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Max Weber
(1864-1920)

Lebensphilosophie Kulturgeschichte, Herrschafts-, Religions-, Wirtschaftssoziologie, Idealtypus

NACH OBEN Max Weber, der Begründer der Religionssoziologie, betonte in seinem berühmt gewordenen Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904Max Weber) die Bedeutung des religiösen Rationalismus, d.h. der reformatorischen Weltauslegung, die das Diesseits entzauberte oder entsakralisierte und die mit dem Berufsgedanken das alltägliche Leben mit dem Jenseitsschicksal verband, für die Entstehung des modernen Betriebskapitalismus: im Berufserfolg und Gelderwerb bewährt sich der je eigene Gnadenstand.


‹—  Max Weber —›
1. Stadium („Winter“)2. Stadium („Frühling“)3. Stadium („Sommer“)4. Stadium („Herbst“)
Vor-/Urdenken: Webers
„Vor-/Urphilosophie“
Frühdenken: Webers
„Frühphilosophie“
Hochdenken: Webers
„Hochphilosophie“
Spätdenken: Webers
„Spätphilosophie“
(Dauer: 18 Jahre)(Dauer: 22 Jahre)(Dauer: 14 Jahre)(Dauer: 6 Jahre)
1864 bis 18821882 bis 19041904 bis 19181918 bis 1920
Geburt
(21.04.)
„DIE PROTESTANTISCHE ETHIK
UND DER GEIST DES KAPITALISMUS“
Tod  
(04.06.)
Übergang
    Schule / Studium
|Ende des
1. Weltkrieges
Frühe
Kindheit
Grund-
Schule
Gym-
nasium
1882
- 1886
1886
- 1893
1893
- 1904
1904
- 1909
1909
- 1914
1914
- 1918
1918
- 1919
1919
- 1920
1920
ErläuterungErläuterung

Zur Zeit seiner größten Schaffenskraft und auch noch danach galt Max Weber, laut Karl Jaspers „der größte Deutsche unseres Zeitalters“, als der „Diagnostiker der Moderne“. Weber suchte die Sozialwissenschaften zum Range strenger Wissenschaftlichkeit zu erheben, indem er ihre Methoden prüfte und sie als rein beschreibende auffaßte; er suchte scharf zu trennen: Erfahrungswissenschaft und wertende Beurteilung, einseitige partikulare Erekenntnis und Ergreifen des Totalen, empirische Wirklichkeit und Wesen des Seins. Entgegen der intuitiven Verstehens-Theorie Diltheys muß nach Weber die verstehende Soziologie, als „eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“, rational hauptsächlich nach Zweck und Mitteln fragen, weil allein dadurch das Verstehen eine besonders hohe Evidenz erreicht.

Als Hauptbegriff entwickelte Weber den des Idealtypus. Durch diesen Terminus wurde eine für die sozialwissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildung zentrale Konstruktionsmethode bezeichnet. Der Idealtypus wird „durch gedanklich einseitige Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen“, die dann „zu einem in sich widerspruchslosen Idealbilde zusammengefügt“ werden. „Der Idealtyp ist ein »Gedankenbild«, welches nicht die historischen Wirklichkeit oder gar die eigentliche Wirklichkeit ist, ... sondern die Bedeutung des eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchenm die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.“ (Max Weber). Die Bildung des Idealtypus ist ein heuristischer Schritt der Begriffs- und Theoriebildung, der deutlich von der überprüften Theorie zu unterscheiden ist. Wissenschaft und Philosophie

