Wenn
die veröffentlichte Meinung ein Abbild der Wirklichkeit wäre, hätte
sich Spenglers Untergang des Abendlandes längst vollzogen. Anders als noch
in der Ära Adenauer-Schuman-de-Gasperi ist der Begriff »Abendland«
heute weitgehend negativ besetzt und spielt in der öffentlichen Diskussion
kaum mehr eine Rolle. Während vor fünfzig bis sechzig Jahren in weiten
Teilen Westeuropas »abendländische« Aufbruchsstimmung herrschte,
stößt ein Bekenntnis zu den geistig-politischen Werten des Abendlandes
heute in weiten Kreisen auf Unverständnis oder Verlegenheit, bei »Meinungsführern«
allenfalls auf süffisante Ironie.Der Riesenerfolg von Spenglers
Hauptwerk war nur möglich, da viele damalige Leser mit dem Begriff »Abendland«
durchaus etwas anzufangen wußten heute würde ihm ganz einfach
das Publikum fehlen. Die Gründe für diesen Wandel liegen auf der Hand:
der modische Werte-Relativismus, der verbreitete Widerwille, sich mit Traditionen
ernsthaft auseinanderzusetzen, nicht zuletzt da der Geschichtshorizont
vieler Zeitgenossen kaum über das Jahr 1933 zurückreicht auch
schlichte historische Ignoranz.Das Abendland ist aus einem jahrhundertelangen
Amalgamierungsprozeß entstanden, dessen Grundelemente Antike, Christentum
und germanische Welt bilden. Vielen Menschen unserer Tage bereitet dieser Tatbestand
Schwierigkeiten. Ein unbefangener Blick auf die germanische Welt ist auch heute
noch vielfach durch die NS-Ideologie verstellt. Deshalb kann auch die Erkenntnis
Rankes, daß das moderne Europa eine Schöpfung vorzugsweise der germanisch-romanischen
Völker ist, vielfach nicht mehr nachvollzogen werden. Auch zur Antike haben
heute nur noch wenige Menschen eine wirkliche Beziehung. Die humanistischen Gymnasien,
immer stärker amputiert, bieten fast kein Griechisch und in immer geringerem
Umfang Latein an. Und wie sollte oder könnte ein zunehmend entchristlichtes
Europa einen Zugang zum christlichen Abendland finden? In den neuen Bundesländern
etwa bekennt sich nur noch ein Drittel der Bevölkerung zu einer der beiden
großen Konfessionen, auch in Nordwestdeutschland nur etwa drei Viertel,
wobei die bloße Mitgliedschaft in einer Kirche sowieso nicht viel besagt.
Aber auch bei religiös orientierten Menschen ist das Bewußtsein einer
geistigen Verankerung im abendländischen Europa keineswegs selbstverständlich,
angesichts der Aktivitäten insbesondere einiger evangelischer Landeskirchen
aber wiederum nicht verwunderlich. Aus all diesen Gründen sind das Interesse
und die Bereitschaft, sich mit dem Thema Abendland zu befassen, nicht eben verbreitet.Im
Rahmen eines Zeitschriftenaufsatzes und angesichts der Komplexität des Gegenstandes
ist Beschränkung geboten. Die folgende Darstellung bezieht sich daher nur
auf eine der drei grundlegenden Komponenten des Abendlandes, nämlich auf
die Anstöße und Leistungen, die vom Christentum für das werdende
Abendland ausgegangen sind. Sie konzentriert sich deshalb auf die ausgehende Antike
und das frühe Mittelalter und behandelt lediglich die wichtigsten Entwicklungen
innerhalb dieses Zeitraums.Die Christen zählen in den ersten
zweihundertfünfzig Jahren unserer Zeitrechnung zu den zahlreichen orientalischen
Kultgemeinschaften, die sich auf dem Boden des Römischen Reiches ausgebreitet
haben, und gehören hierbei keineswegs zu den wichtigsten. Der allmähliche
Aufstieg des Christentums fällt in die Zeit der großen Reichskrise
