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| Prämoderne | Moderne | Postmoderne |

 
KANT und HEGEL
mit Kind und Kegel
Friedrich Schlegel
Arthur Schopenhauer
Friedrich Nietzsche
Oswald Spengler
Martin Heidegger
Jean François Lyotard
Niklas Luhmann
Peter Sloterdijk
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Moderner Kreis der Heuristik
Moderne: Mobilisierung / Globalisierung
Versuch einer Gliederung
Versuch einer Dreigliederung
Spät-Denker (Modernisten)
Linguistische Wende
Architektur und Kunststile
Kommunalbauten
Geist der Weltstadt
Global-Terrorismus
Unfruchtbarkeit und Zerfall
Moderne (Frühmoderne, Hochmoderne, Spätmoderne)

Im engeren Sinne ist jede Moderne eine Spätkultur-Moderne. Das liegt am Aufschub. Wer die Geburt vorverlegt, wird spät erwachsen und erlebt so die Moderne als Herbst. (Vgl. „Progenese“ & „Neotenie“). Demzufolge beginnt die Moderne im Abendland mit der „Industriellen Revolution“ (Industrielle Revolution) bzw. mit der „Bürgerlichen Revolution“ (Büregerliche Revolution). Sie ist also eine „Industrie-Moderne“ oder „Zivil-Moderne“ ! (Nebenbei bemerkt: AlleKulturen“ sind, weil sie Schriftkulturen bzw. Historienkulturen sind, als Gesamtphänomen eine „Moderne der Neanthropinen-Kultur“ [Moderne der Neanthropinen-Kultur] und, weil die Neanthropinen-Kultur eine „Moderne der Menschen-Kultur“ [Moderne der Menschen-Kultur] ist, eine „Moderne der Moderne der Menschenkultur“; doch das ist eine Definition im weiteren Sinne!). Jede Kultur ist von Anfang an auf Moderne hin angelegt, denn erst wenn ihre Moderne beginnt, beginnt auch ihr Erwachsensein. Und weil die abendländische Moderne, die besonders stark durch Technik und Ökonomie, vor allem durch die „Industrielle Revolution“, geprägt worden ist, als ein explosives Feuer mit besonders radikalen Global-Konsequenzen bezeichnet werden kann, können die Modernen aller anderen Kulturen nur noch als harmlose Lagerfeuer betrachtet werden. Die Abendland-Kultur ist als einzige ein spätmodernes Phänomen der „Neanthropinen-Kultur“ ist. Die Abendland-Kultur ist die „Spätmoderne der Neanthropinen-Kultur“; demnach ist die Abendland-Moderne die „Moderne der Spätmoderne der Neanthropinen-Kultur“; also ist die Abendland-Spätmoderne die „Spätmoderne der Spätmoderne der Neanthropinen-Kultur“. Was auch immer das bedeutet (Spätmoderne der Spätmoderne der Neanthropinen-Kultur) !


Kant oder Hegel (oder beide?) als „Vater der Moderne“?

Die modernistische „Kopernikanische Wendung“, mit der schon Kant (1724-1804) berühmt wurde (Kant), ist ein für „Spät-Denker“, d.h. für die Moderne, ganz typischer Begriff. Kant bildete den geistigen Übergang von jugendlicher zu erwachsener Kultur. Dieser Denkpolizist fand den Grenzraum zwischen Hochdenkern und Spätdenkern. Als jüngerer Vorkritiker war er Hochdenker, als älterer Nachkritiker war er Spätdenker. Durch Kant erhielt auch das Abendland seine eigenen denkgeschichtlichen Fußnoten. Durch Kant wurde die abendländische Philosophie erwachsen. Durch Hegel (1770-1831) wurde diese zivil-moderne Reife eine Spätlese, eine erste Herbsternte:

Hegels Politprojekt der Moderne:
Die Substanz (Masse) als Subjekt zu entwickeln.

Die machtvollste politische Maxime der Moderne stammt von Hegel mit seinem logischen Programm, die Substanz als Subjekt zu entwickeln - die Masse als Subjekt zu entfalten. (Hegel). Hegel gab dem Projekt der Moderne seinen Inhalt und sein Ziel. Und wenn man Hegels beiläufige Diagnose über Langeweile und Leichtsinn als Zeitsymptome der Frühmoderne mit den Zeitsymptomen der Hochmoderne vergleicht - z.B. mit der Diagnose über die Themen Langeweile und Zerstreuung, denen Martin Heidegger (Heidegger) in seiner Kulminationsphase zwischen 1926 und 1930 Radikalisierungen abzugewinnen wußte -, dann „kann man sich indirekt, im Spiegel der Theorie, von dem immensen Fortschritt des Levitationsgeschehens einen Begriff bilden“, so der mit den Zeitsymptomen der Spätmoderne arbeitende Peter Sloterdijk (Sloterdijk). Er beschreibt den Prozeß der abendländischen Moderne als einen immer expliziter werdenden Auftrieb im abendländischen Schaum. Dieses nicht selten als Träumen daherkommende Schäumen ist für Sloterdijk ein Synonym für Moderne. Moderne Denker sind Denker erwachsener Art, sind Spät-Denker („Modernisten“). WEITER


„Das Problem unsrer Poesie scheint mir die Vereinigung des Wesentlich-Modernen mit dem Wesentlich-Antiken;
wenn ich hinzusetze, daß Göthe (Goethe), der erste einer ganz neuen Kunst-Periode, einen Anfang gemacht hat, sich diesem Ziele
zu nähern, so wirst Du mich wohl verstehen.“ So Friedrich Schlegel (Friedrich Schlegel) am 27. 02. 1794 an seinen Bruder August Wilhelm.

„Nämlich der alte, von Kant umgestoßene Dogmatismus (nicht weniger die Windbeuteleien der
drei modernen Universitäts-Sophisten) ist transzendent; indem er über die Welt hinausgeht, um sie
aus etwas Anderem zu erklären: er macht sie zur Folge eines Grundes, auf welchen er aus ihr schließt. ...
Meine Sätze hingegen beruhen meistens nicht auf Schlußketten, sondern unmittelbar auf der anschaulichen
Welt selbst ... - Alles hier Gesagte läßt sich in den Satz zusammenfassen, daß meine Philosophie auf dem
analytischen, nicht auf dem synthetischen Wege entstanden und dargestellt ist. ... Von einem Willen läßt
auch der Theismus die Welt ausgehen. ... Der Pantheismus nennt den in den Dingen wirkenden Willen
einen Gott; wovon ich die Absurdität oft und stark genug gerügt habe: ich nenne ihn den Willen zum Leben;
weil dies das letzte Erkennbare an ihm ausspricht. ... Denn die letzte Lösung des Rätsels der Welt müßte notwendig
bloß von den Dingen an sich, nicht mehr von den Erscheinungen reden. Aber gerade auf diese allein sind alle unsere
Erkenntnisformen angelegt; ... diese Formen haben bloß in Beziehung auf die Erscheinung Sinn und Bedeutung;
die Dinge an sich selbst und ihre möglichen Verhältnisse lassen sich durch jene Formen nicht erfassen.
Daher muß die wirkliche, positive Lösung des Rätsels der Welt etwas sein, das der menschliche Intellekt
zu fassen und zu denken völlig unfähig ist; so daß, wenn ein Wesen höherer Art käme und sich alle Mühe
gäbe, es uns beizubringen, wir von seinen Eröffnungen durchaus nichts würden verstehen können.“
Arthur Schopenhauer (Schopenhauer) und sein System, überall den Dingen auf den Grund zu kommen.

„Unnütz zu sein gehört zum Charakter der Werke des Genies; es ist ihr Adelsbrief.“
(Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 909 Schopenhauer).

„Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören,
gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft:
»Sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst«.“
(Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 6 Nietzsche).

„Ein Mal eins. Einer hat immer Unrecht; aber mit Zweien beginnt die Wahrheit.
Einer kann sich nicht beweisen; aber Zweie kann man bereits nicht widerlegen.“
(Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 183 Nietzsche).
Nietzsche (Nietzsche) hat sein Ein-mal-Eins gelernt. Andere Einzelne auch?

„Ich kenne mein Los, es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen,
an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissenskollision, an eine Entscheidung,
heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt und geheiligt war.“
(Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 111 Nietzsche).

„Hier wird nicht mehr das ideale Abstraktum »Mensch« wie bei Kant, sondern der wirkliche Mensch, wie er in historischer Zeit,
als primitiver oder als Kulturmensch völkerhaft gruppiert die Erdoberfläche bewohnt, der Betrachtung unterworfen, ... (...) ...
wenn wir uns den Denkern der westeuropäischen Modernität von Schopenhauer an zuwenden, dort, wo der Schwerpunkt
des Philosophierens aus dem Abstrakt-Systematischen ins Praktisch-Ethische rückt und an Stelle des
Problems der Erkenntnis das Problem des Lebens (des Willens zum Leben, zur Macht, zur Tat) tritt.“
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 32 Spengler).

„Jede Modernität hält Abwechslung für Entwicklung. Die Wiederbelebungen
und Verschmelzungen alter Stile treten an die Stelle wirklichen Werdens.“
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 379 Spengler).

„Man wird immer an die Spitze der moralischen Modernität Kant ... stellen müssen,
dessen Ethik das Motiv des Mitleids ablehnt und die Formel prägt : »Handle so, daß ... «.
Alle Ethik dieses Stils will Ausdruck des Willens zum Unendlichen sein, und dieser Wille fordert
Überwindung des Augenblicks, der Gegenwart, der Vordergründe des Lebens. ... Der Sozialist befiehlt.
Die ganze Welt soll die Form seiner Anschauung tragen - so läßt sich die Idee der »Kritik der reinen Vernunft«
ins Ethische umsetzen. Das ist der letzte Sinn des kategorischen Imperativs, den er aufs Politische, Soziale, Wirtschaftliche
anwendet: Handle so, als ob die Maxime deines Handelns durch deinen Willen zum allgemeinen Gesetz werden sollte.
Und diese tyrannische Tendenz ist selbst den flachsten Erscheinungen der Zeit nicht fremd.“
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 463-464 Spengler).

„Gleichwohl bleibt Kants These über das Sein als reine Position ein Gipfel, von dem aus der Blick
rückwärts reicht bis zur Bestimmung des Seins als upokeisqai und vorwärts weist
in die spekulativ-dialektische Auslegung des Seins als absoluter Begriff.“
(Martin Heidegger, Kants These über das Sein, 1929, S. 36 Heidegger).

„Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. ....
Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und Dichten eine
Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang.“
(Martin Heidegger im Gespräch mit Rudolf Augstein, in: Spiegel [10], 1966 Heidegger)

„Die Wissenschaft bewegt sich nicht in der Dimension der Philosophie, sie ist aber, ohne daß sie es weiß, auf diese
Dimensionen angewiesen. Zum Beispiel: Die Physik bewegt sich im Bereich von Raum, Zeit und Bewegung;
was Bewegung, was Zeit, was Raum ist, kann die Wissenschaft als Wissenschaft nicht entscheiden. Man kann
nicht mit physikalischen Methoden sagen, was die Physik ist. Das kann man nur philosophierend sagen.“
(Martin Heidegger - im Denken unterwegs Heidegger).

„Nietzsche war der Chefdesigner des mächtigsten Mentalitätsstroms der Moderne: des Individualismus.“
(Peter Sloterdijk, in: Focus (34), 21.08.2000, S. 86 ).

„Die neuen Immunitätstechniken empfehlen sich als Existentialstrategien für Gesellschaften aus Einzelnen,
bei denen der Lange Marsch ... zum Ziel geführt hat - zur Grundlinie des von Spengler richtig prophezeiten
Endes jeder Kultur: jenem Zustand, in dem es unmöglich ist, zu entscheiden, ob die Einzelnen außergewöhnlich
fit oder außergewöhnlich dekadent sind. Jenseits dieser Linie verlöre die letzte metaphysische Differenz,
die von Nietzsche verteidigte Unterscheidung von Vornehmheit und Gemeinheit, ihre Kontur, und was am
Projekt Mensch hoffnungsvoll und groß erschien, verschwände wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“
(Peter Sloterdijk, Sphären - II -, 1999, S. 1004f. ).

„Spenglers zentrale Denkerfahrung liegt in der Beobachtung, daß Formen ein Eigenleben haben - sein ganzes
Genie steckt in diesem Motiv. Die Form, die Spengler vor allem interessiert, ist das, was er eine Kultur nennt. ....
Spengler redet in solchen Zusammenhängen ganz nietzscheanisch, wobei man wissen muß, daß Nietzsche
in seinen besten Augenblicken als Immunologe spricht, wie ein Kulturarzt, der weiß, daß Kulturen und
ihre Träger, die Menschen, Wesen sind, die mit dem Ungeheuren geimpft werden und eigensinnige
Immunreaktionen entwickeln, aus denen verschiedene kulturelle Temperamente hervorgehen.
In diesem Sinne muß man Spenglers These auffassen, daß es nur acht Hochkulturen im eigentlichen
Wortsinn gegeben habe. Nur in dieser kleinen Zahl von Fällen haben sich die hochkulturschöpferischen
Immunreaktionen vollzogen, von denen jede einzelne einen unverwechselbaren Charakter besaß.
Die acht hohen Kulturen () wären demnach die Abwicklung lokaler Immunreaktionen.“
(Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 177, 225f.).

„Die Lichtung aber ist, wie wir jetzt wissen, nicht ohne ihre technogene Herkunft zu denken. ...
... Humanitas hängt am Stand der Technik. Je mächtiger die Techniken werden, desto eher lassen die
Menschen die Werkzeuge, die Griffe haben, fallen, und ersetzen sie durch Werkzeuge, die Tasten haben. ...
Wenn »es« den Menschen »gibt«, dann nur, weil eine Technik ihn aus der Vormenschheit hervorgebracht hat.
Sie ist das eigentlich Menschen-Gebende. ... Technik, hat Heidegger doziert, ist eine Weise der Entbergung.
Sie holt Ergebnisse ans Licht, die von ihnen selbst her so nicht und nicht zu dieser Zeit an den Tag gekommen wären.“
(Peter Sloterdijk, Die Verdeutlichung der Lichtung, in: Versuche nach Heidegger, 2001, S. 224, 225, 228 ).

„Zu Recht hatte Heidegger gelehrt, die Technik sei eine »Weise des Entbergens«.“
(Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 79 ).

„In den Zeug-Analysen von Sein und Zeit hat sich Martin Heidegger als erster Chirotopologe hervorgetan ....“ (Peter Sloterdijk, Das Chirotop - Die zuhandene Welt, in: Sphären III - Schäume, 2004, S. 364 ).

„Als Schriftsteller ist Sloterdijk Schopenhauer und Spengler ebenbürtig.“
(Frankfurter Allgemeine Zeitung).


Unsere Moderne kann man auch als unseren Historismus bezeichnen - gekennzeichnet durch Eurozentrismus bzw. Europäismus. Unser Historismus, der uns unter anderem gelehrt hat, daß auch in der Geschichte mit großen Zahlen gerechnet werden muß, wird sich auch in Zukunft (wahrscheinlich sogar mit deren großen Zahlen Zukunft !) behaupten, denn er hat seine Krise überstanden, das heißt: wir haben unsere Krise überlebt. Die Krise unseres Historismus fiel mit dem Ende des 1. Weltkriegs zusammen und führte zur methodologischen Neuorientierung unserer modernen Geschichtswissenschaft: unseres Historismus. Fast gleichzeitig kam es in Philosophie und Wissenschaft zur „Linguistischen Wende“:

Linguistische Wende

Ausgehend von der Linguistik de Saussures (1857-1913) beeinflußte der Strukturalismus rasch die Methoden der „Wissenschaften vom Menschen“, zum Beispiel: Anthropologie, Ethnologie, Psychologie, Soziologie, Kunstästhetik u.a.. Der Strukturalismus sieht in der Sprache, die als „Code“ aufgefaßt wird, d.h. als ein nach bestimmten Regeln kombinierbares Zeichensystem mit kommunikativen Funktionen, den Prototyp jeder ganzheitlichen Organisation der Wirklichkeit. Die vom Strukturalismus synchronisch untersuchten Sprachmodelle werden methodisch auf den gesamten Bereich des menschlichen Verhaltens ausgedehnt, besonders auf die gesellschaftlichen Phänomene. Der Strukturalismus will also antigeschichtlich und amtimetaphysisch bzw. antiideologisch vorgehen. Der Soziologe Lévi-Strauss (*28.11.1908) entwickelte z.B. eine Theorie, die davon ausgeht, daß „Kulturerscheinungen in einer anderen Ordnung der Wirklichkeit Phänomene vom gleichen Typus wie die sprachlichen sind“. Dieser Ansatz eröffnet die Möglichkeit, bestimmte Beziehungen zwischen der Sprache als dem Benennungssystem und dem System der menschlichen Werthaltungen und Einstellungen gegenüber natürlichen Phänomenen herauszuarbeiten. Bei Lévi-Strauss verschwindet das Subjekt zugunsten der Strukturen: „Ich habe nie das Gefühl meiner persönlichen Identität gehabt, habe es auch jetzt nicht. Ich komme mir vor wie ein Ort, an dem etwas geschieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist. Jeder von uns ist eine Art Straßenkreuzung, auf der sich Verschiedenes ereignet. Die Straßenkreuzung selbst ist völlig passiv; etwas ereignet sich darauf. Etwas anderes, genauso Gültiges, ereignet sich andeswo. Es gibt keine Wahl, es ist einfach eine Sache des Zufalls.“ Lévi-Strauss entleerte in seiner strukturalen Anthropologie das Subjekt von außen, Lacan (1901-1981) von innen - wie Freud. (FreudFreud). Das Unbewußte ist sprachlich strukturiert, und: „da ich nicht über mein Unbewußtes verfüge, kann ich kein autonomes Subjekt sein“, so der strukturalistische Psychoanalytiker Lacan.

Analytische Philosophie setzt auf die formal erweiterte Logik (die mehrwertige Logik bzw. Logistik), auf Sprache, ihre Syntax. Es sollen künstliche Sprachen aufgebaut werden, zurückgreifend auf den einfachen sprachlichen Inhalt der Sätze (Syntakteme). Beim Versuch, die Welt wissenschaftsgültig zu beschreiben, stieß z.B. Rudolf Carnap (1891-1970) mit seinem Konstitutionssystem auf Sprachschwierigkeiten. Deshalb versuchte er die Sprachprobleme durch formale, künstliche Sprachen zu lösen. Er glaubte, wissenschaftliche Erkenntnisse darstellen zu können.

Ludwig Wittgenstein (1889-1951) beschäftigte sich zunächst mit einer Idealsprache zur Abbildung der Tatsachenwelt, und dann, mit seiner Idee der Sprachspiele, der Umgangssprache. „Alle Philosophie ist Sprachkritik“, sagte Wittgenstein: „Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemeint haben muß, um sie darstellen zu können - die logische Form. Um sie darzustellen, müßten wir uns mit dem Satz außerhalb der Logik aufstellen können, d.h. außerhalb der Welt.“ Er kam zu dem zum Schluß: „Das Resultat der Philosophie sind nicht philosophische Sätze, sondern das Klarwerden von Sätzen. .... Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“

In den „Philosophischen Untersuchungen (erschienen 1953) revidierte Wittgenstein diese Ansichten teilweise: „Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben“. Wittgensteins Kunde, daß alle Philosophie Sprachkritik, der Rest Schweigen und alle Wahrheit auf das klar Sagbare, also die Naturwissenschaft, eingegrenzt sei, verrät, weil ja die Eingrenzung selbst beredt ist, den Grund seiner Philosophie: eine unsagbare private Subjektivität.

 

7 Haupt-Sätze (nach Wittgenstein):

1) Die Welt ist alles, was der Fall ist.

2) Was der Fall ist, die Tatsache, ist
das Bestehen von Sachverhalten.

3.) Das logische Bild der Tatsachen
ist der Gedanke.

4.) Der Gedanke ist der sinnvolle Satz.

5.) Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion
der Elementarsätze.

6.) Die allgemeine Form der
Wahrheitsfunktion ist:
_  _        _   
(P, x, N(x))
.

7.) Wovon man nicht sprechen kann,
darüber muß man schweigen

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“
Wer von Steinen nicht reden will, soll von Menschen schweigen.“

 

„Die Postmoderne ist der Zweifel an allen großen Erzählungen, also auch an Ideologien, Ideale oder Utopien wie Psychoanalyse, Marxismus, Christentum und andere Religionen.“ (Jean François Lyotard).

Die „Postmoderne“, wie Jean François Lyotard (1934-1998) philosophierte, bedeutet problemlose Vielfalt der Lebensformen oder Lebensstile, die ja nach Wittgenstein Sprachspiele sind. Lyotard verfaßte 1979 die Programmschrift „Das postmoderne Wissen“, wobei er den in amerikanischen Architektur-Debatten bereits gängigen Begriff „postmodern“ aufnahm, welcher Vielfalt der Stile (Codes) bzw. Silelemente in einem Objekt bedeutet, mindestens Zweiheit eines elitären und eines populären Codes. Dieser Begriff aus der Ästhetik, angewendet auf das Wissen, die Sprachspiele, die Diskurse, meint: Ästhetisierung der Vernunft. Alle Denkformen, Sprachspiele, Interpretationen, sind möglich.

    Die  Geschichten der Moderne                und                          die „sterbenden Erzählungen“ der Postmoderne
Postmoderner Baustil

„Anything goes“, formulierte Karl Feyerabend (1924-1994) und machte, wie Lyotard, damit einen Befund von Max Weber (1864-1920) geltend, der schon Anfang des 20. Jahrhunderts einen nicht mehr synthetisierbaren Pluralismus und Widerstreit letzter Sinngebungen in der abendländischen Gesellschaft konstatierte. Es gibt keinen umfassenden, maßgebenden Metadiskurs, keine „großen Erzählungen“ mehr „wie die Dialektik des Geistes (Hegel), die Hermeneutik, die Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts (Marx), des Sinns (Heidegger)“, schrieb Lyotard in einer Studie. Das soziale Leben ist ein Ensemble von Zügen in Sprachspielen, die nirgendwo ihre Legitimation haben.

„Das Subjekt gelangt zur Wollust durch die Kohabitation der Sprachen“
(Roland Barthes, Die Lust am Text, 1973)

Nicht falls, sondern weil die Postmoderne Fortsetzung der Moderne ist, ist sie eine Begleiterscheinung der Moderne, besonders der Spätmoderne, denn die Spätmoderne ist eine (wenn auch späte oder letzte) Phase der Moderne. Weil man aber die Abendland-Kultur selbst auch als eine Spätmoderne (der Neanthropinen-Kultur nämlich) bezeichnen kann, ist deren Moderne die Moderne einer Spätmoderne und die späte Phase dieser Moderne einer Spätmoderne nichts anderes als die Spätmoderne einer Spätmoderne. (Spätmoderne der Spätmoderne der Neanthropinen-Kultur). Denn die späte Phase der Abendland-Moderne ist ja die Spätmoderne der Abendland-Kultur. Die Abendland-Kultur ist die Spätmoderne der Neanthropinen-Kultur, die Neanthropinen-Kultur die Moderne der Menschen-Kultur, die Menschen-Kultur die Moderne des Höheren Lebens, das Höhere Leben die Moderne der Natur. Also ist die Abendland-Spätmoderne die Spätmoderne einer Spätmoderne der Menschen-Moderne. Das heißt: die Abendland-Spätmoderne ist die Spätmoderne einer Spätmoderne der 3. Moderne überhaupt. Die Natur (Universum, Galaxien u.s.w.) als „1. Kultur“ ermöglicht die „1. Moderne“ (Höheres Leben); das Höhere Leben als „2. Kultur“ ermöglicht die „2. Moderne“ (Menschwerdung oder: Menschen-Kultur); die Menschen-Kultur als „3. Kultur“ ermöglicht die „3. Moderne“ (Historisierung oder: Neanthropinen-Kultur); die Neanthropinen-Kultur als „4. Kultur“ ermöglicht die „4. Moderne“ (Historiographik oder: Historien-Kultur); die Historien-Kultur als „5. Kultur“ ermöglicht die „5. Moderne“  (Historismus oder: Modernismus). Das zur Theorie der „5 Modernen“! Wir können also beruhigt notieren: Unsere Spätmoderne einer Spätmoderne der 3. Moderne verstehen manche nur deshalb als Postmoderne, weil das Späte im Späten für sie so schwer zu denken ist.

Gliederung und Definition von „Moderne“ scheinen kompliziert zu sein, dennoch ist evident, daß die Abendland-Kultur, die ja für Globalisierung und Modernisierung steht, eine außerordentlich typische „Moderne-Kultur“ ist und auch schon zu den Zeiten war, als „Moderne“ noch nicht das bedeutete, was sie heute bedeutet. Und heute behauptet so mancher Interpret, daß gerade die „6. Moderne“ begonnen habe, zumindest aber, daß der Übergang (5. - 6. Moderne) bereits vollzogen werde. Was aber eine allgemeinere Betrachtung angeht, so wird die Moderne entweder mit Neuzeit gleichgesetzt oder aber auf die Zeit nach der „Industriellen Revolution“ bezogen. Beide sind nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich oder sphärisch voneinander abgrenzbar. Sie scheinen zwei verschiedene „Modernen“ zu sein: „Hochkulturmoderne“ und „Spätkulturmoderne“ (!). Es ist aber die „Spätkulturmoderne“, die als Moderne im engeren Sinne gilt. Das liegt am „Aufschub“ (vgl. „Neotenie“ !). Wer die „Geburt“ vorverlegt, erlebt die Moderne als Spätmoderne, als Herbst. Moderne ist Sturm, jedes Blatt eine Tradition. Moderne

 

Ist heutige Philosophie nichts anderes als der Kampf um den letzten Beobachtungsposten („Beobachter-Beobachter“) ?   Ist professioneller Größenwahn eine legitime Berufung, gar ein Muß?  Ist Nietzsche der erste Letzte?  Was ist mit Peter Sloterdijk oder mit Jürgen Habermas ?  Solange sich die modernen Philosophen (seit Descartes und Leibniz; 17. Jh.) nicht vorstellten, selbst Gott zu sein (ja sein zu müssen), d.h. die eigene Wissensautorität in Frage zu stellen, dachten sie „modern“ und überließen die „postmodernen“ Aspekte (Beobachtung der Beobachtenden) ihrem Gott, der seit der Neuzeit nur noch als Idee (Freiheit, Gleichheit, Toleranz u.s.w.) Platz hatte. Aber Gott (die Idee) mußte erst gestorben sein (Nietzsche), bevor der erste (noch) moderne Beobachter (der Übermensch?) mit dem „Willen zur Macht“ an seine Stelle treten konnte.

These:
Der Beobachter, der „Ich“ sagt (= Subjekt), möchte (als Autorität) modern sein.

Antithese:
Der Beobachter, der das Subjekt (als Autorität) verneint, möchte postmodern sein.

Synthese:
Der postmoderne Mensch ist ein moderner Mensch.

Begründung: Ein Beobachter, der den Beobachter, die Beobachtung, die Beobachtungswelt u.s.w. beobachtet, wird sie am Ende bewerten, und diese Bewertung ist - entsprechend der eigenen (postmodernen) Definition - subjektiv.
Der postmoderne Mensch verneint sich am Ende also selbst. Er hebt sich selbst auf. Die Antithese, die zuvor die These durch Verneinung (Negation) aufgehoben hatte, hebt sich durch Verneinung (Negation der Negation) auf und bestätigt auf höherer Ebene - in der Synthese - die These. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770-1831).

Syllogismus
(Zusammenrechnung; Schluß, besonders: „Deduktion“, d.h. Schluß vom Allgemeinen aufs Besondere):

Prämisse (Urteil):        Postmoderne sind Moderne.
Prämisse (Urteil):        X und seine Anhänger sind Postmoderne.
Conclusio (Schluß):    X und seine Anhänger sind Moderne.

Prämisse (Urteil):        Die Metaphysik ist Vorläuferin & Begleiterin der Moderne (3-2-1).
Prämisse (Urteil):        Die Postmoderne ist Begleiterin & Fortsetzung der Moderne (1-2-3).
Conclusio (Schluß):     Die Postmoderne ist Metaphysik in zeitlich diametraler Richtung.

 

Wer „letzter Beobachter“ sein möchte, muß sich nicht wundern, wenn er selbst beobachtet wird. Seine Kritik an dem, was er beobachtet, wird mit Sicherheit ebenfalls kritisiert werden. Deshalb muß konstatiert werden, daß postmodern nur sein kann, was vervielfältigend, reproduzierend, simulierend, imitierend, d.h. ohne Autorität ist. In unserer heutigen Welt (Medienrealitäten, Internet, Globalisierung) meint man, auch in der alltäglichen Erfahrung eine „Fundierungsfunktion und Wissensautorität des Subjekts“ (E. Landgraf) bezweifeln zu können. Ist die Sprache selbst der eigentliche Beobachter, wie Landgraf meint?  „Beobachten Subjekte oder beobachtet die Sprache, wo beobachtet wird?  Bleibt nicht Sprache, die ohne Bewußtsein, ohne Intention, ohne Willensäußerung gebraucht wird, bedeutungslos?“  Sprache ohne Subjekt und Subjekt ohne Sprache - geht das überhaupt?  Landgraf: „Während in der modernen Theorie Individuen autonome Beobachter darstellen, die sich auf die Autorität des Bewußtseins berufen und die Sprache den Intentionen dieses Bewußtseins unterordnen können, geht die postmoderne Tradition von Kommunikationsbedingungen aus, die gerade nicht individuell sein können und also auf kein Bewußtsein, auf kein bestimmtes Subjekt oder Individuum hin reduziert werden können. Im zweiten Fall „denkt“ - sprich: beobachtet - also die Sprache gerade dort, wo sie sich dem Bewußtsein und seinen Intentionen entzieht, dort wo sie kommuniziert. Ohne daß deswegen bewußtes Beobachten ausgeschlossen werden müßte, versteht dieser Perspektivenwechsel Beobachtung als primär soziale Kategorie, als etwas, das keinem einzelnen Individuum oder Subjekt allein, keinem Einen mehr zugeschrieben werden kann. Ist die Beobachtung an ihre Kommunikationsbedingung gebunden, kann sie tatsächlich erst mit Zweien beginnen. (Vgl. oben: Nietzsche: „Ein Mal eins“).

 

„In ihren Grundzügen ist die Ideologie der Werbung seit Anbeginn unverändert geblieben, wie verschiedenartig ihr Erscheinungsbild auch ist, stets trägt die Produktewerbung die Züge eines modernen Heldenkults. Die Ware ist der Mittelpunkt und Sinn des Lebens, ihre Kultstätte ist der (Super-) Markt. Unablässig und unmißverständlich wird uns die frohe Botschaft verkündet: Konsum löst alle Probleme.“

François Brune

„Postmoderne ist Posthistorie, Ende der Geschichte (sowie der Ideologien und der Utopien) und Wiedergeburt des Mythos und des Zyklus.“

Franz Wegener

„Die Postmoderne ist weniger Epoche als Begleiterscheinung der Moderne. Das Beobachtungsschema liefert die Unterscheidung zwischen Moderne und Postmoderne. Die Postmoderne ist Fortsetzung und Begleiterscheinung der Moderne, denn nur eine moderne Welt (hochdifferenzierte Gesellschaft) weiß von der Kontingenz der eigenen Beobachtungswelt und entwickelt Diskursfelder, die die Beobachtung der Beobachtungswelt erst ermöglicht (Universitäten, Theorieschulen ...). Theorie ist etymologisch eine Anschauung = Beobachtung im altgriechischen Sinne. Der Beobachter entscheidet am Ende darüber, ob sich Moderne und Postmoderne treffen oder trennen. Der Beobachter ist die Moderne, aber die Moderne ist (auch) eine Gesellschaftsform - historisch-geographisch definierbar - und als solche beobachtbar. Die Postmoderne ist ebenfalls Beobachter: Sie beobachtet die Moderne; der Beobachter beobachtet den Beobachter u.s.w.. Die erste Kritik, die man als postmodern bezeichnen kann, ist die des (späten) 19. Jahrhunderts, insbesondere die Nietzsches. Spezifisch postmodern sind die Theorien seit Ende der 1960er Jahre (Humanwissenschaften der 68er). Postmoderne ist Simulation und Imitation, Ideologieverlust und Sinnverlust. Sie ist derivativ. Die Moderne setzt darauf, den Beobachter im Subjekt (Ich bzw. Selbst-Bewußtsein) zu lokalisieren, die Postmoderne auf die Selbstverständlichkeit, daß das Subjekt keine Beobachtungs- bzw. Wissensautorität besitzt.“

Edgar Landgraf

„Die Moderne predigt den Befriedigungs-Aufschub; die Postmoderne den Zahlungs-Aufschub.
Die Moderne kennt Zukunft bzw. noch zu verwirklichende Ziele; die Postmoderne kennt nur (Irr-)Wege: Der Weg ist das Ziel. Sie schafft Wege, von denen sie nur weiß, das sie gegangen werden. Moderne Individuen sind Produzenten (Soldaten u.s.w.); postmoderne Individuen sind Konsumenten, Spieler u.s.w.... Die Moderne will Identität; die Postmoderne keinerlei Festlegung. Sie will schweben. Die Moderne symbolisiert das Sparbuch; die Postmoderne die Kreditkarte.
Die Moderne kennt Sittengesetze; die Postmoderne das Leiden der Autonomie bzw. die »Tyrannei der Möglichkeiten« (H. Arendt). Die Moderne bedeutet Fortschritt; die Postmoderne kann ihn nicht mehr rechtfertigen, z.B. alle möglichen Versprechungen (u.a.: Emanzipation der gesamten Menschheit) können die modernen Entwicklungen nicht mehr rechtfertigen. Die Moderne folgt vorgegebenen Richtungen; die Postmoderne vagabundiert. Die Modernen sind Pilgerreisende; die Postmodernen Touristen. Die Modernen setzen auf Sozialisation; Postmoderne auf ein »Selbst ohne Ort« (Sloterdijk). Moderne bedeutet Konformität und Uniformität; Postmoderne 'Verirrte unterwegs' und 'bunter Haufen'.“

Frank Keim

 

A u t o p o i e s i s   d e r   G e s e l l s c h a f t
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Kommunikation Evolution Differenzierung
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SOZIAL ZEITLICH SACHLICH
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S e l b s t b e s c h r e i b u n g   d e r   G e s e l l s c h a f t
Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 1138 (Luhmann).
Niklas Luhmann (1927-1998), der sich um die organisations- und verwaltungssoziologische Rezeption der strukturell-funktionalen Theorie und ihre Weiterentwicklung zu einer sozialwissenschaftlichen Systemtheorie bemühte, betrachtete Gesellschaft als Kommunikationssystem mit vielen mehr oder weniger selbständigen Subsystemen. Kommunikation bezieht sich dabei immer nur auf sich selbst. Die Subjekte oder Menschen mit ihrem Körper und ihrer Psyche gehören nicht mit zum System. Sie bilden die Umwelt des Systems oder der Gesellschaft. Luhmann kann sich sogar vorstellen, daß die Kommunikation weiterläuft, auch wenn es längst schon keine Menschen mehr gibt (!). Wissen und Vernunft befinden sich nicht in den Köpfen oder Psychen, sondern in Büchern, Datenspeichern oder im Internet. Das Verschwinden des Subjekts ist im Buddhismus ein religiöses Ideal. Luhmann hat aus seiner Sympathie mit dem Buddhismus kein Hehl gemacht. (Vgl. Eurobuddhismus). Das eine Auge, das alles sieht, Gott, gibt es nicht mehr, nicht mehr die Wahrheit und den Blick aufs Wirkliche. Statt dessen nur mehr Beobachtung der Beobachtung, selbstreferentielle, rekursive Beobachtung:

Luhmanns Beobachter des Beobachters ist eine tragische Figur. Ihm ist die Welt abhanden gekommen. Er beobachtet nur, wie ein anderer beobachtet, wie ein anderer beobachtet, wie ein anderer beobachtet, wie ein anderer beobachtet, wie ... u.s.w.; aber er sieht nicht, wie er selbst beobachtet; denn das kann nur ein anderer beobachten, der auch nicht beobachten kann, wie er beobachtet ... u.s.w.: Jeder hat seinen blinden Fleck. Und außer diesem gibt es nichts zu sehen. Beobachtung

Selbst die großen Geister erlagen den Gefahren eines Systemdenkens, d.h. einer Art des Philosophierens, die von vornherein die Gestaltung eines Systems anstrebt und geneigt ist, die Wirklichkeit zu konstruieren und zu stilisiernen, anstatt sie zu erfassen. Nicht so ganz mit Unrecht wird darauf hingewiesen, daß das Beste aus der Philosophie der großen Systematiker oft genug gerade das ist, was in ihre Systeme nicht hineinpaßt. In der wissenschaftlichen Arbeit ist System dagegen ein bewährtes Ordnungsprinzip. Eine Systematik ist demzufolge die Wissenschaft und Kunst der Systembildung.

