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Georg Simmel
(1858-1918)
Lebensphilosophie PragmatismusPragmatismusals lebensphilosophische Wahrheitstheorie

NACH OBEN Georg Simmel vertrat zunächst einen physikalistischen Atomismus, der hinter den komplexen Erscheinungen der natürlichen Wahrnehmung die sie konstituierenden Elemente rekonstruieren wollte: Erkenntnis ist ein biologicher Anpassungsprozeß des Menschen an seine Umwelt. Nach Studium Kants (Kant) und des südwestdeutschen Neukantianismus (Neu-Kantianismus) deutete Simmel die darwinistische Wissenstheorie aprioristisch um. Erkenntnis war jetzt die schöpferische Leistung des erkennenden Subjekts, das mit Hilfe selbstgeschaffener, auf seinen Lebenskreis bezogener Kategorien ein diesem entsprechendes, relativ berechtigtes Wirklichkeitsbild aus dem Konglomerat der Empfindungen formt. Simmel machte das Spektrum der abstrakt-generellen sozialen Formen (z.B. Über-/Unterordnung, Konkurrenz, Arbeitsteilung, Parteiung, Repräsentation u.s.w.), in denen konkret-individuelle Bedürfnisse unabhängig von Historizität und Spezifität realisiert werden, zum Untersuchungsgegenstand seiner formalen Soziologie. Er vertrat eine pragmatistische Wahrheitstheorie schon vor William James (1842-1910James), bestimmte das Erkennen als „freischwebenden Prozeß“, übertrug die Aprioritätslehre Kants auf die Historik und analysierte das Phänomen der historischen Zeit. Simmel sah wie Bergson (1859-1941Bergson) in der Wirklichkeit der Wissenschaft ein Zweckgebilde des Vorstellens, das seelisches Erleben adäquat ausdrücken kann. Die nicht mehr zur Vollendung gelangte funktionale Metaphysik der Diaktik von Leben und Form lehrt die Gleichrangigkeit aller Kulturgebiete mit je übersubjektiven Eigen-Logiken. Ursprünglich für eine rein deskriptive Moralwissenschaft eintretend, entwickelte Simmel später, und zwar in Anlehnung an Goethe (1749-1832Goethe), Schleiermacher (1768-1834Schleiermacher) und die Romantik (Romantik), eine normative Ethik des „individuellen Gesetzes“: die tiefste sittliche Forderung ist nicht auf das einzelne Tun, sondern auf das Gesamtsein der Menschen gerichtet. Simmel kann man ansehen als den eigentlichen Begründer der formalen Soziologie, d. h. der Wissenschaft „von den Formen der Vergesellschaftung, von den Beziehungsformen der Menschen zueinander“. Werke

Simmel und sein Pragmatismus

Pragmatismus (Pragmatismus) - als Begriff in die Philosophie eingeführt von Charles Sanders Peirce (1839-1914Peirce), obwohl sich schon bei Arthur Schopenhauer (1788-1860Schopenhauer), Karl Marx (1818-1883Karl Marx), Friedrich Nietzsche (1844-1900), Hans Vaihinger (1852-1933) pragmatische Gedanken finden lassen - bedeutet eine Einstellung, die im Handeln des Menschen sein Wesen ausgedrückt findet und Wert und Unwert auch des Denkens danach bemißt, ob es ein Handeln ist bzw. dem Handeln der Praxis des Lebens dient. Der Pragmatismus als Philosophie des Erfolgs ist nach John Dewey (1859-1952Dewey) ein Instrumentalismus (Instrumentalismus), weil für Pragmatisten das Denken das Instrument des Handelns ist. Die pragmatistische Wahrheitstheorie des Deutschen Georg Simmel ist älter als die des US-Amerikaners William James (1842-1910James), der den Wahrheitsbegriff so verstehen wollte: „Als annehmbare Wahrheit gilt dem Pragmatismus einzig und allein das, was uns am besten führt, was für jeden Teil des Lebens am besten paßt, was sich mit der Gesamtheit der Erfahrungen am besten vereinigen läßt.“ Als eine Abart des Pragmatismus ist der Humanismus dem englischen Pragmatisten Ferdinand C. S. Schiller (1864-1937Schiller) zufolge eine erkenntnistheoretische Lehre, die besagen will, daß all unser Erkennen in seinen Motiven wie in seinem Umfang und seinen Zwecken immer nur menschlich ist, nicht über das Menschliche hinaus kann, durch menschliche Bedürfnisse erzeugt und bedingt ist. Bei Max Scheler (1874-1928) und Martin Heidegger (1889-1976) finden sich ebenfalls pragmatische Ideen, und für den zu der Zeit aufkommenden Nationalsozialismus erfüllte der Pragmatismus, gekappt um seine intersubjektiv-sozialen Züge, alsbald die Funktion einer aktivistischen Ideologie. Hugo Dingler (1881-1954Dingler) gründete in seinem Buch Ergreifung des Wirklichen Erkenntnis auf Praxis. (Sicher waren für ihn nur Willensaussagen und Handlungsanweisungen). Arnold Gehlen (1904-1976) verband in seiner Anthropologie, die den Menschen als handelndes Wesen herausstellte, den Pragmatismus mit einer autoritären Theorie der Institutionen. Im Sinne des französischen Existentialismus - das heißt also: nach Jean-Paul Sartre (1905-1980Sartre) - ist Humanismus ein Pragmatismus, wonach die ethischen Werte und die Güterwerte nur im Rahmen des menschlichen Tuns und Lassens existieren, nicht unabhängig davon oder absolut. (Vgl. Jean-Paul Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus ?, 1946Sartre).

