Von
einer Bremer Veranstaltung ist mir ein kurzes Gespräch mit einem Unternehmer
in Erinnerung geblieben, der einen traditionsreichen Familienbetrieb leitete.
Er erzählte von seinem Urgroßvater, der nach der Reichsgründung
von 1871 einen Auftrag der öffentlichen Hand für Straßenbauarbeiten
erhielt und dem ein leitender Mitarbeiter vorschlug, fiktive Posten in Rechnung
zu stellen; das habe der Vorfahr mit der Entlassung des Mannes und den Worten
quittiert: »Das Reich betrügt man nicht.« (Ebd., Dezember
2008, S. 11).Abgesehen vom Kern wirtschaftlicher Vernunft hängt
alles ab von der Erziehung der Verantwortlichen und dem zivilisatorischen Rahmen,
in dem sie sich bewegen, es hat zu tun mit historischer Lage und den daraus resultierenden
Handlungsmöglichkeiten, und selbstverständlich wirken sich auch Oberflächenphänomene
aus, wie Moden oder Zeitgeistströmungen. Man verkennt das leicht, weil die
Wirtschaft nicht nur »unser Schicksal« sein will - eine schon Walther
Rathenau zugeschriebene Äußerung -, sondem außerdem darauf beharrt,
Eigengesetzlichkeiten zu folgen, die sich weder ethischen noch kulturellen noch
politischen Vorgaben fügen. Der Zusammenbruch der kommunistischen Zwangswirtschaft
in der Sowjetunion und die ebenso rasche wie effektvolle Bekehrung der chinesischen
Führung zum Markt, die Aufgabe der »dritten Wege« in den Entwicklungsländern
und die Unterwerfung prominenter Achtundsechziger unter das liberale Credo erschienen
zuletzt als Beweise für die Richtigkeit dieser Annahme. Die Deregulierungsmaßnahmen,
die große Privatisierungswelle in den westlichen Ländern, die Beschneidung
der sozialen Leistungen, die Diskreditierung des staatlichen Eingriffs und aller
Planung nach politischen Vorgaben überhaupt, waren die Konsequenz. Daran
hat der Kollaps des »Neuen Marktes« wenig geändert, erst die
gegenwärtige Krise läßt die Frage aufkommen, ob die Wirtschaft
so funktionstüchtig ist und so selbständig über ihre Bedingungen
verfügt, wie von ihren Mächtigen behauptet. (Ebd., Dezember 2008,
S. 11).Solche Zweifel treten periodisch auf. Schon als die alteuropäische
Ökonomie durch die »Nationalökonomie« abgelöst wurde,
hatte es Proteste gegen die neue Unübersichtlichkeit gegeben, gegen die Verlagerung
und Anonymisierung der Abläufe. Dem konnten die Befürworter der Moderne
entgegenhalten, daß der Markt von selbst zu einer Klärung aller Schieflagen
und Engpässe, des Lohn- wie des Preisgefälles führen werde, wenn
man nur seine Autonomie respektiere. Adam Smith sprach von der »unsichtbaren
Hand«, die letztlich dafür sorge, daß das Streben der Individuen
nach Gewinnmaximierung in einem harmonischen Ganzen ausgeglichen werde und zur
Förderung des »Wohlstands der Nationen« beitrage. Das war ein
Konzept, das man nicht von seinen Voraussetzungen in schottischer Aufklärung
und deistischer Theologie des 18. Jahrhunderts ablösen kann, das diese Voraussetzungen
aber erfolgreich vergessen machte und in Großbritannien zu bemerkenswerten
Erfolgen führte. Allerdings haben sich die liberalen Anhänger von Smith
niemals vollständig durchgesetzt, und der Aufstieg des Landes wie auch die
Bewahrung seines inneren Friedens war eher dem Sieg über Napoleon, dem Niedergang
des französischen Erbfeindes, dem technischen Vorsprung und einem erfolgreichen
Imperialismus zu verdanken als der konsequenten Anwendung von Marktgesetzen. Ähnliches
gilt für die USA, auch wenn man hier in einem jungen Land nicht nur ungehemmter
auf Kapitalismus ohne Schranken setzte, sondern außerdem die Möglichkeiten