An Leibniz' Prästabilisierungstheorie schließt z.B. der Konstruktivismus am Ende des 20. Jahrhunderts an. Leibniz' Monaden heißen jetzt autopoietische Systeme. Diese sich selbst erzeugenden Systeme bestehen aus Kognitionen - allerdings auf physikalischer Basis. Anstelle Gottes besorgt nun die Evolution die strukturelle Kopplung (bei Leibniz die prästabilisierte Harmonie). Nicht den „radikalen“, wohl aber den „gelassenen“ Luhmann kann man somit auch als Konstruktivisten bezeichnen. (Luhmann). Vor allem auch Luhmann brachte nämlich den Begriff Autopoiesis in die konstruktivistische Systemtheorie ein.


Kritiker der strukturell-funktionalen Theorie haben auf den Informationsverlust und die Ideologieträchtigkeit der in dieser Theorie benutzten Kategorien hingewiesen. Das auf Gleichgewicht, Integration und Stabilität der Elemente und damit auf Konfliktlosigkeit und normativen Konsensus angelegte Schema mache es unmöglich, ausreichend die Probleme der Herrschaft und des sozialen Wandels zu erfassen, und beinhalte die Gefahr, daß Soziologie einen Begriff von Gesellschaft bevorzuge, die ihr Prinzip einzig in der Erhaltung von Stabilität und Funktionalität der je bestehenden gesellschaftlichen Strukturen hat.

Die Systemtheorie ist der insbesondere von Niklas Luhmann als Weiterentwicklung der strukturell-funktionalen Theorie verstandene soziologische Forschungsansatz, der ein System nicht nur nach funktionalen Leistungen der Elemente des Systems zur Erhaltung, Stabilisierung und Reproduktion des Systems analysiert, sondern die grundlegende Frage nach der Funktion der Differenzierung des Systems in Elemente stellt. Gemäß der Luhmannschen Systemtheorie wird das System als eine Identität begriffen, „die sich in einer komplexen und veränderlichen Umwelt durch Stabilisierung einer Innen/Außen-Differenz erhält“. Ein System entsteht durch Grenzziehung und Konstituierung einer Differenz von Außen und Innen, durch die Schaffung von Bereichen unterschiedlicher Komplexität, durch „Reduktion von Komplexität“. Durch Selektion von Möglichkeiten der äußeren Weltkomplexität wird diejenige Innen/Außen-Differenz geschaffen, ohne die Kommunikation nicht möglich wäre. Diese Reduktion der äußeren Weltkomplexität auf ein Format, das z.B. auch das Erleben, das Sichentscheiden und das Handeln überhaupt erst gewährleistet, wird bei allen sozialen Systembildungen durch Sinn gesteuert. Systembildung heißt darum, eine einmal getroffene Sinnentscheidung gegenüber einer komplexen und sich weiterhin verändernden Umwelt durchzuhalten, eine Ordnung gegenüber der Umwelt relativ einfach und konstant zu halten. Die Systemtheorie untersucht die (Selektions- und Entscheidungs-) Prozesse sowie die Zweckprogramme, die ein System innerhalb der Grenzen seiner Autonomie in die Lage versetzen, Umweltkomplexität zu reduzieren, um sich zu erhalten, um sich (systemsinngemäß) in der realen Welt „rational“ zu verhalten. Die Operationen eines sozialen Systems sind Kommunikationen. Die Kommunikationen reproduzieren sich durch andere Kommunikationen und stellen dadurch die Einheit des Systems her. Außerhalb der sozialen (also: kommunikativen [gesellschaftlichen]) gibt es keine Kommunikation.

Allgemein ist gilt die Systemtheorie als Teilgebiet der Kybernetik, nämlich als formale Theorie der Beziehungen zwischen untereinander gekoppelten Systemen (bzw. zwischen ihnen und ihrer Umgebung) sowie sowie des Zusammenhangs zwischen Struktur und Funktionsweise (bzw. Verhalten) von Systemen. Im engeren Sinne ist die Systemtheorie eine Theorie über die Beeinflußbarkeit der Ausgangsgrößen bestimmter (kybernetischer) Systeme bei gegebenen Eingangsgrößen durch Verändern der Systemeigenschaften. Was in der Kybernetik die Systeme sind, sind in Luhmanns Systemtheorie die Subsysteme.

„Frage: wer ist der Beobachter? Diese Frage kann nicht beantwortet, also auch nicht gestellt werden. Die übliche Charakterisierung des Beobachters als »Subjekt« gestattet es bestenfalls, das Problem der Sozialdimension als Problem der »Intersubjektivität« zu bezeichnen. Immerhin hat man damit einen strikt paradoxen Begriff an der Hand, aber auch nicht mehr; denn das »Inter« kann dem Subjekt, wenn das Subjekt ein Subjekt ist, weder zu Grunde liegen noch nicht zu Grunde liegen. Der Roman, der Liebesroman, aber auch Hegels Roman der Liebe zwischen Weltgeschichte und Philosophie, lokalisiert den Beobachter, der auch das sehen kann, was er selber bisher nicht sehen konnte, am Ende der Geschichte (**|**|**|**). Das macht es erforderlich, den Erzähler, der alles immer schon weiß, und also auch Hegel selber, aus der Geschichte herauszuhalten. (Vgl. dazu Dietrich Schwanitz, Systemtheorie und Literatur, 1990, S. 181 ff..) Auch das reicht aber nicht, um die Frage nach dem Beobachter zu beantworten. Erst recht versagen die zur Zeit modischen Auskünfte: der Sprachspielpluralismus eines Wittgenstein, die These eines kulturellen Relativismus oder die Diskurspluralität der sogenannten »Postmoderne«. Auch hat es wenig Sinn, sich mit Kontroversen zwischen diesen verschiedenen Positionen zu beschäftigen, denn das führt nur zur wechselseitigen Rekonstruktion der jeweiligen Unzulänglichkeiten.

Unsere Analysen haben keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, daß irgendwann in diesem Jahrhundert, vermutlich in dessen zweiter Hälfte, eine Epochenzäsur zu beobachten wäre, die das Gesellschaftssystem selbst betrifft und es rechtfertigen könnte, einen Übergang von der modernen zu einer postmodernen Gesellschaft zu behaupten. Bemerkenswerte strukturelle Veränderungen innerhalb der einzelnen Funktionssysteme gibt es zuhauf, vor allem als Folge von Globalisierungstendenzen und wechselseitiger Belastungen der einzelnen Funktionssysteme. Aber nach wie vor werden all die Errungenschaften der Moderne (Altersklassen in den Schulsystemen, Parteiendemokratie als Staatsform, unregulierte Heiratspraxis, positives Recht, an Kapital und Kredit orientiertes Wirtschaften, um nur einiges zu nennen) beibehalten; nur ihre Konsequenzen findet man schärfer ausgeprägt. Selbst im Kunstsystem (Architektur vielleicht ausgenommen [**]) gibt es keine scharfen Epochengrenzen zwischen moderner und postmoderner Kunst. Von »Postmoderne« kann man also allenfalls mit Bezug auf die Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems sprechen. Damit stehen wir vor der Frage, ob und woran man eine spezifisch »postmoderne« (im Unterschied zu einer modernen) Beschreibung erkennen kann.

Daß die Rede von »Postmoderne« aufgekommen ist, liegt vielleicht daran, daß die Dynamik der modernen Gesellschaft unterschätzt worden war und ihre Beschreibungen allzu statisch ausgefallen sind: Das gilt für die Prominenz des cartesischen Subjekts, für die Idee der Menschenrechte und auch noch für die Annahme von Habermas, die Moderne sei ein unvollendetes Projekt. Wenn die Signaturen der Moderne in dieser Weise festgeschrieben sind, liegt es nahe, mit einer Theorie der Postmoderne zu reagieren. Faktisch sind jedoch die damit postulierten Zäsuren nicht zu erkennen, und es wäre deshalb der richtigere Weg, das Verständnis der modernen Gesellschaft mitsamt ihrer Selbstbeschreibung zu dynamisieren.

Am Begriff der Postmoderne ist vieles kontrovers. Ein ziemlich unbestrittener (wenngleich interpretationsbedürftiger) Ausgangspunkt dürfte jedoch in der These vom Ende der Großen Erzählungen liegen. Man wird sofort konzedieren müssen, daß dies selbst eine Erzählung ist .... Wenn die These autologisch verwandt wird, also sich selbst einschließt, widerspricht sie sich selbst: wenn wahr, dann falsch. Man muß deshalb umformulieren und sagen, daß die Einheit der Gesellschaft oder, von ihr aus gesehen, der Welt nicht mehr als Prinzip, sondern nur noch als Paradox behauptet werden kann. Die Letztfundierung in einem Paradox gilt als eines der zentralen Merkmale postmodemen Denkens. Die Paradoxie ist die Orthodoxie unserer Zeit. Das heißt vor allem, daß Unterscheidungen und Bezeichnungen nur noch als Auflösung eines Paradoxes »begründet« werden können. Beim Problem der Selbstbeschreibung, sei es der Welt in der Welt, sei es der Gesellschaft in der Gesellschaft, fällt dies relativ leicht. Man muß nur eine Pluralität von Selbstbeschreibungen zulassen, im »Diskurs« der Selbstbeschreibung also eine Mehrheit von Möglichkeiten, die einander weder tolerieren noch nicht tolerieren, sondern einander nur nicht mehr zur Kenntnis nehmen können. Das haben wir mit der These vorweggenommen, daß universalistische (sich selbst einschließende) Selbstbeschreibungen nicht einzig-richtige, nicht exklusive Selbstbeschreibungen sein müssen. Wenn man auf die Funktion von Selbstbeschreibungen achtet, wird man hinzufügen müssen: nicht exklusiv sein können, denn die Funktion der Funktion ist es, funktionale Äquivalente zuzulassen.

Etwas mehr Schwierigkeiten bereitet ein zweiter Vorschlag, postmodernes Denken als Entdifferenzierung zu begreifen. Entdifferenzierung kann aber nicht heißen, daß man die Differenzierungen vergessen könnte, denn dann hätte auch das »Ent-« keinen Sinn. Wenn Entdifferenzierung Gedächtnis voraussetzt, läuft dieser Vorschlag auf Bewahrung der Differenzen (zum Beispiel: auf Bewahrung von Stildifferenzen in postmodernen Kunstwerken) hinaus. Auch hier wird eine Interpretation des Vorschlags gut tun. Es kann nicht darum gehen, innerhalb von Unterscheidungen von der einen Seite zur anderen überzuwechseln, zum Beispiel von Produktionsorientierung zu Konsumorientierung oder von Vergangenheitsorientierung zu Zukunftsorientierung, also von Gebundensein zu Ungebundensein. Die Frage kann nur sein, ob die Einstellung zu Unterscheidungen oder, wenn gegenstandsbezogen gedacht wird, zu Differenzen sich geändert hat.

Wir erinnern daran, daß schon die Umpolung des modernen Denkens von vorgefundenen Wesensunterschieden auf Differenzierung eine semantische Innovation gewesen ist, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts an Resonanz gewinnt. Es könnte gut sein, daß auf dieser Ebene der Formen des Beobachtens und Beschreibens abermals ein Wechsel zu verzeichnen ist, und, um es gleich postmodern zu formulieren, ein Wechsel in Richtung auf einen Dekonstruktionsvorbehalt bei allen Unterscheidungen. Man kann, anders gesagt, immer fragen, wer die Unterscheidung trifft (wer der Beobachter ist) und warum er die eine und nicht die andere Seite markiert. Die Antwort auf diese Frage hängt aber wiederum davon ab, wer sie stellt, also davon, wer hierfür der Beobachter ist.

Am ergiebigsten dürfte es deshalb sein, die Zeitunterscheidung von Vergangenheit und Zukunft zu analysieren, nicht zuletzt deshalb, weil der Begriff der Postmoderne ja selbst auf dieser Unterscheidung beruht. Derridas Kritik der ontologischen Metaphysik kann so gelesen werden, daß sie die Überschätzung der Gegenwart als Ort der Anwesenheit des Seins moniert und statt dessen eine stärker zeitbezogene Analyse vorschlägt. Was operativ läuft, ist die Einkerbung einer Differenz in eine Welt, die dies toleriert und ein »recutting« ermöglicht. Das geschieht durch »Schrift«. Da es aber eine Differenz ist, kann sie nicht von Dauer sein, sondern muß von Moment zu Moment verschoben werden. Différence ist différance. Das wiederum impliziert, daß das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft sich laufend verschiebt, ohne daß diese Verschiebung als räumlich-zeitliche Bewegung in einer immer schon vorhandenen Seinswelt begriffen werden könnte. Als Kommunikation begriffen, demontiert die Operation ihre eigenen Voraussetzungen, dekonstruiert die Unterscheidungen, die sie verwendet im Sinne eines auch aus anderen Forschungen bekannten performativen Widerspruchs zwischen report (Information) und command (Mitteilung mit Annahmezumutung).

Auf ganz anderen Wegen führt auch die rasch zunehmende Computerisierung des Alltagslebens vor dieselbe Frage, sie ist also auch unabhängig von literarischen Bemühungen um eine Kritik der Seinsmetaphysik aktuell. Denn in den Computern verbergen sich unsichtbare Maschinen, die nur auf Befehlseingabe hin ihre Schaltzustände sichtbar machen. Es hat wenig Sinn, diese unsichtbaren Maschinen als »anwesend« zu bezeichnen. Jedenfalls werden sie erst durch zeitlich und lokal situierte Anfragen dazu gebracht, Informationen sichtbar zu machen, die dann im Anfragekontext ihre eigene Differenz von Vergangenheit und Zukunft erzeugen. Die Bruchlinie zwischen den unsichtbaren und unvorstellbaren Rechenvorgängen der Maschine und dem gelegentlichen, interessenbedingten Erscheinenlassen ihrer Zustände könnte auf dem Wege sein, die alten Unterscheidungen von aeternitas und tempus und von Anwesenheit und Abwesenheit vom ersten Rang der Weltkonstruktion zu verdrängen. Man spricht mit Bezug darauf bereits von »virtueller Realität« (*), und das legt es nahe, von da aus einen Zusammenhang mit der Diskussion über die postmoderne Moderne herzustellen. (* Dies allerdings mehr jargonhaft und ohne Klärung der Frage, welche Virtus denn das bloß Mögliche in etwas Virtuelles transformiert. Vorwiegend wird dabei an die Möglichkeit gedacht, den Computer (ähnlich wie das Nervensystem) unbemerkt mitwirken zu lassen, so daß mit Hilfe von Handschuhen, Anzügen usw. eine illusionäre Realität entsteht und im Wahrnehmen selbst eine Unterscheidung von lllusion und Realität nicht mehr möglich ist. Das ist jedoch nur eine zusätzliche Möglichkeit, nachzuweisen, daß das Gehirn als operativ geschlossenes System arbeitet.)

Eine gleichermaßen radikale, postontologische Thematisierung von Zeit scheint dem Formenkalkül von George Spencer Brown zugrundezuliegen. Form wird hier als Markierung einer Unterscheidung begriffen, also als eine Einheit mit zwei Seiten, von denen nur die eine bezeichnet wird und die andere unmarkiert bleiben muß. Der Übergang zur anderen Seite (das »Kreuzen«) erfordert eine weitere Operation, setzt also Zeit voraus. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn das Kalkül seine eigenen Voraussetzungen einzuholen versucht und zwischen marked und unmarked space zu oszillieren beginnt. Während die klassische Formtheorie Form als statische Gestalt begriffen hatte, die nach gelungen/mißlungen zu beurteilen sei, wird Form jetzt als Dispositiv eines Beobachters begriffen und als Regulativ für die Entscheidung, zu bleiben, wo man ist, (sich zu wiederholen) oder zur anderen Seite überzugehen. Ein Primat der Form gegenüber Instanzen, die in der Tradition Vernunft und Wille (Freiheit) genannt wurden, scheint eine Temporalisierung der Formen zu erfordern. Selbst Habermas ist ja heute bereit, auf Vernunft - zu warten.

Zur geläufigen Diskussion über Postmoderne führt die Frage zurück, was mit den geschichtlich bewährten, aber heute überholten Formen geschehen soll. Sie werden als Material verwendet. Man könnte auch sagen: als Medium für die Bildung neuer Formen, die durch Rekombination gewonnen werden. Das wird für die Formenwelt der Kunst diskutiert, könnte aber auch für die Begriffswelt der Wissenschaften oder anderer intellektueller Diskurse gelten. Mit postmodernen Formen wird ein Wiedererkennen ermöglicht - und zugleich verboten. Man soll sich mit dem Vergnügen des Wiedererkennens - wenn zum Beispiel von »Subjekt« oder von »Demokratie« die Rede ist - nicht begnügen. Das wiederverwendete Formenarsenal ist anders gemeint. Die überlieferten Formen sind, bei aller scheinbaren Seinsfestigkeit, nur noch ein Medium der Selbstverständigung unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen. Man kann dies im Modus der Ironie zum Ausdruck bringen, aber damit wäre nur ein expressiver Ausweg gewonnen und keine Konstruktionsanweisung. Das scheint zu bedeuten, daß konstruktivistische Theorieversuche die Postmoderne nicht fortsetzen, sondern beenden, obwohl sie die Distanz zur Geschichte und ihre Neubeschreibung als Medium übernehmen.

Ob der Ausdruck »postmodern« gut gewählt war, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls sind Beschreibungen nicht schon deshalb postmodern, weil man die Folgen des Sündenfalls nicht mehr über Arbeit, sondern über Genuß erträglich zu machen versucht. Die soeben skizzierten Hinweise, Einheit und Differenz betreffend, deuten einen Bedarf für Formstrenge theoretischer Reflexion an. Dazu gibt es mehr Anregungen, als sich im Moment unter dem Etikett der Postmoderne versammeln. Es fällt aber auf, daß unter den Vorarbeiten eine Theorie der modernen Gesellschaft fehlt. Das mag daran liegen, daß die Unterscheidung modern/postmodern von Versuchen dieser Art abschreckt. Wenn aber die Eigenart postmoderner Beschreibungen in der Problematisierung von Unterscheidungen und in der Temporalisierung der sie markierenden Formen liegt, könnte man vermuten, daß die Aufgabe einer »postmodernen« Gesellschaftstheorie in einer Neubeschreibung der modernen Gesellschaft auf Grund der Erfahrungen besteht, über die wir heute verfügen. Jedenfalls verlangt eine heute adäquate Gesellschaftstheorie (ebenso wie die Theorie der postmodernen Kunst), auf den bloßen Genuß des Wiedererkennens zu verzichten und die Theoriekonstruktion aus sich selbst heraus zu beurteilen.“

Niklas Luhmann
(Selbstbeschreibungen, in:
Die Gesellschaft der Gesellschaft,
1997,
S. 1081, 1143-1149)

 


Auch der stark assoziativ denkende Begriffsartist Peter Sloterdijk (*1947), der gerne auf neologistische Weise Begriffe aus den verschiedenen Sphären kreativ vernetzt, will das Entstehen politischer Prozesse autopoietisch aus den Zusammengehörigkeitsgefühlen der Völker verstehen, die sich nationale Gebäude bauen oder ausbrechen, um größere Komplexe zu errichten. Hier gibt es also einen starken Bezug zu der im letzten Abschnitt erwähnten Systemtheorie von Niklas Luhmann (Luhmann). In Sloterdijks 2001 erschienen Buch „Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger“ bezieht sich das 2. Kapitel explizit auf Niklas Luhmann. Es folgen einige Auszüge daraus:

„Luhmann, Anwalt des Teufels“ (vgl. Peter Sloterdijk, „Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger“, 2001, S. 82-141)

Luhmann, Anwalt des Teufels. Von der Erbsünde, dem Egoismus der Systeme und den neuen Ironien. Luhmann

Ich möchte im folgenden einige Argumente dafür zusammentragen, daß Niklas Luhmanns Werk eine reale und radikale Vermehrung des Patrimoniums moderner Theoriekultur verkörpert. Luhmann ist darum ... ein Autor im präzisen Sinn des Wortes, weil er sich einen Namen gemacht hat als ein Vermehrer des vor ihm erreichten Bestands der Kunst. Deswegen wird der Ausdruck »nach Luhmann« nicht eine von den üblichen Verabschiedungen vergangener Positionen im Namen des bloßen Zeitfortgangs bedeuten, sondern - dessen bin ich mir sicher - eine authentische Schwellenformel. Nach Luhmann - das ist der Name für einen Einschnitt, eine epoché, im traditionellen Sinn des Wortes, die sowohl die Zäsur als auch die Zeit nach ihr bezeichnet. Wer nach einem Vermehrer lebt, muß als Nachkomme Zusätzliches leisten. Man wird in Zukunft, um auf der Höhe der Kunst zu sein, asich die Luhmannsche Lektion anmerken lassen müssen .... Ich habe soeben den Ausdruck Luhmansche Lektion gebraucht, ohne zu verkennen, daß ich damit eine kaum abzuleistende Hypothek auf die folgenden Überlegungen genommen habe. Es ist bei einem Werk vom Umfang des hier behandelten von vorneherein klar, daß auch ein geduldiger Rezipient nur mehr oder weniger privare Exzerpte aus einem kaum überschaubaren Diskursuniversum kommentieren kann. Es bleibt uns hier nur die Zuflucht zu einer Analogie, von der ich hoffe, daß sie Luhmann ehrt, ohne seine Leser zu kränken, nämlich der Hinweis auf das Phänomen des Sprachenlernens: Es ist eine Trivialität, daß nicht zwei Kinder in einer Population beim Spracherwerb mit genau denselben Satzvorkommnissen konfrontiert sind, weil jede natürliche Sprache von ihren Benutzern unvorhersehbar variantenreich und ideolektalisch gefärbt verwendet wird, zudem nicht selten fehlerhaft; und doch abstrahieren fast alle Kinder aus den verschiedensten Kollektionen von Mustersätzen mehr oder weniger präzise die Grammatik ihrer Muttersprache, so daß sie zumindest innerhalb ihres Milieus oder ihrer Schicht eines Tages als linguistische Erwachsene aufeinander zugehen können. Ganz ähnlich steht es um die Dinge im Archipel Luhmann, wo man aufgrund nicht-identischer Lektüremengen irgendwann zu einer Art Luhmanngrammatik findet, aufgrund welcher man sich mit anderen Touristen in Luhmannland - und wohl auch mit den wenigen wirklichen Einwohnern, sollte man sie treffen, doch halbwegs konsonant verständigen kann.

In Anerkennung dieser Schwierigkeiten und nur gestützt auf die genannten Gründe für hermeneutischen Optimismus, möchte ich einige Bemerkungen zu Protokoll geben über das, was in eminen Augen im Feld der Sozial- und Humanwissenschaften das Ereignis Luhmann ausmacht und dessenthalben die Formel »nach Luhmann« ein Niveau bezeichnet und nicht nur einen zufälligen Zeitraum nach dem Tod eines Gelehrten

Ich spreche also über Luhmann als Anwalt des Teufels - eine Formulierung, die ahnen läßt, daß ich vorhabe, den Luhmannschen Impuls in eine moral- und metaphysikgeschichtliche Perspektive einzuzeichnen, genauer in eine mit dem Beginn der Moderne zwar unterbrochene, jedoch keineswegs beendete Geschichte theologisch determinierter Weltbildkonstruktionen, deren Sinn es war - ... -, durch eine Überinterpretation der menschlichen Freiheit und die damit gesetzte moralische Überbelastung des Menschen die Zurückführung weltlicher Übel auf die Sphäre göttlicher Erstursachen zu verhindern.

Richterhammer
Die Taube des Heiligen Geistes im Petersdom in Rom
Der bipolar ausgestrittene Prozeß vor dem Gerichtshof der gläubigen Parteien ist eine Falle, in die der solchermaßen verflüssigte Heilige Geist nicht nicht gehen kann. Er geruht jedesmal, im Ergebnis eines Prozesses zu wehen, ganz so, als wehte er nicht länger, wo er will, sondern wo das Verfahren es erlaubt. (Vgl. G. M. Simpson, Die Versprachlichung [und Verflüssigung?]  des Sakralen. Eine theologische Untersuchung zu Jürgen Habermas' Theorie der Religion, in: Habermas und die Theologie, hg. von Edmund Arens, 1989, S. 145f.). Deswegen dürften wir uns, wären wir katholische Gläubige, der Gewißheit erfreuen, niemals an Unwürdige zu geraten, wenn wir die Fürbitte von kanonisierten Heiligen bei Gott zu unseren Gunsten in Anspruch nähmen. Der prozedurale Filter garantiert ja, daß in den Rängen der offiziell aufgezählten communio sanctorum keine Scheinheiligen auftreten und uns diabolische Simulakren erspart bleiben, genauso wie man bei Kommunikationen gemäß Habermasschen Spielregeln die Gewißheit genießen darf, daß nach der Endausscheidung kein Dissenstheoretiker, kein Pluralist, kein Konstruktivist und vor allem kein Künstler im Kreis der wahrhaft vernünftig Kommunizierenden mehr dabei sein kann. (Vgl. Niklas Luhmann, Ich sehe was, was du nicht siehst, in: ders.: Soziologische Aufklärung, 5, Konstruktivistische Persepektiven, 1970, S, 228-234; Luhmann führt die strukturelle Intoleranz der Kritischen Theorie auf ihr Festhalten an alteuropäischen ontologischen Prämissen zurück; sie ist an einen obsoleten Wahrheitsbegriff fixiert, der Konvergenz im Objektiven verlangt, weil er von ontologischer Einwertigkeit [Sein ist] ausgeht und den zweiten Wert [Negation] für die Sphäre der Reflexion und der intersubjektiven Verständigung über das eine Wahre reserviert. Die unvermeidliche Folge hieraus ist Zwangskonsensualismus; dieser drängt den Anderen zwar nicht direkt die eigene Meinung auf, aber doch ein Verfahren, von dem man dasselbe Resultat erhofft. Die Aussichtslosigkeit dieser Position hat Gotthard Günther bereits 1968 in einer Renzension über Habermas’ Logik der Sozialwissenschaften klar bezeichnet. Vgl. Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, 1968, S. 169: »Habermas steht in einer ehrwürdigen, aber unwiderruflich dem Verfall preisgegebenen Tradition, die nur dort ihr Leben fristet, wo sie mit längst veralteten Denkweisen arbeiten kann ....«).

Es bedarf keines großen Aufwands, um plausibel zu machen, warum ich im folgenden das Muster des Teufelsanwalts von seiner historischen Quelle abziehe, um es für eine Rolle in einem historisch und sachlich anders beschriebenen Problemraum neu zu definieren. Es geht hierbei um das gegenteil von Heiligsprechungsprozeduren gegen das Adamsgeschlecht im ganzen -, Prozeduren, bei denen die Angehörigen der problematischen Gattung von alters her in die Position von überforderten Angeklagten gedrängt wurden. Der Prozeß, um den es in der Geschichte der christlich-abendländischen Ideen zu tun ist und in dessen Revisionsphase ich Luhmann als einen assoziieretn Anwalt der Verteidigung auftreten sehe, ist kein anderer als derjenige, den das paulinische und vornehmlich das augustinische Christentum gegen den Menschen und seinen transzendenten Verderber, den Teufel, angestrengt hat, indem es die Gattung der Sterblichen als Wesen beschrieb, die von einem frühen Moment ihrer Geschichte an unter die Knechtschaft des peccatum originale (oder der Ersten Sünde) geraten seien. .... Von augustinischen Tagen an ist die christliche Anthropologie von einer gravierenden Tendenz zur Überkulpabilisierung gezeichnet - das kann man längst gelassenen Tons konstatieren, ohne religionsfeindlicher Gesinnung oder neuheidnischer Lockerungen geziehen zu werden -, Momente neurotischer Apologetik ausgenommen. Wenn man neben all den bekannten Gründen für die Loslösung der Moderne von der alteuropäischen Tradition einen weniger beachteten und doch sehr triftigen angeben sollte, so läge er ohne Zweifel in dem Umstand, daß die seit dem 18. jahrhundert sich selbst so nennende Aufklärung ein permanentes Referndum zur Dekulpabilisierung des Menschen angestrengt hat - oder doch zumindest so etwas wie eine genartionenübergreifende Unterschriftensammlung initiiert hat, die auf eine neue Abstimmung über die menschliche Fundamentalschuld hinarbeitet, eine Sammlung, die wir inzwischen als die moralkritische Bibliothek der Moderne überblicken - mit Beiträgen, die von Monatigne bis Cioran und von Bacon bis Luhmann reichen. Es sei en passant notiert, daß es Odo Marquard ist, der die Logik dieser Sammlung formuliert hat. (Vgl. Odo Marquard, Der angeklagte und entlastete Mensch in der Philosophie de 18 Jahrhunderts, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, 1981, S. 39-66).

In der diskursiven Grundordnung Alteuropas ... ist es daher nicht so sehr der Teufel, der sich in Verfahren anwaltlich vertreten lassen müßte, sondern es ist der Mensch, der seinen Anwalt braucht angesichts der unermeßlichen Schuldbürden, die ihm von seinen christlichen Anklägern zwischen Paulus und Augustinus bis hin zu Pascal, Dostojewski und neuerdings von Levinas aufgeladen werden. Denn wie die europäische Ideen- und Kultgeschichte zeigt, findet sich die menschliche Gattung insgesamt nach der Vertreibung aus dem Paradies und dem Kreuzestod des Gottemenschen in einer doppelten Verlegenheit; zunächst jener, sich mit den Adamskindern für immer in der ersten Rebellion gegen das Gebot verfangen, und sodann jener, mit den Römern und anderen Reichs- und Machtmenschen am Gottesmord partizipiert zu haben. Beides genügt, um die kulpabilisierte Gattung heilsökonomisch ins Defizit zu bringen, und zwar in so gewaltigem Umfang und bei so aussichtsloser Überziehung aller Konten, daß die Menschen ohne eine Schuldenerlaß-Aktion seitens der Gläubigerinstanz nie mehr aus der metaphysischen Schuldenfalle herausgelangen.

Wenn der Teufel für sich in bezug auf das unübertrefflich gute Eine und seine Welt überhaupt noch einen Unterschied markieren will, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich auf den Standpunkt des Bösen zu begeben. (.... Luhmann bemerkt hierzu, daß es genügt, das Privileg des Einen aufzuheben, um die moralische Grundevidenz der Moderne zu gewinnen: daß der Beobachter einer Einheit nicht per se als teuflischer Dissident derselber gelten muß.) - Bei dieser Lage der Problementwicklung ist es nützlich, sich an die Formulierungen zu erinnern, mit denen Augustinus die Kondition der gefallenen Menschheit ausgelegt und für die Jahrhunderte festgeschrieben hat. (Für das Folgende: De civitate Dei, Liber XI, 15-17, XII, 1-9, XIV, 11-14.) In ihnen finden wir erste Zugänge zu einer Problematik, die erst im Scheitelpunkt der Moderne mit dem erneuten Auftauchen der Frage, ob Selbstbezüglichkeit bei Mensch und System gut oder böse sei, auf eine neue Antwort drängen werden. Augustinus hat die strategische Bedeutsamkeit des Sündenbegriffs für die Stabilisierung des katholischen Universums gegenüber der antiken Skepisis erkannt und daher mit großem Scharfsinn eine ontologische Deduktion dessen, was nicht von Gott stammt und von ihm wegführt, unternommen. Es ... geht ... darum, die Bedingungen der Möglcihkeit des Widerstands gegen das göttloiche Gesetz zu begreifen und in dieser die metaphysischen Anfangsgründe der sündhaften Dissidenz offenzulegen. Hier gelangt die augustinische Analyse - ob scheinhaft oder substantiell, das sei dahingestellt - bis in die Nachbarschaft zu modernen Aussagen, denn sie bringt es zu einer Art von Tiefendiagnostik über Strukturen korrupter menschlicher Subjektivität und eo ipso zu Formulierungen, die man bis heute bei Dialogphilosophen protestantischer, katholischer, jüdischer und psychoanalytischer Provenienz sowie in Begründungsdiskursen einer anthropologischen Psychiatrie in bestätigenden Wiederholungen hören kann. Da die Form der gefallenen menschlichen Subjektivität in der satanischen präfiguriert ist, genügt es für alles weitere, beim Ersten Verneiner anzusetzen und ihm bei seiner Sezession aus dem göttlcihen Ganzen zuzusehen. Hier wird die metaphysische Deduktion der Äußerlichkeit gewonnen.

Der augustinische Satan ... findet alles, was zum Aufruhr nötig ist, in sich selbst - genauer gesagt: in seinem Vermögen der Freiheit, seiner wichtigsten Begabung. Kraft dieser kann er, die göttliche Schöpfung ex nihilio parodierend, sein Nein aus dem Abgrund eines unmotivierten Willens hervorbringen. Man darf deshalb hier nicht fragen, warum und woher er den bösen Willen hat. Er will, wie er will, und weiter nichts. Der Wille ... richtet sich auf sich selbst ... So beginnt er auf eine freie, ungenötigte und daher allein ihm zurechenbare Weise für diesmal und für immer mit sich selbst. Und eben dies: Mit sich selbst den Anfang zu machen, obwohl ein anderer, ein älterer, ein würdevollerer Anfang zu respektieren gewesen wäre - das ist nach der Einsicht des Augustinus, und aller Konservativen nach ihm, der Anfang der Sünde. Das Sündigen ist eine inchoative Operation, in welcher Originalität und Negativität ineinander verschlungen sind. Sündigen ist letztlich immer Anfangen mit dem Falschen - auch wo es nur wie ein Weitermachen erscheint. Es trägt den Charakter einer »Tathandlung« der Spaltung.