In Simmel sieht Sloterdijk (*1947) den „philosophischsten unter den deutschen Gründern der Soziologie“, der „sich nicht umsonst als der Anreger einer nicht-totalistischen Analyse sozialer Einheiten in die Annalen der Sozialwissenschaften eingetragen hat.“ (Sloterdijk). Bei Simmel findet Sloterdijk (vgl. seine „Annäherung an die Raum-Vielheiten, die bedauerlicherweise Gesellschaften genannt werden“ Sloterdijk) nämlich einen „nützlichen Anfangshinweis auf den Weg“, der in seinem Sphären-Werk (3. Band: Schäume - Plurale Sphärologie Sloterdijk) „beschritten werden soll“. Auf Simmel „geht die Initiative zurück, die kantische Wie-ist-möglich-Frage von Erkenntnisgegenständen in der Natur auf die »Gesellschaften« zu übertragen und damit eine Reflexion auf die interne kognitive Verfaßtheit von Menschen-Ensembles anzustoßen. (Simmel). Simmel unterscheidet unsystematisch drei quasi »apriorisch wirkende Bedingungen oder Formen der Vergesellschaftung« (Simmel), von denen er die erste als Schematisierung bestimmt, nach der die Mitglieder einer Gruppe sich zunächst gegenseitig nur ihren Rollen oder ihrem Status gemäß auffassen können; die zweite erkennt er in der partiellen Nicht-Sozialität der vergesellschafteten Wesen, die dritte in der Einberufung der Einzelnen in den »Stellenplan« der »Gesellschaft« als einem Integral von Berufstätigkeiten, »als ob jedes Element für seine Stelle in diesem Ganzen vorherbestimmt wäre« (Simmel). Die für uns interessanteste Reserve gegen den überspannten Holismus wird in dem Satz ausgesprochen, der festhält, daß jedes Element einer Gruppe nicht nur Gesellschaftsteil, sondern außerdem noch etwas ist« (Simmel). In prinzipieller Tonart: »Das Apriori des empirischen sozialen Lebens ist, daß das Leben nicht ganz sozial ist ...« (Simmel). Der Grund hierfür wäre dem Autor zufolge in dem Umstand zu suchen, daß die Gesellschaften Gebilde aus Wesen sind, die zugleich inner- halb und außerhalb ihrer stehen« (Simmel). Für den individualistischen Soziologen scheint ausgemacht, daß die Basiseinheit dieser zusammengesetzten Gebilde nur das Individuum beziehungsweise die Einzelseele sein kann, von welcher ihm zufolge gilt, »daß sie in keine Ordnung eingestellt ist, ohne sich zugleich ihr gegenüber zu finden« (Simmel). Simmels Akzent auf der lebensphilosophisch gefärbten Unterscheidung von In-Sein und Gegenüber-Stehen nimmt Luhmanns anfangs verblüffend klingende, wohltuend anti-totalitäre und anti-konsensualistische Grundlehre vorweg, nach welcher die realen Individuen nicht Teile des sozialen Systems sind, sondern in dessen Welt gehören. (Luhmann). Mit noch besserem Recht läßt sich in Simmels Reserve gegen die totale Erfassung des Einzelnen durch die Soziologie eine deutsche Parallelaktion zu Gabriel Tardes monadologischer Kehre in den Wissenschaften von den Konglomerationen erkennen.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 294-296).

„Wir können an Simmels Hinweis auf die partielle Außer-Sozialität der individuellen Komponenten von »Gesellschaften« unter drei kritischen Voraussetzungen anknüpfen: Zuerst wäre die individualistische Metaphysik der Simmelschen Vergesellschaftungslehre zurückzuweisen und durch eine radikalere Theorie des Zusammenseins und der Assoziation zu ersetzen, wie sie etwa Simmels Zeitgenosse Gabriel Tarde in seinem von der Mehrheit zünftiger Soziologen nie rezipierten Aufsatz über Monadologie und Soziologie von 1893 entworfen hat. Es handelt sich bei diesem philosophischsten Text des philosophischsten Soziologen französischer Schule ... um einen ingeniösen neo-leibnizianischen (Leibniz) Versuch, den Assoziationsgedanken so weit zu generalisieren, daß alle empirischen Gegenstände als Zustände des Zusammenseins von etwas mit etwas beschrieben werden können: »toute chose est une société«, jedes Ding ist eine Gesellschaft (Tarde). Tarde insistiert auf dieser Umkehrung des klassischen Holismus: Die Wahrheit sei vielmehr, daß seit den Entdeckungen der Zelltheorie die Organismen zu Gesellschaften eigenen Typs geworden sind, gleichsam zu »lykurgischen oder rousseauistischen Gemeinwesen, exklusiv und wild, oder eher noch zu religiösen Kongregationen von wundersamer Hartnäckigkeit, der nur die majestätische und unwandelbare Seltsamkeit ihrer Glaubenspraktiken gleichkommt, eine Unwandelbarkeit im übrigen, die nichts beweist gegen die individuelle Vielfalt und die Erfindungskraft ihrer Mitglieder« (Tarde). Hieraus ließe sich der Schluß ziehen, daß das von Simmel angedeutete Etwas-anderes-als-Gesellschaft-Sein der Einzelnen keineswegs als das intime letzte Für-sich-Sein eines atomaren Person-Punkts verstanden werden darf, wie die Subjektmetaphysik suggeriert. Wenn menschliche Individuen an einer außergesellschaftlichen Dimension teilhaben, dann, aus der Sicht von Tarde, weil sie selber Resultate von präpersonalen Assoziationen, von Zellengesellschaften und Teilchengesellschaften sind, die eigengesetzlichen Modalitäten des Zusammengesetztseins unterstehen. Um Menschen aus der »Gesellschaft« von ihresgleichen partiell herauszudrehen, ist es also nicht nötig, ihre Selbstheit einsamkeits-metaphysisch zu überhöhen. Sie sind auf der interpersonalen Ebene aspektweise desozial und asozial (oder um Tardes Ausdrücke zu verwenden, präsozial oder subsozial), weil sie auf anderen Ebenen und auf andere Weise sozial, vielheitlich und zusammengesetzt sind. ... Wollen wir mit Simmels Hinweis weiterarbeiten, daß »Gesellschaften« aus Wesen zusammengesetzt sind, die zugleich innerhalb und außerhalb ihrer Assoziationen stehen, müssen wir ihn mit zwei zusätzlichen Korrekturen versehen. Zwar hilft die monadologische Wende auf der Linie Tardes bereits, den individualistischen Schein aufzulösen, in dem sich Mitglieder »bürgerlicher Gesellschaften« spiegeln, so daß von jetzt an die »Gesellschaften« als Zusammensetzungen aus Zusammensetzungen zu untersuchen sind. Sie muß unseres Erachtens weitergeführt werden bis zu einer dyadologischen Wende, nach der das Prinzip der spezifisch menschlichen surrealen Raumbildungen bei der Beschreibung des sozialen Zusammenhangs hervortritt. ... Schließlich bleibt Simmels Bemerkung, daß die konstitutiven Elemente sozialer Gruppen nicht nur Gesellschaftsteile sind, sondern immer außerdem noch etwas, in raumtheoretischer und ortslogischer Sicht näher zu bestimmen. Durch die Konzepte »Blase« und »autogener Behälter« wird es möglich, den Sinn dieses Außerdem raumkritisch zu lesen. Wenn Menschen in »Gesellschaft« koexistieren können, dann nur deswegen, weil sie andernorts bereits zusammengefügt und aufeinander bezogen sind. »Gesellschaften« sind Vielheiten aus Eigenräumlichkeiten, an denen die Menschen nur kraft ihrer immer schon mitgebrachten psychotopischen Differenz teilzunehmen fähig sind. Man muß also, um auf menschentypische Weise »in Gesellschaft« zu sein, ein psychisches Zusammenseinkönnen bereits mitbringen. Ohne ein vorheriges psychotopisches Tuning wären die Versammelten nicht versammelbar - oder ihre Assoziationen wären nie etwas anderes als Autistenkongresse, den Gruppen frierender Igel vergleichbar, als welche Schopenhauer (Schopenhauer) die »bürgerliche Gesellschaft« charakterisiert hat.“ ( Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 296-298, S. 301, S. 304-305).