des dritten Jahrhunderts, die durch ständige innere Wirren, durch stärker
werdenden äußeren Druck und durch schwere Wirtschaftsprobleme gekennzeichnet
ist. Die Goten erobern Rumänien, die Alemannen dringen in Südwestdeutschland
ein und stoßen wiederholt bis Italien vor das Reich scheint am Ende.Die
Krise wird schließlich im äußerlichen Sinne gemeistert, wobei
sich aber gerade für die Christen verheerende Folgen ergeben. Da das Schicksal
des Reiches von der Kampfkraft der Grenztruppen abhängt, deren Besoldung
Unsummen verschlingt, sichert sich der jetzt entstehende spätantike Zwangsstaat
die finanziellen Ressourcen des Reiches: Die Steuern werden so stark erhöht,
ihre Zahlung mit so brutalen Mitteln erzwungen (Schollenzwang für Bauern,
Berufszwang für Söhne von Handwerkern und Gewerbetreibenden), daß
das wirtschaftliche Leben weitgehend erstickt. Da die Christen zum weitaus überwiegenden
Teil nicht den oberen Gesellschaftsschichten angehören, sind sie besonders
betroffen.Zugleich beginnt Mitte des dritten Jahrhunderts eine systematische
Christenverfolgung, die es vorher in diesem Umfang noch nicht gegeben hatte. Der
Staat möchte angesichts seiner existentiellen Bedrohung die Römer auch
in geistig-kultischer Hinsicht enger zusammenschließen. Da der traditionelle
römische Götterhimmel seine Überzeugungskraft verloren hat und
die sich eigentlich von der Sache her anbietende Stoa für die Massen nicht
brauchbar ist, läuft es auf eine Intensivierung des Kaiserkults hinaus, an
dem sich die Christen nicht beteiligen können. Sie gelten damit als Staatsfeinde
und werden massenhaft in den Arenen hingerichtet.Daß das Christentum
ausgerechnet in dieser Zeit reichsweit seinen Aufstieg nimmt, liegt letztlich
in den christlichen Glaubensinhalten begründet. Die Vorstellung, daß
Göttersöhne große Taten im Dienste der Menschheit vollbringen,
ist vielen antiken Kulten geläufig. Nicht jedoch die christliche Botschaft,
daß Gott zum Menschen wird, dessen Leiden und Sterben die Menschheit erlöst.
Neu sind auch das Bild des gütigen, liebenden Vaters, das Gebot der Nächstenliebe
und der Auferstehungsglaube. Da nach christlicher Lehre das künftige Leben
das eigentliche ist, relativieren sich die irdischen Verhältnisse, so daß
die Christen gerade in Notzeiten aus ihrem Glauben besondere Kraft schöpfen
können.Die standhafte Haltung, mit der so viele Menschen in den
Tod gehen, bleibt nicht ohne Eindruck auf ihre Zeitgenossen: »Sanguis martyriorum
semen Christianitatis« (»Das Blut der Märtyrer ist der Same der
Christenheit«). Gerade die erbärmliche wirtschaftlich-soziale Lage,
in die viele, auch durch die Hinrichtung von Angehörigen, geraten, läßt
die Stärken des christlichen Glaubens deutlicher in Erscheinung treten. Die
Christen nehmen das Gebot der Caritas und der Nächstenliebe ernst, und viele
Menschen finden so in der Glaubensgemeinschaft auch den sozialen Halt, den ihnen
der Staat nach Lage der Dinge nicht zu bieten vermag. Nicht zuletzt dieses mitmenschliche
Engagement, eine Konstante der abendländischen Entwicklung bis zum heutigen
Tag, hat der Kirche schon damals viel Zustimmung eingebracht. Schließlich
hat auch der Auferstehungsglaube angesichts der niederdrückenden irdischen
Lage eine ebenso tröstende wie faszinierende Hoffnung seine Wirkung
nicht verfehlt.Die eigentliche Verschmelzung von Christentum und Staat
beginnt im Zeitalter Konstantins (306-337) mit dessen Kehrtwendung in der Christenpolitik.