Der Puritanismus (Puritanismus) ging aus der Reformation, insbesondere aus dem Calvinismus hervor. Der Calvinismus, anfangs ein antischolastischer Humanismus, machte die Prädestination zu seinem Inhalt und Mittelpunkt. Diese Prädestination, die man auch Prädetermination nennt, meint die Vorbestimmung des Menschen schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschbaren Willen, und zwar entweder als Gnadenwahl zur Seligkeit ohne Verdienst oder als Prädamnation zur Verdammnis ohne Schuld. Sie wurde schon von Augustinus (354-430) gelehrt und nach ihm von Luther (1483-1546), Zwingli (1484-1531), Calvin (1509-1564) und dem Jansenismus (nach Cornelius Jansen, 1585-1638). Auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Calvinismus, besonders aber dem aus ihm entwickelten Puritanismus, und dem modernen Kapitalismus der abendländischen Kultur hat vor allem Max Weber hingewiesen. Die Puritaner (die „Reinen“) sind die Vertreter einer Reformbewegung, die besonders in England seit etwa 1570 die Reinigung der englischen Kirche von katholisierenden Elementen in Verfassung, Kultus und Lehre betrieben. Strenger Biblizismus, eine Gewissenstheologie und die konsequente Sonntagsheiligung beeinflußten das englische Geistesleben bis in die Gegenwart. Die Puritaner brachten eine ausgedehnte Erbauungs- und Predigtliteratur hervor. 1604 wurden sie durch die Ablehnung ihrer „Millenary Petition“ enttäuscht, wandten sich der politischen Opposition zu oder emigrierten in großer Zahl nach Nord-Amerika. Mit dem Sieg Oliver Cromwells (1599-1658) 1648 zur Herrschaft gelangt, beseitigten die Puritaner das „Common Prayer Book“ und das Bischofsamt, vertrieben anglikanische Pfarrer, entfernten die Orgeln aus den Kirchen u.a.. Nach der Restauration der Stuarts wurden die Puritaner ihrerseits rigoros aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt - bis zur Toleranzakte von 1689. Die englischen Puritaner waren und sind also Vertreter eines speziellen Puritanismus. Diesen „Insel-Puritanismus“ der Engländer kann man auch „Angelsachsen-Puritanismus“ (Spengler) nennen. Für den Puritaner ist das genaue Gegenteil der „Weltfreude“ charakteristisch. Die „Weltfremdheit“ gehört zu den wichtigsten Charakterzügen des Puritanismus.

Max Webers Beispiele „zeigen alle das eine: »der Geist der Arbeit«, des »Fortschritts« oder wie er sonst bezeichnet wird, dessen Weckung man dem Protestantismus zuzuschreiben neigt, darf nicht, wie es heute zu geschehen pflegt, als »Weltfreude« oder irgendwie sonst im »aufklärerischen« Sinn verstanden werden. Der alte Protestantismus der Luther, Calvin, Knox, Voët hatte mit dem, was man heute »Fortschritt« nennt, herzlich wenig zu schaffen. Zu ganzen Seiten des modernen Lebens, die heute der extremste Konfessionelle nicht mehr entbehren möchte, stand er direkt feindlich. Soll also überhaupt eine innere Verwandtschaft bestimmter Ausprägungen des altprotestantischen Geistes und moderner kapitalistischer Kultur gefunden werden, so müssen wir wohl oder übel versuchen, sie ... in seinen rein religiösen Zügen zu suchen.“ (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904, S. 37-38). Laut Weber ist im Abendland nämlich vor allem die Frömmigkeit (der Pietismus) das „rein religiöse“ Glied - als Berufung (BerufBeruf) - zwischen dem alten Protestantismus bzw. Puritanismus und dem modernen Kapitalismus: Abendländischer Kapitalismus ist laut Weber nämlich eigentümlich, hat ein eigentümliches Ethos. Allgemein ist Kapitalismus kein Charakteristikum einzelner (Historien-)Kulturen, sondern der Menschen-Kultur überhaupt (Kultur): „Aber eben jenes eigentümliche Ethos fehlte ihm .... In der Tat: jener eigentümliche, uns heute so geläufige und in Wahrheit doch so wenig selbstverständliche Gedanke der Berufspflicht: einer Verpflichtung, die der Einzelne empfinden soll und empfindet gegenüber dem Inhalt seiner »beruflichen« Tätigkeit, gleichviel, worin sie besteht, gleichviel insbesondere, ob sie dem unbefangenen Empfinden als reine Verwertung seiner Arbeitskraft oder gar nur seines Sachgüterbesitzes (als »Kapital«) erscheinen muß: - dieser Gedanke ist es, welcher der »Sozialethik« der kapitalistischen Kultur charakteristisch, ja in gewissem Sinne für sie von konstitutiver Bedeutung ist. - .... - Arbeit als Selbstzweck, als »Beruf«, wie sie der Kapitalismus fordert .... Die kapitalistische Wirtschaftsordnung braucht diese Hingabe an den »Beruf« des Geldverdienens: sie ist eine Art des Sichverhaltens zu den äußeren Gütern, welche jener Struktur so sehr ädaquat, so sehr mit den Bedingungen des Sieges im ökonomischen Daseinskampfe verknüpft ist ....“ (Max Weber, ebd., 1904, S. 43, 45, 53, 61). Innerweltliche Askese bedeutet bei Max Weber die Verwendung der durch Ablehnung der religiösen Askese frei gewordenen Energie in der Berufsarbeit, wie eben besonders gefordert und gefördert durch den Puritanismus. Puritanismus