„In Wirklichkeit werden die Einzelnen in dem Maß gesellschaftsfähig, wie sie durch eine Art von psychosozialer Luftschleuse instand gesetzt werden, aus dem dyadischen Primitivraum in den polyvalenten Raum der frühen wie der entwickelten »sozialen« Kontakte, in die angereicherten Schäume oder Netze, schließlich sogar in die Bindungen der Unverbindlichkeit (Sander) überzuwechseln. Ihre »Gesellschaftsfähigkeit« ist jedoch, wie Simmel in einer sphärologischen Betrachtung ante litteram bemerkt hat, ebensosehr dadurch mitbedingt, daß Personen sich in den Grenzen des »Macht- und Rechtmaßes der eigenen Sphäre« halten, in dem Bewußtsein, »daß sich Macht und Recht eben in die andere Sphäre nicht hinein erstrecken« (Simmel). Der Personalismus liefert die philosophische Form, in der die selbstkontrollierten Einzelnen sich gegenseitig Harmlosigkeitsgarantien bieten. Natürlich spricht Simmel hier mit der Stimme des Kantianers (Kantianer), der seinem Meister in der Annahme folgt, Sinn einer bürgerlichen Rechtsordnung sei es, die Koexistenz von je in sich selbst zentrierten Willkürkreisen zu gewährleisten (Kantianer).“ ( Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 306-307).

„Als Mikrokontinente sind die Inseln Weltbeispiele, auf denen eine Auswahl von weltbildenden Einheiten versammelt ist: eine eigene Flora, eine eigene Fauna, eine eigene Menschenpopulation, ein autochtones Ensemble von Sitten und Rezepten. Die Rahmenwirkung des Meeres bestätigt durch ein externes Beispiel Georg Simmels Theorie der Grenze in dessen Soziologie des Raums, 1903, in der es heißt:
»Der Rahmen, die in sich zurücklaufende Grenze eines Gebildes, hat für die soziale Gruppe sehr ähnliche Bedeutung wie für ein Kunstwerk. ...: (es) gegen die umgebende Welt ab- und in sich zusammenzuschließen; der Rahmen verkündet, daß sich innerhalb seiner eine nur eigenen Normen untertänige Welt befindet ...« (Simmel).
Die Isolation ist es also, welche die Insel zu dem macht, was sie ist. Was der Rahmen für das Bild tut, indem er es aus dem Weltkontext ausschließt, und was für Völker und Gruppen die befestigten Grenzen bewirken, das leistet der Isolator, das Meer, für die Insel. Wenn Inseln Weltmodelle sind, dann eben, weil sie vom übrigen Weltzusammenhang hinreichend getrennt sind, um ein Experiment über die Aufstellung einer Totalität im beschränkten Format beherbergen zu können. Wie Heidegger ()zufolge das Kunstwerk eine Welt aufstellt, so grenzt das Meer eine Welt aus.“ ( Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 311-312).

„So wie Georg Simmel um 1900 in Kantschen Ausdrücken (KantKantianer) nach den formalen und kognitiven Bedingungen der Möglichkeit des Zusammenseins von Menschen in Gesellschaften fragte, so suchten vom frühen 19. Jahrhundert an die Gewächshausarchitekten nach den praktischen Bedingungen der Möglichkeit der Einbürgerung von tropischen Pflanzen unter mitteleuropäischen Milieuverhältnissen.“ ( Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 341).

