modernen zu sein: Hochkulturmoderne und Spätkulturmoderne (!). Es ist aber die Spätkulturmoderne, die als Moderne im engeren Sinne gilt. Das liegt am Aufschub (vgl. Neotenie !). Wer die Geburt vorverlegt, erlebt die Moderne als Spätmoderne, als Herbst. Moderne ist Sturm, jedes Blatt eine Tradition.
Ist heutige Philosophie nichts anderes als der
Kampf um den letzten Beobachtungsposten ()
? Ist professioneller Größenwahn eine legitime
Berufung, gar ein Muß? Ist Nietzsche
der erste Letzte? Was ist mit Peter Sloterdijk
oder mit Jürgen Habermas
? Solange sich die modernen Philosophen (seit Descartes
und Leibniz;
17. Jh.) nicht vorstellten, selbst Gott zu sein (ja sein zu müssen),
d.h. die eigene Wissensautorität in Frage zu stellen, dachten sie
modern und überließen die postmodernen
Aspekte (Beobachtung der Beobachtenden) ihrem Gott, der seit der Neuzeit
nur noch als Idee (Freiheit, Gleichheit, Toleranz u.s.w.) Platz hatte.
Aber Gott (die Idee) mußte erst gestorben sein (Nietzsche), bevor
der erste (noch) moderne Beobachter (der Übermensch?) mit dem Willen
zur Macht an seine Stelle treten konnte. |
Syllogismus
(Zusammenrechnung; Schluß, besonders: Deduktion, d.h. Schluß vom Allgemeinen aufs Besondere): |
Prämisse
(Urteil): Postmoderne sind
Moderne.
Prämisse (Urteil): Die
Metaphysik ist Vorläuferin & Begleiterin der Moderne (3-2-1). |
Wer letzter Beobachter sein möchte, muß sich nicht wundern, wenn er selbst beobachtet wird. Seine Kritik an dem, was er beobachtet, wird mit Sicherheit ebenfalls kritisiert werden. Deshalb muß konstatiert werden, daß postmodern nur sein kann, was vervielfältigend, reproduzierend, simulierend, imitierend, d.h. ohne Autorität ist. In unserer heutigen Welt (Medienrealitäten, Internet, Globalisierung) meint man, auch in der alltäglichen Erfahrung eine Fundierungsfunktion und Wissensautorität des Subjekts (E. Landgraf) bezweifeln zu können. Ist die Sprache selbst der eigentliche Beobachter, wie Landgraf meint? Beobachten Subjekte oder beobachtet die Sprache, wo beobachtet wird? Bleibt nicht Sprache, die ohne Bewußtsein, ohne Intention, ohne Willensäußerung gebraucht wird, bedeutungslos? Sprache ohne Subjekt und Subjekt ohne Sprache - geht das überhaupt? Landgraf: Während in der modernen Theorie Individuen autonome Beobachter darstellen, die sich auf die Autorität des Bewußtseins berufen und die Sprache den Intentionen dieses Bewußtseins unterordnen können, geht die postmoderne Tradition von Kommunikationsbedingungen aus, die gerade nicht individuell sein können und also auf kein Bewußtsein, auf kein bestimmtes Subjekt oder Individuum hin reduziert werden können. Im zweiten Fall denkt - sprich: beobachtet - also die Sprache gerade dort, wo sie sich dem Bewußtsein und seinen Intentionen entzieht, dort wo sie kommuniziert. Ohne daß deswegen bewußtes Beobachten ausgeschlossen werden müßte, versteht dieser Perspektivenwechsel Beobachtung als primär soziale Kategorie, als etwas, das keinem einzelnen Individuum oder Subjekt allein, keinem Einen mehr zugeschrieben werden kann. Ist die Beobachtung an ihre Kommunikationsbedingung gebunden, kann sie tatsächlich erst mit Zweien beginnen. (Vgl. oben: Nietzsche: Ein Mal eins). |
In ihren Grundzügen ist die Ideologie der Werbung seit Anbeginn unverändert geblieben, wie verschiedenartig ihr Erscheinungsbild auch ist, stets trägt die Produktewerbung die Züge eines modernen Heldenkults. Die Ware ist der Mittelpunkt und Sinn des Lebens, ihre Kultstätte ist der (Super-) Markt. Unablässig und unmißverständlich wird uns die frohe Botschaft verkündet: Konsum löst alle Probleme.François Brune |
Postmoderne ist Posthistorie, Ende der Geschichte (sowie der Ideologien und der Utopien) und Wiedergeburt des Mythos und des Zyklus.Franz Wegener |
Die Postmoderne ist weniger Epoche als Begleiterscheinung der Moderne. Das Beobachtungsschema liefert die Unterscheidung zwischen Moderne und Postmoderne. Die Postmoderne ist Fortsetzung und Begleiterscheinung der Moderne, denn nur eine moderne Welt (hochdifferenzierte Gesellschaft) weiß von der Kontingenz der eigenen Beobachtungswelt und entwickelt Diskursfelder, die die Beobachtung der Beobachtungswelt erst ermöglicht (Universitäten, Theorieschulen ...). Theorie ist etymologisch eine Anschauung = Beobachtung im altgriechischen Sinne. Der Beobachter entscheidet am Ende darüber, ob sich Moderne und Postmoderne treffen oder trennen. Der Beobachter ist die Moderne, aber die Moderne ist (auch) eine Gesellschaftsform - historisch-geographisch definierbar - und als solche beobachtbar. Die Postmoderne ist ebenfalls Beobachter: Sie beobachtet die Moderne; der Beobachter beobachtet den Beobachter u.s.w.. Die erste Kritik, die man als postmodern bezeichnen kann, ist die des (späten) 19. Jahrhunderts, insbesondere die Nietzsches. Spezifisch postmodern sind die Theorien seit Ende der 1960er Jahre (Humanwissenschaften der 68er). Postmoderne ist Simulation und Imitation, Ideologieverlust und Sinnverlust. Sie ist derivativ. Die Moderne setzt darauf, den Beobachter im Subjekt (Ich bzw. Selbst-Bewußtsein) zu lokalisieren, die Postmoderne auf die Selbstverständlichkeit, daß das Subjekt keine Beobachtungs- bzw. Wissensautorität besitzt.Edgar Landgraf |
Die Moderne predigt den Befriedigungs-Aufschub; die Postmoderne den Zahlungs-Aufschub.