Was platonisch als bloßes malum privativum beginnt, verdichtet sich christlich im Teufels-Ego zu einer malignen Privatheit von eigenmächtiger und untherapierbarer Intensität. Der Böse zieht einen eigenen Kreis um die Zwei; sein Kreis steht für die systemische Geschlossenheit. So wird der Teufel der Herr dieser Welt, zum Herrn der Selbstbezüglichkeit.

An dieser Fehlhaltung erkennen die alteuropäischen Beschuldigungsspezialisten bis heute ihre Klienten, auch längst nachdem man vom Sündentadel zur Narzißmuskritik übergegangen ist.

Während es seit langem unter Gebildeten zum guten Ton gehört, sich zu einem methodischen und eventuell zu einem existentiellen Atheismus zu bekennen, bleibt der entsprechende Asatanismus merkwürdig unterentwickelt. Der Grund hierfür ist nur scheinbar in dem Umstand zu finden, daß unter den Modernen ohnedies niemand mehr an den Widersacher glaubt. In Wahrheit hat die Aufklärung die Kategorie des Widersacherischen in solchem Maße verallgemeinert, daß deren religiöse Herkunft okkultiert und durch eine weltliche Besetzung der bösen Funktionsstelle überformt werden konnte. .... Folgerichtig bleibt im modernen Ansatz die kulpabilistische Matrix weiter in Gebrauch, die offensichtlich mächtiger ist als die Differenz zwischen mittealterlicher und neuzeitlicher Metaphysik. Indessen kommen neue Instanzen und originelle Kandidaten für die Stelle des Ersten Übels ins Spiel, auf welche die Last des nach wie vor imposanten Weltbösen verteilt wird: die bürgerliche Eigentumsordnung, die Klassenherrschaft, der Kapitalsprozeß, die Identitätslogik, die Tauschabstraktion, der Todestrieb, die perverse Rebellion des Subjekts gegen die symbolische Ordnung, der objektivistische Subjektivismus der Neuzeit, der Logozentrismus, die Weigerung, den Vorrang des Anderen zuzugestehen, die Kolonialisierung der Lebenswelt durch Machtg- und Geldsysteme - und einiges mehr.

Ian Anderson

„Jetzt gibt es Revolution; aber sie
wissen nicht, wofür sie kämpfen.
....
Wir werden nicht aufgeben.
Wir werden weiterhin in der
Vergangenheit leben.“

(Ian Anderson, 1969)

Nicht nur gilt in der Moderne weiter der Satz, daß groß irren muß, wer groß denkt; es gilt noch mehr, daß groß wegräumen muß, wer sich groß behindert sieht. Sobald das Beiseiteräumen und Umwälzen in großem Stil auf die historiche Tagesordnung gesetzt wurden, entstanden Theorien und Praxen dessen, was man die Revolutionen (im nicht-astronomischen Wortsinn) nannte, Bewegungsprojekte mithin, die strukturell nichts anderes bedeuten als Versuche, Hindernisse zu beseitigen, die sich der Entfaltung einer nach Vollmacht strebenden Subjektivität in den Weg stellen. Solche Unternehmen präsentieren sich als Aktivismus des Guten. Modern ist an den Beseitigungsphantasien dieser Art, daß sie die vormoderne Dämpfung der Gewalt durch die Gnade nicht mehr kennen. Die Maxime der neuartig verschärften, radikal-humanistisch motivierten Beseitigungskritik hat Marx frühzeitig formuliert: »Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will.« (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, 1843/’44). Man kann die Meinung vertreten, daß Luhmanns Werk im ganzen eine therapeutische Konfession gegen die Versuchung der Intellektuellen durch die wegräumende Gewalt darstellt. Die lakonischste seiner Antworten hat er in einem Pressegespräch gegeben: »Es geht doch einfach nicht, daß man die andere Hälfte beseitigt und sich selbst an ihre Stelle setzt.« (N. Luhmann, Archimedes und wir, Interviews, 1987, S. 104).

Die Stelle der Anwaltschaft muß im Prozeß der Moderne also ganz anders ausgelegt werden als im katholischen Heiligsprechungsverfahren. Unter den gegebenen Bedingungen tritt der advocatus dei auf die Seite des in seiner Entfaltung noch behinderten Subjekts, während der advocatus diaboli die Partei der Hindernisse ergreift, die der Gefahr ausgesetzt sind, von den Agenten der expansiven Subjektivität weggeräumt zu werden. Dies scheint während der Hochzeit aufklärerischer Publizistik ein hinreichend klares Szenario zu ergeben, das auf der Seite Gottes den Fortschritt zeigt und auf der Seite des Teufels die Reaktion. Tatsächlich verstehen sich zahlreiche progressive Intellektuelle in modernisierten Gesellschaften als parakletische Funktionäre, indem sie agitierend und stellvertretend das Vorsprecheramt in bezug auf noch nicht ausreichend zur Selbstvertretung befreite Gruppen wahrnehmen. Hingegen plädieren die Sprecher der sogenannten Reaktion für etablierte Interessen, von denen sie behaupten, sie seien mit den Ordnungsaufgaben des Ganzen enger verwoben als die progressive Frivolität zu begreifen vermag.

Die Denkform, die diesen Schematisierungen zugrundeliegt, ist, wie man sieht, auch in den modernen Konflikszenarien kulpabilistisch und prozessualistisch geprägt, obschon die Rollen anders verteilt sind als in der mittelalterlichen Prozeßordnung. Insbesondere ist sie nach wie vor an einer starken Konzeption von Freiheit interessiert - jetzt aber unter dem Triumphtitel des Subjekts. Gefragt bleibt eine Täterposition, die hohe und höchste Schuldzurechnungen aushält. Der Übertreibung der Subjektivität korrespondiert die Zustellung übertriebener Anklagen wegen unterlassener oder verhinderter Weltverbesserung. Darum ist es plausibel, wenn die in solchen Prozessen engagierten Intellektuellen nicht nur an Rhetoriken und Routinen alteuropäischer Rechtsstreitigkeiten anknüpfen, sondern ebensosehr am Habitus des priesterlichen Mittlertums und mehr noch an der Sorge um die Abwehr von Häresien.

Ich möchte nun zeigen oder zumindest andeuten, wie die Interventionen Niklas Luhmanns in diesen Szenarien eine radikal veränderte Wahrnehmung herbeiführt. Dabei braucht nicht verschwiegen zu werden, daß Luhmanns Ausgangspunkt, lebensgeschichtlich und vortheoretisch, wohl eher auf der Seite zu suchen ist, der ich soeben als leitendes Interesse die Verteidigung der Hindernisse gegen ihre Beseitiger zugesprochen habe. Luhmann fängt als gewöhnlicher Konservativer an, um mit der Zeit zu dem zu werden, was eine italiensiche Kolumne einen Avantgarde-Konservativen genannt hat - man könnte auch sagen zu einem Vertreter eines Genres von Denkern, die sich der Kunst, kein Priester zu sein, in einer bisher nicht gekannten Konsequenz gewidmet haben. Intellektuelle, die Luhmann nahestanden, haben hierzu bemerkt, er habe die klassische Linke methodisch längst links überholt. Gerade weil Luhmann der rebellische oder revolutionäre Impuls existentiell fremd geblieben ist; weil ihm das Wegräumenwollen von expansiven Ansprüchen einer aufsteigenden Gruppensubjektivität entgegenstehenden Hindernissen auf vitaler Ebene unzugänglich war; weil er durch eine unerklärliche Bescheidenheit für sich selbst und seine Umgebung nichts finden konnte, was unter allen Umständen umgewälzt und ausgeräumt werden sollte, war er dazu disponiert, sich freizumachen von allen positiv oder hypokritisch parakletischen Rollen. Er ist darum vielleicht der einzige wirkliche Asatanist dieses Jahrhunderts, weil er sich an keinem Sektor oder, wie er selbst sagen würde, an keinem Subsystem des sozialen Multiversums als solchem stößt, sondern jedem Bereich das Seine zu geben bereit ist, ohne von Beseitigungsphantasien bedrängt zu werden.

9. November 1967 (!): Studentenunruhe bei der Amtseinführung des Professors Werner Ehrlicher zum Rektor der
Universität Hamburg. Ein Spruchband - „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“ - zweier Studenten stellt den
Beginn der Studentenunruhen dar, ging um die Welt. Wieder war der 9. November ein Tag der Deutschen (**|**).
Im 3. Reich hieß es:  „Du bist nichts, dein Volk ist alles“. Seit ca. 1960 heißt es:  „Du bist alles, dein Volk ist nichts“.
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Die Konsequenzen aus diesem Ansatz reichen außerordentlich weit. Man greift sie am deutlichsten in der für Luhmann charakteristischen Wahl einer Schlüsselunterscheidung: der von System und Umwelt - einer Differenz, die eben eine Relation bezeichnet, an der sich keine Seite für Eliminierungen eignet. In dieser ersten Distinktion ist ein Aufeinanderbezogen-Sein der Pole mit ausgesagt, dem man durch Reflexe des Wegräumens eines vermeintlich widersacherischen Teils nicht gerecht werden kann. Aber auch der Systembegriff für sich trägt schon die Spuren einer gegen-parakletischen Ironie an sich, denn wer nach 1960 ... als Systemtheoretiker aufzutreten wagte, mußte sich mit einer Semantik auseinandersetzen, nach welcher Systeme den Inbegriff von entfernungswürdigen Hindernissen bezeichneten - von der Weimarer Republik an, in der die Abschaffung des »Systems« im rechten wie im linken Jargon als eine Heilsbedingung galt, bis in die siebziger und achtziger Jahre der Bundesrepublik (Bonner Republik; HB), in der die Terminologie der Frankfurter Schule und des Neomarxismus in all seinen Spielarten mehr oder weniger diskrete Beseitigungsphantasien in bezug auf das hervorrief, was man dem Kapitalsystem, der Tauschlogik, den nicht-idealen Gesprächssituationebn und ähnlichen Auskristallisierungen des Widersacherischen zur Last legen wollte. Am deutlichsten trat der parakletische Exterminismus am radikalen Flügel der Studentenbewegung hervor, der mit dem Phantom des bewaffneten Widerstands rang. Widerstandsmotive sind strukturell auch präsent im Theoriedesign der Habermasschen Kommunikationstheorie, sofern in dieser zwischen der »Lebenswelt« und den sie belagernden »Systemen« fast wie zwischen Heil aus Eigenem und Unheil durch Fremdes unterschieden wurde. (Im wesentlichen ist die Krudität des Gegensatzes von Lebenswelt und System auf das nur abgedrängte, nie geklärte Verhältnis von Habermas zu Heidegger zurückzuführen, der seinerseits schon zwischen der Sphäre des dichterischen Wohnens und jener der Verwüstung durch das Ge-stell unterschieden hatte. Wer diese Differenz unbewußt übernimmt, erbt damit nicht allein neu-mythische Figuren, sondern auch das moralische Dilemma des Dualismus zwischen den Seinsregionen des eigentlichen und des uneigentlichen Daseins.)

Gegenüber diesen Vorgaben, in denen unter dem selbstehrenden Titel der Kritik eine okkultierte Lehre vom Widersacherischen sich akademisch etabliert hatte, und zwar bezeichnenderweise nicht in den theologischen Fakultäten, sondern in den soziologischen Fachbereichen, mußte Luhmann seine primäre Intuition in langwierigen Prozessen durchsetzen; daß man, um Systeme wirklich zu untersuchen, diesen die Toleranz entgegenzubringen hat, als das erscheinen zu dürfen, was sie sind, ohne ihnen ihr So-Sein oder So-Funktionieren vorzuwerfen und ohne ihnen entgegenzuhalten, daß sie nicht sind, was sie nicht sein können. In diesem Sinn bezeichne ich Luhmann als einen advocatus diaboli von einer bisher nicht gekannten Qualität. Die Pointe seiner Anwaltschaft für das Systemische liegt darin, daß er den Bereich des Systemhaften als solchen entsatanisiert und ihn freihält von der parakletischen Ungeduld, die beseitigen möchte, was dem Begehren des Subjekts nicht unmittelbar und dem langen Marsch der vorgeblich höherstufigen Subjektivitäten zur Weltvernunftherrschaft auch nicht so leicht mittelbar eingeordnet werden kann. Ich will damit nicht sagen, Luhmanns Ansatz sei ganz ohne Beispiel gewesen, denn etwa beim frühen Plessner, als er die »Grenzen der Gemeinschaft« herausstellte, oder bei Gehlen, als er von der »Geburt der Freiheit aus der Entfremdung« (Arnold Gehlen, Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 40, 1952) handelte, waren analoge subjektivitätskritische Denkbewegungen an den Tag getreten - im übrigen mit einer ähnlichen Ironie gegen die Bedürfnisse der politisierenden Unmittelbarkeit und mit einer vergleichbaren Aufmerksamnkeit für den systemischen Eigensinn von sozialen Großstrukturen. Aber nie zuvor ist der methodische Atheismus der neuzeitlichen Wissenschaften von einem so weit gehenden Asatanismus ergänzt worden. Es ist ein nahezu neuer Ton in den Sozialwissenschaften, daß nicht mehr mit einem peccatum originale, mit einem Ersten Verbrechen, oder einem anfänglichen Sturz in die Entfremdung begonnen wird. Etwas hiervon klingt an im Titel eines Luhmann-Aufsatzes über den Wandel juristischer und geschichtsphilosophischer Deutungen zum Ursprung des Privateigentums zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert: »Am Anfang war kein Unrecht«. Zieht man in Betracht, wie zurückhaltend Luhmann die Überschriften seiner Bücher und Aufsätze zu formulieren pflegte, wird die Vermutung legitim, daß im Titel dieser rechtssemantischen Spezialuntersuchung wohl auch ein Hauch von Bekenntnis mitspielt. Mehr noch macht sich in dem zweiten Primärgedanken Luhmanns, dem Theorem von der Ausdifferenzierung der Subsysteme, die Sorge des Autors um den Schutz der Theorie vor Übergriffen des Ressentiments bemerkbar: Ihm standen angesichts einer hundertjährigen Geschichte aufgebrachter Soziologien die Risiken vor Augen, die von ökonomistisch totalisierenden Beschreibungen der Beziehungen zwischen den sozialen Teilsystemen ausgehen. Das Ausdifferenzierungstheorem dient auch als eine Hygienemaßnahme, die vor erneuten wilden Anwendungen des Schemas von Basis und Überbau schützen soll.

Die methodische Unschuldsunterstellung in bezug auf Systeme in ihren Umwelten läßt sich nur durchhalten, wenn auf der Seite des Analytikers eine spezifische Abstinenz gewahrt wird - ich möchte sie als eine systemtheoretische Gelassenheit bezeichnen, auf die Gefahr hin, daß eine Versuchung aufkommen könnte, den Namen Luhmanns mit dem von Meister Eckhart und Heidegger in einem Atemzug zu nennen.

Wenn gelegentlich die These zu hören war, Luhmann sei »eigentlich« kein Soziologe, sondern ein Philosoph in der Maske des Sozialwissenschaftlers, so ist an dieser Feststellung soviel wahr, daß Luhmann die theorieasketische Grundlage der Phänomenologie mit seinen Mitteln wiederholt: die Einklammerung der vitalen Intentionen und der existentiellen Stellungnahmen des Theoretikers, damit »die Welt und alles, was ich von ihr weiß, zu bloßem Phänomen werden kann« (Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, 1931, S. 176). Man könnte auch sagen, daß er die epoché in bezug auf eine andere Phänomen-Menge erneut erfunden hat. Handelt es sich bei der ersten Menge um das Bewußtseinsleben eines »Subjekts«, das seine Vorstellungstätigkeit untersucht, als wäre es nicht seine eigene, so bei der wzeiten um das Systemleben im allgemeinen, das in neutraler Einstellung durchgenommen wird, als käme es den Agenten der Systemanalyse nicht auf sich selber an. Dazu gehört jene Unschuldsvermutung gegen Systeme als solche, die deren nicht-zelotisches Studium allererst möglich macht.

In diesem doppelt »eopochalen« Entübelungsmanöver gilt es nun, die heiße Stelle genauer ins Auge zu fassen - ich meine die Frage nach der Selbstbezüglichkeit, von der wir durch die oben gemachten Andeutungen wissen, daß sie für die metaphysische Verübelungsprozedur in bezug auf den Menschen und seine irdische Civitas von ausschlaggebender Bedeutung gewesen ist. Ich muß mich hier mit dem Hinweis begnügen, daß das Verdikt gegen menschliche Selbstbezüglichkeit zu den Konstanten der moralkritischen Diskurse in Europa von der Spätantike bis in die Gegenwart gehört und hier ein wie immer zerklüftetes und in sich gedrehtes Kontinuum von Anti-Narzißmus-Optionen anzunehmen ist.

Angesichts dieser durchgehaltenen Serie von Schelten gegen überwertige und schädliche menschliche Selbstreferentialität scheint der Anteil des Teufels auch in moderner Zeit klar der Subjektseite zugewiesen zu sein. Gegen diese Distribution des Teufelsanteils mußte nun ein Asatanismus zweiten Typs seine Mittel ansetzen und den Nachweis führen, es habe mit dem viel geschmähten Selbstbezug des Subjekts oder anderer armer Teufel eine so durchaus üble Bewandnis doch nicht. Man darf behaupten, daß gerade an dieser Stelle die für Luhmann typische Abstinenz von moralisierenden Begriffsbildungen ihre besten Effekte zeigt.
EXTREM   MITTE(L)   EXTREM
  FREMD-
BEZUG
MEDIUM SELBST-
BEZUG
 
Indem Luhmann das gesamte Feld des Relationsverhaltens von Systemen zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz nüchtern exponiert und zur Neubeschreibung freigibt, bewirkt er eine erheiternde De-Eskalation in allem, was die Kulpabilisierung des Menschen anbelangt. Die Ironie des Verfahrens besteht darin, die Menschen von der weltbildarchitektonisch motivierten Überbelastung als angeblich unmäßig in sich eingekrümmte Subjekte zu emanzipieren und sie teilnehmen zu lassen an der Quasi-Unschuld naturwüchsiger, systemisch bedingter Selbstreferentialität, von der wir wissen, daß sie nur eine notwendige und unvermeidliche Ausschlagrichtung eines allgemeinen Referenzverhaltens darstellt, das nicht anders kann, als ständig zwischen Selbstpol und Fremdpol zu oszillieren - und dies bei einem systemnotwendigen Primat des Inneren.

Der Abbau der Subjektüberlastung hat also eine zugleich epistemologische und moraltheoretische Implikation, weil nun Selbstreferentialität - als allgemeiner Systemaspekt aufgefaßt - weder exklusiv der menschlichen Subjektivität zugeschrieben werden muß noch mit einem Narzißmusverdacht a priori zu belegen ist.

Im 3. Reich hieß es:  „Du bist nichts, dein Volk ist alles“. Seit ca. 1960 heißt es:  „Du bist alles, dein Volk ist nichts“.
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Welt und Gehirn Welt und Gehirn
Mechanismen „Akkumulationstendenzen“ Mechanismen
Das wichtigste Entlastungsmotiv wird von Luhmann aus der modernen Biologie und Metabiologie übernommen, in der sich zeigt, daß Selbstbezüglichkeit nicht etwas ist, was erst nach der Entstehung von Ich-Bewußtsein ins Spiel käme - als wäre sie ein parasitärer Zusatz zu einem vorgängig reflexionsfrei eingerichteten organismischen Sein, gewissermaßen eine unberechtigte, genießende Introversion, die sich von einer älteren selbstlosen Norm entfernte. Vielmehr treten Selbstverhältnisse schon auf der ersten Stufe des Lebens auf, insofern dieses als Inbegriff selbstschöpferischer Prozeßordnungen beschrieben werden muß. Das Selbst der Autopoiesis lebendiger Systemeinheiten spiegelt eher die Güte der gelungenen Schöpfung als eine narzißtische Revolte wider - denn Organismen sind als Intelligenzverkörperungen verfaßt, an denen sich die Doppelbewegung des Selbst- und Fremdbezugs von Anfang an beobachten läßt. In höheren Organismen kann Selbstbezug auch die Form von Sich-Erleben und symbolvermitteltem Selbstbewußtsein annehmen. Doch wenngleich Organismen Materialisationen ihres Intelligenz- und Erfolgdesigns darstellen und, dementsprechend, auf die permanente Abtastung und Nachregelung von eigenen Zuständen angelegt sind, so sind sie nirgends darauf eingerichtet, sich in sich selbst vollständig zu reflektieren oder zu repräsentieren. Sie sind, um es anders auszudrücken, nicht darauf ausgelegt, die Wahrheit über sich in sich zu haben. Dieser Sachverhalt läßt sich im Blick auf das anspruchsvollste Beispiel am populärsten erklären: Es gibt kein menschliches Gehirn, und es kann aus prinzipiellen Gründen keines geben, das bis ins einzelne wüßte, wie es selbst funktioniert, geschweige denn eines, das sich bei laufendem Betrieb eine komplette Repräsentation seiner historischen und strukturellen Betriebsbedingungen - im Sinne eines hierjetzt aktuellen, in Totaltransparenz zu sich gekommenen Geistes - gegenwärtig halten könnte. .... Es existiert in dieser Hinsicht weder ein sich selbst bis auf den Grund durchsichtiges Subjekt noch ein freies, zur Revolte und zum bösen Selbstgenuß prädisponiertes Ego, das als Zentrale einer schuldhaften Verweigerung der Kommunion mirt allen anderen Organismen oder Ko-Subjekten fungieren könnte. Aber es exstieren ohne Zweifel fehlgesteuerte oder mißlungene Autopoiesen, die - wenn man ihnen abhelfen will - in therapeutischer Einstellung studiert werden müssen.

Luhmann ist also ein Anwalt des Teufels in dem paradoxen Sinn, daß er die Diabolizität des potentiell Diabolischen als solche in Frage stellt. Wenn das »Subjektive« nicht das Willkürliche ist, ist die Subjektwillkür nicht per se das Böse. »In der Realität gibt es keine Willkür, die gleichsam am Subjekt haftet.« (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 876 [**].) Luhmann verteidigt die Selbstbezüglichkeit der Systeme, indem er an ihnen nicht die schuldhafte Selbsteinkrümmung und ihre unmoralische Abwendung vom Anderen betont, sondern sich in Ruhe dem Nachweis widmet, daß es anders als vorrangig selbstbezüglich bei Systemen ohnedies nicht geht. Er empfiehlt sich infolgedessen als der Anwalt einer naturalisierten oder besser: systemisch neutralisierten Selbstreferentialität, welche für ihn schlicht eine Phase in einer permanenten Schwingung darstellt - einen Sachverhalt, den er in seiner im avanciertesten Sinn des Wortes philosophischen Wiener Vorlesung vom Mai 1995 über Husserls Wiener Vorlesung vom Mai 1935 Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie als eine »bistabile Oszillation« beschrieben hat. Die Pointe dieser Auffassung besteht darin: Sie ersetzt das philosophie-intern übliche Ausgehen von einem Prinzip, es heiße Gott oder Subjekt oder Verständigungsprozeß, durch eine gedächtnisgestützte Pendelbewegung in einem System - Luhmann nennt sie das bistabile Schwanken zwischen Innen- und Außenreferenz -, bei der das Problem einer »Erbsünde« schlechterdings nicht auftaucht. Die kontinuitätsermöglichende Oszillation stellt aus ihrem Eigenablauf heraus sicher, daß das System sich von den beiden Gefährdungen zurückzieht, die bei einer einpoligen Orientierung drohten. Ein korrekt funktionierender Referenz-Oszillator ... verliert sich weder ganz an die Welt als den Fremdreferenzpol, noch versinkt er ganz in sich selbst als den Selbstreferenzpol. Vielmehr weicht er kraft einer permanenten Selbstjustierung sowohl vor dem Positivismus als auch vor dem Autismus zurück, und zwar gerade dann, wenn er sich einem der Pole aufgrund einer internen Unbalance seiner Lerngeschichte allzu weit angenähert haben sollte.

Meditation „An solchen Stellen begreift man erst wirklich, was Lichtung ist, nämlich ein Selbstbewußtsein, das ohne Überheblichkeit auf der Höhe ist.“ **

Ich darf mir hier die Anmerkung gestatten, daß Luhmanns Wendung vom »bistabilen Schwanken« bei all ihrer technischen Kühle ein gewisses Pathos an sich trägt, das sich verdeutlicht, wenn man sich bewußt macht, daß sie formal konvergiert mit Heideggers Ausführungen über den Unterschied zwischen der metaphysisch ausgelegten Bewegung in der Ruhe und der nachmetaphysisch überdachten Ruhe in der Bewegung - mehr noch, daß hier sich auf die diskreteste Weise ein gleichsam buddhistischer Zug in die Prämissen systemtheoretischer Vernunft einprägt. .... Wenn Heidegger sich für sein metaphysikverwindendes Denken reklamierte, die Antwort auf Platons im Sophistes gestellte Frage zu kennen, wie das Sein oder das Ganze zugleich in Ruhe und in Bewegung sein könne, indem er das Wort von der Gelassenheit neu ins Spiel brachte - ein Ausdruck, der eine Abdankungsform des absoluten Wissens bezeichnet -, so hat Luhmann die Gelassenheit noch weiter aus der Pathoszone herausgesteuert, indem er Wert legte auf die Feststellung, daß einem Bewußtsein ohnehin nichts anderes übrigbleibt, als von jedem seiner intern erreichten Zustände aus weiterzumachen.

Ich habe anfangs den etwas verfänglichen Ausdruck »Luhmanns Lektion« gebraucht und gleichzeitig vor möglichen Implikationen dieser Wendung gewarnt (**). Inzwischen scheint es, daß zumindest ein Fragment oder eine Sinnschicht dessen, was damit gemeint ist, ein wenig deutlicher geworden sein könnte. Luhmann, als resolut moderner, asatanistischer Anwalt des Teufels, ist der Verteidiger einer komplexer als je zuvor beschriebenen sozialen Normalität - einer Normalität, von der nun von vorneherein ausgemacht ist, daß sie durch hohe Komplexität und Verfangenheit aller Systeme in immanent unausweichlichen Paradoxien charakterisiert ist. Die Luhmannsche Normalität ist die Normalität des Ungeheuren, das sich in Selbstordnungen des Lebendigen eine Verfassung gibt - vielmehr zahlreiche lokale Verfassungen.

„Wenn ich also für Luhmanns Lektion einen zusammenfassenden Ausdruck bilden sollte, so würde ich vorschlagen, seinen Beitrag zur Theoriekultur der Zukunft als einen Fundamentalinnozentismus zu bezeichnen - ein Worthybrid, der einen juristischen und einen philosophischen Anteil enthält. Innozentismus meint eine unter guten Anwälten und Therapeuten anzutreffende Grundhaltung, die von der Unschuldsvermutung gegenüber Subjekten und Systemen welcher Art auch immer geprägt ist. Diese Vermutung wird von der Einsicht unterstützt, daß Systeme und andere Verdächtige üblicherweise nichts Besseres zu tun haben, als zu funktionieren, wie sie funktionieren, die möglichen funktionalen Varianten mitgerechnet, und das die Beweislast für die These, sie sollten und könnten anders funktionieren, als sie es tun, beim Ankläger liegt - ein Anliegen, das keinen allgemeinen Beifall genießt, denn alle Formen von kritischer Theorie gehen vom Vorrang der Beschuldigung aus und muten den angeklagten Zuständen zu, sich vor ihren Anklägern zu rechtfertigen. Dieses Verfahren, das man jakobinisch oder fundamentalistisch nennen kann, ist zugleich immer immer auch hypokritisch, weil es von der Überzeugung gesteuert ist, der als Mißstand beschriebene Zustand sei niemals in der Lage, seine Apologie zu leisten.

Luhmanns Fundamentalinnozentismus entzieht diesem Arrangement die Voraussetzungen, indem er seine analytische Prozeduren in einer ganz anders ausgelegten Szene ansiedelt. Er operiert in einem Raum. in dem gelassene Schwankungen zwischen Distanz und Partizipation möglich sind und in dem vorausgesetzt werden darf, daß auch Kritiker an dem teilnehmen, woran sie doch teilhaben -oschon sie sich irgendwelche Rückzüge und Reinheitsreserven einbilden. Damit wird die Heuchelei der Kritik als das beschrieben, was sie ist: als Koinzidenz von Hypokrisie udn Utopie im buchstäblichen Wortsinn - das heißt als Schauspielerei auf eine Bühne, die an einem Nicht-Ort steht und die sich dennoch Beachtung verschafft aufgrund ihres Vermögens, mit aggressiven Sprechakten zu faszinieren. Denn weil die kritischen Theorien über die Anklage, den Alarm und die Geste der Exkommunikation verfügen, spielen sie ständig an auf den Ernstfall, der die ,oralische Auslöschung des Gegners fordert: »Wem solche Lehren nicht erfreu’n / Verdient es nicht, ein Mensch zu sein«.

Der Innozentismus wird als »fundamental« qualifiziert, nicht um auch der Systemtheorie fundamentalistische Züge anzuhängen, sondern um darauf hinzuweisen, daß sie, sobald sie auf Augenhöhe mit traditionellen parakletischen Philosophien und Theologien operiert, nicht anders kann, als gleich tief anzusetzen wie die Funadamentalkulpabilismen, in denen die alteuropäische Menschenüberlastungstradition sich manifestiert, mitsamt ihren Nachzündungen in der Existentialontologie, in der Kritischen Theorie und, wenn nicht alles trügt, auch in einem Zweig der Dialogtheorien, die neuerdings einen bemerkenswerten Teil der diskursiven Energie von der Sozialphilosophie und Pastoraltheologie zur Ethik abziehen.

Während die Fundamentalkulpabilismen ihre Erfolge erzielen durch den Reiz des Bösen, das sie so kritisch wie hypokritisch herausstellen, arbeitet der Fundamentalinnozentismus mit der Diskretion des Nicht-Bösen. Ihm ist an dem Nachweis gelegen, daß menschliche Selbstbezüglichkeit eine zu schwache Adresse ist, um ihr das ganze Dossier der Anklage gegen die Weltmißstände zuzustellen.

Es gibt, nach Luhmann, zwar weite Spielräume des Zufälligen im Aufbau von Systemen, aber nirgendwo kann von so viel Freiheit die Rede sein, daß so viel Schuldfähigkeit und Berechtigung, Anklagen zu erheben, aus ihr folgen könnten. Es ist Luhmanns große theoriestrategische Intuition, das metaphysisch überspannte Freiheitsmotiv im Aufbau von Handlungssystemen samt ihrer ethischen Begründungen auf ein Maß zurückzuführen, das zu einer vernünftigen Zurücknahme der Beschuldigungsdisposition geneigt macht.

Dieser Einspruch könnte auf längere Sicht einen wichtigen Akzentwechsel im moralkritischen Haushalt moderner Gesellschaften herbeiführen, weil dabei die alteuropäische Übung, das Böse als Synthese aus egoistischer Täterbosheit und widersacherischer Sachverhaltsbosheit zu verstehen, ersetzt würde durch eine diskrete Ermittlung dessen, was Florain Rötzer mit einem glücklichen Ausdruck das Systemböse genant hat. (Vgl. Florian Rötzer, Reflexionsschleifen über Zumutungen oder: Was heißt es, sich in komplexen Systemen zu orientieren?, in: ders., Das Böse. Jenseits von Absichten und Tätern oder: Ist der Teufel ins System ausgewandert?, 1995, S. 32. Luhmanns moralismuskritische Intuitionen konvergieren bemerkenswert mit den Überlegungen Michel Serres’ zum un- und überpersönlichen Charakter der Übel und zu der tragischen Konstante in der menschlichen Kondition; Serres empfiehlt, das aktive Übel wie ein unpersönliches Verbum zu konjugieren: »Es regnet, es friert, es donnert«. »Aus eine flukturierenden permanenten Wolke fallen indifferente Schadensniederschläge auf die Köpfe aller und auf einzelne.« Vgl. a.a.O., S. 278. Diese Bemerkungen richten sich gegen die »Philosophien des Verdachts«, deren Präsenz in den Intellektuellenkulturen Frankreichs kaum weniger massiv ist als in Deutschland.)

- Ironietheoretischer Nachsatz -

„Abtei im Eichwald“ (C. D. Friedrich)
„Abtei im Eichwald“ (Caspar David Friedrich, 1809)

Es ist kein Zufall, daß in die Ironie erst wieder Bewegung kommt, als mit der transzendentalen Wende zum Deutschen Idealismus die Philosophie selbst unter neue Vorzeichen tritt. Infolge des erhöhten Reflexionseinsatzes nach Kant und Fichte entsteht in den gleichzeitigen Poetiken eine potenzierte Form der Ironie, die unter dem Titel der romantischen (**) entworfen, rezipiert und verteidigt wurde - eine Ironie, mit der die Kunst, es anders zu meinen, als es dasteht, mehr noch die Kunst, dem, was dasteht, überhaupt den Boden zu entziehen, eine neue Höhe erreicht. Die provozierte Ironie antizipiert eine Bewußtseinslage, die wir heute mit dem Ausdruck Konstruktivismus assoziieren. Sie akzentuiert die Souveränität des setzenden und aufhebenden Subjekts, das seiner Schwebe zwischen Produktivität und Destruktivität bewußt ist - in teils genießender, teils depressiver Haltung.

Die modernisierte Ironie zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß sie die Abwendung des Subjekts von seinen vorübergehenden Engagements als eine legitime Weise, mit Dingen und Personen zu spielen, freigibt.

Wenn ich es mir erlauben darf, eine ironiegeschichtliche Situierung Niklas Luhmanns vorzuschlagen, so kann dies nur durch den Hinweis geschehen, daß sich in seinem Werk die Heraufkunft eines dritten Ironietyps andeutet, den ich den kybernetischen (**) nennen will. Die kybernetische Ironie setzt die romantische voraus, so wie diese die sokratische zur Prämisse hatte. Aber sie bereitet dem Subjekt der romantischen Ironie, dem zwischen seinen Setzungen und deren Aufhebung schwebenden Subjekt, ein subversives Schicksal, indem sie ihm zumutet, sich selbst als Epiphänomen in einem System aus Systemen zu verstehen, das viel zu komplex und eigensinnig ist, um von einem Subjekt gesetzt oder aufgehoben zu werden.

Der ironische Code antizipierte die Mehwertigkeit vom Beginn des Zeitalters an, in dem die Zweiwertigkeit das Schicksal des Denkens für immer zu bestimmen schien. Es gab sich selbst als jenes Dritte, das auf der Ebene der Aussagenlogik nicht gegeben werden konnte.

Die Möglichkeit von dritter Ironie steht und fällt mit der Ironisierbarkeit von Immersionen. Deren bisher mächtigste philosophische Antizipation findet sich in Heideggers Man-Kapitel aus Sein und Zeit, sofern dort das Existieren im Modus des Verfallens an die Mitwelt ausgelegt wird als Immersion in eine Vulgarität, die scheinbar ohne Alternative ist und doch - gleichsam ekstatisch von innen her - radikal gegen sich selbst gekehrt werden kann. Beim Gang durch die totale Installation des Daseins ist ein Heideggerianer doch irgendwie zu einem entschlosseneren und vornehmeren Benehmen fähig als die unschlüssigen und massenhaften Besucher - zumindest erwartet er dies von sich selbst. Noch eine Stufe ironischer ist Luhmanns Diskretion, mit der er aufzuzeigen versucht, daß ein Individuum ohnehin nie wirklich ganz in seine Umwelt oder sein Anderes eintauchen und darin untergehen kann - es sei denn, es benutzte die Umwelt wie eine Droge oder einen Cyberspace, aus dem es keinen Rückzug gäbe.