Rüdiger Safranski meint: „Die Wertphilosophie war eine Obsession des Neukantianismus. Vertieft in die Geheimnisse des Geltens, hatten diese akademischen Philosophen übersehen, was vor allem gilt: das Geld. So war es denn ein Außenseiter, Georg Simmel, der am Anfang des Jahrhunderts das geniale Meisterstück der ganzen Wertphilosophie vorlegte: die »Philosophie des Geldes«. Simmel beschreibt den Übergang vom Raub zum Tausch als das entscheidende Ereignis der Zivilisation schlechthin. Deshalb nennt er den zivilisierten Menschen »das tauschende Tier«. (Georg Simmel, Philosophie des Geldes, 1900, S. 385 Werke). Der Tausch absorbiert die Gewalt und das Geld universalisiert den Tausch. Das Geld, ursprünglich ein materielles Ding, wird zum Realsymbol aller Güter, für die es in den Tausch gegeben werden kann. Gibt es erst einmal das Geld, dann wird alles, womit es in Berührung kommt, verhext: Es läßt sich nun nach seinem Wert taxieren, ob das nun eine Perlenkette, eine Grabrede oder der wechselseitige Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge ist. Das Geld ist die real existierende Transzendentalkategorie der Vergesellschaftung. Die Äquivalenzbeziehungen, die das Geld stiftet, verbürgen den inneren Zusammenhang der modernen Gesellschaft. Das Geld ist jenes Zaubermittel, das die Welt insgesamt in ein ›Gut‹ verwandelt, das nach seinem Wert taxiert und darum auch verwertet werden kann. Wie aber wird etwas zum Geld?  Die einfache, aber in ihren Konsequenzen unabsehbare Antwort: indem es zu etwas wird, das gilt. Dieses Etwas, das gilt, läßt sich dann dafür einsetzen, jemand anderem, von dem man etwas will, dieses Begehrte zu entgelten. Das Austauschmaß ist jeweils genau berechenbar, doch dunkel bleibt, wo dieses Maß eigentlich entspringt. Die einen sagen: in der Arbeit; die anderen: auf dem Markt; wieder andere: im Begehren; noch einmal andere: in der Knappheit. Auf jeden Fall aber haftet das Gelten des Geldes nicht an seiner materiellen Natur, eher noch ist es gesellschaftlicher Geist, der zur materiellen Gewalt geworden ist. Die Zirkulationsmacht des Geldes hat den Geist überflügelt, dem man einst nachsagte, er wehe, wo er will ... Simmels Geist aber dringt, wie eben auch das Geld, in jeden noch so verborgenen Winkel des gesellschaftlichen Lebens. Simmel kann alles mit allem verbinden. Wenn das Geld für solche disparaten Dinge wie eine Bibel und eine Flasche Branntwein einen gemeinsamen Wertausdruck schafft, dann entdeckt Simmel darin eine Verbindung zum Gottesbegriff des Nikolaus von Kues, für den Gott die »coincidentia oppositorum«, den Einheitspunkt aller Gegensätze bedeutete. »Indem das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller Werte wird, erhebt es sich in abstrakter Höhe über die ganze weite Mannigfaltigkeit der Objekte, es wird zum Zentrum, in dem die entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsamesfinden und sich berühren; damit gewährt tatsächlich auch das Geld jene Erhebung über das Einzelne, jenes Zutrauen in seine Allmacht wie in die eines höchsten Prinzips.« (Georg Simmel, Philosophie des Geldes, 1900, S. 305 Werke). Die Analyse der Macht des Geltens kommt auch im Falle des Geldes - wie das Beispiel Simmel zeigt - offenbar nicht ohne Rückgriff auf den metaphysischen Begriffsbestand aus. In der metaphysikfeindlichen Epoche... war also die Sphäre des Geltens, und sei es die des Geldes, ein Asyl für die metaphysischen Reste.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 53-54).

„Einst war dem Leben ein höchstes Ziel und höchster Wert vorgegeben. Damit ist es in der Moderne vorbei. Der komplizierte und unüberschaubare Mechanismus der Gesellschaft ist zu einem Universum der Mittel geworden, das auf kein Sinnzentrum mehr bezogen ist. Das moderne Bewußtsein bleibt,an den Mitteln hängen« (Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, 1907, S. 42Werke), es ist in den langen Handlungsketten, die an keinen Endzweck gebunden sind, verstrickt. Es hat die erhabene Unendlichkeit verloren, und dafür die schlechte Unendlichkeit eines Wesens gewonnen, das wie ein Hamster im Rade läuft. Es erwächst ihm daraus »die angstvolle Frage nach dem Sinn und Zweck des Ganzen« (ebd.). Schopenhauer hatte auf diese Situation geantwortet, indem er den sinnlosen Umtrieb als metaphysische Eigenschaft des Willens interpretierte. (Schopenhauer). Nietzsche seinerseits hat, so Simmel, Schopenhauers Metaphysik des Willens mit dem Entwicklungsgedanken und der Idee der Steigerung verbunden. (). Doch ebenso wie Schopenhauer hat auch Nietzsche die Vorstellung eines Endzweckes und Entwicklungszieles zurückgewiesen. Deshalb muß er versuchen, eine offene, nicht teleologische Steigerung zu denken, eine selbstbezügliche Steigerungsdynamik: das Leben ist sich selbst der Zweck, doch so, daß es darauf angelegt ist, die ihm innewohnenden Möglichkeiten zu erkunden und herauszubringen. Der zum Bewußtsein erwachte Mensch ist der privilegierte Ort solcher Selbsterkundung des Lebens. Im Menschen hat das Leben ein besonders gewagtes Experiment mit sich angestellt. Was sich daraus ergibt, ist dem Drama der menschlichen Freiheit überantwortet. Im Menschen vollzieht sich, wie Ernst Bloch später sagen wird, ein »experimentum mundi«. So erhaben, so bezaubernd und bezaubert, beschwingt und verheißungsvoll intonierte die Philosophie vor 1914, von Nietzsche her und mit ihm, das Thema »Leben«. Bei Kriegsbeginn 1914 hatte dieser philosophische Vitalismus große Konjunktur. Ein bellizistischer Nietzscheanismus meldete sich zu Wort. ... Man knüpfte an Nietzsches Heraklit-Deutung an, wenn man den Krieg zum großen Scheidekünstler erklärte: er trennt das Echte vom Unechten, er offenbart die wahre Substanz. Für die erregten Akademiker war der Krieg das Examen rigorosum eines Volkes, das beweisen muß, ob es noch überwältigendes Leben in sich hat. Der Krieg ist also die Stunde der Wahrheit: »Das Bild des ganzen, großen, umfänglichen Menschen, von dem der Friede nur eine kleine graumelierte mittlere Zone stehen läßt (…), dies Bild steht jetzt plastisch vor uns. Der Krieg erst ermißt den Umfang, die Spannweite der menschlichen Natur; der Mensch wird sich seiner ganzen Größe, seiner ganzen Kleinheit bewußt« (Max Scheler, Der Genius des Krieges, 1915, S. 136). Welche geistige Substanz bringt der Krieg zum Vorschein?  Die einen sagen: es ist ein Sieg des Idealismus. Lange Zeit war er vom Materialismus und dem Nützlichkeitsdenken erstickt, jetzt bricht er hervor und die Menschen sind wieder bereit, sich für immaterielle Werte zu opfern, für Volk, Vaterland, Ehre. ... Andere, und das sind die lebensphilosophischen Nietzscheaner, sehen im Krieg die Freisetzung lebendiger Kräfte, die in der langen Friedensperiode (über 43 Jahre!) zu erstarren drohten. Sie feiern die Naturgewalt des Krieges; endlich, so sagen sie, findet Kultur wieder Berührung mit dem Elementaren. Der Krieg, schreibt Otto von Gierke, ist »als der gewaltigste aller Kulturzerstörer zugleich der mächtigste aller Kulturbringer.« (Das erinnert doch sehr an HeraklitHeraklit). Zu Kriegsbeginn war Nietzsche bereits so populär, daß der »Zarathustra«, zusammen mit Goethes »Faust« und dem »Neuen Testament«, als Sonderdruck für die Frontsoldaten in einer Auflage von 150 000 Exemplaren herauskam. So konnte in England, den USA und Frankreich die Vorstellung aufkommen, daß Nietzsche eine kriegstreibende Macht gewesen sei. Kennzeichnend für die damalige Stimmung in England war ein Brief des großen Romanciers Thomas Hardy (Hardy), der schrieb: »Ich meine, seit Beginn der Geschichte gibt es kein Beispiel dafür, daß je sich ein Land durch einen einzelnen Autor so der Moral entfremdet hat« (Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, S. 132). Ein Londoner Verleger sprach damals gar von einem »Euro-Nietzschean War« (ebd., S. 130). Nietzsches Verleger in Amerika wurde festgenommen unter der Beschuldigung, ein Kriegsagent des »deutschen Monsters Nietzky« (ebd., S. 133) zu sein. Kein Zweifel, es finden sich bei Nietzsche zahlreiche Passagen, in denen die kriegerische Tüchtigkeit gepriesen wird. Es genügt, an eine berühmte, damals häufig zitierte Stelle aus der »Götzen-Dämmerung« zu erinnern: »Der freigewordne Mensch, um wie viel mehr der freigewordne Geist, tritt mit Füssen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen. Der freie Mensch ist Krieger.« (Nietzsche). ... Wer im Kampf eine nihilistische Ekstase suchte oder imaginierte, fand in Nietzsches »Zarathustra« Wegweisung: »Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige?  Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt«. (Nietzsche). Ernst Jünger (Ernst Jünger) und Oswald Spengler (Oswald Spengler) waren solche nihilistischen Eksatiker, die sich Nietzsche verbunden fühlten, wenn er seinen Zarathustra sagen läßt: »Muth nämlich ist der beste Todtschläger; - Muth, welcher angreift: denn in jedem Angriffe ist klingendes Spiel«. (Nietzsche). Daß man Zarathustra aber auch anders verstehen konnte, zeigt Hermann Hesses 1919 erscheinene Schrift »Zarathustras Wiederkehr«. (Hesse). Hesse erinnert an den empörenden Mißbrauch, der mit Nietzsche, insbesondere mit seinem »Zarathustra« getrieben, worden sei.“ (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 341-345).