Die Lebensphilosophie bildet übrigens den philosophischen Rahmen, in dem Max Weber wie sein Bruder Alfred (Alfred Weber) zu finden ist. Die Richtung ist kulturphilosophisch, kultursoziologisch, geschichtsphilosophisch, universalhistorisch, historisch, sozialökonomisch zu nennen. Der Kultur wird im Rahmen der geschichtlichen Welt eine Sonderstellung eingeräumt, der Mensch wird als geschichtliches Wesen, die gesellschaftlichen Phänomene werden als kulturelle Erscheinungen betrachtet, Wirtschaft und Gesellschaft werden in ihrer wechselseitigen Bedingtheit zu einem bedeutenden Thema, bilden eine Einheit, wobei der soziale Prozeß in seiner historischen Entfaltung und dessen Bewertung im Rahmen der geschichtlichen Betrachtung im MIttelpunkt des Interesses bleiben.

NACH OBEN Wie Norbert BolzBolz über Max Weber denkt

„Unter Soziologen ist seit Max Weber unstrittig, daß sich das spezifisch Moderne unserer Gesellschaft darin zeigt, daß die einzelnen »Wertsphären« (wie etwa Wirtschaft, Technik, Kunst; aber eben auch Religion! Anm. HB) »ausdifferenziert« sind, das heißt, daß sie autonom operieren und einer je eigenen Logik folgen. Das ist nicht für jedes System ein Glück. Ausdifferenzierung heißt nämlich für die Religion Säkularisierung. Säkularisierung bewirkt aber kein Erlöschen der Religion, sondern ihre Vervielfältigung. Man könnte hier von einer List der Unvernunft sprechen, die darin besteht, daß gerade die Säkularisierung theologische Gehalte im Profanen rettet. Deshalb müßte man, um die Religion zu neutralisieren, auch die Säkularisierung säkularisieren.“ (Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, 2002, S. 26).

„Max Webers berühmte These über den Geist des Kapitalismus besagt im Kern, daß eine asketische Form des Protestantismus eine alltagsbestimmende Lebensmethodik geschaffen habe, die das kapitalistische Wirtschaften nicht nur wie ein Korsett stütze, sondern zugleich auch mit Heilsprämien versehe. Kurz: Der Kapitalismus ist religiös bedingt. (Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, 2002, S. 63).


Manneswürde

„Ein Sozialphilosoph könnte definieren: Männlichkeit ist die soziale Negation der antisozialen Negation. Ein Mann verweigert also die Auswege des Eskapismus und des Infantilismus. »Face it!«  Diese Ultrakurzformel aller Männlichkeit markiert genau den Gegenpol zur Bergpredigt. »Widerstehe nicht dem Übel«, die Max Weber zu Recht als »Ethik der Würdelosigkeit« bezeichnet hat. Seine Antithese konnte vor neunzig Jahre noch »Manneswürde« heißen. (Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 1917, S. 28).“ (Norbert Bolz, Die Helden der Familie, 2006, S. 88).

„Was erwachsen sein bedeutet, hat man früher an Charakteren der Männlichkeit abgelesen. Aber schon bei Max Weber wird der Begriff der »Manneswürde« nur noch trotzig dem Zeitgeist entgegengeschleudert. Männlich heißt hier trostunbedürftig. Das geht auf eine Tradition zurück, in der Weisheit und Männlichkeit zusammengehörten - Philosophie war nicht erbaulich. Diese Tradition endet aber schon mit Nietzsche, der für die Männlichkeit ein letztes Asyl in der Redlichkeit fand.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 59-60).

