Im August 2004 sprach Peter Scholl-Latour
mit dem nordkoreanischen Vorsteher der Abteilung 12, Herrn Ham Son
Hun. Gewiß würden USA und China - für Ham Son Hun die beiden
Weltmächte westlich und östlich des Pazifik - langfristig auf
eine schicksalhafte Kraftprobe zusteuern, doch zur Zeit seien sie noch aufeinander
angewiesen. Die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Peking und Washington sei
stärker als der unvermeidliche Antagonismus. Die finanzielle Symbiose wirke
sich bis auf weiteres als strategische Lähmung aus. Ob die atomare Aufrüstung
Nordkoreas nicht zwangsläufig das Kaiserreich Japan dazu bringe, sich seinerseits
mit nuklearen Waffen auszustatten, habe ich immer wieder gefragt. Stets erhielt
ich die gleiche Erwiderung. Die japanischen Interkontinentalraketen seien längst
im Weltall erprobt, und die Wissenschaftler im Land der Aufgehenden Sonne hätten
Dank ihrer Spitzenposition in der High Technology alle Entwicklungen der Kernenergie
erforscht. Sie seien mit sämtlichen Facetten der Uran- und Plutonium-Anreicherung
vertraut und hätten de facto die Schwelle zur Atomrüstung bereits überschritten.
»Wenn die Japaner wollen, werden sie morgen schon über ein nukleares
Arsenal verfügen«, wird mir in Pjöngjang mehrfach versichert.
Ähnlich hatten sich ja auch die chinesischen Diplomaten geäußert,
die ich zu diesem Thema in Peking befragte. (Peter Scholl-Latour, Koloß
auf tönernen Füßen, 2005, S. 101).
Nuklearer Angriff käme einem kollektiven Selbstmord gleich, so der nordkoreanische
Abgeordnete Ri Jong Hyok im Gespräch mit Peter Scholl-Latour. Die wirkliche
Gefahr der Zukunft sei bei jenen fanatischen oder kriminellen Banden zu suchen,
die auch ohne den Besitz eines ausgereiften Atomsprengsatzes radioaktives Abfallmaterial,
die »schmutzige Bombe«, erworben hätten und damit jedes beliebige
Land durch Verseuchung von U-Bahnschächten, Wasserversorgung oder Industrieanlagen
terrorisieren und erpressen könnten. Ri Jon Hyok betont das Interesse Nordkoreas
an einer Zusammenarbeit mit Europa, insbesondere mit Deutschland. (Peter
Scholl-Latour, Koloß auf tönernen Füßen, 2005, S.
102).
Zum Unterschied zwischen Nordkorea und Südkorea
meint Peter Scholl-Latour: Heute ist in Nordkorea offenbar der Punkt erreicht,
wo niemand mehr in der Lage ist, einen einzigen Traktor oder ein Fahrrad, geschweige
denn ein Lastwagen für den Zivilbedarf herzustellen. ... Wie sensationell
hebt sich von dieser Tragödie der Demokratischen Volksrepublik der
Höhenflug der südlichen Landeshälfte ab. Nach Abschluß des
Waffenstillstandes von Panmunjom am 27. Juli 1953 stand die Republik von Seoul
gegenüner Pjöngjang sehr unvorteilhaft da. Sie versackte in politischer
Zerissenheit, ökonomischer Inkompetenz und unbeschreiblicher Korruption.
Um aus diesem verrotteten Staatswesen des pro(us-)amerikanischen
Präsidenten Syngman Rhee einen ostasiatischen »Tiger« zumachen,
um Südkorea auf Platz zwölf der größten Wirtschaftsmächte,
auf Platz sechs der Erdölverbraucher zu befördern und eine moderne,
rentable Stahlproduktion anzukurbeln ... (bis auf Platz
5), hat es nicht der freien Marktwirtschaft, des weltoffenen Wettbewerbs
bedurft. Dieser Riesenerfolg war auch nicht der Unterwerfung unter die Anweisungen
des Internationalen Währungsfonds zu verdanken oder den monopolkapitalistischen
Manipulationen, die man heute als »Globalisierung« schönredet.
Die eiserne Faust eines resoluten Militärdiktators hat das Wunder vollbracht.
General Park Chung Hee hat den Wirtschaftsboom Südkoreas in Gang gesetzt,
indem er in einer ersten Phase des eifersüchtigen Protektionismus gewaltige
Konzerne aus dem Boden stampfte, die mit der Disziplin von Kasernen funktionierten.
An deren Spitze delegierte er hohe Offiziere, die ihm für Effizienz und Produktionswachstum
persönlich verantwortlich waren. Der Vietnamkrieg, der Südkorea als
Lieferant der US Army aufwertete, hat ebenfalls zu diesem phänomenalen Aufschwung
beigetragen. Eines bleibt dabei festzuhalten: Nicht Parteienvielfalt, westliche
Demokratie und strikte Respektierung der Menschenrechte haben Südkorea zum
wirtschaftlichen Höhenflug verholfen, sondern die konfuzianisch fundierte
Strenge eines soldatischen Patriarchen. (Peter Scholl-Latour, Koloß
auf tönernen Füßen, 2005, S. 113-114).
Ein
gelehrter Mann erbaut die Stadt, eine gelehrte Frau zerstört sie
(Chinesisches Sprichwort). |