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Luhmanns Beobachter des Beobachters ist eine tragische Figur. Ihm ist die Welt abhanden gekommen. Er beobachtet nur, wie ein anderer beobachtet, wie ein anderer beobachtet, wie ein anderer beobachtet, wie ein anderer beobachtet, wie ... u.s.w.; aber er sieht nicht, wie er selbst beobachtet; denn das kann nur ein anderer beobachten, der auch nicht beobachten kann, wie er beobachtet ... u.s.w.: Jeder hat seinen blinden Fleck. Und außer diesem gibt es nichts zu sehen.Selbst die großen Geister erlagen den Gefahren eines Systemdenkens, d.h. einer Art des Philosophierens, die von vornherein die Gestaltung eines Systems anstrebt und geneigt ist, die Wirklichkeit zu konstruieren und zu stilisiernen, anstatt sie zu erfassen. Nicht so ganz mit Unrecht wird darauf hingewiesen, daß das Beste aus der Philosophie der großen Systematiker oft genug gerade das ist, was in ihre Systeme nicht hineinpaßt. In der wissenschaftlichen Arbeit ist System dagegen ein bewährtes Ordnungsprinzip. Eine Systematik ist demzufolge die Wissenschaft und Kunst der Systembildung.An Leibniz' Prästabilisierungstheorie schließt z.B. der Konstruktivismus am Ende des 20. Jahrhunderts an. Leibniz' Monaden heißen jetzt autopoietische Systeme. Diese sich selbst erzeugenden Systeme bestehen aus Kognitionen - allerdings auf physikalischer Basis. Anstelle Gottes besorgt nun die Evolution die strukturelle Kopplung (bei Leibniz die prästabilisierte Harmonie). Nicht den radikalen, wohl aber den gelassenen Luhmann kann man somit auch als Konstruktivisten bezeichnen. (). Vor allem auch Luhmann brachte nämlich den Begriff Autopoiesis in die konstruktivistische Systemtheorie ein.
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Jetzt gibt es Revolution;
aber sie |
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9. November 1967 (!):
Studentenunruhe bei der Amtseinführung des Professors Werner
Ehrlicher zum Rektor der Universität Hamburg. Ein Spruchband - Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren - zweier Studenten stellt den Beginn der Studentenunruhen dar, ging um die Welt. Wieder war der 9. November ein Tag der Deutschen (**|**). |
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EXTREM | MITTE(L) | EXTREM | ||||
FREMD- BEZUG |
MEDIUM | SELBST- BEZUG |
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An solchen Stellen begreift man erst wirklich, was Lichtung ist, nämlich ein Selbstbewußtsein, das ohne Überheblichkeit auf der Höhe ist. ** |
Abtei im Eichwald (Caspar David Friedrich, 1809) |
Geld wendet für den Bereich, den es ordnen kann, Gewalt ab - und insofern dient eine funktionierende Wirtschaft immer auch der Entlastung von Politik. Geld ist der Triumph der Knappheit über die Gewalt. (Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1988, S. 85) |
Wichtiger ist es aus meiner Sicht zu zeigen, wie existentialistische Motive und anthropologische Themen sich präsentieren, nachdem sie eine Verfremdung durch systemische Beobachtungen durchlaufen haben. Es spricht alles dafür, daß die Anthropologie erst wieder zu einer Disziplin oder sogar einer Denkweise von Gewicht werden kann, wenn sie zu einer Anthropologie zweiter Ordnung unformuliert wird - ein Gedanke, den meines Wissens Dirk Baecker zuerst artikuliert hat. Wenn Luhmann wirklich, wie manchmal behauptet wird, der Hegel des 20. Jahrhunderts gewesen ist, dann wird sich das nicht zuletzt durch das Auftreten von Jungluhmannianern bewahrheiten, die sich mit einer erneuten existentialistischen Abweichung vom Systemdenken bemerkbar machen.
Nach Luhmann denken - das bedeutet für mich: die altehrwürdigen Begriffe der Liebe, der Seele, des Geistes, ein wenig aktueller gesprochen, der Teilhabe am Anderen und der Existenz in verbindlich gemeinsamen Animations- und Motivierungsräumen, derart neu zu fassen, daß in der Darstellung selbst die Erschwerungen fühlbar werden, die mit dem aktuellen »Weltzustand« - noch einmal Hegels Wort - gegeben sind.
Kontraintuitiv müssen wir (kopernikan[ist]isch) lernen, unseren Augen zu mißtrauen. So hat es in unserem Sonnensystem noch nie einen Sonnenaufgang gegeben, sondern nur sture Umdrehungen der Erde um die Sonne. Mehr noch: es gab einen Zeitpunkt, als es alles noch nicht gab, weder Augen noch Sonne noch Welt. Das moderne Bewußtsein dementiert den Schein der Sinne, und wir befinden wir uns, so gesehen, in einem Zustand der Bodenlosigkeit, denn Kopernikanismus ist erkenntnistheoretisch eine Entsubstantialisierung aller ptolemäischen Verhältnisse. Radikalkopernikanisch ist laut Sloterdijk auch die Neurophilosophie und die Biologie, denn beide erklären z.B., daß Liebe eine chemische Verbindung aus Oxytocin, Prolaktin und Phenyläthylamin ist. Der Modernismus verweigert generell die Aussage, daß Natur überhaupt ein Wesen hat; sie ist genauso eine Konstruktion wie Wissenschaft und Kunst; überhaupt: das Wesen des Kopernikanismus ist im Grunde Konstruktivismus. Interpretation ist alles was ist, sagen die einen, alles ist Konstruktion, die anderen und daher meint Paul Feyerabend anything goes, die Theologen gehen und die Designer kommen. Das ist Beliebigkeit und Revolution in Permanenz. Die Verflüssigung aller Wahrheiten und Weltbilder dreht alle in einen großen Schwindel. Wem nicht schwindelig ist, ist nicht informiert. Gestern war besser, heute ist schöner, nennt dies ein Magazin. Gegen diese Auflösung aller Selbstverständlichkeiten wendet sich Sloterdijk in gewohnter alternierender Sicht und fordert die ptolemäische Abrüstung, d.h. ein Sich-Einrichten im lebensweltlich erträglichen mesokosmischen Raum. Die Wiederkehr einer schönen schonenden Sicht gegen die Schockästhetik klagt Sloterdijk ein mit einer gewissen Rehabilitierung von Tradition und Mythos. Die restliche Durchdringung der Gesellschaft mit dem Geiste der Mobilmachung macht auch vor der höchsten privaten Sphäre der Sexualität nicht halt; auch in der Sexualität sieht Sloterdijk mit Recht eine kulturelle Konstruktion, die im westlichen Kulturkreis einhergeht mit einer penetrierenden Höhepunktsgläubigkeit im Geiste der Mobilmachung. Die Feuerwerkssexualitätist ist zudem Teil des kapitalistischen Medizin- und Medienkomplexes und wird durch die Werbung gestylt und angeheizt. Der ständige Abruf sexueller Bereitschaft durch den Durchlauferhitzer der Werbewelt macht die Sexualität zu einem mobilmachenden Pflichtpensum, das Leben des Europäers wird allein durch Höhepunkte gerechtfertigt. Das Abspecken der Pfunde und das Auftreten nach medialer Vorlage wird zur alterslosen Norm unserer mobilmachenden Gesellschaft. Auch dies gehört mit zur (scheinbar nicht enden wollenden) kopernikanischen Wende in der abendländischen Kultur.