Die Systemtheorie ... spricht eine Sprache, bei der es zunehmend unwichtiger wird, ob sie von Personen oder höheren Mechanismen handelt. Als Cyberspace ist sie das Organon einer polyvalenten Ontologie, die sich von der alteuropäischen Unterscheidung des Seins, welches ist, vom Nichts, welches nicht ist, abgestoßen hat, um höhere Komplexitätem aufzubauen.

- Therapietheoretischer Nachsatz -

Wenn die moderne Welt als ganze denken könnte, es müßte Luhmann dabei entstehen - vorausgesetzt, daß seine Version von Systemtheorie die autotherapeutische Konsequenz der Moderne artikuliert, sich den Zwangskonstruktionen der Vernunft-Paranoia und ihrer Totalisierungen in großer Politik und großem Konsensus zu entziehen. Die wichtigsten Agentien der Luhmann-Therapie gegen monomanische Risiken und Nebenwirkungen alteuropäischer Denkformen haben wir im Gang unserer Überlegungen bereits angesprochen: die Wiederholung der phänomenologischen epoché in bezug auf die systemischen Größen; die Ergänzung des methodischen Atheismus durch den methodischen Asatanismus; den Einsatz hoher Ironien gegen hohe Prätentionen totalisierender Subjektivität; die Offenlegung des polemogenen Charakters von vorgeblich kritischen Theorien und guten Moralen; die Ersetzung von eingespielten Beschreibungsroutinen durch neue, inkongruente Zugänge. Der bedeutendste Zug in diesem Programm ist ... die Einklammerung dessen, was traditionell unter Normalität verstanden wurde - und mehr noch die Suspension des Realitätsglaubens als solchem. Erst hier wird begreiflich, was mit der ... Forderung besagt ist, die Vernunft müsse sich künftig eine von Grund auf selbstkritische Verfassung geben. Luhmann merkt dazu an: »Selbstkritisch ist die Vernunft nicht aufgrund ihres europäischen Erbes, sondern nur wenn und nur insofern, als sie ihren eigenen Realitätsglauben auswechseln kann, also nicht an sich selber zu glauben beginnt. Die Bewährungsproben liegen in der Therapie, die weniger schmerzhafte Lösungen zu erreichen versucht und selbst ein Desengagement in Sachen Realität pflegt. Und sie liegen in Ansprüchen an Kommunikation, in Ansprüchen an eine subtilere Sprache ..., die auch unter polykontexturalen Bedingungen noch funktioniert. Selbstkritische Vernunft ist ironische Vernunft.« (N. Luhmann, Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, 1996, S. 45-46 Luhmann). Den Realitätsglauben als eine auswechselbare Größe beschreiben: Mir scheint, mit dieser Wendung hat Luhmann die expliziteste Annäherung an das Konzept der dritten Ironie als Umgangsform mit auflösbaren Immersionen erreicht. Es ist sicher kein Zufall, daß diese Wendung im Kontext von therapeutischen Grundlagenreflexionen fällt. Luhmann sagt hier in Übereinstimmung mit Leitsätzen des Radikalen Konstruktivismus, therapeutische Praxis dürfe nicht länger als erfolgreiche Anpassung des Subjekts an eine vorgeblich objektive Realität verstanden werden, sondern als Austausch eines unlebbaren Realitätskonstrukts gegen ein weniger unerträgliches. In dieser Annäherung erscheint Ironie keineswegs als Überhebung des Subjekts über die Tugend und die Realität, Ironie wird vielmehr selbst zur Tugend und modifiziert das Reale, sofern sie die Mechanismen aufhebt, die den Realitätseffekt, das Einrasten in einer Elendsimmanenz und einer Kampftotalität, produzieren. Dieser Effekt ist anderswo auf »Selbstrelativierungsdefizite« bei starren Subjektbildungen zurückgeführt worden.

Besonders scharf nimmt Luhmann die konfliktuellen Effekte in den Blick, die von der Diabolisierung der geldwirtschaft in den sozialistischen Ländern ausgegangen sind. Diesen hält er entgegen:
„Geld wendet für den Bereich, den es ordnen kann, Gewalt ab - und insofern dient eine funktionierende Wirtschaft immer auch der Entlastung von Politik. Geld ist der Triumph der Knappheit über die Gewalt.“ (Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1988, S. 85)
Luhmann verkennt nicht, daß Geld, wo es vorhanden ist, Verbindungen stiftet, die sein Lob als Medium symbolischer Verallgemeinerungen rechtfertigen, im Falle des Mangels jedoch Trennungen bewirkt, die es als Medium diabolischer Generalisierung erscheinen lassen. Mit diesen Wendungen begegnet Luhmann der marxistischen Tradition - in einem Abstand, der die Katastrophe des Marxismus als einer Höchstform der kulpabilisierenden, parakletischen und aggresiv-naiven Gesellschaftstheorie bereits mitbeobachtet. Man meint die Wiederholung weisheitlicher Denkformen auf der Höhe der Modernität zu vernehmen, wenn man Zeuge dessen wird, wie nachdrücklich und vorsichtig zugleich Luhmann darauf hinweist, daß keine Inklusion ohne Exklusion geschieht und kein System der Verlegenheit entgeht, die Vorteile einer Leistung, die es erbringt, an anderer Stelle mit Nachteilen zu bezahlen. Geschieht hier nicht doch ein Übergang von operativer zu kontemplativer Theorie - und stellt dies nicht eher einen Fall der von Heidegger angesichts der technischen Welt angemahnten philosophischen Besinnung dar als nur eine Form von Selbstreflexion im komplex gewordenen soziologsichen Diskurs? - Im wesentlichen läßt sich gegen Luhmanns Argument kaum etwas einwenden ....

Die Ausschaltung von Ressentiment als Antrieb von Urteilen und Theoriebildungen ist ein um vieles mühsameres Geschäft, als die bisherigen Leser Nietzsches vermuteten. Die Überwindung des Ressentiments ist ein Kulturprojekt, das seinem logischen und psychologischen Volumen nach kaum weniger Aufwand fordert als das buddhistische Dharma, diese bisher größte Anstrengung zu einer mentalen Hygiene.

Ein sprachphilosophisches Defizit in Luhmanns Denken ist jedem aufmerksamen Leser deutlich, daß die sozial oder systemnaturalisierten Optionen dieses Ansatzes ihre Bewährungsprobe in realen politischen Krisen noch nicht bestanden haben, gilt ebenfalls für die Zukunft zu denken. Und daß Luhmann mit seinem Konstrukt »Weltgesellschaft« eine Idealisierung in eigener Sache in die Welt gesetzt hat, wird jedem kalr sein, der einen mehr empirisch bestimmten Zugang zu Phänomenen wie Sprachen, Kulturen, Völkern und Negationen gewählt hat; kein Zufall also, wenn in den Sachregistern zu Luhmanns Hauptwerken diese Einträge kaum oder gar nicht zu finden sind. .... Daß die Systemtheorie als Zivilreligion eher unbrauchbar ist, stellt in meinen Augen einen ihrer Vorzüge dar.

Wichtiger ist es aus meiner Sicht zu zeigen, wie existentialistische Motive und anthropologische Themen sich präsentieren, nachdem sie eine Verfremdung durch systemische Beobachtungen durchlaufen haben. Es spricht alles dafür, daß die Anthropologie erst wieder zu einer Disziplin oder sogar einer Denkweise von Gewicht werden kann, wenn sie zu einer Anthropologie zweiter Ordnung unformuliert wird - ein Gedanke, den meines Wissens Dirk Baecker zuerst artikuliert hat. Wenn Luhmann wirklich, wie manchmal behauptet wird, der Hegel des 20. Jahrhunderts gewesen ist, dann wird sich das nicht zuletzt durch das Auftreten von Jungluhmannianern bewahrheiten, die sich mit einer erneuten existentialistischen Abweichung vom Systemdenken bemerkbar machen.

Nach Luhmann denken - das bedeutet für mich: die altehrwürdigen Begriffe der Liebe, der Seele, des Geistes, ein wenig aktueller gesprochen, der Teilhabe am Anderen und der Existenz in verbindlich gemeinsamen Animations- und Motivierungsräumen, derart neu zu fassen, daß in der Darstellung selbst die Erschwerungen fühlbar werden, die mit dem aktuellen »Weltzustand« - noch einmal Hegels Wort - gegeben sind.“

Peter Sloterdijk
(Luhmann, Anwalt des Teufels, in: Ders.:
Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger,
2001,
S. 82-83, 83-84, 84, 84-85, 86-87, 88-89, 89-90, 94-96, 98, 99,
100-102, 102-103, 103, 104, 105, 105-106, 106-108, 108-109, 109-
110, 111-112, 112, 113-115, 115-116, 116-117, 117-118, 119, 124,
125, 126, 128, 131, 133, 134-136, 137-138, 139, 139-140, 140-141)

 

- Sloterdijks „Kopernikanische Mobilmachung“ -
Kopernikanische Mobilmachung nennt Sloterdijk das Wesen der Postmoderne, die sich im Grunde aller Wesensaussagen enthält und in einem durchgehenden Prozeß der Dekonstruktion und Destruktion alter Gewißheiten befindet. Dieser Prozeß umfaßt alles, weshalb Sloterdijk ihn auch als eine Kriegserklärung der Moderne an Geschichte und Tradition begreift. Diesen Bewußtseinskrieg nennt Sloterdijk Mobilmachung. Die Mobilmachung wird überall vom gleichen Geist begleitet, der zum Signum der Moderne geworden ist, wogegen sich in der Gedankenkonstruktion, genannt Postmoderne, Krisenreaktionskräfte ausbilden.

Kontraintuitiv müssen wir (kopernikan[ist]isch) lernen, unseren Augen zu mißtrauen. So hat es in unserem Sonnensystem noch nie einen „Sonnenaufgang“ gegeben, sondern nur sture Umdrehungen der Erde um die Sonne. Mehr noch: es gab einen Zeitpunkt, als es alles noch nicht gab, weder Augen noch Sonne noch Welt. Das moderne Bewußtsein dementiert den Schein der Sinne, und wir befinden wir uns, so gesehen, in einem Zustand der Bodenlosigkeit, denn Kopernikanismus ist erkenntnistheoretisch eine Entsubstantialisierung aller ptolemäischen Verhältnisse. Radikalkopernikanisch ist laut Sloterdijk auch die Neurophilosophie und die Biologie, denn beide erklären z.B., daß Liebe eine chemische Verbindung aus Oxytocin, Prolaktin und Phenyläthylamin ist. Der Modernismus verweigert generell die Aussage, daß Natur überhaupt ein Wesen hat; sie ist genauso eine Konstruktion wie Wissenschaft und Kunst; überhaupt: das Wesen des Kopernikanismus ist im Grunde Konstruktivismus. Interpretation ist alles was ist, sagen die einen, alles ist Konstruktion, die anderen und daher meint Paul Feyerabend „anything goes“, die Theologen gehen und die Designer kommen. Das ist Beliebigkeit und Revolution in Permanenz. Die Verflüssigung aller Wahrheiten und Weltbilder dreht alle in einen großen Schwindel. Wem nicht schwindelig ist, ist nicht informiert. Gestern war besser, heute ist schöner, nennt dies ein Magazin. Gegen diese Auflösung aller Selbstverständlichkeiten wendet sich Sloterdijk in gewohnter alternierender Sicht und fordert die ptolemäische Abrüstung, d.h. ein Sich-Einrichten im lebensweltlich erträglichen mesokosmischen Raum. Die Wiederkehr einer schönen schonenden Sicht gegen die Schockästhetik klagt Sloterdijk ein mit einer gewissen Rehabilitierung von Tradition und Mythos. Die restliche Durchdringung der Gesellschaft mit dem Geiste der Mobilmachung macht auch vor der höchsten privaten Sphäre der Sexualität nicht halt; auch in der Sexualität sieht Sloterdijk mit Recht eine kulturelle Konstruktion, die im westlichen Kulturkreis einhergeht mit einer penetrierenden Höhepunktsgläubigkeit im Geiste der Mobilmachung. Die Feuerwerkssexualitätist ist zudem Teil des kapitalistischen Medizin- und Medienkomplexes und wird durch die Werbung gestylt und angeheizt. Der ständige Abruf sexueller Bereitschaft durch den Durchlauferhitzer der Werbewelt macht die Sexualität zu einem mobilmachenden Pflichtpensum, das Leben des Europäers wird allein durch Höhepunkte gerechtfertigt. Das Abspecken der Pfunde und das Auftreten nach medialer Vorlage wird zur alterslosen Norm unserer mobilmachenden Gesellschaft. Auch dies gehört mit zur (scheinbar nicht enden wollenden) kopernikanischen Wende in der abendländischen Kultur.

Intelligenz löst sich von der Bewegung; sie nimmt nicht Teil an den Mobilmachungsspiralen; sie beginnt ruhend zu schweben. Demnach wäre der Klügste derjenige, dem alles zum Bilde oder zum Schauspiel wird. Er ist der perfekte Stoiker, den nichts empört und beunruhigt. Sein Vorbild ist Jupiter, der in euphorischer, gleichgültiger Distanz und Indifferenz auf das Panorama der Dinge blickt. Allerdings haben kontemplative Lebenseinstellungen in den hektischen Zeiten der modernen Mobilmachungskampagnen nichts mehr zu suchen und werden verfehmt. Für Sloterdijk ist es keine Frage, daß die Kinetik die Ethik der Moderne ist: die Dynamik der Bewegung. Selbst der Papst bewegt sich im Papamobil und wird zu Lüften der eilige Vater genannt. Die Ingenieure sind die Theologen, die dem Gott Bewegung huldigen und unter Innovationszwang Jahr für Jahr neue Bewegungsprodukte entwickeln.

„Vormoderne Mentalitäten waren von keiner anderen Evidenz so tief durchdrungen wie von der: daß es immer anders kommt, als man denkt.

Die Unvermeidlichkeit einer postmodernen Überschichtung der Moderne springt inzwischen jedem Passanten ins Auge. Sie ergibt sich aus der Beobachtung, daß auch modern ganz anders kommt, als gedacht – nicht weil der Mensch denkt und Gott andere Pläne hatte, sondern weil ein unserem Denken und Tun innewohnendes unbegriffenes Anderskommenmüssen durch das Projekt mit unaufhaltsamer Ironie hindurchschlägt. Es kommt anders, als man denkt, weil man die Rechnung ohne die Bewegung gemacht hat. Es kommt unweigerlich anders, weil man beim Herbeidenken und Herausbringen dessen, was kommen soll, immer auch etwas ins Laufen bringt, was man nicht gedacht, nicht gewollt, nicht berücksichtigt hat.

Vielleicht erkennt man die Postmoderne philosophisch am ehesten daran, daß sie die stolzen Aktivsätze der Moderne in Passivsätze oder in unpersonale Wendungen umformt.

Postmoderne Prozeßgefühle sind nicht die von Leuten, die von sich glauben, es gehe mit ihnen geschichtlich bergauf. Sie sind eher die Empfindungen von Passanten auf einer Rolltreppe, auf der man automatisch vorankommt, gleichgültig, ob man sich an die Vorschrift hält oder nicht, rechts zu stehen bzw. links zu gehen.

Seit der Fortschritt selbstläufig geworden ist, hat sich der Zukunftsoptimismus in Prozeßmelancholie verwandelt. Wir fahren nicht mehr von Genua in die Neuzeit, wir rollen auf einem Förderband ins Unabsehbare.

So haben wir Anschluß an die kinetische Modernität gefunden, an das mediokre Undsoweiter, das von der katastrophalen Unterbrechung träumt, an die akzelerierenden Rolltreppen, die sich ohne Bedarf an Vision und Zustimmung selbstläufig weiterwälzen.

Aber wenn die postmoderne Moderne zur Zeit heftig vom endzeitlichen Alpträumen geplagt wird, dann auch darum, weil sie spürt, wie ihre Kräfte zur Vertagung des Äußersten schwinden. Seit Jahren erscheinen weltweit Anthologien und Sonderhefte zur Apokalypse. Das heißt: die Zeitgenossen nehmen interessiert zur Kenntnis, daß die Entfristung des Weltprozesses mißlingt. Das gibt zu denken, weil damit das zeitlogische Kernstück des Unternehmens Neuzeit gefährdet ist. Die Energien, die es sich einmal zutrauten, auf der endlichen Basis Erde das unendliche Projekt Moderne durchzuführen, fühlen sich mit einemmal dramatisch verknappt.

Sobald die kinetische Utopie der Moderne offengelegt ist, bricht das scheinbar so stabile Festland der Moderne auseinander, neu aufgefaltete Problemgebirge schieben sich gegen unsere Bewußtseine vor, nichts ist mehr so, wie wir es in der guten alten Zeit gelernt haben. Was sich da zu einer ungewohnten Problemwelt auffaltet, sind die Paradoxien des neuweltlichen Prozesses selbst: Über die Geschichte schiebt sich eine Posthistoire, über die Moderne eine Postmoderne.

Darum ist das Automobil das Allerheiligste der Moderne.

Auch wer das Wort Postmoderne nie gehört hat, ist an diesen Nachmittagen im Stau bereits mit der Sache vertraut geworden.“
Peter Sloterdijk
(Eurotaoismus, 1989, S. 21ff.)

„Panische Kultur - oder: Wieviel Katastrophe braucht der Mensch?  ... Nur durch die Nähe zu panischen Erfahrungen sind lebendige Kulturen möglich - erst die gelegentlich erlebte Gegenwart des Maßlosen legt einen gemäßigten menschlichen Bezirk frei, in dem sich die Dinge kultivieren lassen, für die wir zuständig sind. ... Der moderne Panikbegriff vergißt diesen Zusammenhang zwischen Gegenwart, Offenbarung und Schrecken - woran er sich erinnert, ist nur das kinetische Motiv der blinden Flucht. (). Er weiß vor allem das Wichtigste nicht mehr: daß erträgliches menschliches Leben immer eine Insel im nicht Erträglichen ist und daß die Existenz von Insulanern nur durch die Diskretion des hintergründig gegenwärtigen Ozeans gewährleistet ist. (). Die Welt, die uns sicher ist, ist darum immer auf eine entweder (judäochristliche) apokalyptische oder (heidnisch) panische Folie gesetzt. Die Moderne aber will Gegenwart ohne Tränen.

Tatsächlich birgt das katastrophenpädagogische Denken das Versprechen, daß sich auch größtes Unheil durch anschließendes Lernen auf ein menschliches Maß beziehen - das heißt in den Bereich vernünftiger Maßnahmen zur Verhinderung seiner Wiederholung bringen läßt.

Die Katastrophe wird es ihnen zeigen!

Die Moderne ist ja das Unternehmen, in welchem die menschliche Intelligenz sich nicht damit begnügen kann, richtige Sätze über die Welt zu äußern; sie kann sich erst dann für befriedigt erklären, wenn sie selbst aktiv dafür gesorgt hat, daß mit der Welt im ganzen das Richtige geschieht. Dieses aktive Sorgen fürs Richtige steckt aber in der radikalsten Krise. Denn wenn jetzt auch noch die menschengemachte Katastrophe zum Lernen, wie man es richtig macht, beisteuern soll, so bezeugt dies auf fatale Weise, wie die Moderne an ihrer Konzeption erlernbaren richtigen Handelns unter der Führung von Erfolg und Wahrheit irre geworden ist. Ein Moment diese Irrewerdens ist Martin Heideggers Aufsatz Vom Wesen der Wahrheit aus dem Jahr 1930. In ihm durchschlägt die Krise der Vernunft-die-es-richtig-macht den klassischen Bezirk der Wahrheit, sofern diese als Richtigkeit, Ädaquation und (Mit-)Teilbarkeit vorgestellt worden war. Hinter ihm öffnet sich nun ein Raum von (Un-)Wahrheitsereignissen, die sich als seinsgeschichtliches Ent(ver)bergungsgeschehen in souveräner Kriterienlosigkeit vollziehen. ().

Risiken und Grenzen des katastrophendidaktischen Denkens ... (...): Welche Größenordnung müßte eine Katastrophe haben, ehe von ihr der erwartete allgemeine Erkenntnisblitz ausstrahlt? Von welchem Punkt an wären Katastrophen Evidenzgründe für radikale mentalitätsverwandelnde Einsichten?  Wie schlimm muß es kommen, bevor es besser kommen kann ? Muß es überhaupt schlimm kommen?  Ist der unterstellte Zusammenhang zwischen Unglück und Einsicht gültig?

Menschliche Bewußseine besitzen auf vielfache Weise die Fähigkeit, gegen katastrophische Evidenz immun zu bleiben. Vermutlich hält sich die stumme Mehrheit immer außerhalb des möglichen Wirkungsradius großer Unglücke auf. In der Moderne kommt hinzu, daß die Bürger dieser Epoche ihre Zeit längst wieder als schicksalartiges Geschehen erfahren, das sich auf keinen vernünftigen Willen abbilden läßt. Der zweite Fatalismus, der allenthaben erwacht, gehört zu einem Bewußtsein, das merkt, wie sehr auch heute die Dinge anders kommen, als man denkt.

Wenn sämtliche Möglichkeiten, die Katastrophe zu pädagogisieren, durchgespielt und in ihrem notwendigen Scheitern begriffen wurden, sind dem geschichtemachenden Reflex der Flucht nach vorn die Wege verbaut. Die Kräfte, die die Katastrophe produzieren und sich zugleich vor ihr retten wollen, stauen sich auf einmal in sich selbst. ... Erst die durchlebte Panik befreit von den didaktischen Illusionen - sie ist die Brücke zu einem Bewußtsein, das sich auch von der Katastrophe nichts mehr erhofft ... Panische Kultur beginnt dort, wo die Mobilmachung als permanente Flucht nach vorn endet.“
Peter Sloterdijk
(Eurotaoismus, 1989, S. 102-124)
„Denis Rougement, der sich zu einer »Politik des aktiven Pessimismus« bekannte (vgl. ders., Die Zukunft ist unsere Sache, 1987, S. 385), hat den Grundsatz einer »Erziehung durch Katastrophen« lanciert. In einer belle époque erscheint alles als Erziehung. Eine Replik hierauf habe ich angedeutet in: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, 1989, besonders im Abschnitt »Wieviel Katastrophe braucht der Mensch?«, S. 102ff..“
Peter Sloterdijk
(Etwas vor sich haben, in:
Vor der Jahrtausendwende

[Band II], 1990, S. 730)

„Postmodernität ist Epoche »nach Gott« und nach den klassischen Imperien samt ihren lokalen Welteröffnungen. .... Lassen wir den theologischen Code beiseite, so hat Nietzsche in der Sache von dem gesprochen, was unsere Zeit mit Hoffnung und Schrecken inspiriert; irgend etwas ist tot und kann nur schneller oder langsamer zerfallen, irgendwie aber schreiten Leben und Zivilisation voran und steigern sich in übergriffene Neuheiten.

Aus den verwüsteten imaginären Sozial-Uterus-Konstruktionen stürzen Unzählige in nachpolitische Paniken und diffuse Verwahrlosungen ab, für die der Sammelname Postmodernität noch der zivilisierte Ausdruck ist. Dasselbe Phänomen kann im unteren Drittel der reichen Nationen wie in fast allen Schichten der armen auftreten. Beim Weltformwechsel erleben sich mit einem Male große Zahlen von Individuen und Familien als von allen guten politischen Geistern verlassen.

Man mag dies systemisch deuten als einen Effekt, der notwendigerweise auftritt, wenn der postmoderne Geist der Bodenlosigkeit das politische Feld erfaßt. Der Staat wird eine Sandburg, der Absentismus frißt sich in alle solide scheinenden Strukturen hinein, die sozialen Bänder schleifen im Leeren - das Zeitalter »ohne Synthese«, von dem Robert Musil einst sprach, beginnt seine Forderungen zu erklären. Wenn nicht das westliche Wohlfahrts-System als Hilfs-Sozial-Uterus sich durch eine gewisse Funktionstüchtigkeit Anerkennung verschafft hätte, würde die Abwesenheit eines evidenten gemeinsamen Werks die Großgesellschaften industriezeitalterlichen Typs im Nu zerbröckeln lassen. Das aktuelle Ringen um Europa nach Maastricht macht erkennbar, wie die Reise in die zeitgemäße Hyperpolitik von den Zeitgenossen erlebt wird - als überschnelle Fahrt in ein Konfusions-Imperium, in dem man vor lauter Behörden den Staat nicht mehr sieht. Politik erscheint wie das Äquivalent zu einem chronischen Beinahe-Massen-Auffahrunfall auf einer nebeltrüben Autobahn. Von einer Lust am Zusammengehören kann in einer solchen Lage nicht die Rede sein. Das neue Große steigt nun hinter dem Horizont auf als die Monster-Internationale der Endverbraucher.“
Peter Sloterdijk
(Im selben Boot, 1993, S. 51, 58, 59)
„Nicht weil, wie nach dem europäischen Massaker, die Toten in der Mehrheit zu sein schienen, fühlen wir den leeren Raum um uns herum aufklaffen und alle Institutionen wie auf Treibsand stehen - nein, haltlos sind wir geworden, weil die überall aufgelegten Listen von Optionen uns schwindeln machen. Welches Leben sollen wir probieren? Welchen Flug sollen wir buchen? Wir sind bodenlos, weil wir zwischen vierzehn Arten von Dressings wählen müssen. Die Welt ist eine Speisekarte, da heißt es bestellen und nicht verzweifeln. Dies ist der Grund der postmodernen Kondition. Du hast nur dieses eine Leben, also friß dich selber auf, laß nichts von dir übrig, die Reste kommen in den schwarzen Plastiksack.“
Peter Sloterdijk
(Falls Europa erwacht, 1994, S. 20f.)

 

„Die Postmoderne hat den Traum vom Landen nach der Flut aufgegeben. Die Flut ist jetzt das Land. Wo es nur noch absolute Häuser gibt, jedes in seiner eigenen Drift, dort ist die Rückkehr an das, was einmal Land hieß, unmöglich geworden. Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft (1882), § 124, Im Horizont des Unendlichen: »Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, - mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen.«“
Peter Sloterdijk
(Sphären II - Globen, 1999, S. 264)
„Unter dem Merkwort Postmoderne hat sich seit zwei Jahrzehnten eine nach-extremistische Bewußtseinslage eingespielt, in der sich ein Denken der mittleren oder, wie man jetzt besser sagt, der vernetzten Situation selbstbewußt zurückgemeldet.“
Peter Sloterdijk
(Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 148)
„Der von Max Weber erahnte Zusammenhang von Kapitalismus und Protestantismus verdichtet sich vor unseren Augen zu der Allianz zwischen Biotechnologie und Börsenmentalität. Die Gesundheitswirtschaft und die Wirtschaftsgesundheit werden künftig von einem gemeinsamen Illusionszentrum her gesteuert.“
Peter Sloterdijk
(Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 300)

 

Für Sloterdijk ist alle menschliche Geschichte immer auch eine Geschichte der Beseelungsverhältnisse. Im Rahmen einer Dreistadienfolge des Seelischen als Geschichte einer Entsubstantialisierung oder der Funktionalisierung des Seelischen nennt Sloterdijk drei Weltalter oder Zeitalter:

1) „Animistisches Altertum“
2) „Subjekivisches oder personalistisches Mittelalter“
3) „Kybernetische Neuzeit“

„Die Bewegung vom Animismus zum Subjektismus oder Personalismus und von diesem zur Kybernetik liefert die Matrix für alle Episoden in der Geschichte der narzißtischen Menschheitskränkungen (Mehr dazu). Es spricht nicht wenig für die Annahme, daß sich in jedem zeitgenössischen Individuum die ganze Weltalterfolge in einer eigentümlichen Abbreviatur darstellt. In jedem Menschen modernen Zuschnitts verbergen sich vermutlich zwei beleidigte Vorgänger: ein beleidigter Animist aus dem Seelenaltertum, der zu Beginn der Hochkulturenära durch eine subjektivische oder personalistische Umformung des Seelischen zurückgedrängt wurde, und ein beleidigter Personalist, der seit dem Eintritt des technischen Zeitalters seine Überholung durch asubjektivische und kybernetisch-maschinistische Konzepte des Seelischen bemerken muß. Bei jedem modernen Individuum ist darum mit einer gewissen Neigung zur Wiederkehr des Überholten zu rechnen, wenn nicht sogar mit einer latenten Bereitschaft, sich mit dem seelischen Altertum oder dem Mittelalter gegen die Neuzeit zu verbünden.

Man muß Kybernetiker werden, um Humanist bleiben zu können.

Die Aufgabe unserer Zeit ist es, einen postmodernen Humor zu entwickeln, der es Kybernetikern gestattet, mit Voodoopriestern, Mullahs und Kardinälen kollegial zu verkehren. Warum sollten Menschen, die Satelliten bauen, das Genom dechiffrieren und Gehirngewebe verpflanzen, nicht imstande sein zu verstehen, daß es in gewisser Hinsicht weiter sinnvoll bleibt, den Menschen als Ebenbild Gottes, als Träger von unveräußerlichen Rechten und als Medium einflußreicher Vorfahren aufzufassen?  Zum historischen Kompromiß zwischen Kybernetik und Personalismus könnte es beitragen, wenn in Bayern die Aufhängung von Kruzifixen in Computerlabors und Operationssälen gesetzlich vorgeschrieben würde - gleich, was die toten Seelen in Karlsruhe dazu sagen.“
Peter Sloterdijk
(Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 361-366)

Reichsapfel und Globus

„Wenn der Reichsapfel als Bild der heiligen Sphäre die Regel des Seienden in der Linken der deutschen Caesaren darstellt, so handelt es sich um ein feudales Weltsymbol, das zeigt, wie der Kosmos als Gotteslehen in einer Menschenhand liegt. Der Globus hingegen ist der profane Weltsignifikant eine Zeitalters. in dem alle Erdpunkte unter der Leitauffassung gleichmäßiger Erreichbarkeit und Ausbeutbarkeit durch Europäer vorgestellt werden - er ist kein metaphysisches Symbol mehr, sondern ein Medium des routinisierten Erdverkehrs. Erdgloben

Folgerichtig ist das Resultat der Globusära die akute Globalisierung der menschlichen Intervenitionen auf der Erde. In ihnen wird das menschengemachte Ungeheure augenfällig. Niemand kann mehr verkennen, daß in dem Halbjahrtausend zwischen der Kolumbusfahrt und der Raumfahrt sich der neu-europäische Habitus der praktischen Erdverwendung im realen Erdraum durchgesetzt hat. Globalisierung

Die Moderne ist die Tatzeit des geologischen Ungeheuren.

Auf dem von Heidegger um 1945 so genannten Irrstern haben sich am Vorabend des Bimelleniums sechs Weltsprachen durchgesetzt: Englisch; der Dollar; die Weltmarken; die Populärmusik; die Nachrichten; die abstrakte Kunst.

Der Sinn aller Kulturrevolutionen ist die Synchronisation ...

Modernität ... ist die Komplizenschaft mit der synchronen Weltform;
Modernisierung ist die Umstellung der Lebensformen auf Synchronweltroutinen;
Modernismus ist die Gesinnung dieser Umstellung als Existentialismus der Synchronisation.

Er impliziert die ultimative Form von Egalitarismus als Gleichheit aller vor der homogenen Erdgegenwart. Diese realisiert sich als Gleichheit der Menschen vor den Nachrichten. Denn Nachrichten sind nicht nur ein weltsprachliches Genre ..., sondern zugleich Vollzug der Umstellung von Historismus auf Aktualismus. Umstellung von Historismus auf ...?

Synchronweltmedien haben nichts anderes zu leisten, als die synchronisierte Welt über ihre Synchronisation zu informieren. ... Alles was einst Geschichte war, wird homogene Jubiläumsmaterie. ... In diesem Sinn ist das Informationswesen der Synchronwelt ein Garant unserer beginnenden Nachgeschichtlichkeit. Wir leben im andauernden Übergang in sie. (Vgl. [Nach-]Geschichtlichkeit).

Es läßt sich plausibel machen, daß wir heute, bei sehr konservativer Rechnung, in der fünften Moderne stehen, weil die Neuzeit als Modernisierungsprozeß über mindestens vier Krisen oder Großreaktionen hinweggeschritten ist: Gegenreformation, Romantik, Vitalismus und Faschismus (Links zum Text); folglich befinden wir uns zur Zeit im Übergang zur sechsten Moderne, weil sich vor unseren Augen der Sieg des Konstruktivismus über den Regionalismus und Antiglobalismus als vorerst letzten Antimodernismen abzeichnet.
Peter Sloterdijk
(Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 371-377)
Ich sehe das übrigens nicht ganz so, aber ähnlich wie Sloterdijk und in den „sechs Modernen“
eine Widerspiegelung der abendländischen hoch- und spätkulturellen, d.h. der neuzeitlichen
„sechs Phasen“ (vgl. meine „Gliederung der Moderne“ und Analogien sowie die bereits
aktuelle als Phase des Globalismus als „sechste Moderne“ und meine Definition der
Postmoderne: „Begleitphänomen und Fortsetzung der Moderne/Spätmoderne“).

 

„Das anhaltende letzte Ereignis der geschichtlichen Welt ist die aktuelle Globalisierung (Globalisierung) als Herstellung der permanenten Erdgegenwart. Dieses Großereignis, von Menschen gemacht, verläuft durch die Lebensmitte der gegenwärtigen Generationen. Sie ist das Ungeheure in der Zeit. An ihm läßt sich ablesen, daß neuzeitliche Menschen im Grunde nicht Geschichte machen wollen, wie die Geschichtsphilosophien suggerierten, sondern daß sie im Sinn haben, die Geschichte abzuschließen und nachgeschichtliche Zustände herbeiführen. Die fortlaufende Annäherung an die ewige Gegenwart, in der die Summe aller Ereignisse Null ergäbe, war das eigentliche Projekt der Moderne. Insofern war die Idee des Dritten Reiches nicht nur eine faschistoide Parodie auf den christlichen Millennarismus, wie er sich von Joachim von Fiore (ca. 1130 - 1202) bis zu Lessing (1729-1781), Schelling (1775-1854) und Saint-Simon (1760-1825) entfaltet hatte; sie bleibt zugleich die latente Matrix aller anspruchsvollen Modernismen, weil sie die logische Form eines potentiell letzten Zeitalters zuerst mit einem zureichend formellen Anspruch erfaßt hatte. Um ein modernes, vielleicht sogar ein letztes zu sein, muß ein Zeitalter strukturell zumindest ein drittes sein. Ein letztes ist ein Zeitalter dann, wenn es so verfaßt ist, daß in ihm beleibig viel passieren darf, ohne daß irgend etwas in ihm - und nach ihm - noch Epoche machen könnte. Tatsächlich ist die Moderne ihrem zeitlogischen Design zufolge ein immerwährender Anbruch eines dritten oder millennarischen Zeitalters, ein permanenter Übertritt aus der Geschichte in die Nachgeschichte, ein unentwegter Übergang in eine Endzeit ohne Ende. Dies kann nicht anders sein, weil die Ambitionen der Modernität, eine Epoche durchdringender Selbstreflexivität zu sein, formal unüberbietbar ist.

