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- Sezession -

- Etiam si omnes, ego non -

Felix Springer

- „Die Illusion der intellektuellen Teilhabe“ -

(aus: Sarrazin lesen [Sonderheft])

 

„Die Illusion der intellektuellen Teilhabe“ (Felix Springer)

„Du bist ein Nazi? Mit Bildung wär das nicht passiert!« schreibt sich selbst der arbeits- und beschäftigungslose Gammelpunk am Hauptbahnhof auf die Jacke, – und ist sich sicher, daß er über das zur Naziprävention nötige Bildungsvolumen verfügt, obwohl er kaum in der Lage ist, das Pfandgeld für seinen täglichen Bierkasten zu berechnen.

Ebenso kann die Soziologiestudentin an der Spitze der Anti-Atomkraft-Demonstration aus dem Stegreif und mit leuchtenden Augen eine halbe Stunde lang über die Gefährlichkeit von Atomkraftwerken und die Zukunft alternativer Energiegewinnung referieren, obwohl sie Uran nicht einmal im Periodensystem der Elemente findet. Im örtlichen Kreisverband der Linkspartei bekennen sich die alten Männer inbrünstig zu Marx, Engels, Lenin und die jungen Frauen schwurbeln vielsilbige Worte um ihre Idee eines »undogmatischen Marxismus« – wer glaubt, daß diese Leute das Marx’sche Denksystem ernsthaft durchblicken? Kinderlose Staatssekretäre beschließen in ministeriellen Verordnungen, mit welchen Methoden Grundschüler erzogen werden müssen; zivildienstleistende Wohlstandspazifisten erklären in den Feuilletons, warum und was die Bundeswehr in Afghanistan alles falsch macht; dicke Stiftungsratsvorsitzende mit Haus und Grundstück in Berlin-Grunewald begeistern sich auf 3sat für »die multikulturelle Gesellschaft«; Papas gut versorgtes Söhnchen regt sich darüber auf, daß die ganzen faulen Hartzler schon wieder 5 Euro mehr bekommen und der AStA-Hippie sammelt auf dem Campus für die bolivianischen Kinderarbeiter, über die er was Trauriges im Netz gelesen hat.

Mag sein, daß sich hier und da mal ein einzelner findet, der sich tatsächlich auf irgendeinem Gebiet auskennt. Trotzdem ließe sich diese Liste lange fortführen: Es ist ja nicht Fachwissen oder persönliche Kompetenz, die die Leute politisch macht. Vielmehr steht am Anfang jedes protestpolitischen Engagements die subjektive, nur selten von außen nachvollziehbare Überzeugung, es irgendwie besser zu wissen. Selbstverständlich ist das bei einer durchpolitisierten Masse (und nicht nur dort) in so gut wie allen Fällen eine maßlose Überschätzung der eigenen Informiertheit und Fähigkeiten, aber das bedeutet in unserer mediengesteuerten Massendemokratie bekanntermaßen keinen ernsthaften Verlust an politischer Durchsetzungskraft.

Es ist insofern kein Zufall, daß gerade Protestbewegungen auf ein Heer von alleserklärenden, fleißigen Besserwissern angewiesen sind. Diese Leute erzeugen und genießen das Gefühl, zu denen zu gehören, die es besser wissen, zum aufgeklärten, erleuchteten Teil der Bevölkerung oder sogar: der Menschheit. Diese kanalisierte, rauschhafte Hybris ist heute so offensichtlich wie vielleicht noch nie – man sieht sie auf den Anti-G8-Protesten, Anti-Atomkraft-Demos, Klimaschutzaufmärschen, Genderkramkonferenzen, »Antinazi«-Blockaden oder überall sonst, wo man »politisch korrekt« und medial gebilligt ein bißchen rumprotestieren kann.

Es wäre allerdings falsch, dieses Phänomen der Illusion der intellektuellen Teilhabe ausschließlich auf der politischen Linken zu verorten. Es ist wohl mindestens ein grundsätzliches Prinzip des Massenhandelns, wenn nicht sogar die Überschrift des politischen Handelns überhaupt, und besteht durchaus unabhängig vom konkreten Inhalt.

Zwei Dinge gehören aber noch dazu: erstens das konsensfähige Feindbild (meinetwegen »die Atomlobby«, oder sogar »der Kapitalismus«) und zweitens die Überheblichkeit und Anmaßung gegenüber den Entscheidern und Institutionen der Gegenwart. Bürgerlich-Konservative tun sich mit letzterem immer noch ausgesprochen schwer, egal wie weit die offensichtliche Staatsverrottung bereits vorangeschritten ist. Es soll ja sogar Leute geben, die der Ordnungsglaube dazu bringt, die Verweigerung der Rundfunkabgabenzahlung für einen nahezu präterroristischen Akt zu halten. Die Gründe für dieses spießig-idiotische Verhalten einiger Alt-BRD-Fossilien im bürgerlichen Lager sind bereits ausreichend beschrieben und beklagt worden, aber viel interessanter ist die Meinungsbildung in diesem Lager, die nämlich oft genug parallel zu der des politischen Gegners verläuft.

Mittlerweile gibt es beispielsweise einige hörbare Pro-Stuttgart-21-Stimmen, vorzugsweise vorgebracht von den gut Angezogenen, die ihr Bier nicht aus der Flasche trinken. Man hat die von wichtigtuerischen Lokalrevoluzzern großgemachte und gebündelte Hybris der Bahnhofsgegner als solche erkannt und verabscheut die Heuchelei der Özdemir-Mafia, und deshalb ist man dagegen. Ergebnis ist, daß man die Korrupten gegen die Blöden verteidigt. Im Grunde können aber die Wortführer weder der einen noch der anderen Seite ernsthaft beurteilen, was für ein Bahnhof wo in Mitteleuropa notwendig ist oder wieviel das kosten muß und darf. Genauso wenig ist eine Seite in der Lage, alternative, meinetwegen »basisdemokratische« Vorschriften zur zukünftigen Stadtplanung anzubieten.

Und so ähnlich ist es mit allen aktuellen Protestthemen: Die Linksgrünen sind gegen Atomkraft, also sind die bürgerlich-rechts-konservativen dafür; die einen schüren die Angst vor dem Klimakollaps, also halten die anderen das für Quatsch; die einen machen sich zum Anwalt der Transferleistungsempfänger, also fangen die anderen an, über diese nur noch wie über Feindesklienten zu reden.

Auf diese Weise läßt sich das bürgerliche Lager viele Positionen vom politischen Gegner diktieren. Das Zuwanderungs- und Überfremdungsproblem ist eigentlich das einzige Thema, das man selbst am Laufen hält – und selbst dieses wird als »Integrationsdebatte« medial verwässert. Vitalität sieht anders aus.

Die Erkenntnis, daß derjenige, der die peinliche intellektuelle Selbstüberschätzung der Massen entlarvt, dadurch nicht mobilisierungsfähiger wird, muß sich bei Konservativen erst noch durchsetzen. Die angenehme Illusion der intellektuellen Teilhabe, so lächerlich sie im Einzelfall sein mag, ist etwas, das man säen und von dem man ernten kann. Wer mobilisieren will, der muß sie nutzen, nicht verachten. (Ebd., 10. November 2010).

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