„Jede Lebensführung setzt eine Führungsidee voraus. Und das markiert den polemischen Index dieses Begriffs - nämlich gegen den des bloßen Lebensstandards. Max Weber hat daran seine Forderung der Männlichkeit geknüpft: weder einen Ausweg aus der Welt noch sein Selbst zu suchen. Das gibt seiner Stilisierung der bürgerlichen Lebensführung durch die Begriffe Beruf und Pflicht ihr unnachahmliches Pathos. Für Weber war ja das Suchen nach Lebenssinn selbst der Grund für das Nichtfinden - so hat es später dann auch der Therapeut Paul Watzlawick gesehen.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 115).


Abendländische Kultur:
Glaube, Religion, Theologie, Philosophie/Wissenschaft

„Religion ist anti-ökonomisch, denn Heil und Verdammnis sind nicht knapp. Im Glauben gibt es weder Knappheit noch Konkurrenz; daran ändert übrigens auch der Prädestinationsglaube nichts. Daß, wie ja Jesus selbst sagt, nur wenige auserwählt sind, bedeutet nämlich nicht Knappheit des Heils, sondern nur den Ausschluß einer »Verkündigung für Jedermann« (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1920, S. 380). Religion ist anti-soziologisch, denn im Leben des Gläubigen gibt es kein »taking-the-role-of-the-other«. Religion ist anti-ethisch, denn das jüngste Gericht ist nicht gerecht; es wird nicht moralisch geurteilt. Vor allem aber: Religion ist anti-biologisch. Die Lebensführung des Gläubigen eröffnet eine Anti-Darwin-Welt, in der Mitleid die Herrschaft der Selektion bricht.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 12).

„»Wir guten Europäer« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Band V, S. 813) können die Frage nach der Weltgesellschaft nur als Frage nach der Eigenart des Westens stellen - das ist nicht nur unvermeidlich, sondern auch berechtigt. (Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1919, Band I, S. 1). Die Selbstbehauptung des christlichen Abendlandes kann nicht im Anspruch auf universale Gültigkeit, sondern nur in seiner Einzigartigkeit gelingen. Außerhalb des Westens erscheint der Universalismus nämlich als Imperialismus - und wir verstehen das! Gerade auch darin sind wir einzigartig: Nur der Westen ist selbstkritisch.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 13).

„Wir schließen ... an die ursprüngliche Fragestellung Max Webers an, der Kultur in ihrer Eigenart und Bedeutsamkeit für uns analysiert hat, d.h. im Bewußtsein der unbewußten Auslese durch Wertideen. Werte steuern die »unbewußt erfolgende Auswahl« (Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Band I, S. 1). Sie färben die graue Faktizität einer Lebenswirklichkeit zur Eigenart. Die Frage: Was ist »für uns« wichtig, wissenswert und bedeutsam? führt letztlich zu der einfachen Formel: Kultur = Wirklichkeit + Wertidee. Und für uns guten Europäer geht es konkret um 2000 Jahre Christentum als Leitkultur, die wir nicht äquivalent ersetzen können. Es geht um die objektive Religion, wie sie sich in den Traditionen und Institutionen der europäischen Kultur manifestiert.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 14).

„Der Begriff des »religiös Unmusikalischen« stammt von Max Weber. (»Ich bin zwar religiös unmusikalisch und habe weder Bedürfnis noch Fähigkeit, irgendwelche seelischen Bauwerke religiösen Caharakters in mir zu errichten. Aber ich bin nach genauer Selbstprüfung weder antireligiös noch irreligiös« [Max Weber, zitiert in: Marianne Weber, Max Weber, S. 339]). Er erhellt nicht nur sehr schön die Darstellungsperspektive seiner religionssoziologischen Aufsätze, sondern auch die der fast gleichzeitigen Freudschen Psychoanalyse. Für Weber wie für Freud geht es nicht nur um die wissenschaftliche Analyse, sondern auch ums Erwachsenwerden: die Erziehung zur Realität. Sie kennen zwar beide nicht den Gott der Liebe, wohl aber den Teufel und die Dämonen der Gewalt. Das Resultat dieser Erziehung zur Realität wäre Männlichkeit. Und das hieß für Max Weber konkret, nicht auf den Heiland zu warten, sondern den eigenen Dämon zu finden, in einer letzten Stellungnahme zum Leben (Wertidee!) das eigene Schicksal zu wählen.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 15).

