Die bereits 60jährige
Existenz der Indischen Union als größte Demokratie der Welt stellt
eine erstaunliche politische Leistung dar. Man braucht dabei nur auf die Massenarmut
hinzuweisen, von der trotz seit der 1991 wachsenden technisch-wirtschaftliochen
Erfolge immer noch bis zu 80 Prozent der Einwohner betroffen sind. Jährlich
begehen über 10000 Bauern aus Verzweiflung und wegen Überschuldung Selbstmord.
Jeder kann sich selbst die Frage beantworten, ob in Europa ein demokratisches
System mit derartig gravierenden Problemen hätte überleben können.
(Ebd., Oktober 2008, S. 52). Nun ist Indien mit seinen 18 anerkannten,
z.T. mit unterschiedlichen Alphabetsystemen geschriebenen Hauptsprachen, der geographischen
Größe und seiner Bevölkerungsmasse nur mit Europa zu vergleichen,
keinesfalls mit einem europäischen Einzelstaat. Katastrophale soziale Zustände
wie die in Indien würden in Europa mit Sicherheit eines beenden: den anscheinend
irreversiblen Weg hin zur EU in ihrem jetzigen Gewand. Vielmehr würde zur
Problemlösung nach dem nächstliegenden gegriffen: Ein Rück-Zerfall
in die Nationalstaaten wäre zu erwarten. (Ebd., Oktober 2008, S. 52).
Wie also ist die Fortexistenz der indischen Demokratie zu erklären,
die anders als die Bundesrepublik Deutschland - sieht man von der Notstandsverordnung
Indira Gandhis ab - ohne Verfassungsschutz und Parteiverbote auskommt?
.... Der von der indischen Bundesregierung in den 28 Bundesstaaten jeweils eingesetzte
Gouverneur steht formal an der Spitze des Landes, das normalerweise von dem vom
Landesparlament gewählten Ministerpräsidenten geführt wird. Der
Gouverneur kann jedoch im Notstandsfall, den man bei Bedarf gezielt herbeiführen
kann, durch die Bundesregierung mit der Ausübung der Regierungsbefugnisse
beauftragt werden. Das Zentralparlament kann jederzeit einen neuen Bundesstaat
schaffen oder die Landesgrenzen neu zuschneiden. Dieses Regierungssystem ist nur
zu verwirklichen, indem der Zentralstaat die Verfassungen der Länder vorgibt,
was wiederum nur durch Ausschluß von plebiszitären Elementen möglich
ist. Juristisch ist dies der Kern des Kaschmirproblems, für dessen Lösung
das Plebiszit der Bewohner über die Zugehörigkeit zu Indien oder Pakistan
vorgesehen ist. Ein derartiges Plebiszit könnte jedoch als Präzedens
angesehen werden und Signal für Abstimmungen über die Abspaltung weiterer
größerer Gebiete sein. (Ebd., Oktober 2008, S. 52).
Für diese Vermutung spricht die starke Zuwendung zu Regionalparteien:
Sie führt im Zentralparlament zu einer Vielzahl von Parteien, die neben die
ursprünglich beherrschende Kongreßpartei und die seit 1994 etablierte
hinduistische Bharatiya Janata Party (BJP) treten. Im Gegensatz zum bunten Bild
auf nationaler Ebene hat sich in den Ländern selbst jeweils ein Zweiparteiensystem
durchgesetzt - dem angelsächsischen Mehrheitswahlsystem entsprechend. Für
die mögliche Transformation dieser Regionalparteien in Unabhängigkeitsbewegungen
würde sprechen, daß sich einige der 28 Länder durch die Unabhängigkeit
unmittelbar einen wirtschaftlichen Vorteil ausrechnen können: Die fünf
reichsten Länder Indiens erwirtschaften 40 Prozent des Bruttosozialprodukts
und sind erheblichem zentralstaatlichen Umverteilungsdruck zugunsten der fünf
Länder ausgesetzt, auf die sich 50 Prozent der Massenarmut konzentriert.
