Die im Zuge
von »'68« hochgejubelte These Fritz Fischers steht wackeliger da denn
je. Erinnert sei nur an das Buch Der falsche Krieg von Niall Ferguson,
der England als die kriegstreibende Macht herausstellt, und eben die Wilhelme-Biographie
von Clark. (Ebd., Dezember 2008, S. 33).Clark hält ...
die Augen offen: »In der Literatur über diese Periode - und im allgemeinen,
heutigen Bewußtsein - ist die verblüffende Tendenz zu beobachten, die
Angelegenheit aus englischer Sicht zu betrachten, implizit die Vorstellung zu
akzeptieren, daß die britische, koloniale Ausdehnung und die britischen
Auffassungen vom Recht der Briten eine natürliche Ordnung bildeten,
in deren Licht die deutschen Proteste (hier ist die Krüger-Depesche gemeint)
offensichtlich mutwillige Provokationen waren.« (Christopher Clark,
Wilhelm II. - Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, 2008). »Dieser
nüchterne Blick auf die Dinge kann dann auch erkennen, daß Wilhelm
II. am Ausbruch des Ersten Weltkriegs unschuldig ist, er ihn bis zum Schluß
nicht gewollt hat (**).
(Ebd., Dezember 2008, S. 33).Wenn Wilhelm 1892 in das Goldene Buch
der Stadt München schrieb: »Der Wille des Königs sei das höchste
Gesetz«, meinte er nicht sich selbst, wie gern geglaubt wird, sondern er
spielt auf die Situation in Bayern an, wo nach der Entmündigung Ludwig II.
die Monarchie akut gefährdet war. (Ebd., Dezember 2008, S. 33).
Insgesamt handelt es sich bei Straubs Buch (Kaiser Wilhelm II. in der
Politik seiner Zeit - Die Erfindung des Reiches aus dem Geist der Moderne)
um einen polemischen Essay, der nicht die Spur eines Schattens auf die Persönlichkeit
des Kaisers fallen läßt. Offenbar möchte der Autor mit einem mäglichst
brachialen Angriff in den antiwilhelminischen Konsens einbrechen, in der Hoffnung,
am Ende der Auseinandersetzung eine Korrektur herbeigeführt zu haben. Straub
sieht in den 26 Jahren vom Regierungsantritt Wilhelms bis zum Beginn des 1. Weltkriegs
sogar »als die großartigste Epoche, die Deutschland in seiner jüngeren
Geschichte erlebt hat.« In Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, auch in
der Kunst gab es einen nie gekannten Aufschwung. Hinzu kommt, daß diese
Ära sicher die Zeit der größten persönlichen Freiheit war,
die es je gegeben hat. Das haben vor Straub schon andere festgestellt, etwa Golo
Mann und Karl Jaspers, aber es ist in Vergessenheit geraten. Straub stellt den
großen Anteil heraus, den Wilhelm II. an dieser Blüte hatte.«
(Ebd., Dezember 2008, S. 33). In Straubs Eloge wird noch etwas
deutlich: Es handelte sich beim Wilhelminismus um ein eminent modernes
Phänomen. Der Kaiser war kein Autokrat, aber eben auch kein Frühstückspräsident.
Er war so etwas wie eine überparteiliche Instanz, die - als preußischer
König von Gott als Kaiser wohl lediglich historisch legitimiert - den gesellschaftlichen
Ausgleich herbeiführen wollte und oft auch konnte. Das System hatte die Vorzüge,
die man heute an Präsidialdemokratien oder konstitutionellen Monarchien beobachten
kann: Es hatte ein Zentrum, an dem der Parteienstreit ruhte (selbst die Sozialdemokraten
machten da selten eine Ausnahme). Deutschland war ein junger Nationalstaat mit
einem Demokraten auf dem Thron (Straub): Ohne den Reichstag konnte
er nichts, gegen das Volk wollte er nichts unternehmen. Was seine Minister und
Berater betrifft, war das Verhältnis von Fall zu Fall sehr verschieden. Der
Kaiser hatte sicher so etwas wie eine Richtlinienkompetenz, doch die
Richtlinie stand nicht fest und war von den Leuten abhängig, die Zugang
zum Machthaber (Carl Schmitt) hatten - aber das war in England nicht anders.«
(Ebd., Dezember 2008, S. 33). |