„Höchstwerte sind ... keine Alternativen, sondern Todfeinde. Deshalb hat Max Weber, der dieses Problem am tiefsten durchdacht hat, von einer »Wertkollision« gesprochen. (Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 308). Es gibt hier keine Kompromisse und keinen Relativismus mehr. Eben diese Wertkollision meint auch Samuel Huntingtons berühmte Formel vom »clash of civilizations«; und davon sollte sich der deutsche Leser nicht durch die Frage ablenken lassen, ob »Kampf der Kulturen« eine angemessene Übersetzung sei.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 23-24).

„Wenn es heute überhaupt eine Gemeinsamkeit in den Lebensformen der westlichen Welt gibt, dann ist es der Konsumismus, also eine Welthaltung, die sich an der Logik des Marktes orientiert und der die kapitalistische Wirtschaftsform zur zweiten Natur geworden ist. (). Diese Welthaltung zeigt deutlich kultische, ja fetischistische Züge - und weckt damit das Interesse des Theologen. Könnte es sein, daß wir im Herzen des »Warencharakters« auf eine neue Religiosität treffen? Diese Frage hat sich der Marxist und Theologe Walter Benjamin schon in den 1930er Jahren gestellt und ein Forschungsprojekt skizziert, das in den letzten Jahren immer größere Aufmerksamkeit gefunden hat: »Kapitalismus als Religion«. Zu Recht denkt man hier zunächst an Karl Marx und seine Enthüllung des religiösen Geheimnisses der Ware, aber vor allem natürlich auch an Max Weber und dessen These von der Geburt des Kapitalismus aus dem Geist des Protestantismus. Doch Weber selbst hatte schon erkannt, welche Erkenntnisbarrieren sich hier auftürmen, weil jener Geist eben schon längst aus unserem Alltag entschwunden ist und nur noch seine Hüllen übrig geblieben sind. Der kapitalistische Geist entstand in einer Zeit, »in welcher das Jenseits alles war« (Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, 1919, S. 163) und eben das können wir nicht mehr nachfühlen. Um aber zu verstehen, wie sich der kapitalistische Geist zu der reinen Diesseitsreligion des Konsumismus depotenzieren konnte, brauchen wir doch eine einfache Hintergrundskizze jener Geburtsphase - »damals, als die Sorge für das ›Jenseits‹ den Menschen das Realste von allem war, was es gab.« (Max Weber, Soziologie, S. 395).“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 31).

„Max Webers These über den Geist des Kapitalismus besagt im Kern, daß eine asketische Form des Protestantismus eine alltagsbestimmende Lebensmethodik geschaffen hat. Diese Lebensmethodik stützt das kapitalistische Wirtschaften wie ein Korsett und versieht es zugleich auch mit Heilsprämien. Formelhaft gesagt: Der Kapitalismus ist religiös bedingt. Das war von Max Weber natürlich als Konkurrenzthese zu jener marxistischen Grundformel, nach der das gesellschaftliche Sein die Gestalten des Bewußtseins bestimme, gemeint.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 31).

„Diese Religionssoziologie des Kapitalismus entwirft das grandiose Bild vom innerweltlichen Asketen des Puritanismus, der sich die Lebenssorge kapitalistischen Wirtschaftens wie einen dünnen Mantel umwirft - aber dieser Mantel erstarrt zum Panzer, »zum stahlharten Gehäuse« (Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, 1919, S. 203). Die Askese baut die Welt um, und gerade durch ihren strahlenden Erfolg gewinnen die Güter eine ungeheure Macht über die Menschen. Seither funktioniert der Kapitalismus als perfekte Maschine - auch ohne Geist. Für die Menschen heißt das: Sie haben keinen Beruf mehr, sondern einen Job.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, S. 32).