(Ebd., Oktober 2008, S. 52).Neben der rein formalen Herrschaftsorganisation
muß es noch andere Gründe geben, die den Zusammenhalt Indiens als demokratisch
regiertes Vielvölkerregime gewährleisten. Diese lassen sich eindeutig
in der Religion, dem Hinduismus, und dem mit diesem verbundenen Kastensystem finden.
.... Der Hinduismus ist tendenziell ohnehin ein Konstrukt, das aus politischen
Gründen sich widersprechende religiöse Glaubensvorstellungen zusammenfaßt,
nämlich im Kern drei an sich unvereinbare Monotheismen. Zunehmend konnte
die ursprünglich mehr von außen kommende Zusammenfassung als »Hinduismus«
gesamtindisch zur politischen Selbstdefinition verwendet werden. (Ebd.,
Oktober 2008, S. 53).Dieser politische Ausgangspunkt erklärt
den Inklusivismus, der den Hinduismus gegenüber anderen Religionen kaum nach
dogmatischen Gesichtspunkten abgrenzen kann, sondern mehr durch eine religiöse
Praxis, wie eben durch Beachtung der Kastenregeln. Sollen jedoch Kasten nicht
mehr existieren - der Reformhinduismus gesteht zu, daß es sich hierbei um
eine Fehlentwicklung handle -, dann muß der Hinduismus, und zwar notwendigerweise
politisch, anders definiert werden. Dafür bietet sich dann etwa der Säkularismus
an, der auf der Vorstellung gründet, der Hinduismus schließe ohnehin
alle Religionen unter Einschluß von Atheismen ein und verschaffe damit als
gesamtindischer Nationalismus dem Säkularismus eine religöse Basis.
(Ebd., Oktober 2008, S. 53).Dieser Inklusivismus ist natürlich
nur scheinbar tolerant, weil er andere Religionen auf sein spezifisches Vorverständnis
reduziert: Jesus erscheint dann als Avatar einer Hindugottheit, darf aber nicht
in seiner christlichen Exklusivität als »eingeborener Sohn« verstanden
werden, weil dies »intolerant« wäre. Diese Art von Religiosität,
die doch über das hinausgeht, was normalerweise unter »Zivilreligion«
verstanden wird, war mit dem indischen »Säkularismus« stillschweigend
schon immer verbunden und hat sicherlich, auch und gerade weil sein Inklusivismus
Muslime und Christen in eine prekäre Lage zu bringen vermag, zum Überleben
der Indischen Union als demokratisch regierter Vielvölkerstaat wesentlich
beigetragen. Dem säkularen Staat wurde damit gesamtindisch eine religiöse
Ideologie verschafft, die aber Indien zur bislang erfolgreichen Integration der
eigenen Moslems gegenüber dem islamischen Pakistan immer noch als säkular
erscheinen läßt. (Ebd., Oktober 2008, S. 53).Die
Indische Union erlaubt instruktive Folgerungen auf die Voraussetzungen des Gelingens
eines demokratischen Vielvölkerstaates »Europa«: Neben Relativierung
des Demokratieprinzips auf nationaler Ebene, etwa Plebiszitverbot, wären
Parallelgesellschaften als Ersatz für ein Kastensystem zu fördern, die
einen z.B. in Saarbrücken wandernden Europäer türkischer Abstammung
kreieren, zu dessen Gunsten europademokratisch interveniert wird. Der »Europäer«
fühlt sich als säkular, indem er unter »Abrahamismus« drei
sich widersprechende Monotheismen religionspolitisch zusammenschweißt und
dabei zu eindeutige religiöse Glaubensbekundungen als »intolerant«
ächtet. Die sozialstaatliche Finanzierung des Ganzen auf kontinentaler Ebene
führt dann Massenarmut nach indischem Muster herbei. Trotz voller Anerkennung
für die politische Leistung der Indischen Union: Müssen dies die Europäer
wirklich nachahmen? (Ebd., Oktober 2008, S. 53). |