Bereits im Jahre 311 hatte Konstantins Mitkaiser Galerius das Mailänder Toleranzedikt
erlassen, das die Christen den übrigen Religionen gleichstellt. Gut zwanzig
Jahre später beruft Konstantin das erste gesamtchristliche Konzil ein, das
unter seinem Vorsitz in Nicäa zusammentritt und unter anderem den verbindlichen
Bekenntnisstand festlegt: das in seinen Grundzügen bis heute geltende Glaubensbekenntnis
(»Nicaenum«). Auch unter den Nachfolgern Konstantins gelten die Christen
als staatlich geförderte und privilegierte Gruppe; im Jahre 380 wird das
Christentum alleinige Staatsreligion.Es beginnt jetzt eine Phase der
Integration von Christentum und Antike in vielen Lebensbereichen. Die Christen
fühlen sich dem Staat verpflichtet, der auch der ihrige ist; sie betrachten
sich aber außerdem mit größter Selbstverständlichkeit als
Träger der antiken Kultur. Diese enge Verbindung hat sich für das Abendland
in der Folgezeit immer wieder als außerordentlich fruchtbar erwiesen, so
bei der Rezeption des römischen Rechts im zwölften Jahrhundert, während
der Renaissance und noch im Zeitalter des Neuhumanismus.Während
Konstantin den Verschmelzungsprozeß der römischen Antike mit dem Christentum
einleitet, ist die Verschmelzung der inzwischen antik-christlichen mit der germanischen
Welt wesentlich mit der Politik des Frankenkönigs Chlodwig (482-511) verbunden.
Anders als die meisten sonstigen Germanenkönige, die wie der Ostgotenkönig
Theoderich der Große (471-526) die strenge politische, soziale und
religiöse Trennung zwischen den Römern und den Germanen ihrer Reiche
durchsetzen und bald scheitern, zielt Chlodwig von vornherein auf einen Ausgleich
zwischen den in das heutige Frankreich eindringenden Franken und der dortigen
romanischen Bevölkerung ab. Er sichert sich auf diese Weise die weitgehende
Zustimmung seiner neuen Untertanen und auch das Wohlwollen der Kirche, die während
der Wirren der Völkerwanderungszeit verhältnismäßig stabil
geblieben ist und wie die noch intakte römische Administration und das römische
Steuerwesen für den Aufbau des künftigen Großstaats herangezogen
werden kann.Während sich Konstantin und Chlodwig von politischen,
nicht etwa persönlich-religiösen Gründen leiten lassen, wird die
volle Verbindung aller drei Elemente des Abendlandes erst von Karl dem Großen
(768-814) vollzogen. Er ist tiefgläubiger Christ und hat ein enges persönliches
Verhältnis sowohl zum germanischen als auch zum antiken Erbe, wobei letzteres
mit der Kaiserkrönung des Jahres 800 seinen Ausdruck findet. Die Franken
und in ihrer Nachfolge 962 die Deutschen werden damit zu zu Trägern
der antiken Reichsidee, die jeweiligen Könige zu »römischen Kaisern«
(»translatio imperii«). Karl der Große verkörpert in Person
und Herrschaft in überzeugender Weise das Abendland, dessen Geburtsprozeß
nunmehr abgeschlossen ist; er gilt seither als »Vater Europas«.Die
Einbeziehung der Germanen in die christlich-antike Welt, die somit um 800 zu einem
gewissen Abschluß kommt, hat schon sehr viel früher begonnen, bereits
vor der Zeit Chlodwigs. Seit der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts
haben das alte Imperium und die junge Kirche dazu die ersten Anstöße
gegeben, die Kirche, indem sie ihren Missionsauftrag schon zu diesem frühen
Zeitpunkt besonders unter den grenznah siedelnden Germanen wahrnimmt, der Staat
durch die Ansiedlung ganzer germanischer Völker auf römischem Boden
und durch die zähe Grenzverteidigung, die im wesentlichen bis zur Jahreswende
406 / 07 hält, im Bereich der oberen Donau noch wesentlich
länger. Sie schaffen damit unbewußt eine wichtige Voraussetzung dafür,