Von der Triftigkeit dieses Anspruchs kann man sich durch ein Gedankenexperiment überzeugen, bei dem wir fragen, wie aus der Moderne heraus noch eine folgende Epoche vorzustellen wäre. Hierauf gibt es zwei Typen von Antworten: katastrophische und kontinuierliche.“ Katastrophe oder Kontinuität
Peter Sloterdijk
(Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 377-378)
„Unter Moderne verstehen wir, eher konventionell, die Epoche, in der sich in der Alten Welt der Ausbruch aus der metaphysischen Monozentrik vollzog. In ihr wurde der magisch einfache Kreis gesprengt, der vormals allen Lebewesen die Immunität in ihrem Einen Gott - sprich in der glatten Ganzheit - zusagte.“
Peter Sloterdijk
(Sphären III - Schäume, 2004, S. 20)
„Das heitere Denkbild Schaum dient uns dazu, den vormetaphysischen Pluralismus der Welterfindungen nachmetaphysisch wiederzugewinnen.“
Peter Sloterdijk
(Sphären III - Schäume, 2004, S. 26)

„Das Nomotop“ (Sloterdijks „Verfassungslehre“)

„Alle menschlichen Insulationsgruppen, die sich in Generationsprozessen bewähren und dadurch in ihrer Eigenschaft existieren, haben an einem wenig untersuchten Stabilitätsgeheimnis Anteil, ohne das man ihren Bestand schwerlich begreifbar machen kann: Sie erzeugen in sich selbst eine Normenarchitektur, die genügend Überpersönlichkeit, Imposanz und Torsionsfestigkeit aufweist, um von den Anwendern als geltendes Gesetz, als verbindliche Satzung und zwingende Regelwirklichkeit empfunden zu werden. Dieser sittliche Äther besitzt, um mit Hegel zu reden, die Merkmale des objektiven Geistes: Er ist den Einzelnen vorgeordnet wie etwas, das ihrem Gutdünken unberührt gegenübersteht und sich gleich Götternamen, Mythen und Ritualen eines Stammes stabil, oder nur unmerklich verwandelt, durch Generationen vererbt. Die Sterblichen kommen und gehen, die Formen, die Gesetze bleiben.

Im Jahr 1949 notierte Wittgenstein: »Kultur ist eine Ordensregel. Oder setzt doch eine Ordensregel voraus.« Wir nennen das Wirkungsfeld solcher Regeln das Nomotop. Wer sich auf der Humaninsel aufhält, macht die Beobachtung, daß ihre Bewohnergruppe unter einer lokalen Regelspannung steht - eine Spannung, die für die soziale Statik von elementarer Bedeutung ist. Daß das normative Klima einer Gruppe mit ihrer Stabilität, also ihrer Überlebensfähigkeit, positiv korreliert, ist eine frühe Intuition der Weisen und Ältesten in allen Völkern - keine der anfänglichen Überlebensgemeinschaften hat es sich jemals leisten können, ihre Sitten, ihre Formen, ihre Dogmen leicht zu nehmen. ... Wittgensteins blitzende Bemerkung trägt der Doppelung im Begriff des Ordens Rechnung, indem sie hinsichtlich gegebener Kulturen das einzelne konkret Ordensartig-Eingerichtete betont wie auch die Regel hevorkehrt, der das Einrichten folgt. Man könnte diesen Doppelsinn in den zwei Sätzen: »Kultur ist ein Text« und »Kultur ist eine Syntax« wiedergeben. (Kultur). Hinsichtlich der Architektur des Gemeinwesens würde das zu den Thesen führen: »Kultur ist ein Gebäude« und »Kultur folgt einer Raum-Erzeugungsregel«. (Architektur). Wo immer die Humaninsel Konturen annimmt, entsteht eine Regelspannung, die bezeugt, daß in ihr eine Hausordnung in Kraft ist - für die Angehörigen (bis auf Ausnahmesituationen) eher unmerklich, für Fremde auffällig oder befremdlich, für Philosophen ein Motiv zum Nachdenken über den Geist der Institutionen und die Institutionalität von Geist.

Kollektive schwingen in einer intern erzeugten Dauererregung, die den normativen Streß in ihren normalen Tonus umwandelt. Es gehört zur »Verborgenheit der Gesundheit« (vgl. Hans-Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, 1993) in Gruppen, daß diese ihre nomotopische Grundspannung nicht spüren und kaum thematisieren - nur an ihren anarchischen Rändern spricht man zuweilen mit prekärer Ausdrücklichkeit über die Kündigung des Normengehorsams und des Leistungswillens. Die Abdrängung der normativen Stessoren ins Unterschwellige geschieht dadurch, daß die Gruppe ihre Handlungserwartungen in Routinen einbettet. Eine Routine ist die durch Wiederholung eingeschliffene und damit unauffällig gemachte Form der erwarteten Anstrengung. Arnold Gehlen hat in seiner anthropogischen Grundlehre die überragende Bedeutung normalisierter Anstrengungserwartungen hervorgekehrt und diese unter dem Begriff der Institutionen zusammengefaßt - wobei er unter Institution den geglückten Dauerkompromiß zwischen Entlastungen und Belastungen versteht; sie ist der Inbegriff einer »stabilisierten Spannung«. (Vgl. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, 1956, S. 88f.). Man kann diesen Institutionenbegriff wie ein Plädoyer für das Unbewußthalten von Ordnung lesen - wobei ein Konzept vom Unbewußten ins Spiel kommt, das auf das Latente, nicht das Verdrängte zielt. (Wie aber das personale Unbewußte eine Wiederkehr des Verdrängten kennt, so das Latente eine Wiederkehr des Paradoxen.) Zwar haben sich dieser Auffassung gemäß die Einzelnen zugunsten der Ordnungen, in denen sie leben, unter Einsatz ihrer gesamten Existenz zu verwenden, zugleich aber nehmen diese Ordnungen den Einzelnen die Mühe ab, sich eigens für sie wie für eine persönliche Option zu entscheiden. Indem sie belasten, entlasten sie. Indem sie entlasten, setzen sie Energien für die Neubindung an gemeinsame Aufgaben oder munera frei. Hier tritt der Begriff der Regel noch einmal in seiner fundamentalen Bedeutsamkeit ans Licht, weil es die Regelobjektivität ist, welche die Einzelnen wie die Gruppen von der Not der Formlosigkeit ebenso wie von der Zumutung ständiger Originalität befreit. So sehr Gehlens Theorem von den Institutionen als hintergrundwirksamen Ordnungsmächten einer verbreiteten Stimmung des 20. Jahrhunderts entspricht, die sich Ordnungen am liebsten wie diskrete Infrastrukturen und die Ordnungshüter wie Beamte vorstellt, die ihr Amt am besten versehen, wenn sie dienen und schweigen, erlaubt es doch nur eine einäugige Wahrnehmung der nomotopischen Grundverhältnisse. Das Nomotop besitzt nämlich zumeist auch eme Schauseite, die dem Hang zur Verbergung von Macht und Gewalt in leisen Routinen entgegensteht. Als eine selbstbeeindruckende, selbsterschreckende Größe, lebt die von den Normen beatmete Gruppe von der performativen Kraft der Rituale und deren Erscheinungsdrang. In diesem hat das politisch Erhabene seine Quelle. Das Rechtssystem zumal entfaltet von den Tagen der Römer an eine Theatralität eigenen Typs. Wie die Macht nicht ohne ihre typischen Epiphanien auskommt, seien es Festlichkeiten, Vereidigungen, Paraden, Hoheitssymbole und peinlich wahrzunehmende Protokolle, so auch das Recht nicht ohne die pünktliche Inszenierung seiner Förmlichkeit - besonders bei der Iurisdiktion, die in ihren prozessualen Spielregeln einen Kompromiß aus Untersuchung und Theater bildet. Beides dient der Sichtbarmachung der ordnungschaffenden Gewalt, die sich von alters her nicht damit begnügt, die Individuen vom Rücken her, sozusagen unbewußt, mit motivationalem Schub auszustatten. Jede Kultur hat ihre tarpejischen Felsen. Zu der Zeit, als die gesetzgebende oder gesetz-inszenierende Macht in Europa ihre dogmatische Potenzen am offensten hervorkehrte, im 17. Jahrhundert, sprach sie ohne Reserve vom Recht als einem »Theater der Wahrheit und Gerechtigkeit«. Aus ihrem Dogmatismus leitete sie eine Fähigkeit zur Strenge her, die vor aller Augen erscheinen wollte - und die nach den Über-Ich-Implosionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur noch als ein unbegreifliches Ärgernis oder als anmaßendes Relikt aus der Zeit des persönlichen Regiments wahrgenommen werden kann. Für »Herrlichkeit« haben sich ausschließlich einige unbelehrbar alteuropäische Theologen einen Sinn bewahrt. Sie müßten die ersten sein zu verstehen, warum der erhabene Staat in seinen Hochzeiten ebenso die Züge der Glorie an den Tag legte wie die des Schreckens. Auch Könige sind bewunderswert, wenn sie es gelassen verschmähen, uns zu zerstören. Aus den Zerfallsprodukten des Majestätsschreckens entwickelte sich von der Romantik an die politische Ästhetik der Lebensgefahr, die von der Philosophie des Bürgertums nach Burke und Kant mystifiziert wurde als das Vermögen des menschlichen Gemüts, über erhabene oder erschütternde Gegenstände zu urteilen. Nichtsdestoweniger besitzt der Hinweis auf die habitualisierte und quasi unbewußte Seite des Aufenthalts im Normenraum einen guten Grund in der Sache. Das Objektive und Hintergrundhafte der Regel hält das Mißverständnis fern, die »Sitten« oder Gesetze müßten dem Selbstausdruck der Individuen dienen. Was man modern den Ausdruck nennt, wurde erst möglich vor dem Hintergrund von selbstverständlich (daher auch unverständlich) gewordenen symbolischen Institutionen und kulturellen Automatismen - sei es, daß er deren Assimilation vollzieht (erwirb es, um es zu besitzen), sei es, daß er die revoltische Gegendifferenzierung vorantreibt. Für die Ausdruckswelt gilt die Regel, daß die Einzelnen auf originelle Weise von der Regel abweichen sollen. Wenn Mephistopheles erklärt, »es erben sich Gesetz' und Rechte, wie eine ew'ge Krankheit fort« -spricht er bereits als bürgerlicher Expressivist, der meint, die Form sei etwas, was von innen nach außen wächst (und was uns als Fall von »Entfremdung« stört, sobald sie wie eine selbständige Tatsache gelten will). Im chronischen Konflikt zwischen dem Regelgehorsam und der Bekundung eigener Neigungen votiert er dem neuen Zeitgeist gemäß für die zweite Option. Hält man sich an die Auskünfte von Goethes Teufel, so macht er keinen Hehl daraus, daß er sich ganz der Moderne zurechnet - einem Kulturunternehmen, das sich auf das Abenteuer der permanenten Neueinstellung der Regeln eingelassen hat - von romantischen und katholischen Rückgriffen aufs Festeingestellte wenig beeindruckt. Hier wird nicht weniger versucht als die Überbietung der Tradition des Bewahrens durch die Tradition des Lernens. Darin verbirgt sich die für alle Konservativen bis hin zu Gehlen ungeheuerliche Vorstellung, daß Sitten, Institutionen, Gesetze, Syntaxen und Lebensformen etwas seien, was man verändern darf, sobald man es besser machen kann - vorausgesetzt, man versteht auch die geänderte Regel als eine Regel, die gilt. Eben diese pragmatistische Auffassung vom Gesetz ist es, was der konservativen Angst vor dem Umsturz bis gestern um nichts in der Welt einleuchten wollte: Für sie schien jede bewußt gewagte Abweichung von Herkommen, Norm und fester Einrichtung (Nietzsche sagt: von »Alter«, »Heiligkeit« und »Indiscutabilität der Sitte«; vgl. Friedrich Nietzsche, 1881, Morgenröthe, Erstes Buch, 19) auch schon die Absage an Ordnung überhaupt einzuschließen, und darin kündigt sich für sie das Schlimmste an - der anarchische Generalstreik gegen die Form, die Absage an den Takt, den Tonus, den institutionellen Grund der Welt. Von einer »offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten« erwartet man sich in den Kreisen nichts Gutes. Folglich trauern die wahren Konservativen dem starken Staat nach oder, in dezenterer Form, der Ordnung des Vaters, des Sohnes und des Signifikanten. Durch diesen Argwohn jedoch und dieses Heimweh nach dem Erhabenen wird das Wesen von Regeleinstellungen im modernen Nomotop mißverstanden: Das Leben unter den geltenden Regeln einer Gemeinschaft will eben, wenn es modern ist, etwas anderes sein als nur ein »unbefristeter Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes«; es denkt nicht mehr daran, sich von den bestehenden Zuständen, nur weil es Zustände sind, konsumieren zu lassen. Betet es nicht zum Gott des status quo und sinkt vor dem Stehenden und Staatlichen nicht a priori in die Knie, so ist es gleichwohl weder der Anarchie noch dem leerlaufenden Management verfallen. Das moderne Leben will die »Ordensregel«, der es folgt, als Ausdruck eines Optimierungsprozesses, an dem es selbst beteiligt ist, verstanden wissen - daher die revisionistische Grundstimmung der neueren Zeiten; daher auch die Neudeutung dieser Regel in Ausdrücken von akkumuliertem »sozialem Kapital« und aktiv zu vergrößernden »Vertrauensradien« (Francis Fukuyama, Der große Aufbruch. Wie unsere Gesellschaft eine neue Ordnung erfindet, 2000, bes. Teil 2: Über die Genealogie der Moral, S. 193-326). Bei alledem bleiben die Bürger der Gegenwart ebenso an lebbaren Formsicherheiten interessiert wie nur je eine ordo-gläubige Epoche. lm Gegenteil, mehr als jede frühere Zivilisation machen sie Sicherheitsfragen auf allen Ebenen explizit und arbeiten ihre lmmunitäten auf die artikulierteste Weise aus. So weit der Weg vom Absolutismus der Sitten und Formen bis zu ihrerVerflüssigung in Funktionsausdrücke und spontane Regelschöpfungen gewesen sein mag: Von den aktiven Parteigängern der modernen Zivilgesellschaft wird er im Bewußtsein der Kosten in voller Länge durchmessen, als wäre er das curriculum humanitatis überhaupt.

In der entfalteten Modernität stellen sich nomotopische Tatsachen wie eine Menge von politischen und privaten Diätvorschlägen dar, die sich als Arbeitshypothesen für das Zusammensein des Kollektivs bewähren, Man könnte den Tardeschen Ausdruck »Moral-Mode« (morale-mode) hierfür verwenden, vorausgesetzt, man versteht unter Mode auch die epidemische Nachahmung des Sinnvollen und Praktischen. Von einem numinosen Grund des Rechts - der mystischen Selbstüberhöhung imperialer Verwaltungen während der letzten beiden Jahrtausende - will die Moderne nichts mehr hören. Dem widerspricht auch die Tatsache nicht, daß diese Hypothesen bei uns weiterhin in der quasi-erhabenen Diktion einer Verfassung niedergelegt sind. Sieht man die Umstände aus der Nähe an, läßt sich bemerken, daß auch Verfassungen in ihrem Kern Erfindungen und Gelegenheitsdichtungen sind. Daß dies buchstäblich zutreffen kann, zeigt der bekannte Satz von Thomas Jefferson über den okkasionellen Charakter der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776: »Neither aiming at originality of principle or sentiment, nor yet copied fromany panicular and previous writing, it was intended to be an expression of the american mind, and to give to that expression the proper tone and spirit called for by the occassion.« Zitiert nach: Hannah Arendt, Über die Revolution, 1974, S. 168.)

Der Tensegritätscharakter des menschlichen Zusammenseins im nomotopischen Feld der nicht mehr statischen und nicht mehr etatistischen Assoziationen wird vor allem in der Komplexität der Arbeitsteilung manifest. Ohne die chronische Zugspannung aus der Ferne, die im Recht und der Sitte wirksam wird, läßt sich nicht verstehen, wie es möglich ist, daß Menschen der Versuchung durch Selbstversorgung in kleinen Einheiten widerstehen und sich auf einen Beruf im arbeitsteiligen Gemeinwesen einlassen: Ein solcher ernährt bekanntlich seinen Mann nur dann, wenn zahlreiche andere in ausreichendem Maß komplementäres anderes tun - bis aus den differentiellen Beziehungen der auseinandergespannten Aktivitäten der Markteffekt und mit ihm die Tauschgesellschaft entsteht. Was man den Markt nennt, ist eine durch Fernspannungen integrierte Konstruktion aus ineinander verschränkten Erwartungen. Das »System der Bedürfnisse« (G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, §§ 189-208) gewinnt seine mechanischen Qualitäten durch die Komplementarität der von ferne miteinander verfugten Einzelproduktionen. In der Art einer moralischen Fachwerkkonstruktion erzeugt die Tausch-Tensegrität neuartige Ansprüche an das Ethos der Marktteilnehmer: nicht nur, indem sie von ihnen Garantien für Produktqualität und Zahlungszuverlässigkeit, einschließlich des loyalen Gebrauchs der Münze, verlangt, sondern mehr noch, indem sie das Rechnen mit den Bedürfnissen entfernter Anderer zur Denk- und Lebensform erhebt. Wahrscheinlich ist die Fähigkeit von Menschen, in größeren sozialen Einheiten zu existieren, ohne die zivilisierende Wirkung der Tausch-Tensegritäten nicht zu erklären: Die Einübung in das Interesse am Interesse anderer bringt den anthropologisch höchst unwahrscheinlichen Zustand der Fern-Rücksicht hervor - auf welche spätere Morallehrer die noch unwahrscheinlichere Empfehlung der Fernsten-Liebe aufsetzen werden. Wo der Übergang vom Konkreten zum Abstrakten, von der Kleingruppenexistenz ins imperiale Format vollzogen werden muß, sind außer den Metaphern der Verwandtschaft und des Wohnens (vgl. Dieter Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, 1980) stets auch die handelsethischen Fernverspannungstechniken am Werk, um eine erste Form von »Weltethos« zu ermöglichen. Unter den Alten war es Aristoteles, der von solchen Zusammenhängen am explizitesten gehandelt hat - vorausgesetzt, man darf unsere Theorie der moralischen Fernspannungen innerhalb der Polis und im Inter-Polis-Raum als eine Neubeschreibung der aristotelischen Analyse des städtischen In-Ruf-Stehens von Männern und der regulierenden Macht des Ansehens präsentieren. Aus der bürgerlichen Fern-Rücksicht als chronischem Interesse am Interesse anderer entwickelt sich in den Tagen des Deutschen Idealismus der sogenannte kategorischer Imperativ - eine formale Injunktion, die ihren Adressaten jenseits aller näheren Informationen über den Inhalt ihres Sollens die Regel einprägt: Du sollst nur solche Dinge wollen, von denen du wollen kannst, daß auch andere sie wollen - und zwar, um dem universalistischen Motiv Genüge zu tun: alle anderen, und, um dem rationalistischen Gebot zu entsprechen: all jene anderen, die Vernunft anzunehmen fähig und willens sind. Nach Kant ist der zurechnungsfähige Mensch der Beamte seiner eigenen Urteilskraft und als solcher der Pflicht, richtig zu denken, untertan. Intelligenz ist Gehorsam gegenüber den Geboten, die den Fähigkeiten - oder, in der Sprache des 18. Jahrhunderts, den Vermögen des Gemüts - inhärent sind. Die eifrigen Mütter der Bürgerzeit driickten das in sinnverwandten Worten aus: Ein Talent verpflichtet auch zu etwas! Darum legten sie ihren Glaubenselan in ihre Brut wie eine Mission - mit dem Ergebnis, daß der Zustrom der begabten Kinder den zivilisatorischen Prozeß nach vorn katapultierte. Seit diese Investitionen sporadisch werden oder ausbleiben, ist das moderne Nomotop mit Deprimierten und Verwöhnten übervölkert, die vom Sollen verlassen wie vom Wollen enttäuscht sind - eine Stimmung kollektiver Formlosigkeit liegt über der Landschaft, Formlosigkeit, die sich gern durch Politikverdrossenheit erklärt (und die von Moralisten ohne theoretische Mittel gern als »Nihilismus« gedeutet wird). Indem Kant das individuelle Sollen gesetzesförmig faßte, bestätigte er den Einzelnen formal als den Weltbürger oder das sittliche Subjekt der Globalisierung, genauer als den Weltmarktteilnehmer, dem das Interesse am Interesse der An- deren in einem entgrenzten Nomotop zur zweiten Natur geworden wäre. Kants Imperativ bietet die äußerste Formalisierung des Glaubens an die moralische Produktivität von Fernspannung durch Arbeitsteilung. Er drückt zugleich die Annahme aus, daß der vernünftige Einzelne der imaginäre Gesamtmensch sei, der in seiner eigenen Person die Gattung vertrete und ihre Berufung zur Selbstgestaltung respektiere. Nach der Umformung des Deutschen Idealismus in die Deutsche Systemtheorie erscheint der kategorische Imperativ ermäßigt zu dem Satz: Handle jederzeit so, daß Andere an den Ergebnissen deines Handelns anschließen können. In negativer Fassung ergibt dies die Vorschrift: Du sollst nicht andere nicht brauchen. Anders: Du sollst die Menschen stets auch als Mittel und nie nur als Zwecke betrachten. Das Verbot, sich selbst zu genügen, dient dazu, den Akzent von der Arbeitsteilung auf die Kommunikation zu verlagern - wobei der letztere Ausdruck einigermaßen kühl als Aufeinander-Bezugnehmen (und nicht als Miteinander-Einigwerden) verstanden werden muß. Daß dieser Kommunikationsbegriff um vieles nüchterner ist als jener der Konsensusidealisten, leuchtet ein; daß er eine ironische Dimension besitzt, wird erkennbar, wenn man bedenkt, daß auch das Anknüpfen des Kommissars an den Spuren des Täters einen Fall von Kommunikation darstellt; ebenso das Anknüpfen des Grabräubers an den Beigaben, die einem Pharao die Reise durchs Totenreich erleichterten. Hier taucht ein Begriff von Kommunikation auf, der näher am Modell des Parasitismus liegt als bei der Verständigung unter Chancengleichen. Da aber ... der ungeladene Gast regelmäßig seinerseits Besucher oder Kommunikatoren dulden muß, die sich auf seine Kosten einladen, und diese wiederum von Mitessern dritter Ordnung genassauert werden und so fort, läßt sich das soziale Feld auch als ein Netzwerk von selbstbedienenden Anknüpfungen an den Leistungen und Lebensspielen anderer verstehen. Vielleicht ist das, was man mit den modernen Biologen die Umwelt nennt, nur das Verzeichnis der von einem gegebenen Standort aus parasitierbaren Adressen (oder die Liste der Parasiten, auf deren Besuch man gefaßt sein sollte).

Neben dem seit Adam Smith und Hegel gut beschriebenen »System der Bedürfnisse« (Hegel), das über den Tausch komplementärer arbeitsteiliger Leistungen integriert wird, ist ein bisher wenig beachtetes System hintereinandergeschalteter Parasitierungen für die Versteifung des Ensembles »stabilisierter Spannungen«, das der status quo heißt, in Ansatz zu bringen. An seiner Basis beobachten wir die Einnistung von Embryonen in ihre Mütter als die nachgiebigsten Unter den Wirten; in der breiten Mitte entfaltet sich die sogenannte Arbeitswelt als integraler Parasit der Biosphäre: sie trägt den einseitigen Angriff der produzierenden Menschenwelten auf die Ressourcen des pflanzlichen und tierischen Lebens vor, den Marx in einer sonntäglichen Wendung als »Stoffwechsel des Menschen mit der Natur« bezeichnet hatte; an seiner Spitze steht das fiskalische System - der grandiose Parasitismus, mit dem der moderne Umverteilungsstaat sich selbst zur Tafel der GeseIlschaft lädt - als der Gast, der per Gesetz beschließt, daß er das größte Stück bekommt. Der integrale Kommunikator weiß, wie man an jeder Gehaltsüberweisung, jeder Zigarette, jeder Dienstleistung zwischen Bürgern anknüpft. Fazit des Systemikers: Ohne die Tensegritätseffekte der »kommunizierenden Bedürfnisse« und der parasitierten Parasitismen keine Ausdifferenzierung der Subsysteme.“
Peter Sloterdijk
(Sphären III - Schäume, 2004, S. 468-490)

„Vigilanz, befreite Laune, leichte Sexualität“ (Sloterdijks „Windrose des Luxus“)

„Daß es sich bei der Vigilanz um wirklichen Luxus handelt, zeigen die hohen Verschwendungsraten auf allen Feldern an. Es ist das signifikante Privileg von Besitzenden, mit ihrem Reichtum wenig anzufangen. Hierin halten es die postmodernen Besitzer extensiver freier wacher Zeit nicht selten wie die Herren von früher, denen nichts so fern lag wie der Gedanke, auf den Grundlagen ihrer ererbten Vorzüge etwas hervorzubringen.

Vigilanzüberschüsse bedeuten für die Subjektivitäten, was fossile Brennstoffe und Sonnenenergie für die Maschinensysteme im Luxustreibhaus sind. Die freien Wachzeiten sind das Treibmittel, um die agglomerierten mikro-manischen Räume zu wölben und auszugestalten. Aus ihren Reservoirs lassen sich verschiebbare Quanten an subjektiver Energie für die Ausarbeitung von kultivierbaren Feldern abziehen, beginnend mit den einfachsten Vergnügen. Ihrer Uberschußnatur wegen werden zahllose Aktivitäten, denen jeder Arbeits- oder Pruduktionscharakter fehlt, wie sinnvolle Anstrengungen trainierbar; ist dies geschehen, legt sich der Übergang in die Wettbewerbsformen nahe; kurz nach seiner Einführung ist jedes Amüsement meisterschaftsfähig. Hat es sich ausreichend organisiert, setzt es auch seine spezifischen Pathologien frei, die wiederum durch entsprechende Trainer und Therapeuten betreubar werden.

Schon das Wenige, das in den Aktivismus der Launen fließt, ergibt unfaßbar Vielfältiges und unresümierbar viel. Man muß, um die Effekte von einem abstrakten Punkt aus zu überblicken, mit dem Satz beginnen, daß Reichtum nur Reichtum für Vigilanz ist, die ihn schätzt. Weil Vigilanzluxus die Schlüsselfunktion für jeden Luxus darstellt, bildet er das Zentralnervensystem des Konsumismus und der Freizeitindustrien. Mehr noch: Er birgt die Kryptospiritualität der scheinbar entgeisterten Epoche in sich, weil sie die Matrix für alle Nuancierungstätigkeiten liefert. Von der Ironie der Schatzsuche: daß im Wachbewußtsein des Suchers der Schatz liegt, der in den Gegenständen vermutet wird, nehmen nur meditative Subkulturen Notiz. Es sind wenige Einzelne, die sich klarmachen, daß der Reflexions- und Meditationsluxus - das Aufmerksamwerden für das eigene Aufmerksamsein - die Grundform der Gipfelerlebnisse vorgibt.

Der Hauptstrom der Vigilanz fließt zu Gegenständen hin, deren Vergegenwärtigung in wacher Gewahrwerdung als Genugtuung erfahrbar wird. Das Wachweltleben stellt die Überschüsse an Aufmerksamkeit und trainierbarer Urteilskraft bereit, ohne die es keine verfeinerte Selbstsorge, keinen höheren Erfahrungsstoffwechsel gibt - ja, solange das Arbeitsleben vor allem Handwerk war, profitierte auch dieses vom Verfeinerungsmehrwert, der an den libidinösen Rückkoppelungen gekonnter wacher Verrichtungen haftet. Dies läßt sich heute an zahlreichen Feldern erweiterter Vigilanz-Investition beobachten. Alle Formen der Erinnerungskultur - Kernstück des alteuropäischen Zivilisationskonzepts - leben von der Verwendung überschüssiger Wachzeiten zur Besetzung innerer und äußerer Bilder vom Vergangenen. Was man seit dem 19. Jahrhundert als Historismus kennt, ist ein kulturweit spürbarer Nebeneffekt aus der Kanalisierung enormer Freizeitquanten in die Ausmalung attraktiver Vergangenheiten; die Genugtuung über die Tatsache, daß man von anderen Epochen überhaupt etwas weiß, rundet die Subkultur der Erinnerer in sich ab. Neben den Anhängern der Kunstreligion waren die Historisten die ersten, die sich der Aufgabe widmeten, ihre Laune in eine allgemeine Notwendigkeit, besser, in ein geistiges Grundnahrungsmittel für die Vielen umzuformulieren.

Kulturen der Dekadenz sind möglich, weil Wachheitsluxus sich mit Vorliebe als Morbiditätsluxus artikuliert. Wo man die Morbidität meditiert, wird Schwäche als trainierbarer Zustand erschlossen. Bei hohen Graden kollektiver Freisetzung für Übungen des Aus-der-Form-Kommens lassen sich in einer hinreichend verwöhnten Population rasch eindrucksvolle Ergebnisse beobachten: Dank zirkulärer Verstärkung tritt neben der schnellen Erschöpfung bei den Jungen ein epidemischer vager Überdruß an allem und jedem bei den Älteren an den Tag.

Kulturen des Negativismus sind möglich, weil in den Milieus der Erfolglosen viel freie Zeit in die Beschreibung beliebiger Gegenstände unter dem Filter der Mißgunst investiert werden kann. Längst läßt sich ein Großteil dessen, was in den Feuilletons als Kritik und Kommentar auftritt, besser unter den Rubriken Hämeluxus und Herabsetzungsluxus verzeichnen; dessen psychischer Gebrauchswert besteht darin, daß er die Nachfrage nach Gesten leeren Darüberstehens befriedigt (früher ein Monopol des Spiegels, heute nahezu allgemeiner Standard).

Kulturen des Ressentiments sind möglich und prosperieren wie nie zuvor, weil durch die Begegnung von Frustration und Freizeit viel Aufmerksamkeit sich auf das Nachtragen von Kränkungen spezialisieren kann; die immerwache Intellektuelleneifersucht bringt ständig wechselnde Inquisitionen gegen die Häresien des Erfolgs hervor. Ob diese Formen des Luxus der Gesamtkultur - was immer das sei (Kulturen) - zugute kommen, mag unentschieden bleiben. In optimistischer Sicht läßt sich bemerken, wie das Ressentiment den Aggressionsstoffwechsel durch ballaststoffreiche Kränkungseinbildungen fördert.

Die Entscheidung, das Luxusphänomen vom Überschuß freier Vigilanz her zu deuten, bringt den Vorteil mit sich, bei der Darstellung der diversen Ausprägungen luxuriöser Lebensgestaltung sich nicht mit Anekdoten und Aufzählungen aufhalten zu müssen - wie man es noch an den bedeutendsten Leistungen älterer Geschichtsschreibung beobachtet: In den klassischen Sittengeschichten des Luxus passieren Kleider, Schmuck, Blumenarrangements, Gebäude, Möbel, Speisen, Maitressen und Dienerschaften Revue, ohne daß sich ein übergeordneter Gesichtspunkt - der des Wohlstands samt seinen launischen Überspitzungen ausgenommen - herausbildete.

Indem wir von der Freisetzung der Vigilanz ausgehen, besitzen wir ein Kriterium, das die existentiellen Qualitäten des Überflüssigen adäquater ausleuchtet, als jeder gegenständliche Begriff von Reichtum und Verschwendung es vermöchte. Zugleich wird hervorgehoben, daß die Investition von »Zeit und Geld« in eine bevorzugte Sparte des Tuns und Genießens einen Fall von freier Laune darstellt. Der Sieg über die Notwendigkeit läßt sich im Begriff des Luxus selbst verankern - und das heißt ... am Schnittpunkt von Wohlstand und Vigilanz. Auf diese Weise wird festgehalten, daß auch die Laune ein Training voraussetzt. Wo die Laune in Übungen elaboriert wird und sich in individuierten Strähnen, Serien und Verzweigungen ergeht, erzeugt sie eine Gravitation eigener Art. Man könnte sagen, daß Virtuosität nichts anderes ist als eine überflüssige Verausgabung, die von der kultivierenden Schwerkraft der Wiederholung eingefangen wurde.

Darüber hinaus führt der Hinweis auf seine Quelle in der Vigilanz den Luxus nahe an die »Ästhetik des Alltags« heran, von der neuerdings gezeigt werden konnte, daß sie einem Luxus zweiter Ordnung« zugehörig ist, exemplarisch verkörpert im Verlangen nach Ruhe, Leere, Vereinfachung und echten Gefühlen. (Vgl. Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, 2002, S. 102f. Kulturen). Weil das Phänomen Vigilanz der Bifurkation von Aufmerksamkeit und Zerstreuung vorgelagert ist, umspannt es die beiden Ausprägungen ästhetischer Theorien, die sich einem der beiden Pole zuordnen. Mehr noch, da es auch dem Gegensatz von Sorgsam-Beachten (religere) und Vernachlässigen (necligere) vorausliegt, kann das Wachen in stabile Kulte einfließen - aber auch in Improvisationen. Als Matrix der Religionen wie der profanen Zerstreuungen verbündet sich das freie Wachen mit dem Regelmäßigen wie mit dem Einmaligen.

Unötig zu sagen, daß die gesamte literarische und musikalische Kultur an der Chance hängt, frei Wachzeiten für Lesen, Hören, Üben und Vergleichen aufzuwenden. Zu notieren ist: In der Geschichte sämtlicher Zivilisationen (bzw. Kulturen Kulturen) wurden, entgegen aller Kulturkritik und Verfallstheorie, noch nie so viele Zeiteinheiten in das Lesen (von ...), das Hören (von ...), das Betrachten (von ...), das Besuchen (von ...) ... investiert wie in der Gegenwart ...

In den jüngsten Varianten der Kulturkritik wird davon gesprochen, daß dem postmodernen Subjekt elementare Merkmale der klassischen Persönlichkeitsstruktur wie die Orientierung an stabilen Normen, die Überzeugung von der eigenen Unkäuflichkeit, das Selbstwertgefühl aufgrund bewährter Kompetenzen, der Sinn für biographische Kontinuität abtrainiert werden, um den völlig kapitalkompatiblen Menschen zu erzeugen. Von diesem heißt es, teils klagend, teils deskriptiv, er oszilliere zwischen Job und Spaß, moralisch entkernt, schlangenhaft wendig, hochgradig außendienstfähig, vorurteilsfrei wie ein Waffenhändler, postnational wie ein Bordellbesitzer. Die von Marx und Engels konstatierte analytische Macht der Geldverhältnisse: daß »alles Ständische und Stehende verdampft«, hätte somit die letzte Zitadelle des vormodernen Ordo-Bestands, die personale Schicht, erreicht. Durch die Erschließung von Spaß als Wertschöpfungsquelle wäre der subjektive Faktor endgültig in die Kapitalsphäre integriert; schließlich wäre auch das erotische Leben für den Markt geöffnet worden, wie um den von Wilhelm Reich lancierten Mythos der »sexuellen Revolution« zu widerlegen, nach dem die Lohnabhängigen durch das Ausleben ihrer Sexualität zu phallischen Rebellen würden - folglich zu Refraktären gegen jede Art von Entfremdung. In Wirklichkeit hat die Eingliederung der Sexualität in die Spaßkultur eine breite Subjektivierung des Bewußtseins vom Reichtum bewirkt und auf diese Weise einen ernstzunehmenden Wahrheitseffekt provoziert. Tatsächlich kann die am Menschenwesen haftende Unmöglichkeit, arm zu sein, an keiner anderen biologischen Mitgift - das Vigilanzvermögen ausgenommen - so evident illustriert werden wie an der Sexualität.