erkannte, die in der Erschließung und Ausbeutung immer neuer Gebiete - zuerst
auf dem eigenen Kontinent, dann im globalen Maßstab - lagen. (Ebd.,
Dezember 2008, S. 11-12).Die beiden Varianten des angelsächsischen
Modells haben in Europa und dem Rest der Welt zwar immer Bewunderer, aber kaum
je bedingungslose Nachahmung gefunden. Das hing nicht nur mit Entwicklungsunterschieden
zusammen, sondern auch mit grundsätzlichen Vorbehalten. Schon Friedrich List
wies darauf hin, daß das englische Beispiel keine allgemeine Geltung beanspruchen
könne; die Insellage habe ihm früh das »Privilegium der Freiheit
und des Asyls« verschafft und dadurch nicht nur seinen wirtschaftlichen
Aufstieg befördert, sondern auch den Eindruck erweckt, als gehe es um eine
Art von Idealkonzeption. In Wirklichkeit hätten aber Geopolitik und Geschichte
erst jene Stellung geschaffen, in der sich Großbritannien befinde. Von solchen
Voraussetzungen könne man nicht absehen und müsse prinzipiell zwischen
»kosmopolitischer« und »politischer Ökonomie« unterscheiden,
wobei die erste eine reine Ökonomie zu vertreten behaupte und anbiete, mittels
allgemeinem, freiem Warenaustausch dem Zustand des Weltfriedens oder sogar der
Weltrepublik näher zu kommen, während die andere jede Ökonomie
an außerökonomische Machtverhältnisse gebunden sehe und annehme,
daß die dauernde wirtschaftliche Konkurrenz Teil anderer - vor allem nationaler
und imperialer - Konkurrenzen sei. (Ebd., Dezember 2008, S. 12).Bekanntermaßen
hat sich List mit seinen Vorstellungen nicht durchsetzen können, aber seine
Ideen blieben in Deutschland einflußreich, von Bismarcks Schutzzöllen
bis zu den Lehren des »Kathedersozialismus«, von der Förderung
bestimmter Monopolbildungen bis zum Ausbau des »Öffentlichen Dienstes«,
vom »kommunalen Sozialismus« bis zu dem der »Sozialen Marktwirtschaft«.
Dabei spielte neben Gerechtigkeitserwägungen und Vorstellungen von nationaler
Solidarität immer auch die Sorge mit, daß jede Entlassung der Ökonomie
aus politischer Bändigung Folgen heraufbeschwöre, die sich gar nicht
mehr kontrollieren lassen würden. Erst dem Neoliberalismus gelang es am Ende
des 20. Jahrhunderts, diese Art von Wachsamkeit einzuschläfern und die Vorstellung
zu wecken, daß es nicht nur darum gehe, in der Wirtschaft wirtschaftlich
zu agieren, sondern überhaupt alle Lebensbereiche von hier aus zu kolonisieren
und ökonomischen Vorstellungen zu unterwerfen. (Ebd., Dezember 2008,
S. 12).Das Vertrauen in diesen Plan war ähnlich unbegründet
wie das in die überlegene Einsicht der Finanzgewaltigen. Deren Selbstbewußtsein
speiste sich offenbar weniger aus Kenntnis und Verständnis der Regeln des
globalen Kapitalismus als aus einem falschen Selbstbild und einer Fehlwahrnehmung
des größeren Zusammenhangs, der eben nicht nur von ökonomischen
Faktoren bestimmt wird, sondern auch anderen »Göttern« (Werner
Sombart) dient und dienen muß. Simon Cundey, Geschäftsführer des
ältesten Herrenausstatters in der Londoner Savile Row, antwortete auf die
Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Versagen der Verantwortlichen und
ihrem nachlässigen Kleidungsstil gebe: »Ich würde nicht sagen,
daß die Kleidung die Krise ausgelöst hat. Aber ich denke schon, daß
die Verbreitung des relaxten Stils eine Rolle gespielt hat. In vielen Büros
stehen heute Billardtische und riesige Fernsehgeräte herum. Da wundert man
sich, welche Arbeitsmoral dort herrschen soll.« (Ebd., Dezember 2008,
S. 12). |