Du
bist ein Nazi? Mit Bildung wär das nicht passiert!« schreibt sich selbst
der arbeits- und beschäftigungslose Gammelpunk am Hauptbahnhof auf die Jacke,
und ist sich sicher, daß er über das zur Naziprävention
nötige Bildungsvolumen verfügt, obwohl er kaum in der Lage ist, das
Pfandgeld für seinen täglichen Bierkasten zu berechnen.Ebenso
kann die Soziologiestudentin an der Spitze der Anti-Atomkraft-Demonstration aus
dem Stegreif und mit leuchtenden Augen eine halbe Stunde lang über die Gefährlichkeit
von Atomkraftwerken und die Zukunft alternativer Energiegewinnung referieren,
obwohl sie Uran nicht einmal im Periodensystem der Elemente findet. Im örtlichen
Kreisverband der Linkspartei bekennen sich die alten Männer inbrünstig
zu Marx, Engels, Lenin und die jungen Frauen schwurbeln vielsilbige Worte um ihre
Idee eines »undogmatischen Marxismus« wer glaubt, daß
diese Leute das Marxsche Denksystem ernsthaft durchblicken? Kinderlose Staatssekretäre
beschließen in ministeriellen Verordnungen, mit welchen Methoden Grundschüler
erzogen werden müssen; zivildienstleistende Wohlstandspazifisten erklären
in den Feuilletons, warum und was die Bundeswehr in Afghanistan alles falsch macht;
dicke Stiftungsratsvorsitzende mit Haus und Grundstück in Berlin-Grunewald
begeistern sich auf 3sat für »die multikulturelle Gesellschaft«;
Papas gut versorgtes Söhnchen regt sich darüber auf, daß die ganzen
faulen Hartzler schon wieder 5 Euro mehr bekommen und der AStA-Hippie sammelt
auf dem Campus für die bolivianischen Kinderarbeiter, über die er was
Trauriges im Netz gelesen hat.Mag sein, daß sich hier und da mal
ein einzelner findet, der sich tatsächlich auf irgendeinem Gebiet auskennt.
Trotzdem ließe sich diese Liste lange fortführen: Es ist ja nicht Fachwissen
oder persönliche Kompetenz, die die Leute politisch macht. Vielmehr steht
am Anfang jedes protestpolitischen Engagements die subjektive, nur selten von
außen nachvollziehbare Überzeugung, es irgendwie besser zu wissen.
Selbstverständlich ist das bei einer durchpolitisierten Masse (und nicht
nur dort) in so gut wie allen Fällen eine maßlose Überschätzung
der eigenen Informiertheit und Fähigkeiten, aber das bedeutet in unserer
mediengesteuerten Massendemokratie bekanntermaßen keinen ernsthaften Verlust
an politischer Durchsetzungskraft.Es ist insofern kein Zufall, daß
gerade Protestbewegungen auf ein Heer von alleserklärenden, fleißigen
Besserwissern angewiesen sind. Diese Leute erzeugen und genießen das Gefühl,
zu denen zu gehören, die es besser wissen, zum aufgeklärten, erleuchteten
Teil der Bevölkerung oder sogar: der Menschheit. Diese kanalisierte, rauschhafte
Hybris ist heute so offensichtlich wie vielleicht noch nie man sieht sie
auf den Anti-G8-Protesten, Anti-Atomkraft-Demos, Klimaschutzaufmärschen,
Genderkramkonferenzen, »Antinazi«-Blockaden oder überall sonst,
wo man »politisch korrekt« und medial gebilligt ein bißchen
rumprotestieren kann.Es wäre allerdings falsch, dieses Phänomen
der Illusion der intellektuellen Teilhabe ausschließlich auf der politischen
Linken zu verorten. Es ist wohl mindestens ein grundsätzliches Prinzip des
Massenhandelns, wenn nicht sogar die Überschrift des politischen Handelns
überhaupt, und besteht durchaus unabhängig vom konkreten Inhalt.Zwei
Dinge gehören aber noch dazu: erstens das konsensfähige Feindbild (meinetwegen
»die Atomlobby«, oder sogar »der Kapitalismus«) und zweitens
die Überheblichkeit und Anmaßung gegenüber den Entscheidern und
Institutionen der Gegenwart. Bürgerlich-Konservative tun sich mit letzterem
immer noch ausgesprochen schwer, egal wie weit die offensichtliche Staatsverrottung
bereits vorangeschritten ist. Es soll ja sogar Leute geben, die der Ordnungsglaube
dazu bringt, die Verweigerung der Rundfunkabgabenzahlung für einen nahezu
präterroristischen Akt zu halten. Die Gründe für dieses spießig-idiotische
Verhalten einiger Alt-BRD-Fossilien im bürgerlichen Lager sind bereits ausreichend
beschrieben und beklagt worden, aber viel interessanter ist die Meinungsbildung
in diesem Lager, die nämlich oft genug parallel zu der des politischen Gegners
verläuft.Mittlerweile gibt es beispielsweise einige hörbare
Pro-Stuttgart-21-Stimmen, vorzugsweise vorgebracht von den gut Angezogenen, die
ihr Bier nicht aus der Flasche trinken. Man hat die von wichtigtuerischen Lokalrevoluzzern
großgemachte und gebündelte Hybris der Bahnhofsgegner als solche erkannt
und verabscheut die Heuchelei der Özdemir-Mafia, und deshalb ist man dagegen.
Ergebnis ist, daß man die Korrupten gegen die Blöden verteidigt. Im
Grunde können aber die Wortführer weder der einen noch der anderen Seite
ernsthaft beurteilen, was für ein Bahnhof wo in Mitteleuropa notwendig ist
oder wieviel das kosten muß und darf. Genauso wenig ist eine Seite in der
Lage, alternative, meinetwegen »basisdemokratische« Vorschriften zur
zukünftigen Stadtplanung anzubieten.Und so ähnlich ist es mit
allen aktuellen Protestthemen: Die Linksgrünen sind gegen Atomkraft, also
sind die bürgerlich-rechts-konservativen dafür; die einen schüren
die Angst vor dem Klimakollaps, also halten die anderen das für Quatsch;
die einen machen sich zum Anwalt der Transferleistungsempfänger, also fangen
die anderen an, über diese nur noch wie über Feindesklienten zu reden.Auf
diese Weise läßt sich das bürgerliche Lager viele Positionen vom
politischen Gegner diktieren. Das Zuwanderungs- und Überfremdungsproblem
ist eigentlich das einzige Thema, das man selbst am Laufen hält und
selbst dieses wird als »Integrationsdebatte« medial verwässert.
Vitalität sieht anders aus.Die Erkenntnis, daß derjenige,
der die peinliche intellektuelle Selbstüberschätzung der Massen entlarvt,
dadurch nicht mobilisierungsfähiger wird, muß sich bei Konservativen
erst noch durchsetzen. Die angenehme Illusion der intellektuellen Teilhabe, so
lächerlich sie im Einzelfall sein mag, ist etwas, das man säen und von
dem man ernten kann. Wer mobilisieren will, der muß sie nutzen, nicht verachten.
(Ebd., 10. November 2010). |