daß sich das Abendland in den folgenden Jahrhunderten überhaupt bilden
kann: Die benachbarten Germanenvölker erhalten die Möglichkeit, sich
an die römische Kultur und an das Christentum zu gewöhnen und beides
schätzenzulernen. Beim Eindringen in das Reich sind sie dann später
zum überwiegenden Teil bereits Christen und sehen sich vielfach weniger als
Zerstörer denn als Erben der antiken Kultur. Wäre das Reich bereits
im dritten Jahrhundert, wie es eine Zeitlang aussah, völlig zusammengebrochen,
wäre vieles zerstört worden und die Voraussetzungen für die Entstehung
des Abendlandes womöglich gar nicht gegeben gewesen. In Teilen des Reiches
ist tatsächlich die römische Kultur und mit ihr das Christentum vernichtet
worden, so in Britannien, das um 400 aufgegeben, um die Mitte des fünften
Jahrhunderts von den Angeln und Sachsen erobert und erst später von Irland
und ab etwa 600 auch von Rom aus rechristianisiert wird.Das Christentum
als unverzichtbare Voraussetzung für die Entstehung des Abendlands hat vor
allem durch zwei kirchliche Phänomene Europas unverwechselbaren Charakter
mitgeprägt: durch das Klosterwesen und das römische Papsttum. Im Jahre
529 gibt ein junger Adliger aus Umbrien, Benedikt von Nursia, mit der Gründung
des Klosters Monte Cassino den Anstoß zur Entwicklung einer spezifisch europäischen
Variante des Mönchtums. Während sich die Eremiten der östlichen
Mittelmeerwelt wie heute noch die Mönche in Tibet und in Südostasien
auf Askese und Kontemplation beschränkten, verlangt der Benediktinerorden,
der sich rasch über alle romanisch-germanischen Länder verbreitet und
zum Vorbild für das abendländische Mönchtum schlechthin wird, von
seinen Mitgliedern zusätzlich stetige und planmäßige Arbeit, also
ein aktives Leben innerhalb der Gemeinschaft der Mitbrüder. Die für
alle, vom Novizen bis zum Abt, verbindliche Losung »Bete und arbeite!«
(»Ora et labora!«) bringt die Zielsetzung des Ordens in echt römischem
Stil auf die knappste Formel. Für die Benediktiner und bald auch für
die Mitglieder anderer Orden sind ferner die Prinzipien der Armut, der Keuschheit
und des Gehorsams lebenslang verbindlich.Hier ist die Verschmelzung von
Antike und Christentum mit Händen zu greifen: Ein sittlicher Zentralbegriff
der Römer, die Disziplin (»disciplina«), wird zur Maxime des
abendländischen Mönchtums, die römische Begabung und Neigung zu
systematischer Tätigkeit kommt nunmehr im christlichen Gewand zum Ausdruck,
an die Stelle des »pater familias« tritt der Abt.Bemerkenswert
sind vor allem die kulturellen Leistungen der Orden. Indem ein jeder Bruder auf
seinem Platz, als Gärtner, Landwirt oder Kellermeister, aber auch als Pädagoge,
Bibliothekar oder Wissenschaftler das ihm jeweils Mögliche erbringt, wird
das Kloster zum Motor der Kulturentwicklung Kultur im umfassendsten Sinne
des Wortes verstanden. Dazu gehören beispielsweise landwirtschaftliche Aufbauleistungen
in weiten Teilen des Abendlandes, etwa in Ostdeutschland im Zusammenhang mit der
deutschen Besiedlung des Gebiets, und die Aneignung und Fortführung, auch
jeweils zeitgemäße Umformung der antiken Literaturtradition. Unsere
Kenntnisse der Antike verdanken wir, neben der Vermittlung durch die Araber, vielen
fleißigen Mönchen, die über Jahrhunderte hinweg in ihren Schreibstuben
die alten Texte kopiert haben.Die Breiten- und Fernwirkung des abendländischen
Ordensgedankens ist kaum überschaubar und teilweise noch gar nicht erforscht.
Man denke etwa an die späteren Ritterorden, die wiederum aus der Integration
zweier sittlicher Zentralvorstellungen erwachsen, der des Ritters und des Mönchs.