„Der heute wieder laut werdende Ruf nach einer »Wirtschaftsethik« klingt vor diesem Hintergrund wie die verzweifelte Suche nach dem verlorenen Geist des Kapitalismus. Max Weber hat aber nicht nur das Schwinden des Geistes christlicher Askese diagnostiziert, sondern auch die Folgeerscheinungen benannt. Weil uns das religiöse Fundament des Kapitalismus entzogen ist, haben wir den reinen Agon des Sports, aber auch der Workaholics. Und deshalb kehren auch die alten Götter des Heidentums wieder - man ist grün und vergöttert die Natur; man gewinnt das Design des neuen Mikrochips in buddhistischer Meditation; man ist Holist und glaubt an die schöpferische Macht des Chaos. Der Aberglaube erweist sich hier als die Wahl der Eigenformel. Heute wird tatsächlich jeder nach seiner eigenen Fasson selig. Und deshalb leben wir in einem Polytheismus der Marken und Moden.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 32).

„Max Weber hatte in seiner Rede über den Beruf zur Wissenschaft über die religiöse Innenausstattung der modernen Seele gespottet, gerade Intellektuelle seien versucht, sich eine »spielerisch mit Heiligenbildchen aus aller Herrn Länder möblierte Hauskapelle« einzurichten. (Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 1917, S. 35). Entscheidend ist hier für unseren Zusammenhang, daß man auch religiös sein kann, ohne an etwas Bestimmtes zu glauben. Gerade für die Boutique-Religion gilt also Nietzsches Formel: »der religiöse Instinkt« wächst, aber er lehnt »die theistische Befriedigung« ab. (Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Band V, S. 73). Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die vielleicht »gottunfähig« (Alfred Delp), aber nicht irreligiös sind.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 35).

„Heilsversprechen verwandeln Unglück und Elend in revolutionäre Energie. Das Urmodell dafür ist wohl die theologische Denkfigur der Felix Culpa: Der Sündenfall im Paradies wird als Glücksfall für die Welt gedeutet. Jetzt kann Gott uns erlösen und wir können uns bewähren. Gerade indem eine Prophetie Strafgerichte ansagt, produziert sie eine »einheitliche sinnhafte Stellungnahme« zum Leben. Und so wird »Lebensführung qua Formung des Lebens in der Welt« möglich - Max Webers großes Thema. (Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, 1919, S. 262). Die jeder Prophetie implizite Gesinnungsethik bezieht das ganze Leben auf das Heilsziel, das nicht von dieser Welt sein darf.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 38).

„Als Max Weber den Gesinnungsethikern seiner Zeit eine Verantwortungsethik entgegenstellte, war dieser Begriff der Verantwortung ein Ausdruck des politischen Augenmaßes und einer gereiften Männlichkeit, die weiß, daß man mit jeder wertorientierten Lebensentscheidung in Teufels Küche gerät. Seither hat sich die Bedeutung des Begriffs Verantwortung geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Terroristen übernehmen weltöffentlich »Verantwortung« für ihre wahnsinnigen Mordtaten, und große Unternehmen blähen sich mit Konzepten wie »Corporate Responsibility« als Große Bürger der Weltgesellschaft auf. Dem entspricht auf der Ebene intellektueller Empfindsamkeit der Anspruch der »Gutmenschen«, von den Ereignissen der ganzen Welt »betroffen« zu sein.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 41).