Ihre Existenz verdankt die zeitgenössische Sexualkunde der Wendung ins Explizite, die den Tatsachen des Bewußtseins in der Moderne die mystifizierende Etikettierung »Revolution« einbringt. Die sexuelle Explikation ... hat die Modi und Voraussetzungen des sexuierten Lebens publizistisch, wissenschaftlich, ästhetisch, psychologisch und ökonomisch in einer historisch nicht bekannten Weise ans Tageslicht gehoben ... (Sloterdijk). ... Deswegen bildet decodierter, explizierter von emotionalen und reproduktiven Bedeutungen leicht abgekoppelter Sex die Mitte der Spaßkultur - das heißt des Systems der emanzipierten Launen. Nur eine verschwindende Minderheit von Intimhandlungen hat aktuell oder potentiell noch einen Bezug auf die Zeugung von Nachkommen, sei es als zu begrüßende oder zu verneinende Möglichkeit, während sich die große Zahl der Liebesspiele im Horizont von Lustgewinn, Performance oder Entspannung erschöpft. (Niemand sollte sich wundern, wenn die Konservativen des Westens und die aktuellen Vertreter des autoritären Kapitalismus im Osten - um von der islamistischen Reaktion (Islamismus) zu schweigen - sich in der Verwerfung der leichten Sexualität einig sind.) ... Je expliziter die Sexualität wird, desto mehr nähert sie sich dem Pol der Verschwendung.

Die für sich gesetzte Sexualität, wie sie inzwischen in den kinderarmen »Gesellschaften« des Westens (Kinder) dominiert, expliziert eine evolutionär gut etablierte Naturdimension von Verschwendung. Sie ist bei allen Säugetieren angelegt, wird bei den Hominiden intensiviert und in der Sapiens-Linie auf die Spitze getrieben. Der Übergang zum Permasex zeichnet sich bei einigen Primaten ab - schon hier gewinnt die sexuelle Aktivität luxurierende Eigenwerte, sie fließt auch gelegentlich, wie das bekannte Beispiel der Bonobos zeigt, ins Gruppenmanagement ein.“
Peter Sloterdijk
(Sphären III - Schäume, 2004, S. 844-857)

„Der ästhetische Imperativ“

„Auch das Licht der Aufklärung macht Erfahrungen mit seinem Schatten. Es ... entdecken die meisten Kommentatoren die Notwendigkeit einer »Abklärung der Aufklärung« bzw. einer Kritik der lichtbringerischen Vernunft. Was landläufig Postmoderne genannt wird, hat eines seiner überzeugendtsen Motive in dieser Nachuntersuchung von Aufklärungsfolgen.“
Peter Sloterdijk
(Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 99)
„Aus der Synthese von Marktkapitalismus und Wohlfahrtsstaat ... der »aufgeklärten« westlichen Industrienationen ... entspringt gleichfalls kein Zustand allgemeiner Genugtuung, sondern eine ... Zweideutigkeit, der die großen Perspektiven und Projektionen abhanden gekommen zu sein scheinen.“
Peter Sloterdijk
(Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 99-100)
„Im Rückblick auf die Geschichte des optischen Idealismus ... zeigt sich, daß inzwischen die gesamte verwestlichte Hemisphäre der Welt zu einem »Abend«land geworden ist.“
Peter Sloterdijk
(Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 100)
„Ist nun in Reaktion auf das Unbehagen am Zwielicht mit einer postmodernen Wiederkehr der Lichtreligionen zu rechnen? Gewisse Indizien sprechen hierfür. Zunächst bringen die aktuellen weltweiten Offensiven der monotheistischen Religionen starke Züge licht-metaphysischer Restauration ins Spiel mitsamt panoptischen Sichten aufs große Ganze und welt»anschaulichen« Gewißheiten, die für die labilisierten Massen der drei »Welten« von nicht zu unterschätzender Attraktivität sind. Obendrein entspringen aus den spekulativen Nebentrieben moderner Naturwissenchaft eine Fülle von weltanschaulich suggestiven Evolutionsmodellen, in denen lichtmetaphysische Ideen in gewandelter Form erneut die Bühne betreten. Den Auftakt hierzu gaben in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Ideen des heterodoxen Jesuiten Teilhard de Chardin, der lichtmetaphysische, kosmologische und christologische Motive zu einer eschatologischen Vision von dantescher Spannweite zusammenfaßte. Nach ihm läuft der gesamte Weltprozeß auf eine totale Verlichtung aller Wesen hinaus. Im Zeichen moderner Hypernaturwissenschaft kehren die Ideen der antikosmischen Gnosis gleichsam in den Kosmos heim. Dies kennzeichnet u.a. auch das System des Natur- und Bewußtseinswissenschaftlers Arthur Young, der (z.B. in: The Reflexive Universe, 1976) die Gegenwart als Scheitelpunkt einer Licht-Evolutionskurve darstellt. Diese ist nach dem Abstieg des Lichts über die Teilchenwelt, die Molekülwelt, das Pflanzenreich, das Tierreich und das Menschenreich an den Punkt gelangt, wo ein Wiederaufstieg mit dem Ziel der Rückkehr ins Licht in Aussicht genommen werden kann. Mit diesem Schleifen- oder Bogenmodell der Evolution kopiert Young auf eine eher symptomatische als originelle Weise die spätantiken Emanationslehren, nach denen der Kosmos durch Ausströmungen aus dem Über-Einen entsteht. Asiatische und europäisch-mittelalterliche Vorstellungen über »Erleuchtung« als letztem Ziel der Seele kehren in szientistischen Tonarten wieder, meistens mit evolutionstheoretischem Akzent. Die neuen Licht-Schleifen-Evolutionisten möchten es für wahrscheinlich hinstellen, daß eine Menschheit, die ihren status quo als Zwischenergebnis der kosmischen Entwicklung nach einer initialen Hyperlicht-Katastrophe (big bang) begreifen muß, ebenso gut über künftige weite Spannungsbögen in eine allgemeine Erleuchtung einmünden könne. Mit erleuchtungs-evolutionistischen Ideen hat sich u.a. Ken Wilber einen Namen gemacht (z.B. Up From Eden, 1981; Halbzeit der Evolution - Der Mensch auf dem Weg vom animalischen zum kosmischen Bewußtsein, 1984). Wo Spekulationen dieses Typs milieubildend wirken, wie in gewissen kalifornischen Subkulturen, dort kann es zur Proklamation eines neuen Licht-Zeitalters oder Light-Age kommen - mit Widerhall in gewissen Zirkeln rnitteleuropäischer Neosophistik und Beratungsphilosophie. – Auf vielfältige Weise bleiben alte Fragen nach dem, was zuletzt zu sehen sein wird, auch für die moderne Menschheit von Belang. Ist die letzte Sicht nichts anderes als das ewige Blinzeln der letzten Menschen, die in die glutlose Abendsonne schauen? Entspricht sie der Erfahrung der Sterbenden gemäß dem Tibetanischen Totenbuch, das von einem Übergang in das weiße Licht des Erlöschens spricht? Oder wird die letzte Sicht in einem nuklearen Lichtorkan erblinden - gleichsam in technologischer Realisation des lichtmystischen Transitus? Wenn zutrifft, daß nichts in der Technologie ist, was nicht zuvor in der Metaphysik gewesen war, dann hat eine lichtmetaphysisch vorgeformte Menschheit Aussicht darauf, zuletzt in ein selbstgemachtes großes Licht zu blicken -»heller als tausend Sonnen«. Oder macht es das Wesen des Zivilisationsprozesse aus, die Schlußansicht aller Dinge in immer neuen Aufschüben offenzuhalten? Gegenstandslos wird der Unterschied zwischen letzten und vorletzten Sichten, wenn die Welt den Augen der Künstler offensteht. »Das Auge vollbringt das Wunder, der Seele das zu öffnen, was nicht Seele ist, die glückselige Welt und ihren Gott, die Sonne.« ().“
Peter Sloterdijk
(Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 100-103)
„Ein in der westlichen Welt ... verbreitetes Sprachspiel legt uns die Meinung in den Mund, wir lebten in einer postmodernen Zeit. Darunter ist entweder eine epigonale Position gegenüber der heroischen und avantgardistischen Modernität, vor allem in den Künsten, zu verstehen oder eine ernüchterte Position gegenüber exaltierten Vorstellungen von Geschichtsplanung und Naturbeherrschung. Wenn die Moderne ein Kompositum aus Genialität und Konstruktivismus war (ist [oder ist sie etwa doch zu Ende?]; HB), so wäre die Postmoderne eines aus Mediokrität und Chaosmanagement. Ich möchte demgegenüber zeigen, daß diese Entgegensetzungen unter kompetenzgeschichtlichen Gesichtspunkten sich nicht halten lassen. Denn über die beiden Positionen hinweg, und durch sie hindurch, zieht sich die unaufgehaltene Bewegung der Machtsteigerungsspirale; ja man kann sogar der Meinung sein, daß die sogenannte Postmoderne nur eine weitere Landmarke in der seit Jahrhunderten akkumulierenden Ermächtigungsdynamik festsetzt; was sie auszeichnet, ist die Vermassung der vormaligen Avantgardequalitäten und die Übersetzung von einst pathetischer Kreativität in alltägliche Manipulation von Materialien und Zeichen durch die Angehörigen einer weltumspannenden Design-Zivilisation, sprich, durch die übernationalen neuen smarten Mittelschichten. In dieser Sicht sind Moderne und Postmoderne durch ein überwältigendes Kontinuum verbunden. Ohne Zweifel ist auch die sogenannte Postmoderne eine Phase in der Geschichte des europäisch-amerikanischen Plus-Ultra. Sie hat keine Entspannung vom Zwang zur Macht mit sich gebracht, allenfalls hat sie das Könnenmüssen dem neuesten Stand der Technologie angepaßt und ein wenig Spiel in den zeitgenössischen Kompetenzstil eingeführt. Es gibt keine Anzeichen für einen wirklichen Epochenbruch im Sinne eines Abbruchs der Kompetenz-Eskalation. Solange nicht eine höhere Gewalt die Spirale der Könnenssteigerungen sprengt, bleibt ihre Aufschraubung als kinetisches Herzstück der Modernität ungebremst in Fahrt. Auch was ihr widerstehen möchte, scheint zu ihrem Auftrieb beizutragen; wer sie bekämpft, treibt sie an. Was auf die Modernität folgen wird, kann darum nur ein weiteres höheres Modernitätsniveau sein. Unser Zeitalter hat, solange der Weltlauf seiner Eigendynamik überlassen bleibt, nichts vor sich außer der Fortschreibung und Steigerung seiner selbst ins Unabsehbare und doch prinzipiell Immergleiche - bis hin zuu Grenzwerten, von denen man gleichwohl annimmt, auch sie ließen sich überspielen und immer weiter hinausrücken. Die Modernität ist somit die Endzeit ihrer selbst, und sie kann wesenhaft für sich selbst nichts anderes als ihre Zukunftsquelle sein, sofern sie die Drehung der Kompetenzspirale bleibt.“
Peter Sloterdijk
(Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 140-142)
„In der agitierten Endzeit ohne Ende wird dem Leben der Einzelnen eine neuartige wettläufige Leistungsverfassung aufgeprägt; diese erzwingt die Entwiklung des Individuums zu einer adaptionsbereiten Biomaschine. ... Der Einzelne im Kompetenz-Universum muß sich selber als relativer Souverän in seiner Wirkungssphäre verstehen. Eben dadurch gerät der moderne Einzelne in eine Falle, aus der es kein Entrinnen - zumindest kein direktes - gibt. Die Falle klafft dadurch auf, daß das leistungsstolze Subjekt des Kompetenzsteigerungszeitalters im Gesamtwirbel der Komptenezspirale nur eine immer kleiner, immer weiter relativierte und spezialisierte Position einnehmen kann. Der moderne Könner kann immer weniger immer besser. Was einerseits gerechter Grund seines existentiellen Stolzes ist - nämlich die aufgeweckte Mobilisierung von Wollen und Können in offenen Horizonten -, wird zugleich auch zum Grund einer fundamentalen und unausweichlichen Demütigung, Die Kompetenzmasse der experimentell mobilisierten Welt im Ganzen wächst exponentiell im Verhältnis zu den Lernfortschritten der einzelnen Könnensträger. Je mehr Kompetenz der Einzelne erwirbt, um so gewisser ist er Mitspieler in einem Gesamtspiel, neben dem sein Kompetenzradius - so groß er sein mag - nichtig erscheinen muß. Dieses Paradox der zugleich steigenden Individualkompetenz bildet den Hintergrund, vor dem sich das System des neuzeitlichen Individualismus entwickelt. Die individualistische Zivilisation steht vor der Aufgabe, die Fähigkeiten und Ansprüche der Einzelnen so aufzuwirbeln, daß die aufgestachelten kompetenten Einzelnen nicht in vernichtende Depressionen fallen durch die unvermeidliche Entdeckung ihrer jetzt erst sichtbar werdenden unermeßlichen Inkompetenz in allem Übrigen. Der Individualismus schafft das psychosoziale Reizklima, das die Souveränität der Einzelnen zugleich provoziert und annulliert. Genau mit der dramatischen Entfaltung dieser Verlegenheit findet das Prinzip Design seinen Ort im System. Denn Design ist - von einem kompetenzökologischen Ansatz her gesehen - nichts anderes als die gekonnte Abwicklung des Nichtgekonnten. Es sichert die Kompetenzgrenzen der Einzelnen, indem es dem Subjekt Verfahren und Gesten an die Hand gibt, im Ozean seiner Inkompetenz als Könner zu navigieren. Insofern darf man Design als Souveränitäts-Simulation definieren: Design ist, wenn man trotzdem kann.“
Peter Sloterdijk
(Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 143-144)
„So wie Martin Heidegger in einem berühmten Diktum darauf insistierte, daß das Wesen der Technik selbst nichts Technisches sei (Techno-Logie), so muß man ... deutlich machen, daß das Wesen des Designs selbst nichts Designartiges ist. Ich habe soeben Design als Können des Nichtkönnens definiert und möchte nun diese Formel mit einigen anthropologischen Überlegungen unterbauen. Die Wurzeln des gekonnten Nichtkönnens reichen natürlich weit vor die moderne Kompetenzwelt zurück, ja sie durchziehen das gesamte Feld der menschlichen Urgeschichte und der Frühkulturen; in denen driftet der Homo sapiens als Werkzeugmacher und Mythenerzähler in Horden und Stämmen durch eine noch weithin technisch unbewältigte und analytisch undurchdrungene Naturwirklichkeit. Für ihn ist das Nichtkönnen - das Nichtvielmachenkönnen, Nichtvielverändernkönnen im Bezug auf seine Umwelt - zumindest verglichen mit dem Machtradius der Spätkultur - gleichsam seine erste Natur. Nichtsdestoweniger sind die frühen Menschen alles andere als hilflose, angstüberschwemmte Opfer einer übermächtigen Außenwelt. Sie sind, im Gegenteil, lebhafte, erfinderische, hochbewegliche Akteure eines Überlebensspiels, das sie mit großem Erfolg betreiben, auch wenn sie vom Kompetenzhorizont eines mittelmäßigen modernen Individuums nur wie von einem Dasein in göttlichen Vollmachten hätten träumen können. Wenn ihre Lebensformen aus heutiger Sicht als schiere Ohmachtskulturen erscheinen, so haben wir es mit einer optischen Täuschung (!!!) zu tun. In Wahrheit sind moderne Subjekte wegen der breiten Entfaltung ihres Kompetenzfächers viel mehr ohnmachtgefährdet als die vorgeschichtlichen Menschen. Sie riskieren öfter und an mehreren Fronten, ihr Scheitern durch Inkompetenz zu erfahren. Der Frühemensch hingegen profitiert davon, daß er zumeist alle Griffe kann, die er zu seiner persönlichen und sozialen Selbsterhaltung braucht, während er alles, was nicht gekonnt werden kann, im Schutz von Ritualen mehr oder weniger routiniert übersteht. Nehmen Sie an, die Sintflut fällt unter Blitz und Donner vom Himmel auf ihr Blätterdach, dann können Sie, wenn sich das Unwetter überhaupt überstehen läßt, es besser überstehen, wenn Sie ein Lied für den Wettergott rezitieren. Es ist nicht wichtig, daß sie selber Wetter machen können - auch die modernen Kompetenzen reichen noch nicht ganz bis dorthin -, sondern daß Sie eine Technik kennen, bei schlechtem Wetter in Form zu bleiben; es muß in Ihrer Kompetenz liegen, auch dann etwas tun zu können, wenn man ansonsten nichts tun kann. Nur wer weiß, was man tut, wenn nichts mehr zu machen ist, verfügt über hinreichend effiziente weiterlaufende Lebensspiele, die ihm dabei helfen, nicht in auflösende Panik oder seelentötende Starre zu verfallen. Gekonntes Nichtkönnen stiftet eine Art Leerlaufverhalten oder einen Parallelprozeß, in dem das Leben auch in Gegenwart des Ohnmächtigmachenden weitergehen kann. Ich verwende für solche Parallelprozesse den religionswissenschaftlichen und ethnologischen Ausdruck Ritual. Auch die Menschen der Frühzeit konnten nicht ganz dessen gewiß sein, ob die Sonne wirklich deswegen aufgeht, weil sie schon vor ihr wach waren und ihren Aufgang mit einem Rundtanz förderten; aber sie waren auf diese Weise den Dämonen der Morgendämmerung gewachsen und konnten sich so in ihren Tag hineinspielen und ihre mythische Identität als Kinder des hellen Gestirns und der dunklen Erde bewahren. Die Lücke, durch die Ohnmacht, Panik und Tod ins Leben eindringen, wird von archaischen Zeiten an durch Rituale geschlossen. In diesem Sinn darf man von der Geburt des Designs aus dem Geist des Rituals sprechen.“
Peter Sloterdijk
(Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 144-146)
„Alle technischen Systeme, die auf der Basis von höherer Feinmechanik, von Verbrennungstechnik, von Nukleartechnologie, von Elektrik und Elektronik funktionieren, sind für die durchschnittlichen Benutzer völlig undurchsichtige Größen. Nichtsdestoweniger ist unser Leben alltäglich längst in den Umgang mit solcher Technologie installiert. Die Basismaschinen der gegenwärtigen Welt, die Uhren, die Automobile, die Computer, der Gerätepark der Unterhaltungselektronik, die höheren Werkzeuge und dergleichen - sie sind allesamt für die absolute Mehrheit der Benutzer nur glitzernde Oberflächen, deren Innenwelten unmöglich zu betreten sind, es sei denn dilettantisch und zerstörerisch. In traditioneller Rhetorik würde man von Büchern mit sieben Siegeln sprechen, in zeitgenössischer Sprache heißen solche undurchdringlich komplexen Blöcke in der Umwelt der Benutzer schwarze Kästen. ... Design kommt unweigerlich überall dort ins Spiel, wo der schwarze Kasten dem Benutzer eine Kontaktseite zuwenden muß, um sich ihm trotz seiner internen Hermetik nützlich zu machen. Design schafft den dunklen Rätselkästen ein aufgeschlossenes Äußeres. ... Design schafft bei komplexen Gerät jene Fassade aus zeichen und Berührungspunkten, an welcher der Benutzer ohne spürbare Demütigung durch eine evidente Inkompetenz fürs Innere sein Spiel anschließen kann. Aus der Benutzerperspektive muß Unwissen Macht werden können.“
Peter Sloterdijk
(Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 148-150)
„Martin Heidegger hat in seiner ... Rede über »das Ding« die hier gestellten Fragen am Beispiel eines Kruges erläutert. Die Funktion des Kruges ... zeigt sich in seiner Eignung zu der Aufgabe, in seinem hohlen Innern Wasser oder Wein zu fassen und zum Ausschenken zur Verfügung zu stellen - deswegen vereinigt er in seinem Aussehen notwendigerweise die drei Merkmale Hohlraum, Griff und Schnabel. Die Funktion des Dings wäre demnach einfachhin dessen Dienst oder Nutzen. Von diesem Beispiel her gedacht sind Dinge allgemein gesprochen nützliches zuhandenes Zeug. (Zuhandenheit). Als dienendes Zeug sind sie zugleich auch diskret souveräne Geber. Gebe-Wesen sozusagen in den Händen von Lebewesen. Dies zeigt sich am Krugbeispiel besonders klar. Der Krug ist von Amts wegen zum Ausschenken da, so daß sich an ihm ohne Umschweife verdeutlicht, wie dieses Ding, indem es dient, zugleich auch schenkt. Man muß zugeben, daß Heidegger zu Recht keinen Grund sah, vor der Aussage zurückzuschrecken, das Wesen des Kruges sei das Schenken. Von hier aus ist es nur ein Schritt zu dem ding-ontologischen Hauptsatz, das Wesen des Dings überhaupt sei das Ge-schenk. Wir erreichen mit diesem überraschenden Theorem ein doppeltes Dingverständnis - eines, das den funktionalen Dienst des Dings an den Anfang stellt und von diesem her auf den Menschen als Herrn und Nutzer kommt, und eines, das vom Geschenkcharakter des Dings ausgeht und den Menschen als Empfänger von Gaben der Dinge kennzeichnet. ... Alles Design entspringt einer Anti-Andacht; es beginnt mit der Entscheidung, die Frage nach der Form und Funktion der Dinge neu zu stellen. Souverän ist, wer in Formfragen über den Ausnahmezustand entscheidet. Und Design ist der permanente Ausnahmezustand in Dingform-Angelegenheiten - es erklärt ein Ende der Bescheidenheit gegenüber überlieferten Dingverfassungen und manifestiert den Willen zur Neufassung aller Dinge aus dem Geist eines radikalisierten Fragens nach der Funktion und ihrem Herrn und Nutzer. Jedem Funktionalismus wohnt ein dingstürmerischer Funke inne. Während man beim Geschenk nicht an den Preis zu denken hat, ist das Designer-Ding von Anfang an für Preisfragen und Revisionen offen: Statt das Ding zu nehmen, wie es sich gibt, stellt das Design die Funktion an den Anfang und macht aus dem Ding eine variable Erfüllung der Funktion. Design ist möglich, weil und insofern der Satz gilt, daß jedes Ding einen Preis hat. ... In der modernisierten Warenwelt gibt es - idealtypisch gesehen - der Tendenz des Marktverlaufs nach keine statischen Güter mehr, sondern nur noch Besserungen, keine stabilen Qualitäten, sondern nur Überbietungs- und Steigerungswaren. ... Wenn der Designer als homo aestheticus und psychologicus ... ein Zulieferer für Souveränitäts-Simulationen ist, so ist er als homo oeconomicus der Ausstatter für Güter auf dem Weg zur Besserung; er ist der Mann des unbedingten Komperativs - Entwicklungshelfer für aufstrebende Dinge ... Und in dem Maß, wie der aktuelle Weltmarkt tatsächlich Besserung honoriert, wird Design nicht nur zu einem Erfolgs-Faktor unter anderen, sondern mehr noch zum Grundelement und zur Nährlösung für den modernisierten, das heißt klüger gemachten Erfolg überhaupt.“
Peter Sloterdijk
(Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 152-156)
„Design als angewandte Kunst ist ... immer auch ein Regulator in der subjektiven Ökologie der individualistischen Zivilisation; es klimatisiert nervöse Großgesellschaften und wirkt mit an der Feineinstellung von Illusions- und Elan-Systemen. Es motiviert und tonisiert die Spieler in den Gewinnspielen der Leistungs- und Erlebnisgesellschaft, indem es die Prämie Souveränität samt ihren Simulationsmitteln so breit ausschüttet wie irgend möglich. ... Angewandte Kunst - mit neuer Illusionslosigkeit in exklusiven Spielen kombiniert - ergibt die Modernisierung des Egoismus, und dieses Ergebnis aus dem neuen massenhaften self-designing ist es, was einen kalten Zug ins postmoderne Illusionen-Treibhaus des Westens vor dem Jahr 2000 bringt. Design als auf das Ego angewandte Kunst erzeugt an seinem smarten Träger ein hochaktuelles Kompetenzbündel aus Tempo, Information, Ironie, Geschmack und zweiter Rücksichtslosigkeit. ... Die vormalige Avantgarde-Idee, das Leben des Einzelnen selbst zum Kunstwerk zu machen, hat nun, mit einer Verzögerung von kaum drei Generationen, die Basis erreicht. Was man Lifestyle nennt, ist der Durchbruch von Design auf die Ebene der Selbststilisierungen und der biographien. Das Individuum greift jetzt nach der Kompetenz, sich selbser als Kompromiß zwischen Kunstwerk und Maschine auszuführen - etwa nach dem Vorbild von Andy Warhol, der längst weltweit zum Patriarch des designgestützten Neo-Individualismus rezipiert wird. Von ihm haben nachrückende Generationen gelernt, daß Souveränität ein Effekt aus der Investition von Energie in flache Prozesse ist. Und insofern das Individuum im Design-Zeitalter selbst der Operator von flachen Prozessen am eigenen Leib werden will, dürfen wir uns darauf gefaßt machen, in eine neue psychosziale Ära hineinzusteuern, ja vielleicht sogar auf einen anthropologischen Quantensprung zu. In der Folgezeit muß es zu einem Gestaltwandel in der tradierten menschlichen Imago kommen, bis hin zur Neuprägung von psychophysiologischen und neuronalen Prozessen. Es hat den Anschein, als sollte ein Typus von homo semioticus den ... homo psychologicus ablösen; die manifesten Träger dieser Entwicklung sind bereits volljährig, unsere Kinder, unsere Mutanten; bei ihnen würde die klassische »tiefe« Trias von Psyche, Erinnerung, Innenwelt ersetzt durch die neue flache von Operator, Speicher, Bildraum. Die »Seele im technischen Zeitalter« könnte so etwas werden wie ein lebender Cursor in turbulenten Erlebnisräumen - ein Cursor auf der Suche nach seinem Curriculum, ein Läufer auf der Suche nach einer Bahn, die seine »eigene« wäre.“
Peter Sloterdijk
(Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 157-159)
„Die Denk- und Gefühlsmuster der Mängelanthropologie sind so allgegenwärtig wie je zuvor. Auf einen, der mehr als früher zu geben hat, kommen hundert, die mehr als zuvor fordern. Es scheint manchmal sogar, als seien bereicherte und entlastete Menschen die ärmsten und beschwertesten von allen - weil sie um ihren Sinn für den Umgang mit Schwierigkeiten gebracht sind. Seit dem frühen Existentialismus ist das ein Topos der Kritik an der Moderne geworden. Wer inmitten von Fortschritt und Erleichterung ein Wohltäter der Menschen werden will, sagt Kierkegaard, muß Schwierigkeiten schaffen. Dieser Gedanke durchwandert subversiv das 19. Jahrhundert, er wird bei Nietzsche groß und gefährlich gemacht ...; er wird von Heidegger ins Verwegene transponiert - dann ist von der Not der Notlosigkeit die Rede; Vergleichbares kehrt wieder in heutigen Diskursen vom Aufstand gegen die sekundäre Welt. ... Wer auch immer den Stand heutiger Dinge tiefer diagnostiziert, sieht sich gezwungen, modernisierte Mangelwelten zu beschreiben. Gerade die reichen Gesellschaften scheinen es zu sein, in denen die alte Armutsanthropologie mehr als irgendwo sonst triumphiert. In diesen Paradoxen manifestiert sich etwas, was ich die Furcht der Bereicherten vor dem Reichtum nennen möchte. Das beweist nicht weniger als ein Zurückschrecken der Moderne vor ihrem eigenen Prinzip im Augenblick des Erfolgs. Im aktuellen Unbehagen am reichen Leben manifestiert sich ... eine tiefe Furcht zeitgenössischer westlicher Menschen vor der Einsicht in ihre zivilisationsgeschichtlich beispiellose Lage. Es steckt darin etwas von Verlegenheit vor übergroßen Erfolgen. Die Entfesselung des Reichtums übersteigt, wie es scheint, bei weitem die Kräfte moderner Subjekte. So wollen sie den Reichtum zwar haben, aber nicht wahrhaben; sie wollen nicht auf ihn verzichten, ihn aber auch nicht wirklich ergreifen. Sie wollen an ihm leiden wie an einer komfortablen Krankheit.“
Peter Sloterdijk
(Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 178-180)
„Die moderne Welt war wesensmäßig - und ist es noch - ein Unternehmen zur Überwindung von Armut und Armseligkeit; dieses Unternehmen hat die Struktur einer Wette, die das Wesen des Menschen aufs Spiel setzt.“
Peter Sloterdijk
(Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 181)
Die Moderne zwischen Entzauberung und Wiederverzauberung
„Das Schicksal der modernen Kunst entfaltet sich seit 200 Jahren zwischen zwei Polen bzw. spannt sich zwischen zwei Polen auf. Die beiden Pole heißen Entzauberung und Wiederverzauberung. Ästhetische Programme der Entzauberung und Wiederverzauberung durchlaufen das 19. und 20. Jahrhundert (und sehr wahrscheinlich wird dies auch im 21. Jahrhundert, wohl auch im 22. Jahrhundert, zum Teil vielleicht sogar auch noch im 23. Jahrhundert so sein; HB), parallel und sukzessiv, miteinander und gegeneinander, als Abfolge oder Alternativen, unipolar und bipolar. Im Gefolge Hegels, der die Welt schon um 1800 verwüstet sah, nannte Max Weber die Effekte der Industrialisierung, der Aufklärung und der Wissenschaften im 19. Jahrhundert die »Entzauberung der Welt«. Mit der Aufklärung und der Industriellen Revolution beginnt die Epoche der Entzauberung, und es schön, sagen zu können: die Epoche der Moderne. Dies ist leider nicht möglich, denn schon früh setzte eine Gegenbewegung ein, welche die Aufklärung und den Abschied vom Absoluten in Polik und Religion, die Wissenschaft und deren Folgen, die Industrialisierung bekämpfte, Kirche und Monarchie wieder in ihre hegemonialen Positionen einsetzen wollte. »Die ersten Rufer in der Schlacht gegen die Aufklärung waren die Romantiker«, schreibt Ernst Cassirer in Der Mythus des Staates (ebd., 1949, S. 236). Mit der Romantik und ihrem Gebot »Die Welt muß romantisiert werden« (Novalis [Friedrich von Hardenberg], Über Poesie, 1798) begannen die Programme der Wiederverzauberung der Welt und der Künste. Das Problem ist zu zeigen, daß sich die Moderne aus beiden Programmen zusammensetzt, ein Geflecht aus beiden ist.“
Peter Weibel
(Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 494-495)
„Mit der französischen Revolution (1789-1804), die das Ende des Absolutismus einläutete, und der einsetzenden Industriellen Revolution, die auf Maschinen basierte, wurden jene Weichen gestellt, die den Konflikt zwischen den ästheischen, philosophischen und politischen Parteien bzw. Programmen der Modernität und Gegen-Modernität bestimmen. Auf die Revolution folgte die Restauration. Beim Wiener Kongreß 1814/’15 wurde eine »Heilige Allianz« ... gegründet, welche die gekrönten Häupter verpflichtete, die christliche Religion als höchste Maxime ihres politischen Handelns einzusetzen, um so die gottgewollten Feudalstrukturen zu wahren und die aufklärerischen Reformen abzuwehren.“
Peter Weibel
(Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 495-496)
„Die Romantiker folgten ... mit ihrem Vertrauen in die christliche Mythologie (vgl. Novalis [Friedrich von Hardenberg], Die Christenheit oder Europa, 1799), mit ihrer Rückkehr zu Mythos und Religion einem Muster der Reaktion auf die Entzauberung der Welt durch die Industrialisierung, wie wir es heute erleben: Viele Menschen suchen als Reaktion auf die Verwüstungen der Globalisierung wieder Zuflucht in der Religion.“
Peter Weibel
(Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 500)
„Die romantische Reaktion stand im radikalen Gegensatz zur Aufklärung und zum Deutschen Idealismus, der sich auf die Macht des begrifflich-rationalen Denkens stützte. In der Phänomenologie des Geistes, die Hegel 1806 in Jena verfaßte, heißt es: »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein.« Hegel »outete« sich sich als Gegner der Romantiker, denen er vorwarf: »Das Absolute soll nicht begriffen, sondern gefühlt und angeschaut, nicht sein Begriff, sondern sein Gefühl und Anschauung sollen das Wort führen und ausgesprochen werden.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1807, S. 13). Hegel kritisierte an den Romantikem schon die Methode der Anschauung, auf die sich Edmund Husserl in seiner Kampfschrift gegen den Rationalismus (Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie: Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, 1936) berufen sollte.“
Peter Weibel
(Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 500-501)
„Mit Hegels Vorlesungen über die Ästhetik (1835-1838) beginnt die Phase des Endes der romantischen Kunstform: Für Hegel bezeichnet die Romantik bereits das Ende der Kunst, wie es in seinem berühmten Diktum zum Ausdruck kommt, wonach die Philosophie in Gestalt des Selbstbewußtseins des Geistes die Stellung der Religion eingenommen hat und nur sie zur absoluten Wahrheit vordringen kann. Religion und Kunst treten an die zweite Stelle. Die Kunst wird »als das sinnliche Scheinen der Idee« definiert und erhält damit einen erkenntnistheoretischen, konzeptuellen Charakter. Hegels Sympathie gilt der klassischen Kunst der Griechen. Die romantische Kunstform ist für ihn ein Beweis für die Auflösung der Kunst gemäß seiner Theorie, daß eben die Philosophie die eigentliche Disziplin sei, in welcher der Geist als die höchste Stufe der menschlichen Entwicklung zu sich kommt und welcher die Sinnlichkeit nachgeordnet ist. Das sinnliche Kunstwerk hat nur Existenzberechtigung als Forum für den Geist des Menschen, nicht als Sinliches für sich selbst. In »Das Ende der romantischen Kunstform« schreibt er: »Deshalb verhält sich der Künstler zu seinem Inhalt im Ganzen gleichsam als Dramatiker, der andere, fremde Personen aufstellt und exponiert. Er legt zwar jetzt auch noch sein Genie hinein, er webt von seinem eigen Stoffe hindurch, aber nur das Allgemeine oder das ganz Zufallige; die nähere Individualisierung hingegen ist nicht die seinige, sondern er gebraucht in dieser Rücksicht seinen Vorrat von Bildern, Gestaltungsweisen, früheren Kunstformen, die ihm, für sich genommen, gleichgültig sind und nur wichtig werden, wenn sie ihm gerade für diesen oder jenen Stoff als die passendsten erscheinen. ... Es hilft da weiter nichts, sich vergangene Weltanschauungen wieder, sozusagen substantiell, anzueignen, d.i. sich in eine dieser Anschauungsweisen fest hineinmachen zu wollen, als z.B. katholisch zu werden, wie es in neueren Zeiten der Kunst wegen viele getan, um ihr Gemüt zu fixieren und die bestimmte Begrenzung ihrer Darstellung für sich selbst zu etwas Anundfürsichseiendem werden zu lassen.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik 1835-1838, S. 675). Mit dem Verweis auf Rückgriffe auf frühere Gestaltungsweisen und Kunstformen, auf dramatische Inszenierungen von bereits vorrätigen Bildern, auf eklektische Aneignungsstrategien und auf Indifferenz (Gleichgültigkeit) beschreibt Hegel - mit dem Auge der Moderne interpretiert - Romantik als »postmoderne« Reaktion auf die Aufklärung. Wir erleben also eine Art Epochenwiederholung: Entzauberung und Wiederverzauberung, Aufklärung versus Romantik, Moderne versus Postmoderne.“
Peter Weibel
(Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 501-502)
„Als um 1800 mit den industriellen und politischen Revolutionen der Abschied vom politischen Absolutismus begann, migrierte die Idee des Absoluten, um zu überleben, in die Philosophie und Kunst. Dort überlebte sie und dort herrscht sie bis heute. Eben weil die Moderne sich nie ihres romantischen Erbes und dessen Anfechtung der Aufklärung entledigt hat. Das Absolute und das Spirituelle, das Religiöse und Souveräne, das Autoritäre und Anschauliche existieren in der modernen Kunst weiter. ... Wir können also feststellen, daß mit der Romantik jene Ästhetik geschaffen wirde, ja Ästhetik überhaupt erst begründet wurde, welche trotz all ihrer Widersprüchlichkeit und ihrer Rückgriffe (auf die Antike, die Renaissance, das Mittelalter, die Religion) den Diskurs der Moderne mitbestimmte. Die Romantik hat das Bild der modernen Kunst und des modernen Künstlers entscheidend mitgeprägt, zum Beispiel im Wunsch, der Kunst eine neue basis im Volk zu verschaffen, und in der Utopie, Kunst und leben zu vereinen. Der programmatische Schlachtruf von Fluxus, Happening und Aktionskunst im 20. Jahrhundert, »Lasset uns darum unser Leben in ein Kunstwerk verwandeln«, ist wortwörtlich eine Forderung von Ludwig Tieck aus den Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst (ebd., 1799, S. 91). Alle Sphären des sozialen Lebens sollten ästhetisiert, zu Kunst werden. Dies ist das Echo des Poetisierungsprogramms der Romantik. Alles sei Kunst und jeder Mensch ein Künstler. Was Joseph Beuys sagte, forderte schon Novalis (Friedrich von Hardenberg): »Jeder Mensch sollte Künstler sein. Alles kann zur schönen Kunst werden.« (Novalis [Friedrich von Hardenberg], Glauben und Liebe oder: Der König und die Königin, 1798).“
Peter Weibel
(Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 502-504)
Jenseits der Moderne?
„Sloterdijks philosophische Ästhetik bietet Bausteine und Methoden eines Auszugs aus der Moderne beziehungsweise Abschieds von der Moderne. Eine zentrale Rolle fällt dabei einer Rekontextualisierung und Redefinition des ästhetischen Urteils, des ästhetischen Werts, der ästhetischen Erfahrung zu, die klassischerweise alle in allgemein verbindlichen Formen definiert wurden, die am Modell des kategorischen Imperativs von Kant Maß genommen haben. »Imperare« heißt so viel wie »befehlen, anordnen«. Der Imperativ ist ein Typ der Aufforderung, ein Gebot, ein Gesetz (Gesetz). Der »kategorische Imperativ« (Kategorischer Imperativ) von Kant ist ein allgemeingültiges Gebot des praktischen Handelns in der Ethik und lautet: »Handle so, daß du die Menschen, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« In Analogie zum Naturgesetz kann der kategorische Imperativ als »praktisches Gesetz« angesehen werden: »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.« (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Band 7, 1785). Der kategorische Imperativ ist ein Gesetz der Vernunft, ein »Grundgesetz der praktischen Vernunft«. Eine Philosophie der Ästhetik ist bisher davon ausgegangen, daß die gleichen rationalen Bedingungen auch für die ästhetische Erfahrung gelten, daß auch ästhetische Erkenntnisse einer allgemeinen Gesetzgebung gehorchen, daß die Ästhetik nicht allein ein subjektives Feld ist. Denn nur über Geschmack kann man streiten, während ästhetische Urteile allgemein gültigen und verpflichtenden Regeln folgen. Sloterdijks Schriften zeigen, daß solch ein ästhetischer Imperativ, der gewissermaßen heimlich allen vorhandenen Ästhetiken als Voraussetzung dient, nicht existeieren kann, und damit hebt er die Moderne aus den Angeln (d.h.: er versucht es! HB). Ovids Satz aus dem 8. Buch seiner Metamorphosen, Daedalus und Ikarus, »Et ignotas animum dimittit in artes« (Er richtete seinen Geist auf unbekannte Künste) kann paraphrasiert werden in: Er richtet seinen Geist auf unbekannte Weise auf die Künste (um dem Schicksal der Moderne zu entgehen). Sein ästhetisches Projekt hat eine ethische Dimension. Was in Kants berühmten Wahlspruch »Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir« anklingt, der Zusammenhang von Ästhtik und Ethik, ist die Frage nach dem, was das ästhetische Vergnügen, das der Erfahrung und Erscheinung des Schönen eigen ist und das im Mittelpunkt dessen steht, was wir mit Epiphanie bezeichnen, mit dem ethischen gesetzdes kategorischen Imperativs Kants verbinden könnte. Wie kann einer des anderen Widerhall sein? ... Wie könnte eine ästhetische Erfahrung beschrieben werden, die uns nicht um den Genuß bringt und gleichzeitig in Einklang zu bringen ist mit Philosophie?“
Peter Weibel
(Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 508-509)
„Dort, wo sich alle hassen und gegenseitig bedienen, ausnützen und unterjochen, funktioniert die Logik des kategorischen Imperativs nicht. ... Das Gebot des Evangeliums »Liebe deinen nächsten wie dich selbst« hat Kant versucht in eine rationale Aufforderung zu verwandeln: »So sind ohne Zweifel auch die Schriftstellen zu verstehen, darin geboten wird, seinen nächsten, selbst unsern Feind, zu lieben. Denn Liebe als Neigung kann nicht geboten werden, aber Wohltun aus Pflicht ... ist praktische und nicht pathologische Liebe ..., jene allein aber kann geboten werden.« (Imanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Band 7, 1785, S. 25f.). Dieses Gebot ist bekanntlich der kategorische Imperativ, der auf keiner anderen Logik beruht als der rationalen Forderung nach Widerspruchsfreiheit und jedem vernünftigen Wesen vorschreibt, im anderen die menschliche Person zu respektieren. Das Gebot der Liebe als ethischen Imperativ wollte Kant vom Glauben lösen und rational begründen. Dieser praktischen Ethik entsprach auch eine praktische Ästhetik. Der Versuch der Ästbetik als Wissenschaft im 19. Jahrhundert war genau das gleiche Verfahren: die Erfahrung des Schönen vom Glauben, d.h. von Intuition von Anschauung, dem Gefühl etc. zu lösen und rational zu begründen. Aus der ästbetischen Erfahrung, aus der Ergriffenheit durch Schönheit, wurde eine rationale Aufforderung, ein Gebot, eine gleichsam rechtliche Aufforderung. Ästhetik wurde gewissermaßen ein Teil der Rechtsprechung, sie verfiel der Interpretation der Gebote des ästhetischen Evangeliums. Die ästhetische Erfahrung wurde zu einem Gebot und Gesetz und hat sich damit um ihren Sinn gebracht, denn die Ästhetik sollte geradewegs das Feld der pathologischen Liebe sein, das Feld der bloßen Neigung.“
Peter Weibel
(Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 511-513)
„Über Geschmack läßt sich bekanntlich streiten, und darin liegt das Wesen des Geschmacks, daß er verhandelbar ist, ein Tauschobjekt und nicht eben Gesetz. Sobald Ästhetik gebietet, verunmöglicht sie Genießen. Der Befehl vereitelt das ästhetische Vergnügen, denn das ästhetische Vergnügen liegt gerade darin, ohne Befehl und Gebot und Gesetz zu handeln. Die Überschreitung, die Transgression, ist daher einer der zentralen Momente der künftigen Ästhetik. Sloterdijk greift den ästhetischen Befehl, das Diktat des Schönen, an. Er weiß, daß zwischen ethischen und ästhetischen Befehlen und Geboten das Schicksal des Fortschritts der Kultur begraben liegt. Der Hang des Menschen zur Aggressivität ... trägt nicht durch Widerstand zum Fortschritt der Kultur bei, wie Kant oder Freud glaubten. Von Freud können wir aus der Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1929) lernen, es ist gerade der moralische Anspruch, den die Kultur durch das Gebot der Nächstenliebe der Aggressivität gegenüberstellt, welche die Aggressivität verstärkt. Was sich der Aggressivität widersetzt, bildet paradoxerweise den entscheidenden Faktor zur Stärkung dieser Aggressivität. Ästhetische Gebote bewirken also nicht den Abbau der Barbarei. Es ist gerade der ästhetische Imperativ, den wir der Barbarei entgegenstellen, der diese verstärkt. Was sich der Häßlichkeit widersetzt, bildet paradoxerweise den entscheidenden Faktor zur Stärkung der Häßlichkeit. Wer eine Ethik des Eros entwirft, leistet paradoxerweise einen Beitrag zur Ästhetik des Thanatos. In der Nazi-Ästhetik von Leni Riefenstahl erkennen wir, wie die Ästhetik des Thanatos und der Aggression eine Ethik der Aggression verhüllte. Bis zu dem Punkt, wo wir erkennen: Wenn Ethik das Feld des Eros ist, das Gebot der Nächstenliebe, dann ist die Ästhetik das Feld des Thanatos, das Gebot des Todestriebes.“
Peter Weibel
(Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 513-514)
„Aus dieser Klammer einer zweihundert Jahre langen Allianz von Ethik und Ästhetik, kategorischen und ästhetischen Imperativen will uns Sloterdijk befreien. Er greift dabei auf Gedanken von Nietzsche zurück, bei dem Zarathustra spricht: »Man soll in seinem Freunde noch den Feind ehren. ... In seinem Freunde soll man seinen besten Feind haben. Du sollt ihm am nächsten mit dem Herzen sein, wenn du ihm widerstrebst.« (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885). Sie sehen in diesen Zitaten die Umdrehung des Liebesgebots und die Berufung auf Pascals Definition des Ichs als Feind jedes Ichs. Nietzsche sagt nicht, liebe deinen Nächsten so weit, daß du deinen Feind wie einen Freund liebst, er dreht bekanntlich die Werte um und sagt, im Freunde sollte man den besten Feind haben und im Freunde noch den Feind ehren. Mit dieser Regel wäre ein für alle Mal ausgelöscht, daß wir mit Feindbildern operieren können, weil uns nur Freundbilder zur Verfügung stehen. Die Gleichung »die Hölle sind die anderen« (J.-P. Sartre), wie wir sie uns ausdenken, und die einzig Guten sind wir selbst, wie es beispielsweise die US-Politik bis zum heutigen Tage beherrscht, diese höllische Gleichung ist in der Tat die Universalität des Gebots der Liebe. Das Gebot der Nächstenliebe erschien Freud beinahe als unmenschlich, schreibt zumindest Lacan in seiner Ethik der Psychoanalyse (1959). Wir entkommen dieser höllischen Gleichung nur, wenn wir paradoxerweise die Universalität des Gebots der Liebe aufgeben, wenn wir also ethische und ästhetische Imperative aufgeben, wenn wir zugestehen, daß diese Imperative miteinander affin sind. Wir müssen die Universalität der ästhetischen Gebote aufgeben, um wirklich ästhetisch handeln zu können und aus der ästhetischen Hölle der Moderne herauszufinden. So könnten wir sagen, Sloterdijk entwirft eine Ethik der Ästhetik, in der ästhetische Imperative nicht erscheinen. Er sieht die Ästhetik der Moderne als inhuman und ist auf der Suche nach einer menschlichen Ästhetik. Er folgt dabei Lacan, von dem wir lernen, daß alles, was vom Genuß zum Gebot oder Verbot umgewendet wird, das Verbot nur umso mehr verstärkt. Man sieht, dieses Gebot befiehlt dem Subjekt »Genieße!«  und durch dieses Gebot zeigt es ihm in grausamer Weise seine Kastration. Der Befehl »Genieße!«  kastriert das Subjekt und vereitelt das Genießen. Ästhetisches Genießen kann also nur funktionieren, wenn es keinem Gebot bzw. Verbot unterliegt. Deswegen wendet sich Sloterdijk gegen einen von Kant und seinem kategorischen Imperativ abgeleiteten ästhetischen Imperativ. Man soll dem ästhetischen Genießen keine Fesseln anlegen, weil sie Widerstand erwecken und dieser Widerstand vereitelt den Genuß. Das Gebot der Liebe trägt in sich die Möglichkeit des Inhumanen, auch der kategorische Imperativ Kants trägt in sich die Möglichkeit des Inhumanen, deswegen verneint Sloterdijk die Möglichkeit eines ästhetischen Imperativs. Er verfällt auch nicht der Lösung von Nietzsche, die Wendung des Aggressionstriebs zu einer Wendung des Willens zur Macht zu machen, in deren Gefolge Foucault seine Analysen der Macht in den Systemen des Westens vorgenommen hat. Sein ästhetischer Entwurf vertritt keine kollektive Lehre, bei ihm entsteht durch die ästhetische Erfahrung nicht einmal eine Kulturgemeinschaft, weil er weiß, daß auf ihr ein politisches Regime aufgebaut werden könnte. Jeder Imperativ verweist das Subjekt auf seine Einsamkeit, den Zwang eines Über-Ich-Gebots. Sloterdijk verlangt eine Demokratie, die es den Subjektivitäten ermöglicht, ihre Konflikte zu verlagern, indem sie nicht eindeutig formuliert werden. Darin liegt der Sinn seiner literarischen und philosophischen Methode der Dedefinition bzw. Entdefinition. Er sucht die Grundlage für eine Subjektivität, die weder Macht noch Tyrannei ist, sondern Grundlage für eine Ästhetik der demokratischen Subjektivität. Auch hier wiederum können wir auf Hegel verweisen und seine Grundlinien der Philosophie des Rechts, in der uns bereits die Idee von einer paradoxen Verbindung zwischen der Rhetorik der Begierden (Ästhetik) und der Logik des Politischen (Ethik) vorgegeben ist, weil hier Hegel ein Rechtssystem entwickelt, das sich auf Besonderheit und Einzigartigkeit bezieht und nicht auf die universale Verbindlichkeit. Eine Lehre der Singularität und keine Konstruktion des Allgemeinen ist auch Sloterdijks Ästhetik.“
Peter Weibel
(Sloterdijk und die Frage nach der Ästheitik - ein Nachwort,
in: Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 514-516)