Zur Geschichte des Chrematismus (Chrematismus) und zur Bedeutung der immer dominanter werdenden Abstraktion des Geldwesens: Als die Philosophie sich im Zuge der großen Transformation den Zusammenhängen von Bewußtsein und Sein und ihren Wechselwirkungen zuwandte - namentlich v.a.: Hegel () und Marx (Karl Marx) -, da scheint ihr etwas vom Chrematismus schon gar nicht mehr aufgefallen zu sein, so die Behauptung von Jürgen Borchert (Borchert): „Ausschließlich die formellen Gesellschaftsprozesse waren Gegenstand des philosophischen und sonstigen wissenschaftlichen Interesses. Und so wie die gesellschaftliche Arbeitsteilung seitdem aus den vormals nur wenigen Dutzend Berufen bis heute 44000 unterschiedliche Tätigkeiten von »Aalbrutzüchter« bis »Zytotechnologische Lehrassistentin« mit jeweils eigenen Arbeitswelten und Begriffszusammenhängen hat entstehen lassen, entwickelten sich auch wissenschaftlich immer neue Spezialgebiete. Für die gesellschaftlichen Prozesse wurde dabei die Abstraktion des Geldwesens immer dominanter, dessen durchschlagende (Wechsel- )Wirkungen auf Sein und Bewußtsein als erster wohl Georg Simmel klar erkannt und dabei zentrale Begriffe der modemen Gesellschaftswissenschaften geprägt hat (Individualismus-Debatte, Entfremdungsproblematik, Fremdheit und Rolle der Geschlechter). Die wachsende Verselbstständigung wichtiger Teilbereiche der Gesellschaft (z. B. der Wirtschaft, des Rechts und der Politik), welche im 20. Jahrhundert eine vorher nicht da gewesene Komplexität und Unüberschaubarkeit erzeugte, beschrieb er schon im Jahr 1900 in seinem Hauptwerk »Philosophie des Geldes« (Werke). Daß das Zusammengehörige auseinander gerissen und in isolierte Tatsachenkomplexe aufgelöst wird, präzisierte sein Schüler Georg Lukacs schließlich 23 Jahre später als generelles Charakteristikum des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs, der infolgedessen die Phänomene der Gesellschaft und zugleich ihre Begrifflichkeit als isolierte Tatsachen und eigengesetzliche Teilgebiete behandele. Wie willkürlich und abrupt die Grenzen der jeweiligen Disziplinen schon infolge der chrematistischen Blindheit gezogen wurden, beschreibt dabei das Schumpeter-Theorem von 1907: »Die Menschen sterben, neue werden geboren, und so kann man in der Tat, ohne sich besonders Gewalt anzutun, die stets vorhandene Arbeitskraft ähnlich behandeln wie das Land. Wohl muß im Gegensatz zu letzterem eine Reproduktion erfolgen, aber dieselbe fällt aus dem Rahmen ökonomischer Betrachtung heraus«. (Schumpeter). Von hier bis zu J. M. Keynes, demzufolge die »kennzeichnenden Eigenschaften des Geldes vor allem darin liegen, daß es eine scharfsinnige Einrichtung ist, um die Gegenwart mit der Zukunft zu verbinden« (Schumpeter), war es dann nur noch ein kurzes Stück. Kinder als Zukunftsträger wurden immer unsichtbarer. Die Sparkassenwerbung der 1980er Jahre machte sich in einem Faltblatt ihren Reim darauf: »Geld ist wie ein Baby, man muß es anlegen, damit es wächst!«“  (Jürgen Borchert, Wie Juristen Flüsse bergauf fließen lassen - Zur Semantik in der Sozial- und Familienpolitik und ihre Folgen für das Recht, in: Herwig Birg, Auswirkungen der demographischen Alterung und der Bevölkerungsschrumpfung auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, 2005, S. 41-43Borchert).