So hat beispielsweise der Deutsche Orden das gesamte Gebiet zwischen Hinterpommern
und dem Finnischen Meerbusen politisch organisiert und über den Hochmeister
Hermann von Salza von dem im dreizehnten Jahrhundert hochmodernen sizilischen
Stauferstaat beeinflußt den ersten institutionellen Flächenstaat
verwirklicht, der dann europaweit an die Stelle des älteren Personenverbandsstaats
tritt. Das moderne Preußen hat später nicht etwa nur den Namen und
die Farben Schwarz-Weiß übernommen; vielmehr gewinnen erneut ethisch-politische
Zentralbegriffe, etwa der Disziplin-Gedanke, historische Geltung, wiederum in
völlig anderem Gewand.Da nach christlicher Überlieferung Petrus
als Stellvertreter Christi gilt (»Du bist der Fels, auf den ich meine Gemeinde
baue«), der ebenfalls der Überlieferung nach in Rom während
der ersten Christenverfolgung unter Nero hingerichtet worden ist, beansprucht
der römische Bischof schon bald eine Vorrangstellung unter seinen Amtsbrüdern,
ohne diese zunächst durchsetzen zu können. Seine Autorität nimmt
jedoch im Laufe des fünften Jahrhunderts beträchtlich zu nicht
zuletzt aufgrund der turbulenten Zeitläufte. In den Wirren der Völkerwanderung
erweisen sich nämlich die kirchlichen Institutionen als vergleichsweise stabil,
besonders auch in dem stark umkämpften Italien. Dem Papst kommt ferner zugute,
daß in Italien nach der Teilung des Landes zwischen den Langobarden und
dem Oströmischen Reich in den römisch gebliebenen Landesteilen ein Machtvakuum
entsteht. Das Reich selbst nämlich wird in seinen Kerngebieten von Slawen
und Arabern hart bedrängt und verliert infolgedessen in seinen Außenbezirken
auf der Apenninenhalbinsel allmählich die Kontrolle. Latium und Rom liegen
auf oströmischem Boden, wie auch Venedig, das ebenfalls eine eigenständige
politische Entwicklung nimmt. Mit der »Pippinischen Schenkung« des
Jahres 756, von der Kirche jahrhundertelang als »Konstantinische Schenkung«
ausgegeben, gewinnt der Papst eine eigene politische Machtbasis, den bis heute
bestehenden Kirchenstaat.Die Gegenleistung des Papstes besteht in der
Salbung, die er an dem Frankenkönig Pippin aus dem Geschlecht der Karolinger
bei dessen Krönung vollzieht. Den Karolingern fehlt im Gegensatz zu den bis
dahin regierenden Merowingern das »Königsheil«, das nach germanischer
Auffassung dem Herrscher die Gunst der Götter sichert und damit die Monarchie
sakral begründet. Durch die Salbung mit geheiligtem Öl erhält nun
die neue Dynastie ebenfalls sakrale Grundlagen, jetzt im christlichen Sinne. Während
einerseits der Papst weltliche Macht erringt, erhält andererseits der König
als »Gesalbter des Herrn« (»Christos Domini«) geistlichen
Rang, der dem des geweihten Priesters entspricht. Diese wechselseitige Verzahnung,
die für das »Gottesgnadentum« und für das »Bündnis
zwischen Thron und Altar« kennzeichnend ist, hat die europäische Geschichte
bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein bestimmt.Der Dualismus zwischen
Diesseits und Jenseits, Staat und Religion ist im Christentum von vornherein angelegt.
»Mein Reich ist nicht von dieser Welt«, sagt Jesus und fordert seine
Anhänger auf: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was
Gottes ist!« Mit seiner »Zwei-Schwerter-Lehre« hat dann Papst
Gelasius in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts erstmals den
Anspruch auf Gleichrangigkeit mit der höchsten weltlichen Gewalt, während
des Investiturstreits später Papst Gregor VII. sogar den Führungsanspruch
erhoben.Mit der »Pippinischen Schenkung« und der Gründung
des Kirchenstaats wird die Polarität Staat Religion, die beispielsweise
im Islam nicht einmal ansatzweise vorhanden ist, in eigentümlicher Weise
ausgeformt. Durch die Verzahnung beider Kräfte entsteht ein permanenter Spannungszustand,
weil beide Seiten ständig in Versuchung sind, ihre Ansprüche zu überziehen,
so später das Reich im Zeitalter des ottonisch-salischen Reichskirchensystems,
die Kirche während des Investiturstreits. Beide Seiten müssen stets
auf der Hut sein, wenn sie ihre Eigenständigkeitsbereiche bewahren wollen.