 

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Anmerkungen


KANT, DER VATER DER MODERNE“, schrieb z.B. der Rheinische Merkur in Großlettern anläßlich des 200. Todestages des revolutionären Denkers. In der Zeitung äußerte sich am 12.02.2004 Professor Otfried Höffe (Höffe), ausgewiesener Kant-Experte und Autor der gerade erschienenen Einführung „Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie“ (C. H. Beck, München, 2003), zur Aktualität des deutschen Meisterdenkers aus Königsberg: „Ohne Zweifel ist die Anzahl der Kantschen Elemente, die in unserem kulturellen Bewußtsein präsent ist, weitaus höher, als es zunächst den Anschein haben mag. Wichtig ist etwa Kants Vorstellung von der Kritik der reinen Vernunft. Sein Buch mit diesem Titel beinhaltet ein philosophisches Programm, das ein Stück Weltgeschichte geschrieben hat. Kant versteht Kritik nicht im Sinne einer Verurteilung, sondern eines Gerichtsprozesses, der charakteristischerweise keine externe Instanz kennt. Die Vernunft muß vielmehr über sich selbst zu Gericht sitzen. Nach dem Muster von Kopernikus, der die Stellung des Subjekts im Kosmos neu zu denken forderte, entwickelte Kant ferner eine grundlegend neue Erkenntnistheorie: Nur wenn der Mensch einen anderen Standpunkt gegenüber dem Erkennen einnimmt, kann man verstehen, was wissenschaftliche Erkenntnis ist. (Kant). Man könnte noch eine Vielzahl von Elementen nennen, wie etwa den Gedanken der Unantastbarkeit der Menschenwürde: Der Mensch besitzt einen Wert, der nicht verrechnet werden darf, sondern, wie Kant sagt, über jeden Preis erhaben ist. Auch könnte man auf die heutige Mathematiktheorie, Physiktheorie oder Religionsphilosophie eingehen und träfe überall Kantsche Gedanken an. Beinahe alle Felder der Philosophie werden von Kant revolutionär neu bestellt, und die Landschaft des abendländischen Denkens erhält ihr modernes Gesicht.“ (Otfried Höffe). - Adelbert Reif (Rheinischer Merkur): „Nach einem berühmten Bonmot ist seit dem Denken der frühen Griechen keine wirklich »neue Philosophie« mehr entstanden. Erst Kant hätte eine »neue Dimension« im philosophischen Denken erschlossen. ....“ - Dazu Otfried Höffe: „Alfred North Whitehead, der Autor des Bonmots, meinte, die Geschichte der abendländischen Philosophie sei eine Geschichte von Fußnoten zu Platon. Das kann man so sehen, darf allerdings nicht vergessen, daß Platon bereits viele Generationen nach den Anfängen der Philosophie seine Gedanken entwickelte. Als Philosophen kann man die führenden kreativen Intellektuellen ihrer Zeit bezeichnen. So gesehen, gibt es immer wieder, vielleicht in Abständen von einigen Generationen, weltbewegend neue Gedanken. Innerhalb dieses kleinen Kreises der wirklich großen Philosophen gehört Kant zweifellos zu den Allergrößten. Neben Platon und Aristoteles, die in der abendländischen Philosophiegeschichte gewissermaßen den Rang von »Kirchenvätern der antiken Philosophie« einnehmen, ist Kant – eventuell mit Hobbes für das politische Denken und mit Hegel – der »Kirchenvater der neuzeitlichen Philosophie«.“(Otfried Höffe). Ich würde sagen: Kant ist mit Hegel der „Vater der modernen Philosophie“. (Vgl. Moderne, Modernismus, Spät-Denker). Erwachsen Erwachsen

Mit der durch Kant erst zu einer „modernen“ oder „modernistischen“ Variante gewordenen „Kopernikanischen Wendung“  (denn das „Heliozentrische Weltbild“ von Nikolaus Kopernikus war ja nur die „Wendung zur Neuzeit“ ! Neues Weltbild) wurde die abendländische Philosophie „erwachsen“ (Erwachsen). Der späte Kant war also bereits ein „Spät-Denker“. Durch Kant wurde die abendländische Philosophie erwachsen, und durch Hegel wurde diese zivil-moderne Reife eine Spätlese, eine erste Herbsternte. Die machtvollste politische Maxime der Moderne ist Hegels logisches Programm, die Substanz als Subjekt zu entwickeln - die Masse als Subjekt zu entfalten. Hegel gab dem Projekt der Moderne seinen Inhalt und sein Ziel. „Nach Hegel heißt philosophisch denken die Ernte des Seienden nach Hause bringen; ... der Wein der Wahrheit wird aus Spätlesen gewonnen. Hegels typische Zeiten sind darum Herbst und Abend; seine bevorzugte Denkfigur ist der Schluß, seine innerste Farbe das nachtnahe Grau. ... Bedeutet das Werden eine Schule, muß diese doch zu einem Abschluß führen; ist es Prozeß, so kann in ihm der Moment des Urteils nicht ausbleiben. In diesem Sinne ist Hegel der Denker der Reife ... Hegel hätte, im Traum wie in Wirklichkeit, Napoleon gegenübertreten können mit dem Satz: Ich bin der Gedanke zu deiner Tat. ... Durchbruch zum vollbrachten Verfassungsstaat.“ (Peter Sloterdijk). Der für die Moderne ganz typisch (also: modern) gewordene Begriff „Kopernikanische Wendung“ war und ist auch beliebt unter vielen Lebensphilosophen (Lebensphilosophen): Freud, Spengler und Sloterdijk sind hierfür nur einige Beispiele (SpenglerSpenglerSloterdijk).

Spengler erwähnt hierbei auch das „aufgezwungene Schema Altertum-Mittelalter-Neuzeit“: „Ich nenne dies dem heutigen Westeuropäer geläufige Schema, in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen um uns als den vermeintlichen Mittelpunkt alles Weltgeschehens ziehen, das ptolemäische System der Geschichte und ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß in diesem Buche ein System an seine Stelle tritt, in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon (Mesopotamien/Sumer), China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen (Maya/Inka) Kultur - Einzelwelten des Werdens, die im Gesamtbilde der Geschichte ebenso schwer wiegen, die an Großzügigkeit der seelischen Konzeption, an Gewalt des Aufstiegs die Antike vielfach übertreffen - eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen. ... Man war, ohne es auszusprechen, der Meinung, daß hier jenseits von Altertum und Mittelalter etwas Endgültiges beginne, ein drittes Reich, in dem irgendwie eine Erfüllung lag, ein Höhepunkt, ein Ziel, das erkannt zu haben von den Scholastikern an bis zu den Sozialisten unserer Tage jeder sich allein zuschrieb. ... Dem russischen Denken sind die Kategorien des abendländischen ebenso fremd wie diesem die des chinesischen oder griechischen. Ein wirkliches und restloses Begreifen der antiken Urworte ist uns ebenso unmöglich wie das der russischen und indischen, und für den modernen Chinesen und Araber mit ihren ganz anders gearteten lntellekten hat die Philosophie von Bacon bis Kant lediglich den Wert einer Kuriosität. - Das ist es, was dem abendländischen Denker fehlt und gerade ihm nicht fehlen sollte: die Einsicht in den historisch-relativen Charakter seiner Ergebnisse, die selbst Ausdruck eines einzelnen und nur dieses einen Daseins sind, das Wissen um die notwendigen Grenzen ihrer Gültigkeit, die Überzeugung, daß seine »unumstößlichen Wahrheiten« und »ewigen Einsichten« eben nur für ihn wahr und in seinem Weltaspekt ewig sind und daß es Pflicht ist, darüber hinaus nach denen zu suchen, die der Mensch anderer Kulturen mit derselben Gewißheit aus sich selbst heraus entwickelt hat. Das gehört zur Vollständigkeit einer Philosophie der Zukunft. Das erst heißt die Formensprache der Geschichte, der lebendigen Welt verstehen. Es gibt hier nichts Bleibendes und Allgemeines. ... Sehr viel bedenklicher wird das Bild, wenn wir uns den Denkern der westeuropäischen Modernität von Schopenhauer an zuwenden, dort, wo der Schwerpunkt des Philosophierens aus dem Abstrakt-Systematischen ins Praktisch-Ethische rückt und an Stelle des Problems der Erkenntnis das Problem des Lebens (des Willens zum Leben, zur Macht, zur Tat) tritt. Hier wird nicht mehr das ideale Abstraktum »Mensch« wie bei Kant, sondern der wirkliche Mensch, wie er in historischer Zeit, als primitiver oder als Kulturmensch völkerhaft gruppiert die Erdoberfläche bewohnt, der Betrachtung unterworfen, und es ist sinnlos, wenn auch da noch die Struktur der höchsten Begriffe durch das Schema Altertum-Mittelalter-Neuzeit und die damit verbundene örtliche Beschränkung bestimmt wird. Aber das ist der Fall. ... Diesem allem, den willkürlichen, engen, von außen gekommenen, von eigenen Wünschen diktierten, der Historie aufgezwungenen Formen, stelle ich die natürliche, die »kopernikanische« Gestalt des Weltgeschehens entgegen, die ihm in der Tiefe innewohnt und sich nur dem nicht voreingenommenen Blick offenbart.. Ich erinnere an Goethe. Was er die lebendige Natur genannt hat, ist genau das, was hier Weltgeschichte im weitesten Umfange, die Welt als Geschichte genannt wird. ... Der Aufbau der Gesamtgeschichte in unserem Weltbilde hängt deshalb ganz davon ab, ob man ihre innere Form erkennt, welche durch die äußere gefälscht wird; aber gerade sie ist aus philologischen und theologischen Vorurteilen und mehr noch infolge der Zersplitterung der modernen Fachwissenschaft bis jetzt nicht erkannt worden. Die abendländische Forschung ist seit langem nicht nur dem Stoff und der Methode, sondern auch dem Denken nach in eine Anzahl von Fachgebieten zerfallen, deren widersinnige Abgrenzung es verhindert hat, daß man die großen Fragen auch nur sah. Wenn irgendwo, so ist das »Fach« für die Probleme der arabischen Welt zum Verhängnis geworden. Die eigentlichen Historiker hielten sich an das Interessengebiet der klassischen Philologie, aber deren Horizont endete an der antiken Sprachgrenze im Osten. Infolgedessen haben sie die tiefe Einheit der Entwicklung diesseits und jenseits dieser seelisch gar nicht vorhandenen Schranke nie bemerkt. Das Ergebnis war die Perspektive Altertum-Mittelalter-Neuzeit, die durch den griechisch-lateinischen Sprachgebrauch abgegrenzt und zusammengehalten wird.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918-1922; S. 24, 26, 31-32, 34-35, 785-786).

„Auch Alexandria hatte seine prärafaelitischen Hanswurste, mit Vasen, Stühlen, Bildern und Theorien, seine Symbolisten, Naturalisten und Exprssionisten. In Rom gibt man sich bald gräko-asiatisch, bald gräko-ägyptisch, bald archaisch, bald - nach Praxiteles (5./4. Jh.) - neuattisch. Das Relief der 19. Dynastie (1345-1200), der ägyptischen Modernität, das massenhaft, sinnlos anorganisch Wände, Statuen, Säulen überzieht, wirkt wie eine Parodie auf die Kunst des Alten Reiches. Der ptolemäische Horustempel in Edfu endlich ist in der Leerheit willkürlich gehäufter Formen nicht mehr zu überbieten. Das ist der prahlerische und aufdringliche Stil unsrer Straßen, monumentalen Plätze und Ausstellungen, obwohl wir uns erst am Anfang dieser Entwicklung befinden. - Endlich erlischt auch die Kraft, etwas anderes auch nur zu wollen. Schon der große Ramses eignete sich Bauten seiner Vorgänger an, indem er in Inschriften und Reliefszenen die Namen ausmeißeln und durch den eigenen ersetzen ließ.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 379).

„Nicht die Haltung und Gebärde, die Tätigkeit soll gestaltet werden. Wie in China und Ägypten kommt das Leben nur in Betracht, insofern es Tat ist. Und erst so entsteht die Arbeit im heutigen Sprachgebrauch als die zivilisierte Form des faustischen Wirkens. Diese Moral, der Drang, dem Leben die denkbar aktivste Form zu geben, ist stärker als die Vernunft, deren Moralprogramme, sie mögen noch so geheiligt, inbrünstig geglaubt, leidenschaftlich verteidigt sein, nur insoweit wirken, als sie in der Richtung dieses Dranges liegen oder in ihr mißverstanden werden. Im übrigen bleiben sie Worte. Man unterscheide in aller Modernität wohl die volkstümliche Seite, das süße Nichtstun, die Sorge um Gesundheit, Glück, Sorglosigkeit, den allgemeinen Frieden, kurz das vermeintlich Christliche von dem höheren Ethos, das nur die Tat wertet, das den Massen - wie alles Faustische - weder verständlich noch erwünscht ist, die großartige Idealisierung des Zweckes und also der Arbeit. Will man dem römischen »Panem et circenses«, dem letzten epikuräisch-stoischen und im Grunde auch indischen Lebenssymbol, das entsprechende Symbol des Nordens und auch wieder des alten China und Ägypten zur Seite stellen, so muß es das Recht auf Arbeit sein, das bereits dem durch und durch preußisch empfundenen, heute europäisch gewordenen Staatssozialismus Fichtes zugrunde liegt und das in den letzten, furchtbarsten Stadien dieser Entwicklung in der Pflicht zur Arbeit gipfeln wird.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 464-465).

„Im unscheinbaren »ist« verbrigt sich alles Denkwürdige des Seins. Das Denkwürdigste darin bleibt jedoch, daß wir bedenken, ob »Sein«, ob das »ist« selbst sein kann, oder ob Sein niemals »ist« und daß gleichwohl wahr bleibt: Es gibt Sein. Doch woher kommt, an wen geht die Gabe im »Es gibt«, und in welcher Weise des Gebens?  Sein kann nicht sein. Würde es sein, bliebe es nicht mehr Sein, sondern wäre ein Seiendes. Doch, sagt nicht der Denker, der das Sein erstmals dachte, sagt nicht Parmenides (Frg. 6 Parmenides)): esti gar einai, »Es ist nämlich Sein« - »Anwest nämlich Anwesen«?  Bedenken wir, daß im einai, Anwesen, eigentlich die Alhqeia spricht, das Entbergen (Aletheia), dann sagt das im esti betont vom einai gesagte Anwesen: das Anwesenlassen. Sein - eigentlich: das Anwesenheit Gewährende. Wird hier Sein, das ist, als etwas Seiendes ausgegeben, oder wird hier Sein, to auto (das Selbe), kaq auto, auf es selbst zu, gesagt?  Spricht hier eine Tautologie ?  Allerdings. Jedoch die Tautologie im höchsten Sinne, die nicht nichts, sondern alles sagt: das anfänglich und künftighin für das Denken Maßgebende. Deshalb birgt diese Tautologie Ungesagtes, Ungedachtes, Ungefragtes in sich. »Anwest nämlich Anwesen.« Was heißt hier Anwesenheit ?  Gegenwart?  Woher bestimmt sich dergleichen?  Zeigt sich, genauer: verbirgt sich hier ein ungedachter Charakter eines verborgenen Wesens von Zeit?  Steht es so, dann muß die Frage nach dem Sein unter den Leittitel gelangen: »Sein und Zeit«. Und Kants These über das Sein als reine Position?  Wenn Gesetztheit, Gegenständigkeit sich als eine Abwandlung von Anwesenheit erweist, dann gehört Kants These über das Sein in das, was ungedacht bleibt in aller Metaphysik. Der Leittitel der metaphysischen Bestimmung des Seins des Seienden, »Sein und Denken«, reicht nicht zu, die Seinsfrage auch nur zu stellen, geschweige denn eine Antwort zu finden. Gleichwohl bleibt Kants These über das Sein als reine Position ein Gipfel, von dem aus der Blick rückwärts reicht bis zur Bestimmung des Seins als upokeisqai und vorwärts weist in die spekulativ-dialektische Auslegung des Seins als absoluter Begriff.“ (Martin Heidegger, Kants These über das Sein, 1929, S. 35-36).

Zur Aletheia, zum Entbergen vgl. sämtliche Werke von Martin Heidegger, besonders: Sein und Zeit (1927), Vom Wesen der Wahrheit (1930), Alethia (1943) u.a.. Vgl. auch sämtliche Werke von Peter Sloterdijk, besonders: Aletheia oder: Die Lunte der Wahrheit (Zum Konzept einer Entbergungsgeschichte), in: Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger (2001), oder Sloterdijks Alethotop - Die Wissensrepubliken (Alethotop), in: Sphären III - Schäume (2004). Laut Heidegger ist das Sein die „Lichtung“, die das Seiende „entbirgt“ (Heidegger), und Sloterdijk betont: Heideggers „Lichtung ... ist, wie wir jetzt wissen, nicht ohne ihre technogene Herkunft zu denken“ (Sloterdijk), und „zu Recht hatte Heidegger gelehrt, die Technik sei eine »Weise des Entbergens«.“ Sloterdijk

Otfried Höffe (*1943) ist Professor für Philosophie und Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Zu seinen wichtigsten Buchveröffentlichungen in jüngster Zeit zählen: „Aristoteles“ (2. Aufl. 1999), „Immanuel Kant“ (5. Aufl. 2000), „Lexikon der Ethik“ (Hrsg., 6. Aufl. 2002) und „Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlagen der modernen Philosophie“ (2003). Höffe ist Herausgeber der beiden Bände „Klassiker der Philosophie“ sowie der Reihe „Denker“ (alle bei C. H. Beck, München).

Peter Sloterdijk (*26.06.1947) in: Focus (34), 21.08.2000; S. 86. Weiter heißt es: „In diesem Sinn ist Nietzsche der größte Lehrer der individualistischen Lebensentscheidung gewesen. Wenn ... über dem Tor der Alten Welt die Inschrift stand: Erkenne dich selbst!, so liest man über dem Tor zur modernen Welt: Werde du selbst! In Nietzsches Perspektive ausgelegt, bedeutet der erste Spruch: halte dich in der Mitte und überschätze dich nicht! Der zweite will hingegen sagen: Beende die Selbstunterschätzung und verlange mehr von dir!“

Ferdinand de Saussure (26.11.1857 - 22.02.1913), schweizerischer Sprachwissenschaftler und Indogermanist, war ab 1896 in Genf Professor für vergleichende und historische indogermanische Sprachwissenschaft (inkl. Sanskrit). Seine Genfer Vorlesungen („Cours de linguistique générale“, 1916) leiteten eine neue Ära der Sprachwissenschaft ein, denn seine Methoden wurden besonders für die Entwicklung des linguistischen (und philosophischen) Strukturalismus wichtig. In der Linguistik gibt es seit Chomsky (*07.12.1928) und seinen „Syntactic Structures“ (1957) ine neue Ära: den „Nativismus(Generative Transformationsgrammatik). Nativismus

Syntaktem bedeutet so etwas wie ein Satz bzw. eine satzähnliche Konstruktion. Im amerikanischen Strukturalismus (Pike), d.h. in der Tagmemik, heißt das Syntaktem allerdings Syntagmem. Es geht jedenfalls um die Verkettung von grammatischen Formelementen. (Vgl. Strukturalismus).

Ludwig Wittgenstein (1889-1951), Logisch-philosophische Abhandlung, 1921 (Tractatus logico-philosophicus, 1922).
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P ist die Reihe der Elementarsätze,
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x ist eine Variable daraus,

N ist die wiederholt anzuwendende mehrstellige Weder-Noch-Relation zwischen Sätzen.


Maurice Merleau-Ponty (1908-1961), Das Auge und der Geist. Philosophische Essays (2003).

Claude Lévi-Strauss (*28.11.1908), belgischer Ethnologe, seit 1959 Professor am Collège de France in Paris, entwickelte die ethnologische Methode des Strukturalismus weiter, insbesondere zur Analyse der Verwandtschaftssysteme und Denkformen der schriftlosen Gesellschaften. Lévi-Strauss übertrug das Modell der linguistischen Strukturanalyse von Schweizers Ferdinand des Saussure (1857-1913) auf die so genannten Human- und Sozialwissenschaften und glaubte, herausgefunden zu haben, daß die in den Subjekten wirkenden Strukturen unbewußte Strukturen seien. Bei Lévi-Strauss verschwindet das Subjekt zugunsten der Strukturen. Er sagt: „Ich habe nie das Gefühl meiner persönlichen Identität gehabt, habe es auch jetzt nicht. Ich komme mir vor wie ein Ort, an dem etwas geschieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist.“ An anderer Stelle heißt es bei Lévi-Strauss: „Die Welt hat ohne den Menschen begonnen und wird ohne ihn enden. Die Institutionen, die Sitten und Gebräuche, die ich mein Leben lang gesammelt und und zu verstehen gesucht habe, sind die vergänglichen Blüten einer Schöpfung, im Verhältnis zu der sie keinen Sinn besitzen; sie erlauben bestenfalls der Menschheit, ihre Rolle im Rahmen dieser Schöpfung zu spielen.“ (Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, 1960). Auf Lévi-Strauss und Jacques Lacan (1901-1981) bezieht sich übrigens auch Michel Foucault (1926-1984). Der eine zeige für die Gesellschaften und der andere für das Unbewußte, daß der Sinn, als dessen Programmierer und Deuter uns z.B. Sartre immer noch ansehe, nur eine Spiegelung, ein Schaum sei, daß es das autonome System sei, was uns durchdringe und erhalte. Demnach könne es auch keine Freiheit des Denkens und auch keinen Sinn der Geschichte geben. Geschichte sei in den Strukturen gefangen.