Ich sehe das übrigens nicht ganz so, aber
ähnlich wie Sloterdijk und in den sechs Modernen eine Widerspiegelung der abendländischen hoch- und spätkulturellen, d.h. der neuzeitlichen sechs Phasen (vgl. meine Gliederung der Moderne und Analogien sowie die bereits aktuelle als Phase des Globalismus als sechste Moderne und meine Definition der Postmoderne: Begleitphänomen und Fortsetzung der Moderne/Spätmoderne). |
Das anhaltende letzte Ereignis der geschichtlichen Welt ist die aktuelle Globalisierung () als Herstellung der permanenten Erdgegenwart. Dieses Großereignis, von Menschen gemacht, verläuft durch die Lebensmitte der gegenwärtigen Generationen. Sie ist das Ungeheure in der Zeit. An ihm läßt sich ablesen, daß neuzeitliche Menschen im Grunde nicht Geschichte machen wollen, wie die Geschichtsphilosophien suggerierten, sondern daß sie im Sinn haben, die Geschichte abzuschließen und nachgeschichtliche Zustände herbeiführen. Die fortlaufende Annäherung an die ewige Gegenwart, in der die Summe aller Ereignisse Null ergäbe, war das eigentliche Projekt der Moderne. Insofern war die Idee des Dritten Reiches nicht nur eine faschistoide Parodie auf den christlichen Millennarismus, wie er sich von Joachim von Fiore (ca. 1130 - 1202) bis zu Lessing (1729-1781), Schelling (1775-1854) und Saint-Simon (1760-1825) entfaltet hatte; sie bleibt zugleich die latente Matrix aller anspruchsvollen Modernismen, weil sie die logische Form eines potentiell letzten Zeitalters zuerst mit einem zureichend formellen Anspruch erfaßt hatte. Um ein modernes, vielleicht sogar ein letztes zu sein, muß ein Zeitalter strukturell zumindest ein drittes sein. Ein letztes ist ein Zeitalter dann, wenn es so verfaßt ist, daß in ihm beleibig viel passieren darf, ohne daß irgend etwas in ihm - und nach ihm - noch Epoche machen könnte. Tatsächlich ist die Moderne ihrem zeitlogischen Design zufolge ein immerwährender Anbruch eines dritten oder millennarischen Zeitalters, ein permanenter Übertritt aus der Geschichte in die Nachgeschichte, ein unentwegter Übergang in eine Endzeit ohne Ende. Dies kann nicht anders sein, weil die Ambitionen der Modernität, eine Epoche durchdringender Selbstreflexivität zu sein, formal unüberbietbar ist.Von der Triftigkeit dieses Anspruchs kann man sich durch ein Gedankenexperiment überzeugen, bei dem wir fragen, wie aus der Moderne heraus noch eine folgende Epoche vorzustellen wäre. Hierauf gibt es zwei Typen von Antworten: katastrophische und kontinuierliche.Peter
Sloterdijk (Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 377-378) Peter
Sloterdijk (Sphären III - Schäume, 2004, S. 20) Peter
Sloterdijk (Sphären III - Schäume, 2004, S. 26) Das Nomotop (Sloterdijks Verfassungslehre)Alle menschlichen Insulationsgruppen, die sich in Generationsprozessen bewähren und dadurch in ihrer Eigenschaft existieren, haben an einem wenig untersuchten Stabilitätsgeheimnis Anteil, ohne das man ihren Bestand schwerlich begreifbar machen kann: Sie erzeugen in sich selbst eine Normenarchitektur, die genügend Überpersönlichkeit, Imposanz und Torsionsfestigkeit aufweist, um von den Anwendern als geltendes Gesetz, als verbindliche Satzung und zwingende Regelwirklichkeit empfunden zu werden. Dieser sittliche Äther besitzt, um mit Hegel zu reden, die Merkmale des objektiven Geistes: Er ist den Einzelnen vorgeordnet wie etwas, das ihrem Gutdünken unberührt gegenübersteht und sich gleich Götternamen, Mythen und Ritualen eines Stammes stabil, oder nur unmerklich verwandelt, durch Generationen vererbt. Die Sterblichen kommen und gehen, die Formen, die Gesetze bleiben.Im Jahr 1949 notierte Wittgenstein: »Kultur ist eine Ordensregel. Oder setzt doch eine Ordensregel voraus.« Wir nennen das Wirkungsfeld solcher Regeln das Nomotop. Wer sich auf der Humaninsel aufhält, macht die Beobachtung, daß ihre Bewohnergruppe unter einer lokalen Regelspannung steht - eine Spannung, die für die soziale Statik von elementarer Bedeutung ist. Daß das normative Klima einer Gruppe mit ihrer Stabilität, also ihrer Überlebensfähigkeit, positiv korreliert, ist eine frühe Intuition der Weisen und Ältesten in allen Völkern - keine der anfänglichen Überlebensgemeinschaften hat es sich jemals leisten können, ihre Sitten, ihre Formen, ihre Dogmen leicht zu nehmen. ... Wittgensteins blitzende Bemerkung trägt der Doppelung im Begriff des Ordens Rechnung, indem sie hinsichtlich gegebener Kulturen das einzelne konkret Ordensartig-Eingerichtete betont wie auch die Regel hevorkehrt, der das Einrichten folgt. Man könnte diesen Doppelsinn in den zwei Sätzen: »Kultur ist ein Text« und »Kultur ist eine Syntax« wiedergeben. (). Hinsichtlich der Architektur des Gemeinwesens würde das zu den Thesen führen: »Kultur ist ein Gebäude« und »Kultur folgt einer Raum-Erzeugungsregel«. (). Wo immer die Humaninsel Konturen annimmt, entsteht eine Regelspannung, die bezeugt, daß in ihr eine Hausordnung in Kraft ist - für die Angehörigen (bis auf Ausnahmesituationen) eher unmerklich, für Fremde auffällig oder befremdlich, für Philosophen ein Motiv zum Nachdenken über den Geist der Institutionen und die Institutionalität von Geist.Kollektive schwingen in einer intern erzeugten Dauererregung, die den normativen Streß in ihren normalen Tonus umwandelt. Es gehört zur »Verborgenheit der Gesundheit« (vgl. Hans-Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, 1993) in Gruppen, daß diese ihre nomotopische Grundspannung nicht spüren und kaum thematisieren - nur an ihren anarchischen Rändern spricht man zuweilen mit prekärer Ausdrücklichkeit über die Kündigung des Normengehorsams und des Leistungswillens. Die Abdrängung der normativen Stessoren ins Unterschwellige geschieht dadurch, daß die Gruppe ihre Handlungserwartungen in Routinen einbettet. Eine Routine ist die durch Wiederholung eingeschliffene und damit unauffällig gemachte Form der erwarteten Anstrengung. Arnold Gehlen hat in seiner anthropogischen Grundlehre die überragende Bedeutung normalisierter Anstrengungserwartungen hervorgekehrt und diese unter dem Begriff der Institutionen zusammengefaßt - wobei er unter Institution den geglückten Dauerkompromiß zwischen Entlastungen und Belastungen versteht; sie ist der Inbegriff einer »stabilisierten Spannung«. (Vgl. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, 1956, S. 88f.). Man kann diesen Institutionenbegriff wie ein Plädoyer für das Unbewußthalten von Ordnung lesen - wobei ein Konzept vom Unbewußten ins Spiel kommt, das auf das Latente, nicht das Verdrängte zielt. (Wie aber das personale Unbewußte eine Wiederkehr des Verdrängten kennt, so das Latente eine Wiederkehr des Paradoxen.) Zwar haben sich dieser Auffassung gemäß die Einzelnen zugunsten der Ordnungen, in denen sie leben, unter Einsatz ihrer gesamten Existenz zu verwenden, zugleich aber nehmen diese Ordnungen den Einzelnen die Mühe ab, sich eigens für sie wie für eine persönliche Option zu entscheiden. Indem sie belasten, entlasten sie. Indem sie entlasten, setzen sie Energien für die Neubindung an gemeinsame Aufgaben oder munera frei. Hier tritt der Begriff der Regel noch einmal in seiner fundamentalen Bedeutsamkeit ans Licht, weil es die Regelobjektivität ist, welche die Einzelnen wie die Gruppen von der Not der Formlosigkeit ebenso wie von der Zumutung ständiger Originalität befreit. So sehr Gehlens Theorem von den Institutionen als hintergrundwirksamen Ordnungsmächten einer verbreiteten Stimmung des 20. Jahrhunderts entspricht, die sich Ordnungen am liebsten wie diskrete Infrastrukturen und die Ordnungshüter wie Beamte vorstellt, die ihr Amt am besten versehen, wenn sie dienen und schweigen, erlaubt es doch nur eine einäugige Wahrnehmung der nomotopischen Grundverhältnisse. Das Nomotop besitzt nämlich zumeist auch eme Schauseite, die dem Hang zur Verbergung von Macht und Gewalt in leisen Routinen entgegensteht. Als eine selbstbeeindruckende, selbsterschreckende Größe, lebt die von den Normen beatmete Gruppe von der performativen Kraft der Rituale und deren Erscheinungsdrang. In diesem hat das politisch Erhabene seine Quelle. Das Rechtssystem zumal entfaltet von den Tagen der Römer an eine Theatralität eigenen Typs. Wie die Macht nicht ohne ihre typischen Epiphanien auskommt, seien es Festlichkeiten, Vereidigungen, Paraden, Hoheitssymbole und peinlich wahrzunehmende Protokolle, so auch das Recht nicht ohne die pünktliche Inszenierung seiner Förmlichkeit - besonders bei der Iurisdiktion, die in ihren prozessualen Spielregeln einen Kompromiß aus Untersuchung und Theater bildet. Beides dient der Sichtbarmachung der ordnungschaffenden Gewalt, die sich von alters her nicht damit begnügt, die Individuen vom Rücken her, sozusagen unbewußt, mit motivationalem Schub auszustatten. Jede Kultur hat ihre tarpejischen Felsen. Zu der Zeit, als die gesetzgebende oder gesetz-inszenierende Macht in Europa ihre dogmatische Potenzen am offensten hervorkehrte, im 17. Jahrhundert, sprach sie ohne Reserve vom Recht als einem »Theater der Wahrheit und Gerechtigkeit«. Aus ihrem Dogmatismus leitete sie eine Fähigkeit zur Strenge her, die vor aller Augen erscheinen wollte - und die nach den Über-Ich-Implosionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur noch als ein unbegreifliches Ärgernis oder als anmaßendes Relikt aus der Zeit des persönlichen Regiments wahrgenommen werden kann. Für »Herrlichkeit« haben sich ausschließlich einige unbelehrbar alteuropäische Theologen einen Sinn bewahrt. Sie müßten die ersten sein zu verstehen, warum der erhabene Staat in seinen Hochzeiten ebenso die Züge der Glorie an den Tag legte wie die des Schreckens. Auch Könige sind bewunderswert, wenn sie es gelassen verschmähen, uns zu zerstören. Aus den Zerfallsprodukten des Majestätsschreckens entwickelte sich von der Romantik an die politische Ästhetik der Lebensgefahr, die von der Philosophie des Bürgertums nach Burke und Kant mystifiziert wurde als das Vermögen des menschlichen Gemüts, über erhabene oder erschütternde Gegenstände zu urteilen. Nichtsdestoweniger besitzt der Hinweis auf die habitualisierte und quasi unbewußte Seite des Aufenthalts im Normenraum einen guten Grund in der Sache. Das Objektive und Hintergrundhafte der Regel hält das Mißverständnis fern, die »Sitten« oder Gesetze müßten dem Selbstausdruck der Individuen dienen. Was man modern den Ausdruck nennt, wurde erst möglich vor dem Hintergrund von selbstverständlich (daher auch unverständlich) gewordenen symbolischen Institutionen und kulturellen Automatismen - sei es, daß er deren Assimilation vollzieht (erwirb es, um es zu besitzen), sei es, daß er die revoltische Gegendifferenzierung vorantreibt. Für die Ausdruckswelt gilt die Regel, daß die Einzelnen auf originelle Weise von der Regel abweichen sollen. Wenn Mephistopheles erklärt, »es erben sich Gesetz' und Rechte, wie eine ew'ge Krankheit fort« -spricht er bereits als bürgerlicher Expressivist, der meint, die Form sei etwas, was von innen nach außen wächst (und was uns als Fall von »Entfremdung« stört, sobald sie wie eine selbständige Tatsache gelten will). Im chronischen Konflikt zwischen dem Regelgehorsam und der Bekundung eigener Neigungen votiert er dem neuen Zeitgeist gemäß für die zweite Option. Hält man sich an die Auskünfte von Goethes Teufel, so macht er keinen Hehl daraus, daß er sich ganz der Moderne zurechnet - einem Kulturunternehmen, das sich auf das Abenteuer der permanenten Neueinstellung der Regeln eingelassen hat - von romantischen und katholischen Rückgriffen aufs Festeingestellte wenig beeindruckt. Hier wird nicht weniger versucht als die Überbietung der Tradition des Bewahrens durch die Tradition des Lernens. Darin verbirgt sich die für alle Konservativen bis hin zu Gehlen ungeheuerliche Vorstellung, daß Sitten, Institutionen, Gesetze, Syntaxen und Lebensformen etwas seien, was man verändern darf, sobald man es besser machen kann - vorausgesetzt, man versteht auch die geänderte Regel als eine Regel, die gilt. Eben diese pragmatistische Auffassung vom Gesetz ist es, was der konservativen Angst vor dem Umsturz bis gestern um nichts in der Welt einleuchten wollte: Für sie schien jede bewußt gewagte Abweichung von Herkommen, Norm und fester Einrichtung (Nietzsche sagt: von »Alter«, »Heiligkeit« und »Indiscutabilität der Sitte«; vgl. Friedrich Nietzsche, 1881, Morgenröthe, Erstes Buch, 19) auch schon die Absage an Ordnung überhaupt einzuschließen, und darin kündigt sich für sie das Schlimmste an - der anarchische Generalstreik gegen die Form, die Absage an den Takt, den Tonus, den institutionellen Grund der Welt. Von einer »offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten« erwartet man sich in den Kreisen nichts Gutes. Folglich trauern die wahren Konservativen dem starken Staat nach oder, in dezenterer Form, der Ordnung des Vaters, des Sohnes und des Signifikanten. Durch