Die Kirche ist nie ganz dem Staat untergeordnet, ihr Dogma nie allein entscheidend
für die geistliche Entwicklung gewesen, wie schon die zahllosen theologischen
Streitereien und Gruppenauseinandersetzungen bis hin zu den Ketzerbewegungen zeigen.Umgekehrt
haben sich im Abendland nie politische Machthaber zu unumschränkten (Schutz-)
Herren der Kirche aufschwingen können, weil selbst der absolute Monarch durch
sein Gottesgnadentum kirchlich-religiös eingebunden war. Das ständige
Spannungsverhältnis zwischen Staat und Kirche hat zwar einerseits zu heftigen,
immer wieder auch zu zerstörerischen Auseinandersetzungen geführt, andererseits
aber auch dazu, daß beide Seiten in immer neuen Anläufen Freiheitsspielräume
ausgelotet und genutzt haben. Sowohl die Kirche als auch der Staat haben damit
entscheidend dazu beigetragen, daß im Abendland der Gedanke der geistigen
und der politischen Freiheit in den verschiedensten Bereichen und auf den verschiedensten
Ebenen zu einer wesentlichen Triebkraft werden konnte und über die Epochen
hinweg immer wieder verwirklicht worden ist.Der grundsätzliche Charakter
der Weichenstellung von 756 und die daraus folgende spezifisch abendländische
Entwicklung lassen sich am deutlichsten am oströmisch-byzantinischen Gegenmodell
aufzeigen. Ostrom gelingt es zwar, die germanischen Invasionsversuche abzuwehren,
aber es erlebt auch keine geistig-politische Erneuerung. Vielmehr bleibt der Kaiser
alleiniger Machthaber in einem zentralistisch regierten Reich, und er bleibt auch
oberster Kirchenherr (»Cäsaropapismus«). Mehr noch: Diese Kirchenverfassung
wird auch auf die von Konstantinopel missionierten Gebiete Ost- und Südosteuropas
übertragen, so daß sich die Kirche hier nicht, wie im abendländischen
Teil Europas, frei entfalten kann. Die mächtige russische Kirche etwa ist
immer von der Staatsgewalt abhängig gewesen, ob diese nun von den Zaren,
dem kommunistischen Politbüro oder von Präsident Putin verkörpert
wurde und wird mit entsprechenden Folgen für die freie geistige Entwicklung
überhaupt.Insofern hat sich die Grenzziehung des Jahres 395, die
das Römische Reich endgültig in eine West- und eine Osthälfte teilt,
bis heute als schicksalhaft für die Geschichte Europas erwiesen. Diese Grenze
teilt seit dem Schisma von 1054 das Gebiet der römisch-katholischen von dem
der griechisch-orthodoxen Kirche. Nach Abschluß der Missionierung gehören
zur ersteren die heutigen Länder Kroatien, Slowenien, Ungarn, Polen, die
baltischen Länder und Finnland, zur letzteren Serbien, Bulgarien, Rumänien,
Moldawien, die Ukraine, Weißrußland und die Russische Föderation.
Der griechisch-orthodoxe Teil Europas, dem ja auch das germanische Element fehlt,
das für die freiheitliche Verfassungsentwicklung in Europa ebenfalls von
grundlegender Bedeutung ist, hat an der abendländischen Geschichte nicht
teilgehabt. Es gab hier keine geistige und auch keine politische Freiheit im west-,
mittel- und nordeuropäischen Sinne, weder bürgerliche Selbstregierung
noch ständische Mitbestimmung, weder eine Renaissance noch eine Reformation,
weder Rechtsstaatlichkeit noch Parlamentarismus.Dies alles wirkt
wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß bis heute nach. Den schlagendsten
Beweis für die Aktualität der Grenze von 395 hat die Entwicklung seit
1989 / 90 geliefert. Die westlich dieser Grenze gelegenen Staaten
des ehemaligen Ostblocks haben, sobald sie den nötigen politischen Spielraum
gewonnen hatten, entschlossen die »Rückkehr nach Europa« angetreten.
Bei den übrigen ist dies bisher nur zögerlich oder gar nicht geschehen.
(Ebd., 1. Juni 2007). |