Georg Simmel, der seit 1901 Professor in Berlin und seit 1914 Professor in Straßburg war, kam also letztlich zu der Erkenntnis, daß Erkenntnis die schöpferische Leistung des erkennenden Subjekts insoweit ist, als das Subjekt mit Hilfe selbstgeschaffener, auf seinen Lebenskreis bezogener Kategorien ein diesem (Lebenskreis) entsprechendes, relativ berechtigtes Wirklichkeitsbild aus dem Konglomerat der Empfindungen formt. (Vgl. oben). Georg Simmel starb am 26. September 1918 in Straßburg, das zu dieser Zeit noch zu Deutschland gehörte.

 

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Anmerkungen:


Vgl. Immanuel Kant (1724-1804Kant), Kritik der reinen Vernunft, 1781 Kant

Vgl. Immanuel Kant (1724-1804Kant), Die Metaphysik der Sitten, 1797, S. 336f. Kant

Friedrich Nietzsche (1844-1900Nietzsche), Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55.

Friedrich Nietzsche (1844-1900Nietzsche), Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 195.

Friedrich Nietzsche (1844-1900Nietzsche), Götzen-Dämmerung, 1889, S. 85-86.

Hans Vaihinger (1852-1933) wurde zunächst als Kantforscher (Kommentar zu Kants Kritik der reinen VernunftKant) bekannt; er ist auch der Begründer der Kant-Studien (1897Kant-Studien) und der Kant-Gesellschaft (1904Kant-Gesellschaft). Sein Hauptwerk: Die Philosophie des Als-Ob (1911) stellt alle Werte und Ideale als bloße Fiktionen dar; um Schwierigkeiten des Denkens zu überwinden und das Denkziel zu erreichen, werden Fiktionen, d.h. Annahmen gemacht, die der Wirklichkeit widersprechen oder sogar in sich selbst widerspruchsvoll sind, jedoch dem Denken und somit dem Leben dienen. Moralphilosophisch schließt sich Vaihinger an die Ethik von Schiller (1759-1805Schiller) an, besonders an seinen Begriff des ethischen Ideals.

Georg Simmel (1858-1918), Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 27-45. Simmel

Georg Simmel (1858-1918), Ibid., S. 280. Simmel

Georg Simmel (1858-1918), Ibid., S. 283. Simmel

Georg Simmel (1858-1918), Ibid., S. 285. Simmel

Georg Simmel (1858-1918), Ibid., S. 290 (Simmel). „Dieses Als-Ob (von Simmel selbst hervorgehoben) sorgt dafür, daß der Autor nicht wirklich auf den sozialholistischen Standpunkt regrediert, auch wenn er gelegentlich auf das Sprachspiel zurückgreift, daß der Einzelne als Berufstätiger gerade kraft seiner »Besonderheit zu einem notwendigen Glied in dem Leben des Ganzen wird. ..« A. a. 0., S. 293.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 295 Sloterdijk). Simmel

Instrumentalismus als Anschauung bedeutet, daß Intelligenz und Intellekt (die logischen, ethischen u.s.w. Formen) genau so Mittel (Instrumente) der Anpassung an wechselnde Bedingungen seien, wie es Glieder und Zähne sind. Der Instrumentalismus ist insbesondere der Pragmatismus (Pragmatismus) der us-amerikanischen Philosophie. John Dewey (1859-1952Dewey) gab dem Pragmatismus eine typisch us-amerikanische Prägung, indem er ihn mit Materialismus und Behaviorismus verband. Wirkliche Erkenntnis ist demnach nur mit naturwissenschaftlichen Methoden zu erreichen. Transzendentes hat keine Realität. Nach Dewey gibt es nichts, was Dauer hat. Der Mensch, so Dewey, fange erst an zu denken, wenn er Schwierigkeiten materieller Art zu überwinden habe. Die Idee werde von der Erfahrung geschaffen und sei ihre Funktion, ihr Instrument. Nach dem Instrumentalismus ist eine Idee wertvoll, wenn sie Nutzen bringt. Für Pragmatisten (Instrumentalisten) ist Denken das Instrument des Handelns. Deweys Philosophie kann auch heute noch als die in Nordamerika, das dem technisch-wissenschaftlichen „Fortschritt“ immer noch volles Vertrauen entgegenbringt, allgemeingültige bezeichnet werden. Pragmatismus

Arnold Gehlen (1904-1976) betrachtete den Menschen als „das biologische Sonderproblem“ (Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940, S. 9ff.), untersuchte „die morphologische Sonderstellung des Menschen“ (ebd., S. 86ff.) natürlich auch an der „Wahrnehmung, Bewegung, Sprache“ (ebd., S. 86ff.) und im Bezug auf „Antriebsgesetze, Charakter, Geistproblem“ (ebd., S. 327ff.). Er nennt im Kapitel „Tier und Umwelt Herder (1744-1803Herder) als Vorgänger“ (ebd., S. 73ff.) und sagt über Schopenhauer (1788-1860Schopenhauer), den Begründer der abendländischen Lebensphilosophie (Lebensphilosophie): „In der oben erwähnten Abhandlug »Die Resultate Schopenhauers«  (Gehlen) habe ich gesagt, daß Schopenhauer das allgemeine Schema der modernen Harmoniebetrachtung von tierischer Organisation und Umwelt zuerst entworfen hat. Dies geschieht in dem Kapitel »Vergleichende Anatomie« der Schrift »Über den Willen in der Natur« (1835Schopenhauer). Darin zeigt er die vollkommenene Harmonie des Willens, des Charakters - also Trieb- und Instinktsystems - einer jeden Tierart, seiner organischen Spezialisierung und seiner Lebensumstände, indem er von der »augenfälligen, bis ins Einzelne herab sich erstreckenden Angemessenheit jedes Tieres zu seiner Lebensart, zu den äußeren Mitteln seiner Erhaltung« spricht, wie »jeder Teil des Tieres sowohl jedem anderen als einer Lebensweise auf das genaueste entspricht, z.B. die Klauen jedesmal geschickt sind, den Raub zu ergreifen, den die Zähne zu zerfleischen und zu zerbrechen taugen und den der Darmkanal zu verdauen vermag, und die Bewegungsglieder geschickt sind, dahin zu tragen, wo jener Raub sich aufhält, und kein Organ je unbenutzt bleibt.« - ... - Uexküll (Uexküll) ... kam zu einer Ablehnung der naiven Vorstellung, die den Tieren unsere Welt als ihre eigene zuschreibt, während in Wirklichkeit jede Art ihre eigene artspezifische Umwelt hat, zu deren Bewältigung und Erfahrung sie ein System spezialisierter Organe besitzt. Kennen wir die Sinnesorgane eines Tieres, so können wir seine 'Umwelt' rekonstruieren.“ (Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940, S.73f.). Gehlen geht in seiner empirisch-philosophischen Anthropologie von der menschlichen Antriebsstruktur aus, und weil die Sonderstellung des Menschen für ihn auf morphologischen Primitivismen auf dem Fehlen sicherer Instinkte beruht, bedarf ein so entstehender Antriebsüberschuß der Lenkung. Also auch einer menschenspezifischen Häuslichkeit (Häuslichkeit) !