diesen Argwohn jedoch und dieses Heimweh nach dem Erhabenen wird das Wesen von Regeleinstellungen im modernen Nomotop mißverstanden: Das Leben unter den geltenden Regeln einer Gemeinschaft will eben, wenn es modern ist, etwas anderes sein als nur ein »unbefristeter Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes«; es denkt nicht mehr daran, sich von den bestehenden Zuständen, nur weil es Zustände sind, konsumieren zu lassen. Betet es nicht zum Gott des status quo und sinkt vor dem Stehenden und Staatlichen nicht a priori in die Knie, so ist es gleichwohl weder der Anarchie noch dem leerlaufenden Management verfallen. Das moderne Leben will die »Ordensregel«, der es folgt, als Ausdruck eines Optimierungsprozesses, an dem es selbst beteiligt ist, verstanden wissen - daher die revisionistische Grundstimmung der neueren Zeiten; daher auch die Neudeutung dieser Regel in Ausdrücken von akkumuliertem »sozialem Kapital« und aktiv zu vergrößernden »Vertrauensradien« (Francis Fukuyama, Der große Aufbruch. Wie unsere Gesellschaft eine neue Ordnung erfindet, 2000, bes. Teil 2: Über die Genealogie der Moral, S. 193-326). Bei alledem bleiben die Bürger der Gegenwart ebenso an lebbaren Formsicherheiten interessiert wie nur je eine ordo-gläubige Epoche. lm Gegenteil, mehr als jede frühere Zivilisation machen sie Sicherheitsfragen auf allen Ebenen explizit und arbeiten ihre lmmunitäten auf die artikulierteste Weise aus. So weit der Weg vom Absolutismus der Sitten und Formen bis zu ihrerVerflüssigung in Funktionsausdrücke und spontane Regelschöpfungen gewesen sein mag: Von den aktiven Parteigängern der modernen Zivilgesellschaft wird er im Bewußtsein der Kosten in voller Länge durchmessen, als wäre er das curriculum humanitatis überhaupt.In der entfalteten Modernität stellen sich nomotopische Tatsachen wie eine Menge von politischen und privaten Diätvorschlägen dar, die sich als Arbeitshypothesen für das Zusammensein des Kollektivs bewähren, Man könnte den Tardeschen Ausdruck »Moral-Mode« (morale-mode) hierfür verwenden, vorausgesetzt, man versteht unter Mode auch die epidemische Nachahmung des Sinnvollen und Praktischen. Von einem numinosen Grund des Rechts - der mystischen Selbstüberhöhung imperialer Verwaltungen während der letzten beiden Jahrtausende - will die Moderne nichts mehr hören. Dem widerspricht auch die Tatsache nicht, daß diese Hypothesen bei uns weiterhin in der quasi-erhabenen Diktion einer Verfassung niedergelegt sind. Sieht man die Umstände aus der Nähe an, läßt sich bemerken, daß auch Verfassungen in ihrem Kern Erfindungen und Gelegenheitsdichtungen sind. Daß dies buchstäblich zutreffen kann, zeigt der bekannte Satz von Thomas Jefferson über den okkasionellen Charakter der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776: »Neither aiming at originality of principle or sentiment, nor yet copied fromany panicular and previous writing, it was intended to be an expression of the american mind, and to give to that expression the proper tone and spirit called for by the occassion.« Zitiert nach: Hannah Arendt, Über die Revolution, 1974, S. 168.)Der Tensegritätscharakter des menschlichen Zusammenseins im nomotopischen Feld der nicht mehr statischen und nicht mehr etatistischen Assoziationen wird vor allem in der Komplexität der Arbeitsteilung manifest. Ohne die chronische Zugspannung aus der Ferne, die im Recht und der Sitte wirksam wird, läßt sich nicht verstehen, wie es möglich ist, daß Menschen der Versuchung durch Selbstversorgung in kleinen Einheiten widerstehen und sich auf einen Beruf im arbeitsteiligen Gemeinwesen einlassen: Ein solcher ernährt bekanntlich seinen Mann nur dann, wenn zahlreiche andere in ausreichendem Maß komplementäres anderes tun - bis aus den differentiellen Beziehungen der auseinandergespannten Aktivitäten der Markteffekt und mit ihm die Tauschgesellschaft entsteht. Was man den Markt nennt, ist eine durch Fernspannungen integrierte Konstruktion aus ineinander verschränkten Erwartungen. Das »System der Bedürfnisse« (G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, §§ 189-208) gewinnt seine mechanischen Qualitäten durch die Komplementarität der von ferne miteinander verfugten Einzelproduktionen. In der Art einer moralischen Fachwerkkonstruktion erzeugt die Tausch-Tensegrität neuartige Ansprüche an das Ethos der Marktteilnehmer: nicht nur, indem sie von ihnen Garantien für Produktqualität und Zahlungszuverlässigkeit, einschließlich des loyalen Gebrauchs der Münze, verlangt, sondern mehr noch, indem sie das Rechnen mit den Bedürfnissen entfernter Anderer zur Denk- und Lebensform erhebt. Wahrscheinlich ist die Fähigkeit von Menschen, in größeren sozialen Einheiten zu existieren, ohne die zivilisierende Wirkung der Tausch-Tensegritäten nicht zu erklären: Die Einübung in das Interesse am Interesse anderer bringt den anthropologisch höchst unwahrscheinlichen Zustand der Fern-Rücksicht hervor - auf welche spätere Morallehrer die noch unwahrscheinlichere Empfehlung der Fernsten-Liebe aufsetzen werden. Wo der Übergang vom Konkreten zum Abstrakten, von der Kleingruppenexistenz ins imperiale Format vollzogen werden muß, sind außer den Metaphern der Verwandtschaft und des Wohnens (vgl. Dieter Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, 1980) stets auch die handelsethischen Fernverspannungstechniken am Werk, um eine erste Form von »Weltethos« zu ermöglichen. Unter den Alten war es Aristoteles, der von solchen Zusammenhängen am explizitesten gehandelt hat - vorausgesetzt, man darf unsere Theorie der moralischen Fernspannungen innerhalb der Polis und im Inter-Polis-Raum als eine Neubeschreibung der aristotelischen Analyse des städtischen In-Ruf-Stehens von Männern und der regulierenden Macht des Ansehens präsentieren. Aus der bürgerlichen Fern-Rücksicht als chronischem Interesse am Interesse anderer entwickelt sich in den Tagen des Deutschen Idealismus der sogenannte kategorischer Imperativ - eine formale Injunktion, die ihren Adressaten jenseits aller näheren Informationen über den Inhalt ihres Sollens die Regel einprägt: Du sollst nur solche Dinge wollen, von denen du wollen kannst, daß auch andere sie wollen - und zwar, um dem universalistischen Motiv Genüge zu tun: alle anderen, und, um dem rationalistischen Gebot zu entsprechen: all jene anderen, die Vernunft anzunehmen fähig und willens sind. Nach Kant ist der zurechnungsfähige Mensch der Beamte