„Die Öko-Religion hat durchaus ihre Priester, ihre Pilgerfahrten und ihren Heiligen Gral. Nur daß die jungen Glaubenshelden heute Ölplattformen besetzen und die Rainbow-Warrior gegen finstere Atommächte in See sticht. Greenpeace - das sind die Kreuzritter der heilen Welt. Sie stehen deutlicher als andere Nicht-Regierungs-Organisationen für eine neue Religiosität, die auf den Namen »Umweltbewußtsein« getauft ist. Umwelt heißt der erniedrigte Gott, dem die Sorge und die Heilserwartung gelten. Die Heilssorge unserer Zeit artikuliert sich als Sorge um das ökologische Gleichgewicht. Und das bedeutet im Klartext: Für die fundamentalistischen Grünen ist Natur selbst die Übernatur. So funktioniert das Umweltbewußtsein als Quelle einer neuen Religiosität. Dieses grüne Glaubenssystem ist natürlich viel stabiler als das rote, das es ablöst. Die Natur ersetzt das Proletariat - unterdrückt, beleidigt, ausgebeutet. Die Enttäuschung des linken Heilsversprechens hat apokalyptische Visionen provoziert, nämlich solche vom Untergang der Umwelt. Für eine funktionalistische Betrachtung liegt der Zusammenhang auf der Hand: Weil die Hoffnung auf Erlösung enttäuscht wurde, interessiert man sich wieder für Schöpfung - unter dem Namen Umwelt. Und dabei muß man nicht einmal auf den Rausch der Revolution verzichten. Denn man kann auch die Revolution als innerweltliche Askese verklären - in exakter Gegenführung zu Max Webers puritanischem Kapitalisten. Kämpfen »draußen« heißt dann nichts anderes als: der Weltablehnung in der Welt selbst Nachdruck zu verleihen.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 44-45).

„In der Grunddiagnose herrscht eine verblüffend große Einigkeit unter den Denkern. Der berühmte Buchtitel Francis Fukuyamas - Das Ende der Geschichte und der Letzte Mensch - faßt ja ganz einfach die Positionen Hegels und Nietzsches zusammen. Diese Welt hat dann Max Weber als »Gehäuse der Hörigkeit« definiert. »Verwaltete Welt« (Theodor W. Adorno), »technischer Staat« (Helmut Schelsky) und das »Gestell« (Martin Heidegger) sind nur verschiedene Namen für das Endprodukt eines spezifisch modernen Prozesses, den Arnold Gehlen auf den Begriff der »kulturellen Kristallisation« gebracht hat.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 54-55).

„Seit die Prädestinationslehre die Auserwählten von den Verdammten unterschied, hat wohl kaum eine Unterscheidung so stark skandalisiert wie die zwischen Freund und Feind. Daß sich in Saddam Hussein Hitler reinkarnierte und die Tyrannen der Jetztzeit eine »Achse des Bösen« bilden, klingt in aufgeklärten Ohren unerträglich obskurantistisch. Denn der Humanitarismus der Intellektuellen kennt prinzipiell keine Feinde. Hier verpuppt sich die Angst vor dem Feind in der Angst vor dem Begriff des Feindes. Aber Feindvergessenheit ist der Sieg des Teufels. Deshalb muß der Kampf gegen den Teufel mit der Bestimmung des Feindes beginnen. Der katholische Staatsrechtier Carl Schmitt hat genau in diesem Sinne vom »ganz konkret erscheinenden Teufel von heute« gesprochen. (Vgl. Carl Schmitt, Glosarium, 162). Man muß ihn je und je beim Namen nennen. Der schon von Max Weber beschworene Kampf der Wert-Götter verwandelt sich nämlich für den, der sich entschieden hat, in einen Kampf zwischen Gott und Teufel. Und dieser Kampf zwischen Gott und Teufel impliziert, daß es keine Wertalternativen gibt: im Jargon unserer Zeit: »commitment« ist nicht »choice«!“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. S. 65-66).

„Nicht erst für René Girard, sondern schon für Max Weber und Freud ist der Teufel die Gewalt. Er zeigt sich in der Aggression und ist vor allem in der Politik zu Hause. Politik ist Gewalt, also diabolisch. Die Frage ist nur, ob man ihr entkommen kann oder sich mit ihr arrangieren muß. Politik als Beruf ist Max Webers Antwort: das rationale und zugleich männliche Arrangement mit der alles gesellschaftliche Leben durchdringenden Gewalt. Und auch Freuds Antwort ist klar: die Anerkennung des Bösen im Menschen als Aggressionstrieb - wovon die politischen Kinder aber nichts hören wollen.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 66).