Noam Chomsky (*07.12.1928), Sprachwissenschaftler und Begründer der „Generativen Transformationsgrammatik“, die von einem angeborenen Spracherwerbsmechanismus (L.A.D.), d.h. vom „Nativismus“ ausgeht. Wissenschaftsgeschichtleich steht Chomsky in der Tradition des Rationalismus von Leibniz und Descartes. (Rationalismus). Mit dem Ausbau des Konzepts der „angeborenen Ideen“ wendet sich Chomsky gegen die behaviouristische Sprachauffassung (wie z.B. bei Skinner). Chomsky erweiterte seine Grammatiktheorie zu einer Theorie des Spracherwerbs, indem er die Entwicklung der Kompetenz durch einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus („Language Acquisition Device“) auf der Basis von grammatischen Universalien erklärte. Eine endliche Menge von Kernsätzen, die durch kontextfreie Phrasenstrukturregeln erzeugt werden, bilden die Basis für die Anwendung von Transformationsregeln, die einen prinzipiell unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln gewährleisten. Die These der Transformationsgrammatik begründete Chomsky in seinen „Syntactic Structures“ (1957), und diese Syntaxtheorie erweiterte er später mit seinen „Aspects of the Theory of Syntax“ (1965) zu einer allgemeinen Grammatiktheorie (inklusive Phonologie und Semantik).

Nativismus nennt sich die philosophisch-psychologische Position, die die kognitive Entwicklung des Menschen primär aus der Existenz von „angeborenen Ideen“ ableitet. In der neueren Sprachwissenschaft finden sich nativistische Erklärungsversuche vor allem bei Chomsky, der damit die Tradition rationalistischer Sprachauffassung Descartes', Leibniz u.a. sowie neuhumanistischer Sprachauffassung Humboldts u.a. fortsetzt. Die Gegenposition vertritt der Empirismus. Tabelle

Wir müssen heute mindestens soweit vorausschauen, wie wir zurückschauen. 1990 schrieb Peter Sloterdijk zu diesem Thema: „Der Historismus hat uns retrospektiv das Rechnen mit Tausenden und Zehntausenden von Jahren gelehrt. Prospektiv herrscht in der alten Welt fast überall kleinlaute Vorsicht. Wer hat Hoffnung, Aussicht oder Zuversicht, um es auf Jahrtausende ankommen zu lassen?  Wer heute versucht, soweit vorauszuschauen, wie wir zurücksehen, manövriert sich leicht in die Spinnerecke. .... Oder man ist Amerikaner. Ein sympathisches Beispiel liefert Leon Festingers Buch Archäologie des Fortschritts, 1985 (englischer Titel: The Human Legacy), an dessen Ende sich eine Spekulation über die biolologischen Perspektiven menschlicher Evolution findet: »Eine neue Spezies, die von der unseren nicht verschiedener wäre als wir vom Homo sapiens [also nur geringfügig, Zusatz P.Sl.], könnte, wenn sie über mehr Einbildungskraft, eine effizientere Sprache und ein sie zum raschen logischen Denken befähigendes Nervensystem verfügte, mit den von uns geschaffenen technischen Zivilisationen fraglos sehr viel besser fertigwerden. Die Entwicklung einer solchen neuen Spezies hinge keineswegs von umfassenden Mutationen zahlreicher Strukturgene ab. Wahrscheinlich würden einige scheinbar geringfügige Abänderungen der Aktionsmechanismen der Gene völlig genügen .... Die Frage lautet demnach, ob im Fall solcher Modifikationen genetischen Materials ein natürlicher Ausleseprozeß diese neue Gattung befähigen würde, die Herrschaft anzutreten .... Meine eigene Begrenztheit macht es mir unmöglich, diese Frage auf irgendeine mich überzeugende Weise zu beantworten. Ich vermag nicht einmal zu erkennen, ob sich derzeit überhaupt irgendwelche Ausleseprozesse in der Menschheit vollziehen und wenn ja, in welche Richtung sie tendieren. Ich hoffe jedoch, daß in fünf- oder zehn- oder zwanzigtausend Jahren eine neue uns an Leistungsfähigkeit überlegene menschliche Spezies existieren wird.« (Ebd.,. S. 233). Ist das ein neuro-rassistisches Programm?  Offenbar nicht, denn wenn auch die »biologische« Tonart dieser Überlegungen unüberhörbar ist, so handelt es sich doch ebenso offensichtlich um einen universalistischen und generösen Biologismus, der auf eine intelligentere Menschheit im ganzen zielt, nicht auf eine neurobiolologische Apardheit oder eine Klassenherrschaft der Intelligenzmutanten über die Altmenschen heutigen Typs. Aber was geschähe in den Übergangsjahren?  Das Schlimmste ist möglich, aber auf jeden Fall nichts Schlimmeres als das, was geschieht, wenn es keine Selektion von intelligenteren und generöseren Menschen gibt.“ (Peter Sloterdijk, Etwas vor sich haben, in: Vor der Jahrtausendwende [Band II], 1990, S. 726-728).

Jürgen Habermas (*18.06.1929) möchte die ehemals religiös formulierte Einheit der Vernunft wiederfinden und sichern. Er will die Gesellschaft in die „Selbstkritik“ und „Selbstheilung“, d.h. in die „Auflösung ihrer pathologischen Strukturen“ führen; er übernimmt hierfür von Freud das Modell der „Selbstemanzipation durch Gesprächstherapie“ und knüpft an Horkheimers Idee einer „Kritischen Theorie“ an. Gesellschaft soll so zum gemeinschaftlichen Leben emanzipierter Subjekte werden, getragen vom „Heiligen Geist“ des „herrschaftsfreien“ Gespräches. Ein solches Gespräch ist aber  N I C H T  herrschaftsfrei. Schlimmer noch: Alles wird dadurch so unfrei wie nie zuvor. Zur Kritik an Habermas vgl. G. M. Simpson, Die Versprachlichung (und Verflüssigung ?)  des Sakralen. Eine theologische Untersuchung zu Jürgen Habermas' Theorie der Religion, in: Habermas und die Theologie, hg. von Edmund Arens, 1989, S. 145f.. Zu Habermas' aussichtsloser Position vgl. Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, 2. Band, 1979, S. 169: „Habermas steht in einer ehrwürdigen, aber unwiderruflich dem Verfall preisgegebenen Tradition, die nur dort ihr Leben fristet, wo sie mit längst veralteten Denkweisen arbeiten kann.“ Sloterdijk meint, daß ein solcher Prozeß eine Falle ist, „in die der solchermaßen verflüssigte Heilige Geist nicht nicht gehen kann. Er geruht jedesmal, im Ergebnis eines Prozesses zu wehen, ganz so, als wehte er nicht länger, wo er will, sondern wo das Verfahren es erlaubt“ (vgl. dazu oben: G. M. Simpson). Außerdem, so folgert Sloterdijk, garantiere der prozedurale Filter ja, daß „keine Scheinheiligen auftreten und uns diabolische Simulakren erspart bleiben, genauso wie man bei Kommunikationen gemäß Habermas’schen Spielregeln die Gewißheit genießen darf, daß nach der Endausscheidung kein Dissenstheoretiker, kein Pluralist, kein Konstruktivist und vor allem kein Künstler im Kreis der wahrhaft vernünftig Kommunizierenden mehr dabei sein kann.“ (Vgl. Peter Sloterdijk, Nicht gerettet, 2001, S. 86 und 87). An dieser Stelle verweist Sloterdijk auf Luhmann und seine Kritik an der Kritischen Theorie und ihrem unvermeidlichen „Zwangskonsensualismus“. (Vgl. Niklas Luhmann, Ich sehe was, was du nicht siehst, in: ders., Soziologische Aufklärung - Konstruktivistische Perspektiven, 1993, S. 228-234). Schon lange vor der „Sloterdijk-Debatte“ genannten „Habermas-Debatte“ war klar: „Die Kritische Theorie ist tot.“ (Peter Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.09.1999, S. 35 ). Beispiele„Sloterdijk-Debatten“

Die „Sloterdijk-Debatte“ kam nicht zufällig zur Jahrtausendwende. Von September 1999 bis März 2000 füllte sie die Gazetten. Sloterdijk beendete endgültig die Vorherrschaft der „Kritischen Theorie“. Seine Elmauer Rede (Regeln für den Menschenpark, Juli 1999) löste diese Debatte aus. Sie war „ein Krisensymptom der übriggebliebenen deutschen Linken und der Todesstoß für den Traditionszusammenhang der Frankfurter Schule.“ (Birnbacher, in: Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 06.10.1999). Im Herbst 1999 fragte der Kulturzeit-Moderator Gert Scobel den Philosophen Peter Sloterdijk, ob er Beweise habe, daß eine Intrige von Habermas ausgegangen sei. Sloterdijk antwortete: „Die Intrige stammt zum einen von Rainer Stephan, der bei Habermas bestimmte Knöpfe gedrückt hat, wo er seine Empfindlichkeiten vermuten durfte. Und sie stammt im zweiten und ganz essentiell von Jürgen Habermas, der nun eben nur noch eine sehr prekäre, sehr geschrumpfte Form der kritischen Theorie repräsentieren kann, die sich jetzt als etwas erweist, das nun vollends auf das Niveau der Intrige heruntererkommt. - Ich glaube, daß ist für die geistige Situation in Deutschland ein so beunruhigendes Symptom, daß es nötig war, auch auf der Ebene der Personalauseinandersetzung die Karten offen auf den Tisch zu legen. Und die Beweise für die Aktion von Habermas, die hinter der ganzen Presseaktion stehen, werden in der nächsten Woche veröffentlicht sein, und es werden die Herren, die jetzt noch frech und laut lügen, sehr viel leiser werden. - Die Beweise kommen auf den Tisch, wie mein Text. .... Ich habe ihn jetzt 1:1 ins Internet gegeben und Suhrkamp zur Verfügung gestellt.“ Gemeint ist der Text „Regeln für den Menschenpark“, als Buch im Herbst 1999 erschienen. Darin informierte Sloterdijk seine Leser: „Zwischen Mitte September und dem 1. Oktober 1999 ist die Internetadresse, die neben dem Redetext einige Zusatzdokumente zum Hintergrundverständnis anbot, über 60000mal abgefragt worden. Ab Mitte Oktober 1999 wird auch unter derselben Adresse (*www.rightleft.net) ein Informtionsservice zur Chronologie des Skandals verfügbar sein.“ (Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, 1999, S. 60). Auslöser, aber nicht Grund oder Ursache, für diesen „Skandal“ war Sloterdijks im Juli 1999 gehaltene Rede „Regeln für den Menschenpark“, in der es vor allem um den Versuch einer Antwort zu Heideggers 1947 verfaßten „Brief über den Humanismus“ ging.  Sloterdijk: „Wenn ein Ausdruck wie »Selektion« bei Sprechern der deutschen Sprache unter Quarantäne gestellt wird, wie es in der Debatte praktisch gefordert wurde, dann ist die intellektuelle Paralyse vorprogrammiert, weil es sich um einen Basisausdruck der modernen Wissenschaften handelt. Ließen wir dieses Verbot gelten, könnten wir zentrale Teile der Mathematik nicht mehr praktizieren, die Spiel- und Entscheidungstheorie würde lahmgelegt, die formale Linguistik würde völlig unmöglich, die Biologie und Metabiologie, Zentralwissenschaften des kommenden Jahrhunderts, wären in ihrem logischen Zentrum blockiert. Da geschähe nicht weniger als ein Angriff auf den Grundwortschatz der Lebens- und Strukturwissenschaften. Auch die Systemtheorie und die Kybernetik müßten ihren Betrieb einstellen, denn für sie hat der Ausdruck »Selektion« die Funktion eines Fundamentalbegriffs. Sollen wir am Ende zugeben, daß die Deutschen aus historischen Gründen zu sensibel (geworden!  - HB) sind für die modernen Wissenschaften?  Der Kuriosität halber merke ich an, daß im Französischen der Trainer der Fußballnationalmannschaft sélectionneur heißt.“ (Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 50-51). „Ich hatte von Anfang an den Eindruck, daß der Eklat ein stark überdeterminiertes Geschehen war. Wir hatten es mit mindestens drei ineinandergekeilten Skandalphänomenen zu tun und mit entsprechend vielen Entladungen von aufgestauter Energie, daher auch mit einer Dreizahl von Subtexten, selbst wenn wir für jede Komponente nur eine einzige »Fassung« annehmen - was nicht ganz realistisch ist, denn auch die Teilskandale waren noch einmal in sich komplex und mehrdeutig. Darum hatte man schon wenig später das Gefühl, daß das Ganze nur eine Hysterie war und man zur Tagesordnung übergehen sollte. Ich denke, es kommt zunächst darauf an, die Einzelschichten oder die Subskandale, die in dem »Event« zusammengeflossen sind, jeweils für sich zu untersuchen, damit wir verstehen, wovon wir eigentlich reden und worüber die Öffentlichkeit sich während der Turbulenz erhitzt hat. Mit dieser Drei-Faktoren-Analyse stehe ich übrigens nicht allein. Norbert Bolz hat schon im Oktober 1999 während einer Fernsehdebatte in Baden-Baden eine solche Ansicht vorgeschlagen.“ (Peter Sloterdijk, ebd., S. 53). „In meinen Augen kommen alle Mißverständnisse und Entstellungen, soweit sie nicht private Absichten und die erwähnten unfreien Assoziationen spiegeln, aus einer Leseverweigerung. Das drückt sich in dem Umstand aus, daß von denen, die meine Rede bisher öffentlich kommentiert haben, fast keiner bereit war, dem Hinweis nachzugehen, daß es sich um eine »Antwort« handelt - um die Suche nach der Möglichkeit eines Antwort-Schreibens oder einer Zuschrift zu einem als Brief bezeichneten Text von Martin Heidegger aus dem Jahr 1946, der seinerseits eine Antwort hatte sein wollen auf eine suggestive Frage, gestellt von dem jungen Franzosen Jean Beaufret: Wie kann man dem Wort Humanismus einen neuen Sinn geben?  (Vgl. auch Heideggers Geheimnis: Unterwegs zur Sprache). Nun, was heißt es, im Jahr 1997 in der Schweiz oder 1999 vor der deutschen Öffentlichkeit auf Heideggers Gedanken zum Humanismus eine Antwort zu formulieren?  .... Zumindest auf indirekte Weise hat sich gezeigt, wie explosiv es sein kann, Heidegger das Wort zu geben - indem man ihn ernsthaft mit den Autoren ins Gespräch setzt, die in seine Nähe gehören, eben Nietzsche und Platon, die in meiner Rede als Gastredner mit Heidegger zusammentreffen. Man hatte sich schon so sehr an eine Situation gewöhnt, in der die Maxime »Nie wieder große Kulturpolitik!«  in Kraft war. Und jetzt dieser Hinweis auf ein Problem, bei dem man mit Sichkleinstellen nicht weiterkommt. Der darauf einsetztende Skandal ist ein Beweis dafür, daß die Heidegger-Rezeption im Nachkriegsdeutschland nie zu sinnvollen Ergebnissen geführt hat, ... also weder in der frömmelnden Anlehnung, die bis in die sechziger Jahre hinein dominierte, noch in der von Adornos Jargon der Eigentlichkeit inaugurierten Ablehnung, die summarisch gesehen bis heute anhält und deren Merkmal darin besteht, daß sich Feuilletonisten für berechtigt halten, moralisierende Gesamturteile abzugeben über einen Denker, der sich ohne Zweifel in die Höhelinie der europäischen Philosophie eingetragen hat - vielleicht der einzige in unserem Jahrhundert (20. Jh.  - HB), den man in einem Atemzug mit Platon, Augustinus, Thomas, Spinoza, Kant, Hegel und Nietzsche wird nennen dürfen. Anlehnung und Ablehnung sind nur zwei Arten und Weisen, einen Denker zu mißbrauchen, wobei es scheint, daß das Mißbrauchen für die Ablehnung (seit den 1960ern!  - HB) bei uns ein besonders tief eingespielter Mechanismus ist.“ (Peter Sloterdijk, ebd., S. 101-102). Denunziation ist oft nur ein anderes Wort für Kontextzerstörung, und man würde diesen Gedanken plausibel finden, wenn sich z.B., so Sloterdijks Wunsch, auch „die deutschen Feuilletonisten die Mühe machten, das ganze im Kontext nachzulesen.“ (Peter Sloterdijk, ebd., S. 103-104). Bezeichnend ist auch, daß z.B. Habermas mit seiner unveröffentlichten Privatrezension zu Sloterdijks Menschenpark-Rede in Panik geriet, während die Mehrzahl des Publikums überhaupt keine Probleme mit der Interpretation hatte. Deshalb muß Sloterdijk seinen Gegnern „zunächst die erste Schwierigkeit skizzieren, bei deren Auslegung man auf Heideggers Beitrag nicht verzichten kann. Nennen wir sie ... die Dezentrierung des Menschen. Sie ist im Spiel, wenn Heidegger behauptet, die bisherige Metaphysik habe nicht »nicht hoch genug« vom Menschen gedacht. (! Humanismus !). Zu niedrig denkt man ihm zufolge, wenn man den Menschen als ein animal mit einem Zusatz an Vernunft vorstellt, wie es der Tradition entspricht. Hoch genug setzt man an, wenn man den Menschen als den Da-Seienden bedenkt, das heißt als das Wesen, das in der Lichtung des Seins steht oder die Lichtung selbst ist.“ (Peter Sloterdijk, ebd., S. 104). Vgl. hierzu auch u.a. Peter Sloterdijk, Heideggers Lichtung denken oder: Die Welterzeugung ist die Botschaft (Lichtung). Zum Verständnis vgl. v.a. Heideggers Entbergung bzw. Aletheia (Aletheia). (Entbergung). Vgl. auch: „Sloterdijk-Debatte II“ („Sloterdijk-Debatte II“„Sloterdijk-Debatte II“„Sloterdijk-Debatte II“).

Luhmann, Anwalt des Teufels“, in: Peter Sloterdijk, Nicht gerettet - Versuche nach Heidegger, 2001, S. 82-141).

Zum Morbiditätsluxus: „Nächst der puren selbstbezüglichen Bewegung ist das Kranksein die geläufigste Interpretation der Freizeitchance geworden. Zu diesem Befund tragen die Zivilisationskrankheiten nicht weniger bei als die zur Manifestation gebrachten Psychopathologien, die Suchtleiden und die Sportunfälle ... . Dem großen Aufbruch in die Morbidität kommen zahllose Spezialisierungen der ärztlichen und therapeutischen Dienste entgegen. Am oberen Ende der Produktskala findet man feinsinnige Hermeneutiken der Krankheit, die den Patienten anleiten, seine Gebrechen als Chance anzueignen; der Unfall zeigt ein zweites Gesicht, sobald man ihn als Akt der Selbstsorge deutet; das Gespräch über Neurosen und Lebenswiderstände erbringt für Zahllose den Lohn des Problematisch- Seins. Im klinischen Archipel (allein in Deutschland gibt es 4,2 Millionen Beschäftigte des »Gesundheitssystems«) sind weiträumige Regelkreise von Selbstschädigungsluxus, Therapieluxus, Vorsorgeluxus, Versicherungsluxus und Unzufriedenheitsluxus ineinander verschränkt, ein jeder mit seinem eigenen unverzichtbaren Lamento-Baß, diatonisch absteigend vom Schlimmen zum Schlimmeren - integriert durch die systemische Notwendigkeit, den Verwöhnungscharakter des zeitgenössischen Morbiditätsmanagements hinter einem dichten Schleier humanistischer Patronage und naturwissenschaftlich begründeter Mindestforderungen zu verbergen.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 838-840).

„Der Konsum ist heute das Medium einer Kultur des Selbst. Oder um es im Jargon der Medientheorie Fritz Heiders zu formulieren: Die Waren sind die lose gekoppelten Elemente des Mediums Konsum, in das die rigide gekoppelten Formen der Lebensstile eingeprägt werden. Hier zeigt sich, daß das Konzept des »Inszenierungswerts« nicht nur für Produkte und Dienstleistungen, sondern vor allem auch für die Konsumenten selbst gilt. Im System des Konsumismus inszeniert sich das Leben selbst und erfindet seine Identität. Der Wunsch »Verändere mich!« führt dabei natürlich nicht zu einer wirklichen Veränderung; es geht, wie gesagt, nur darum, das Anderssein zu schmecken. Mit anderen Worten: Man kann sich zwar nicht ändern, aber umerzählen und ein neues »Make-up der Identität« auflegen. Es ist deshalb die wesentliche Aufgabe des Marketing und der Werbung, Formulierungshilfen bei der Eigenkonstruktion von Geschichten zu geben, mit denen sich dann Individuen identifizieren können. Wünsche zweiter Ordnung zielen vor allem auf den spirituellen Mehrwert der Waren, und soweit es sich dabei um Luxusgüter handelt, können wir beobachten, daß die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts einen Luxus zweiter Ordnung bietet. Um das zu verstehen, muß man sich klarmachen, daß Luxusmarken seit jeher totemistisch funktionieren. Was zählt, ist der prägnante Name, den man selbst als semantischen Markenartikel definieren könnte. Klassische, jedem vertraute Beispiele sind Rolex, Mercedes, Armani. ... Wie die Marke hat der Luxus noch eine große Zukunft vor sich, weil - so Hans Magnus Enzensberger - »das Streben nach der Differenz zum Mechanismus der Evolution gehört und die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt«. Wenn wir nun im Blick auf die Märkte des 21. Jahrhunderts von einem Luxus zweiter Ordnung sprechen, so soll das besagen: Es geht nicht mehr um die naive Ostentation des Konsums und der Kaufkraft, sondern um eine spirituelle Technik der Differenz. Der Luxus der Zukunft wird ein unsichtbarer Luxus sein: Zerebralkonsum, Aufmerksamkeit, Sinn, Ruhe, Raum. Enzensberger hat dieser Entwicklung die dialektische Pointe gegeben: »Der Luxus der Zukunft verabschiedet sich vom Überflüssigen und strebt nach dem Notwendigen.« Nirgendwo kann man die verblüffenden Wendungen, die der Konsumismus in den Registern der second order desires und des Luxus zweiter Ordnung nimmt, besser studieren als auf den Märkten der Sorge. In der Welt von Wohlstand und Fürsorge wächst der Wunsch, sich um jemanden oder etwas zu sorgen.“ (Norbert Bolz, „Das konsumistische Manifest“, 2002, S. 102-103). Vgl. die „Grundthese des konsumistischen Manifests“.

Globalismus oder Globalik ist eine andere Umschreibung für die jetzige abendländische Phase (Befruchtung). Gemeint ist nicht die Globalisierung im allgemeinen Sinne, denn die ist so alt wie das Abendland selbst, sondern die in der heutigen Phase konkret gewordene Globalisierung. Während also Globalisierung allgemein ein Synonym für die Kulturgeschichte des Abendlandes ist, bezeichnet Globalik oder Globalsismus deren Vollendung. Auf bestimmte Weise versucht jede Kultur, globalisierend zu wirken, d.h. ihre Sphäre auszuweiten oder aufzublähen, bis so etwas wie ein möglichst umfangreiches, vor allem aber reiches Imperium entstanden ist. Deshalb ist jede - wie auch immer geartete - Globalisierung mit Imperialismus (Raubtier-Kapitalismus?) verbunden. Das Abendland ist jedoch die einzige Kultur, die den Globus von Anfang an mitmeinte, denn es war der Katholizismus, der ALLE, das ALL umfassen wollte, bis die weltliche Kugel tatsächlich erobert, umspannt, umrundet und mit einem künstlichen Schutzschirm versehen werden konnte. In der heutigen Phase der Globalik schließen die Satelliten denjenigen Kreis der Kommunikation und Technik, der geistig schon durch die katholische Kirche globales Immunsystem geworden war. Kulturelles Erbe, Ursymbol und Seelenbild heißen die Motive, Zeit und Raum heißen die günstigen Umstände, die das Abendland erfolgreich werden ließen. 'Globalisierung' und 'Globalismus'

Logistik (mathematisierte Logik oder symbolische Logik) ist die moderne Form der Logik. Sie unterscheidet sich von der älteren, traditionellen Logik vor allem durch ihre Formalisierung (d.h. sie berücksichtigt nicht die inhaltlichen Bedeutungen der einzelnen Ausdrücke, sondern nur ihre syntaktische Kategorie und deren strukturelle Beziehungen) und Kalkülisierung (d.h. die Ausdrücke können nach festen Operationsregeln rein formal umgeformt werden, man kann mit ihnen logisch rechnen).Vgl. die Begründung der Logistik durch Friedrich Ludwig Gottlob Frege (1848-1925). Die bahnbrechende Arbeit dazu lieferte Frege mit seiner „Begriffschrift“ (1879). Sie erweiterte die aristotelische Syllogistik, löste die dort nicht formulierbaren Probleme durch symbolische Wiedergabe von Sprachausdrücken. (Aristotelische Logik). Freges „Grundlagen der Arithmetik“ (1884) machten alle Philosophie der Zahl vor Frege „zu einem Konglomerat von 'Unsinn' in des Wortes strengster Bedeutung“ (B. Russel), weil sie einen grammatischen Fehler machte. Sie verwechselte die Zahl (z.B. 3) als Anzahl von Anzahlen (Gattung aller Dreiheiten) mit der Anzahl einer gegebenen Dreiheit (bloße Anzahl). Erst Frege unterschied und hielt dies und mehr ganz genau auseinander. Freges Schrift „Über Sinn und Bedeutung“ (1892) wurde sogar bibelartige Grundlage der modernen Semantik.

Ähnliche Antworten wird die künftige Kunstgeschichte liefern, denn auch für die Kunst gibt es auf die Frage, wie aus der Moderne heraus noch eine folgende Epoche vorzustellen wäre, zwei Typen von Antworten: Kontinuität (der Moderne) oder Katastrophe, z.B. durch (extremen) „Dekonstruktivismus“.

Kinderarme „Gesellschaften“ des Westens - der abendländischen Kultur (Zivilisation)! Vgl. „Unfruchtbarkeit und Zerfall“  (Spengler), „Weiße Völker“ (Spengler) und den Schwund der Bevölkerung;er wird durch eine Politik der Zuwanderung nicht bekämpft, sondern verstärkt!

In gewissem Sinne wollte ja auch der Nationalsozialismus den Herrschaftszynismus eines unbesiegbaren Gottesbündnisses von den Juden übernehmen, indem das deutsche Christentum als neuer Bund zwischen Gott und Deutschen der Versuch war, eine Neu-Religion zu stiften und gleichzeitig sich auf germanische Art rückzubinden an römische Reichs- und Staatsvorstellungen, ein ungeheurer Versuch der Geschichtsumschreibungen, jedenfalls mehr als nur gewöhnlicher Nationalismus. (Vgl. „Volk Gottes“ und Germanentum). Heimat

Nach fast 2 Jahrtausenden der Bekämpfung und der Verfolgung anerkannte die Christenkirche 1999 / 2000 erstmals Israel als das „Volk Gottes“. Die Kirchenordnung wurde geändert. „Die Erinnerung an die Schuldgeschichte des christlichen Antijudaismus wurde als eine bleibende Aufgabe von Theologie und Kirche bezeichnet. Eine Erklärung stellte fest, daß die Aufarbeitung der Schuldgeschichte nach 1945 nicht deutlich genug sei (!). Eine der Kosnequenzen dieser Erkenntnisse und Bekenntnisse ist der Verzicht auf gezielte Judenmission. ... Das heißt aber auch: »Christen glauben durch das Wirken des Heiligen Geistes an Jesus von Nazareth als den von Gott gesandten Messias. Dieser Glaube führt in die Nachfolge Jesu Christi und äußert sich als werbendes Zeugnis vor der Welt in Liebe.« An die Stelle der Mission tritt das Gespräch. Hoffnungen setzen die (evangelischen) Landessynoden auf einen Erfolg der Kampagne »Erlaßjahr 2000«. In lokalen Aktionen soll deren Forderung nach Schuldenerlaß für Entwicklungsländer Dauerpräsenz in der Öffentlichkeit auf biblischer Grundlage erhalten.“ (Waltraut Sax-Demuth, in: Westfalenblatt, 06.11.1999). Heimat

Totem (Verwandtschaft, Schutzgeist) und Tabu (Intensiv-Gemerktes) haben dieselbe Wurzel. Der Totemismus wird, wie das Totemtier bei den Primitivkulturen, geschützt durch Tabuvorschriften.

Die hysterische Verfolgung des Antijudaismus („Antisemitismus“) hat nach Finkelstein mit dem Holocaust nur noch insofern zu tun, als daß er sich medienwirksam vermarkten läßt, also dem Geschäft dient (vgl. „Holocaust als Geldquelle“). Deutschland zahlt immer weiter und immer mehr, denn Deutschland ist reich (insofern immer noch Deutsches Reich). Die Mehrheit des Volkes ist schon lange gegen die Politik ihrer „Volksvertreter“!Merke: „Demokraten“ sind Gegner der Mehrheit! (Mehrheitsgegner). Seit Jahrzehnten gibt es deswegen den „Überzeugungszwang“. Wenn die „Zielgruppe“ Erwachsene sein sollen, spricht man von „historischer Notwendigkeit“, wenn die „Zielgruppe“ Kinder und Jugendliche sein sollen, spricht man von „pädagogischer Notwendigkeit“. Das „historische“ Resultat (die Medienwirkung) ist, daß Deutschland auch weiterhin Geld zahlt, und das „pädagogische“ Resultat (die Medienwirkung) ist, daß fast 99,5% der Deutschen Geschichte ignoriert werden (sollen): Deutsche Geschichte wird reduziert auf weniger als fünf Tausendstel (5 ‰ = 0,5 %)! Diese 0,5 % werden aber als 100 % „verkauft“ und wie ein Gebet eingepaukt ! (Vgl. Sonderbehandlung). Daß aber der Nationalsozialismus (12 Jahre = 0,5 %) auf doppelte Weise (negativ und positiv) absolut überhöht und durch den Begriff „Einzigartigkeit“ sogar besonders verklärt wird, wird dabei verschwiegen, denn das Thema ist ja ein einerseits erwünscht (Totem) und andererseits verboten (Tabu). Verwandter Schutzgeist (Totem) und intensiv Gemerktes (Tabu) stiften in Zivilisationen kaum noch Bindung, kaum noch Lösung, dafür aber viel Zynismus und Terrorismus. In der Moderne sind „Medienkriege“ derjenige Terrorismus, bei dem man vor lauter Zynismus nie weiß, ob der Denunziant oder der Denunzierte den Terror angefangen hat. - Wohlwissend, was Denunziation totalitär bedeutet, brachte der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt den ganzen Aberwitz so auf den Punkt: „Tabu ist alles, was nur im Entferntesten mit dem Thema »Juden in Deutschland« in Verbindung gebracht werden könnte. Seit der Walser-Bubis-Debatte (1999) ist mir klar, daß da die Hölle ausbrechen würde. Ich war mal der Meinung, es müßte möglich sein, einen Witz über die Krawatten von Michel Friedman zu machen, ohne daß ich als Antisemit abgestempelt werde. Heute ist mir klar, daß da überhaupt nicht daran zu denken ist. Es würde heißen, »Schmidt macht Judenwitze«. Solche Schlagzeilen muß ich mir nicht antun.“ (Helmut Schmidt, in: Der Stern, 8 / 1999). Heimat

Im Jahre 2002 verließ zum Beispiel ein junger Jude Deutschland, weil er es satt war, in seiner Bonner Schule einer ständigen „Sonderbehandlung“ ausgesetzt zu sein: im Fach Geschichte hätten sich alle Schüler immer direkt nach ihm umgedreht, um seine Antwort abzuwarten. Die anderen Schüler hätten sich immer nur nach seiner Meinung gerichtet, doch diese ständige Sonderbehandlung habe er nicht mehr ausgehalten und sei deshalb nach Israel ausgewandert, obwohl er dort zur Zeit Kriegsdienst machen müsse. Daß unsere „ferngelenkten“ Lehrer sich für deutsche Kinderschicksale nicht interessieren, ist bekannt, aber läßt sie auch das Schicksal dieses Juden kalt?  (Quelle: Phoenix-TV, 2002).

„Der Versuch Israels, seinen Staatsterrorismus und die 'selektiven Morde' zu rechtfertigen, ist nicht nur moralisch inakzeptabel, sondern auch politisch verhängnisvoll. Scharons Zynismus geht so weit, daß er Arafat das Attentat auf den Minister in Jerusalem anlastet. Dabei wird vergessen, daß der Mord in einer Stadt verübt wurde, die Israel illegal annektierte. Solange die Vereinigten Staaten und Europa nicht in der Lage sind, dem Wahn der israelischen Militärs Einhalt zu gebieten, sind auch sie für die explosive Lage verantwortlich.“ (El Periodico de Catalunya, 2001, in: Udo Ulfkotte, Propheten des Terrors, 2001, S. 41f.). (Vgl. „Global-Terrorismus“).

Max Weber (1864-1920), laut Karl Jaspers „der größte Deutsche unseres Zeitalters“, war der Diagnostiker der Moderne. In seinem berühmten Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904) zeigte er die Bedeutung des religiösen Rationalismus, d.h. der reformatorischen Weltauslegung, die das Diesseits entzauberte oder entsakralisierte und die mit dem Berufsgedanken das alltägliche Leben mit dem Jenseitsschicksal verband, für die Entstehung des modernen Betriebskapitalismus: im Berufserfolg und Gelderwerb bewährt sich der je eigene Gnadenstand. Weber, Begründer der Religionssoziologie, suchte die Sozialwissenschaften zum Range strenger Wissenschaftlichkeit zu erheben, indem er ihre Methoden prüfte und sie als rein beschreibende auffaßte. Er suchte scharf zu trennen: Erfahrungswissenschaft und wertende Beurteilung, einseitige partikulare Erekenntnis und Ergreifen des Totalen, empirische Wirklichkeit und Wesen des Seins. Entgegen der intuitiven Verstehens-Theorie Diltheys muß nach Weber die verstehende Soziologie, als „eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“, rational hauptsächlich nach Zweck und Mitteln fragen, weil allein dadurch das Verstehen eine besonders hohe Evidenz erreicht. Als Hauptbegriff entwickelte Weber den des Idealtypus. Durch diesen Terminus wurde eine für die sozialwissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildung zentrale Konstruktionsmethode bezeichnet. Der Idealtypus wird „durch gedanklich einseitige Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen“, die dann „zu einem in sich widerspruchslosen Idealbilde zusammengefügt“ werden. „Der Idealtyp ist ein »Gedankenbild«, welches nicht die historischen Wirklichkeit oder gar die eigentliche Wirklichkeit ist, ... sondern die Bedeutung des eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchenm die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.“ (Max Weber). Die Bildung des Idealtypus ist ein heuristischer Schritt der Begriffs- und Theoriebildung, der deutlich von der überprüften Theorie zu unterscheiden ist.

 

 


 

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© Hubert Brune, 2001 ff. (zuletzt aktualisiert: 2014).