seiner eigenen Urteilskraft und als solcher der Pflicht, richtig zu denken, untertan. Intelligenz ist Gehorsam gegenüber den Geboten, die den Fähigkeiten - oder, in der Sprache des 18. Jahrhunderts, den Vermögen des Gemüts - inhärent sind. Die eifrigen Mütter der Bürgerzeit driickten das in sinnverwandten Worten aus: Ein Talent verpflichtet auch zu etwas! Darum legten sie ihren Glaubenselan in ihre Brut wie eine Mission - mit dem Ergebnis, daß der Zustrom der begabten Kinder den zivilisatorischen Prozeß nach vorn katapultierte. Seit diese Investitionen sporadisch werden oder ausbleiben, ist das moderne Nomotop mit Deprimierten und Verwöhnten übervölkert, die vom Sollen verlassen wie vom Wollen enttäuscht sind - eine Stimmung kollektiver Formlosigkeit liegt über der Landschaft, Formlosigkeit, die sich gern durch Politikverdrossenheit erklärt (und die von Moralisten ohne theoretische Mittel gern als »Nihilismus« gedeutet wird). Indem Kant das individuelle Sollen gesetzesförmig faßte, bestätigte er den Einzelnen formal als den Weltbürger oder das sittliche Subjekt der Globalisierung, genauer als den Weltmarktteilnehmer, dem das Interesse am Interesse der An- deren in einem entgrenzten Nomotop zur zweiten Natur geworden wäre. Kants Imperativ bietet die äußerste Formalisierung des Glaubens an die moralische Produktivität von Fernspannung durch Arbeitsteilung. Er drückt zugleich die Annahme aus, daß der vernünftige Einzelne der imaginäre Gesamtmensch sei, der in seiner eigenen Person die Gattung vertrete und ihre Berufung zur Selbstgestaltung respektiere. Nach der Umformung des Deutschen Idealismus in die Deutsche Systemtheorie erscheint der kategorische Imperativ ermäßigt zu dem Satz: Handle jederzeit so, daß Andere an den Ergebnissen deines Handelns anschließen können. In negativer Fassung ergibt dies die Vorschrift: Du sollst nicht andere nicht brauchen. Anders: Du sollst die Menschen stets auch als Mittel und nie nur als Zwecke betrachten. Das Verbot, sich selbst zu genügen, dient dazu, den Akzent von der Arbeitsteilung auf die Kommunikation zu verlagern - wobei der letztere Ausdruck einigermaßen kühl als Aufeinander-Bezugnehmen (und nicht als Miteinander-Einigwerden) verstanden werden muß. Daß dieser Kommunikationsbegriff um vieles nüchterner ist als jener der Konsensusidealisten, leuchtet ein; daß er eine ironische Dimension besitzt, wird erkennbar, wenn man bedenkt, daß auch das Anknüpfen des Kommissars an den Spuren des Täters einen Fall von Kommunikation darstellt; ebenso das Anknüpfen des Grabräubers an den Beigaben, die einem Pharao die Reise durchs Totenreich erleichterten. Hier taucht ein Begriff von Kommunikation auf, der näher am Modell des Parasitismus liegt als bei der Verständigung unter Chancengleichen. Da aber ... der ungeladene Gast regelmäßig seinerseits Besucher oder Kommunikatoren dulden muß, die sich auf seine Kosten einladen, und diese wiederum von Mitessern dritter Ordnung genassauert werden und so fort, läßt sich das soziale Feld auch als ein Netzwerk von selbstbedienenden Anknüpfungen an den Leistungen und Lebensspielen anderer verstehen. Vielleicht ist das, was man mit den modernen Biologen die Umwelt nennt, nur das Verzeichnis der von einem gegebenen Standort aus parasitierbaren Adressen (oder die Liste der Parasiten, auf deren Besuch man gefaßt sein sollte).Neben dem seit Adam Smith und Hegel gut beschriebenen »System der Bedürfnisse« (), das über den Tausch komplementärer arbeitsteiliger Leistungen integriert wird, ist ein bisher wenig beachtetes System hintereinandergeschalteter Parasitierungen für die Versteifung des Ensembles »stabilisierter Spannungen«, das der status quo heißt, in Ansatz zu bringen. An seiner Basis beobachten wir die Einnistung von Embryonen in ihre Mütter als die nachgiebigsten Unter den Wirten; in der breiten Mitte entfaltet sich die sogenannte Arbeitswelt als integraler Parasit der Biosphäre: sie trägt den einseitigen Angriff der produzierenden Menschenwelten auf die Ressourcen des pflanzlichen und tierischen Lebens vor, den Marx in einer sonntäglichen Wendung als »Stoffwechsel des Menschen mit der Natur« bezeichnet hatte; an seiner Spitze steht das fiskalische System - der grandiose Parasitismus, mit dem der moderne Umverteilungsstaat sich selbst zur Tafel der GeseIlschaft lädt - als der Gast, der per Gesetz beschließt, daß er das größte Stück bekommt. Der integrale Kommunikator weiß, wie man an jeder Gehaltsüberweisung, jeder Zigarette, jeder Dienstleistung zwischen Bürgern anknüpft. Fazit des Systemikers: Ohne die Tensegritätseffekte der »kommunizierenden Bedürfnisse« und der parasitierten Parasitismen keine Ausdifferenzierung der Subsysteme.Peter
Sloterdijk (Sphären III - Schäume, 2004, S. 468-490) Vigilanz, befreite Laune, leichte Sexualität (Sloterdijks Windrose des Luxus)Daß es sich bei der Vigilanz um wirklichen Luxus handelt, zeigen die hohen Verschwendungsraten auf allen Feldern an. Es ist das signifikante Privileg von Besitzenden, mit ihrem Reichtum wenig anzufangen. Hierin halten es die postmodernen Besitzer extensiver freier wacher Zeit nicht selten wie die Herren von früher, denen nichts so fern lag wie der Gedanke, auf den Grundlagen ihrer ererbten Vorzüge etwas hervorzubringen.Vigilanzüberschüsse bedeuten für die Subjektivitäten, was fossile Brennstoffe und Sonnenenergie für die Maschinensysteme im Luxustreibhaus sind. Die freien Wachzeiten sind das Treibmittel, um die agglomerierten mikro-manischen Räume zu wölben und auszugestalten. Aus ihren Reservoirs lassen sich verschiebbare Quanten an subjektiver Energie für die Ausarbeitung von kultivierbaren Feldern abziehen, beginnend mit den einfachsten Vergnügen. Ihrer Uberschußnatur wegen werden zahllose Aktivitäten, denen jeder Arbeits- oder Pruduktionscharakter fehlt, wie sinnvolle Anstrengungen trainierbar; ist dies geschehen, legt sich der Übergang in die Wettbewerbsformen nahe; kurz nach seiner Einführung ist jedes Amüsement meisterschaftsfähig. Hat es sich ausreichend organisiert, setzt es auch seine spezifischen Pathologien frei, die wiederum durch entsprechende Trainer und Therapeuten betreubar werden.Schon das Wenige, das in den Aktivismus der Launen fließt, ergibt unfaßbar Vielfältiges und unresümierbar viel. Man muß, um die Effekte von einem abstrakten Punkt aus zu überblicken, mit dem Satz beginnen, daß Reichtum nur Reichtum für Vigilanz ist, die ihn schätzt. Weil