Peter Sloterdijk (*1947Sloterdijk), Sphären III - Schäume (Plurale Sphärologie), 2004.

Peter Sloterdijk (*1947Sloterdijk), Nicht Vertrag, nicht Gewächs - Annäherung an die Raum-Vielheiten, die bedauerlicherweise Gesellschaften genannt werden, in: Sphären III - Schäume (Plurale Sphärologie), 2004, S. 261-308. Zu „Vertragstheorien“ und „Organizismen“ heißt es hier: „Daß die beiden Schulen sich bis in die Gegenwart erhalten haben, miteinander, gegeneinander, ineinander verschränkt, ist als Indiz dafür zu lesen, wie suggestiv die primären Antworten auf die Fragen nach dem Grund des Zusammenseins gewesen waren. (Holismus-Modernisierungen) ... Man hat es bei der Vertragslehre wie beim Holismus mit Hyperbeln von ausgeprägter konstruktivistischer Rücksichtslosigkeit zu tun, die dadurch beeindrucken, daß sie der alltäglichen Erfahrung abschwören und sie durch Ausarbeitungen einer abstrakten Metapher ersetzen. Den größten Teil der modernen Soziologien, Politologien und Sozialphilosophien könnte man als eine Serie von Versuchen kennzeichnen, die Überspannungen des einen wie des anderen Ansatzes durch Kreuzungen zwischen ihnen auszugleichen, als ob es möglich wäre, zwei Fehler dadurch gutzumachen, daß man sie miteinander kombiniert. Der Kontraktualismus wie der Organizismus bleiben ihrem Gegenstand vor allem deshalb Wesentliches schuldig, weil sie sich dazu anbieten, den wahren Grund des Zusammenseins von Menschen mit Menschen und sonstigem auszusagen, ohne ein sinnvolles Wort über den Raum vorbringen zu können, in dem die Synthesis geschieht - mehr noch, in dem die Synthesis sich öffnet. Beide sind auf dem Raum-Auge, allgemeiner noch: auf dem Situations-Auge oder Kontext-Auge, blind. ... Der Kontraktualismus lebt von Halluzinationen, die heute kontrafaktische Annahmen heißen ... (Sloterdijk) ... Was den politischen Organizismus angeht, so verfehlt er die ursprüngliche vielfältige Räumlichkeit des Zusammenseins von Menschen mit ihresgleichen und sonstigem von der entgegengesetzten Seite. Während die Vertragstheorie gefälschte und entfärbte Einzelne in einem imaginären Nexus sammelt, fügt das Organismusphantasma reale Einzelne in einem gefälschten, grotesk simplifizierneden »Ganzen« zusammen. Auch diese Explikation der sozialen Synthesis verzerrt die humanräumlichen, psychosphärischen, konspirativen und poemogenen Qualitäten des Zusammenseins, indem sie die Wohnverhältnisse, Aufgabenteilungen und Situationsdeutungen der Menschen einer gewalttätigen Überintegration unterwirft, als wären ihre Nachbarschaften und Verkehrsformen in Analogie zur Kooperation der Zellen und Organe in einem Tierkörper zu begreifen. ... Vertragstheoretiker interessieren sich erfahrungsgemäß für die demokratischen Formen zumeist nur in dem Maß, wie diese die Zustände garantieren, in denen Juristen, Korrektheits-Journalisten und Professoren für Moralphilosophie obenauf sind. Das Elend des Organizismus rührt daher, daß sein legitimes Plädoyer für Gerechtigkeit gegenüber den übergeordneten Interessen von Gemeinwesen meist schnell ins Ressentiment gegen den Eigensinn der zu »Teilen« erklärten kleineren Einheiten überspringt. Seine typische Tonart ist die einer entmachteten Aristokratie, die ihren Hunger nach Vortrefflichkeit in den Traum vom reinen Dienen rettet. Noble Holisten sind in der Regel gern bereit, dem Gemeinwesen als weise Gehirne oder nützliche Mägen zu dienen, indessen sie erwarten, daß auch die übrigen Organe sich auf ihre Plätze begeben. Will man die sinnvollen soziologischen Intuitionen des Holismus retten, muß man eine alternative Sicht auf die Assoziationen entfalten: Es gilt, das Beieinandersein, das Kommunizieren und das Kooperieren der vom Koexistenzstreß zusammengespannten Eigenraum-Vielheiten, die leider noch immer Gesellschaften genannt werden, aus deren eigenen Bedingungen herzuleiten, ohne dabei die anti-holistischen Krücken zu benutzen, an denen sich Individualisten und Kontraktualisten übers Gelände schwingen. Dies könnte zum Beispiel, wie es hier versucht wird, mit Hilfe einer Raum-Vielheitentheorie geschehen, die an das Rätsel der sozialen Synthesis mit einem situationistischen, pluralistischen, assoziationistischen, morphologischen und vor allem psycho-topologischen Arsenal von Beschreibungsmitteln herangeht. Dazu gehört der philosophische Entschluß, Einheit als Effekt zu denken - und damit jeden Begriff von »Gesellschaft« zu entzaubern, der diese ihren Elementen vorangehen läßt. (Einen anderen Weg, mit dem Ausdruck »sozial« in der Gesellschaftstheorie Schluß zu machen, schlägt die Akteur-Netzwerk-Theorie [ANT] vor, die nur noch von Assoziationen handeln will. Vgl. Bruno Latour, Gabriel Tarde und das Ende des Sozialen, in: Soziale Welt, 2001, S. 361- 376). Das hieße, ihr Muster nicht mehr in der ontologischen Einheit des individuierten Lebewesens (bis hinauf zum platonischen Kosmos-Tier) zu suchen, sondern in der polyperspektivischen Einheit der von mehreren Intelligenzen zugleich erlebten, jedoch stets verschieden symbolisierten gemeinsamen Situation. Situationen sind Konglomerate (in anderer Sicht: Netzwerke) aus Akteuren, die miteinander konfiguriert sind, ohne daß auch nur einer von ihnen dem sogenannten Ganzen zuliebe aus seiner Haut und seinem Gehirn fahren könnte.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 286, S. 287, S. 288, S. 291-292, S. 292-294 Sloterdijk).