Vigilanzluxus die Schlüsselfunktion für jeden Luxus darstellt, bildet er das Zentralnervensystem des Konsumismus und der Freizeitindustrien. Mehr noch: Er birgt die Kryptospiritualität der scheinbar entgeisterten Epoche in sich, weil sie die Matrix für alle Nuancierungstätigkeiten liefert. Von der Ironie der Schatzsuche: daß im Wachbewußtsein des Suchers der Schatz liegt, der in den Gegenständen vermutet wird, nehmen nur meditative Subkulturen Notiz. Es sind wenige Einzelne, die sich klarmachen, daß der Reflexions- und Meditationsluxus - das Aufmerksamwerden für das eigene Aufmerksamsein - die Grundform der Gipfelerlebnisse vorgibt.Der Hauptstrom der Vigilanz fließt zu Gegenständen hin, deren Vergegenwärtigung in wacher Gewahrwerdung als Genugtuung erfahrbar wird. Das Wachweltleben stellt die Überschüsse an Aufmerksamkeit und trainierbarer Urteilskraft bereit, ohne die es keine verfeinerte Selbstsorge, keinen höheren Erfahrungsstoffwechsel gibt - ja, solange das Arbeitsleben vor allem Handwerk war, profitierte auch dieses vom Verfeinerungsmehrwert, der an den libidinösen Rückkoppelungen gekonnter wacher Verrichtungen haftet. Dies läßt sich heute an zahlreichen Feldern erweiterter Vigilanz-Investition beobachten. Alle Formen der Erinnerungskultur - Kernstück des alteuropäischen Zivilisationskonzepts - leben von der Verwendung überschüssiger Wachzeiten zur Besetzung innerer und äußerer Bilder vom Vergangenen. Was man seit dem 19. Jahrhundert als Historismus kennt, ist ein kulturweit spürbarer Nebeneffekt aus der Kanalisierung enormer Freizeitquanten in die Ausmalung attraktiver Vergangenheiten; die Genugtuung über die Tatsache, daß man von anderen Epochen überhaupt etwas weiß, rundet die Subkultur der Erinnerer in sich ab. Neben den Anhängern der Kunstreligion waren die Historisten die ersten, die sich der Aufgabe widmeten, ihre Laune in eine allgemeine Notwendigkeit, besser, in ein geistiges Grundnahrungsmittel für die Vielen umzuformulieren.Kulturen der Dekadenz sind möglich, weil Wachheitsluxus sich mit Vorliebe als Morbiditätsluxus artikuliert. Wo man die Morbidität meditiert, wird Schwäche als trainierbarer Zustand erschlossen. Bei hohen Graden kollektiver Freisetzung für Übungen des Aus-der-Form-Kommens lassen sich in einer hinreichend verwöhnten Population rasch eindrucksvolle Ergebnisse beobachten: Dank zirkulärer Verstärkung tritt neben der schnellen Erschöpfung bei den Jungen ein epidemischer vager Überdruß an allem und jedem bei den Älteren an den Tag.Kulturen des Negativismus sind möglich, weil in den Milieus der Erfolglosen viel freie Zeit in die Beschreibung beliebiger Gegenstände unter dem Filter der Mißgunst investiert werden kann. Längst läßt sich ein Großteil dessen, was in den Feuilletons als Kritik und Kommentar auftritt, besser unter den Rubriken Hämeluxus und Herabsetzungsluxus verzeichnen; dessen psychischer Gebrauchswert besteht darin, daß er die Nachfrage nach Gesten leeren Darüberstehens befriedigt (früher ein Monopol des Spiegels, heute nahezu allgemeiner Standard).Kulturen des Ressentiments sind möglich und prosperieren wie nie zuvor, weil durch die Begegnung von Frustration und Freizeit viel Aufmerksamkeit sich auf das Nachtragen von Kränkungen spezialisieren kann; die immerwache Intellektuelleneifersucht bringt ständig wechselnde Inquisitionen gegen die Häresien des Erfolgs hervor. Ob diese Formen des Luxus der Gesamtkultur - was immer das sei () - zugute kommen, mag unentschieden bleiben. In optimistischer Sicht läßt sich bemerken, wie das Ressentiment den Aggressionsstoffwechsel durch ballaststoffreiche Kränkungseinbildungen fördert.Die Entscheidung, das Luxusphänomen vom Überschuß freier Vigilanz her zu deuten, bringt den Vorteil mit sich, bei der Darstellung der diversen Ausprägungen luxuriöser Lebensgestaltung sich nicht mit Anekdoten und Aufzählungen aufhalten zu müssen - wie man es noch an den bedeutendsten Leistungen älterer Geschichtsschreibung beobachtet: In den klassischen Sittengeschichten des Luxus passieren Kleider, Schmuck, Blumenarrangements, Gebäude, Möbel, Speisen, Maitressen und Dienerschaften Revue, ohne daß sich ein übergeordneter Gesichtspunkt - der des Wohlstands samt seinen launischen Überspitzungen ausgenommen - herausbildete.Indem wir von der Freisetzung der Vigilanz ausgehen, besitzen wir ein Kriterium, das die existentiellen Qualitäten des Überflüssigen adäquater ausleuchtet, als jeder gegenständliche Begriff von Reichtum und Verschwendung es vermöchte. Zugleich wird hervorgehoben, daß die Investition von »Zeit und Geld« in eine bevorzugte Sparte des Tuns und Genießens einen Fall von freier Laune darstellt. Der Sieg über die Notwendigkeit läßt sich im Begriff des Luxus selbst verankern - und das heißt ... am Schnittpunkt von Wohlstand und Vigilanz. Auf diese Weise wird festgehalten, daß auch die Laune ein Training voraussetzt. Wo die Laune in Übungen elaboriert wird und sich in individuierten Strähnen, Serien und Verzweigungen ergeht, erzeugt sie eine Gravitation eigener Art. Man könnte sagen, daß Virtuosität nichts anderes ist als eine überflüssige Verausgabung, die von der kultivierenden Schwerkraft der Wiederholung eingefangen wurde.Darüber hinaus führt der Hinweis auf seine Quelle in der Vigilanz den Luxus nahe an die »Ästhetik des Alltags« heran, von der neuerdings gezeigt werden konnte, daß sie einem Luxus zweiter Ordnung« zugehörig ist, exemplarisch verkörpert im Verlangen nach Ruhe, Leere, Vereinfachung und echten Gefühlen. (Vgl. Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, 2002, S. 102f. ). Weil das Phänomen Vigilanz der Bifurkation von Aufmerksamkeit und Zerstreuung vorgelagert ist, umspannt es die beiden Ausprägungen ästhetischer Theorien, die sich einem der beiden Pole zuordnen. Mehr noch, da es auch dem Gegensatz von Sorgsam-Beachten (religere) und Vernachlässigen (necligere) vorausliegt, kann das Wachen in stabile Kulte einfließen - aber auch in Improvisationen. Als Matrix der Religionen wie der profanen Zerstreuungen verbündet sich das freie Wachen mit dem Regelmäßigen wie mit dem Einmaligen.Unötig zu sagen, daß die gesamte literarische und musikalische Kultur an der Chance hängt, frei Wachzeiten für Lesen, Hören, Üben und Vergleichen aufzuwenden. Zu notieren ist: In der Geschichte sämtlicher Zivilisationen (bzw. Kulturen ) wurden, entgegen aller Kulturkritik und Verfallstheorie, noch nie so viele Zeiteinheiten in das Lesen (von ...), das Hören (von ...), das Betrachten (von ...), das Besuchen (von ...) ... investiert wie in der Gegenwart ...In den jüngsten Varianten der Kulturkritik wird davon gesprochen, daß dem postmodernen Subjekt elementare Merkmale der klassischen Persönlichkeitsstruktur wie die Orientierung an stabilen Normen, die Überzeugung von der eigenen Unkäuflichkeit, das Selbstwertgefühl aufgrund bewährter Kompetenzen, der Sinn für biographische Kontinuität abtrainiert werden, um den völlig kapitalkompatiblen Menschen zu erzeugen. Von diesem heißt es, teils klagend, teils deskriptiv, er oszilliere zwischen Job und Spaß, moralisch entkernt, schlangenhaft wendig, hochgradig außendienstfähig, vorurteilsfrei wie ein Waffenhändler, postnational wie ein Bordellbesitzer. Die von Marx und Engels konstatierte analytische Macht der Geldverhältnisse: daß »alles Ständische und Stehende verdampft«, hätte somit die letzte Zitadelle des vormodernen Ordo-Bestands, die personale Schicht, erreicht. Durch die Erschließung von Spaß als Wertschöpfungsquelle wäre der subjektive Faktor endgültig in die Kapitalsphäre integriert; schließlich wäre auch das erotische Leben für den Markt geöffnet worden, wie um den von Wilhelm Reich lancierten Mythos der »sexuellen Revolution« zu widerlegen, nach dem die Lohnabhängigen durch das Ausleben ihrer Sexualität zu phallischen Rebellen würden - folglich zu Refraktären gegen jede Art von Entfremdung. In Wirklichkeit hat die Eingliederung der Sexualität in die Spaßkultur eine breite Subjektivierung des Bewußtseins vom Reichtum bewirkt und auf diese Weise einen ernstzunehmenden Wahrheitseffekt provoziert. Tatsächlich kann die am Menschenwesen haftende Unmöglichkeit, arm zu sein, an keiner anderen biologischen Mitgift - das Vigilanzvermögen ausgenommen - so evident illustriert werden wie an der Sexualität.Ihre Existenz verdankt die zeitgenössische Sexualkunde der Wendung ins Explizite, die den Tatsachen des Bewußtseins in der Moderne die mystifizierende Etikettierung »Revolution« einbringt. Die sexuelle Explikation ... hat die Modi und Voraussetzungen des sexuierten Lebens publizistisch, wissenschaftlich, ästhetisch, psychologisch und ökonomisch in einer historisch nicht bekannten Weise ans Tageslicht gehoben ... (). ... Deswegen bildet decodierter, explizierter von emotionalen und reproduktiven Bedeutungen leicht abgekoppelter Sex die Mitte der Spaßkultur - das heißt des Systems der emanzipierten Launen. Nur eine verschwindende Minderheit von Intimhandlungen hat aktuell oder potentiell noch einen Bezug auf die Zeugung von Nachkommen, sei es als zu begrüßende oder zu verneinende Möglichkeit, während sich die große Zahl der Liebesspiele im Horizont von Lustgewinn, Performance oder Entspannung erschöpft. (Niemand sollte sich wundern, wenn die Konservativen des Westens und die aktuellen Vertreter des autoritären Kapitalismus im Osten - um von der islamistischen Reaktion () zu schweigen - sich in der Verwerfung der leichten Sexualität einig sind.) ... Je expliziter die Sexualität wird, desto mehr nähert sie sich dem Pol der Verschwendung.Die für sich gesetzte Sexualität, wie sie inzwischen in den kinderarmen »Gesellschaften« des Westens () dominiert, expliziert eine evolutionär gut etablierte Naturdimension von Verschwendung. Sie ist bei allen Säugetieren angelegt, wird bei den Hominiden intensiviert und in der Sapiens-Linie auf die Spitze getrieben. Der Übergang zum Permasex zeichnet sich bei einigen Primaten ab - schon hier gewinnt die sexuelle Aktivität luxurierende Eigenwerte, sie fließt auch gelegentlich, wie das bekannte Beispiel der Bonobos zeigt, ins Gruppenmanagement ein.Peter
Sloterdijk (Sphären III - Schäume, 2004, S. 844-857) Der ästhetische ImperativAuch das Licht der Aufklärung macht Erfahrungen mit seinem Schatten. Es ... entdecken die meisten Kommentatoren die Notwendigkeit einer »Abklärung der Aufklärung« bzw. einer Kritik der lichtbringerischen Vernunft. Was landläufig Postmoderne genannt wird, hat eines seiner überzeugendtsen Motive in dieser Nachuntersuchung von Aufklärungsfolgen.Peter
Sloterdijk (Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 99) Peter
Sloterdijk (Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 99-100) Peter
Sloterdijk (Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 100) Peter
Sloterdijk (Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 100-103) Peter
Sloterdijk (Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 140-142) Peter
Sloterdijk (Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 143-144) Peter
Sloterdijk (Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 144-146) Peter
Sloterdijk (Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 148-150) Peter
Sloterdijk (Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 152-156) Peter
Sloterdijk (Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 157-159) Peter
Sloterdijk (Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 178-180) Peter
Sloterdijk (Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 181) Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort, in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 494-495) Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort, in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 495-496) Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort, in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 500) Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort, in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 500-501) Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort, in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 501-502) Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort, in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 502-504) Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort, in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 508-509) Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort, in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 511-513) Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort, in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 513-514) Peter
Weibel (Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort, in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 514-516) |
Anmerkungen
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© Hubert Brune, 2001 ff. (zuletzt aktualisiert: 2014).