„Auch die Modernisierungen des kritischen Holismus, die das Prinzip des sozialen Zusammenhangs durch den Kapitalprozeß mit seinem Tauschnexus oder durch Ausdifferenzierung von Subsystemen innerhalb der Weltgesellschaft deuten, brauchen uns im Augenblick nicht zu beschäftigen. Interessant ist jetzt vielmehr, daß beide quasi von Anfang an von einem Unbehagen begleitet wurden, mehr noch, von einer Art Ungläubigkeit gegenüber dem unwahrscheinlichen Zug, der sowohl der kontraktualistischen als auch der holistischen Auskunft anhaftete. Diese Skepsis hat wiederum bei Platon (Platon) erste Spuren hinterlassen: Wie um seine beiden Begründungen der Gemeinschaft zu dementieren, hat er, Gebrauch machend von einer Freiheit des Denkens vor aller Orthodoxie, die Umrisse zu einer dritten Theorie der sozialen Synthesis skizziert: jene unerbittlich realistische, quasi funktionalistische Doktrin von der noblen Lüge, mittels derer, den Empfehlungen der Politéia zufolge, die Verwandtschaftsgefühle der Bürger beschworen werden sollten, um über die Empörung der Benachteiligten angesichts der Klassenspaltung hinwegzuhelfen. Demnach läge das Prinzip des Zusammenseins von Menschen mit ihresgleichen in einer gemeinsamen Mystifikation oder, um anachronistisch zu reden, in einem künstlich erzeugten Verblendungszusammenhang, der die Lügner wie die Belogenen vorgeblich zu ihrem eigenen Heil umgreift. (Politeia, III. Buch, 414b-415cd. Die Aktualität des Arguments erweist sich an dem starken Einfluß des politischen Platonikers Leo Strauss auf die US-amerikanischen Neokonservativen, die sich mit ihrem Meister zur Notwendigkeit eines demokratischen Illusionsmanagements durch illusionslose Eliten bekennen Neokonservative der USA). Man hat es bei der Vertragslehre wie beim Holismus mit Hyperbeln von ausgeprägter konstruktivistischer Rücksichtslosigkeit zu tun, die dadurch beeindrucken, daß sie der alltäglichen Erfahrung abschwören und sie durch Ausarbeitungen einer abstrakten Metapher ersetzen. Den größten Teil der modernen Soziologien, Politologien und Sozialphilosophien könnte man als eine Serie von Versuchen kennzeichnen, die Überspannungen des einen wie des anderen Ansatzes durch Kreuzungen zwischen ihnen auszugleichen, als ob es möglich wäre, zwei Fehler dadurch gutzumachen, daß man sie miteinander kombiniert.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 286-287 Sloterdijk).

So manche Vertragstheorie ist z.B. als „Utopie einer gewissen Theorie des kommunkiativen Handelns kongenial, die für die Sprechenden, wie sie außerhalb idealisierter Sprechsituationen reden, ebenfalls keine Verwendung hat. Diese Theorie beschreibt die Kommunikateure so, als seien ihre Reden die Folgen eines Sätzeaustauschabkommens, das sie, über ihr eigenes Geschwätz im Naturzustand verzweifelt, beim Übergang in den linguistischen Vertragszustand miteinander geschlossen hätten.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 290-291 Sloterdijk).

Peter Sloterdijk (*1947Sloterdijk), Sphären III - Schäume (Plurale Sphärologie),2004, S. 294.

Gabriel Tarde (1843-1904), Monadologie et sociologie, 1893, S. 58. „Mit dieser Redeweise antizipiert Tarde diejenige Whiteheads, der in Prozeß und Realität (Whitehead) »Gesellschaft« als einen sich selbst tragenden Nexus von »realen Entitäten« versteht; so kann z.B. von einer »Gesellschaft elektromagnetischer Ereignisse« die Rede sein.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III - Schäume, 2004, S. 296Sloterdijk). Vgl. Alfred North Whitehead, Prozeß und Realität, 1929, S. 176f. und 182.Whitehead

Gabriel Tarde (1843-1904), Monadologie et sociologie, 1893, S. 58, Übersetzung von Peter Sloterdijk (a.a.O., S. 296-297Sloterdijk).

Uwe Sander, Die Bindung der Unverbindlichkeit. Mediatisierte Kommunikation in modernen Gesellschaften, 1998.

Joseph Alois Schumpeter (1883-1950), Das Rentenprinzip in der Verteilungslehre, in: Aufsätze zur ökonomischen Theorie, postum, S. 213.

John Maynard Keynes (1883-1946), Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, 1936, S. 248.

Georg Simmel (1858-1918), Soziologie des Raums, 1903, S. 229. Simmel

Georg Simmel (1858-1918), Soziologie des Raums, 1903, S. 226. Simmel

Georg Simmel (1858-1918). Seine Werke
- „Über soziale Differenzierung“, 1890
- „Die Probleme der Geschichtsphilosophie“, 1892
- „Einleitung in die Moralwississenschaft“, 1892-1893
- „Philosophie des Geldes“, 1900
- „Soziologie des Raums“, 1903
- „Kant“ (Kant), 1904
- „Schopenhauer (Schopenhauer) und Nietzsche ()“, 1907
- „Soziologie“, 1908
- „Hauptprobleme der Philosophie“, 1910
- „Goethe“ (Goethe), 1913
- „Rembrandt“, 1916
- „Grundfragen der Soziologie“, 1917
- „Der Konflikt der modernen Kultur“, 1918

 

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