„Die Rache Gottes besteht darin, daß er die Aufklärer, die das Geheimnis der Religion entlarven wollen, mit Verständnislosigkeit schlägt. Die Dialektik der Aufklärung besteht heute darin, daß Aufklärung, die einmal Europa vom religiösen Fundamentalismus befreite, selbst fundamentalistisch geworden ist; man denke nur an Richard Dawkins und seinen Kreuzzug gegen die Religion. Wie vor zweitausend Jahren weckt die Offenbarung Glauben oder Wut. Während Kenneth Burke Gott noch als »Term« neutralisierte, naturalisiert Dawkins Gott zum »Mem«, also einer Art Gen des Geistes. Gott erscheint hier als kultureller Virus, der das Gehirn parasitiert, d.h. als ein sich selbst reproduzierendes Informationsmuster. Das ist der ironische Gottesbeweis der Gen- und Hirnforschung. Ihr Naturalismus entlastet von Freiheit und Schuld. In diesem Lichte betrachtet erscheinen nicht nur die islamistischen Terroristen als Opfer einer Gottesinfektion. Nun können sich alle Delinquenten wissenschaftlich dagegen wehren, für ihre Untaten zur Verantwortung gezogen zu werden. Und genau das dürfte der entscheidende Grund für die Popularität dieser Forschungen sein. Sie bieten in der Sprache modernster Wissenschaft ein funktionales Äquivalent zur religiösen Erlösung von der Schuld. Hier scheint sich wieder Max Webers Einschätzung zu bestätigen, Wissenschaft sei die spezifisch gottfremde Macht« (Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 1917, S. 322). Er hat ja die Aufklärung als unaufhaltsamen Prozeß des okzidentalen Rationalismus beschrieben und dafür die poetische Formel von der Entzauberung der Welt gefunden. Diese Formel bekommt ihr Profil erst im Gesamtkontext von Webers religionssoziologischen Analysen. Die okzidentale Entzauberung der Welt wird nämlich gemessen an der asiatischen Religion der Welt als »Zaubergarten« (Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band II, 1919-1920, S. 371). Am Ende des Modernisierungsprozesses, also der Entzauberung der Welt durch Wissenschaft, kommt es dann zur Konfrontation von Gott und Maschine.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 77).

„Max Weber hat sehr schön gezeigt, wie die wissenschaftliche Entzauberung der Welt zum bedeutungslosen Sein die Intellektuellen zur »Konzeption der ›Welt‹ als eines ›Sinn‹-Problems« provoziert hat. (Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1920, S. 308). So, nämlich in der Zurückweisung der Zumutung einer sinnwidrigen Welt, entsteht Metaphysik. Doch in jedem Menschen steckt offenbar ein Metaphysiker. Das Streben nach Sinn gehört konstitutiv zum Menschsein dazu. Das können Psychologen heute mit den »noncontingent reward experiments« sehr schön zeigen: Wer erst einmal Sinn in eine Unordnung hineinkonstruiert hat, ist kaum mehr bereit, seine Konstruktion aufzugeben.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 86-87).

„Die Entzauberung der Welt zum Inbegriff von sinnfremden Tatsachen läßt sich nicht widerrufen; das haben Max Weber und Ludwig Wittgenstein deutlich gesehen. Je wissenschaftlicher und technischer unsere Welt wird, desto unmöglicher ist es, sie als »sinnvoll« zu erfahren. Das war natürlich schon das zentrale Motiv der Romantik. So heißt es bei Novalis: »Der Sinn der Welt ist verloren gegangen. Wir sind beim Buchstaben stehn geblieben. Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung verloren. Formularwesen.« (Novalis [Friedrich von Hardenberg], Schriften, Band II, S. 594). Das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Denn die mathematische Formalisierung produziert Signifikanz - im Gegensatz zum Sinn. Insofern könnte man sagen, daß die Formel der Mathematik im größtmöglichen Gegensatz zum Sinn der Religion steht. Nichts ist der sinnhaften Erlebnisverarbeitung des Romantikers fremder als die maschinelle Datenverarbeitung des Mathematikers.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 87).

„Wer sich ... nicht mit den Setzungen einer philosophischen Anthropologie der Philosophie begnügen möchte, wird die Soziologie befragen, wie jene großen Ideen entstehen, die den Rahmen menschlicher Handlungsinteressen vorgeben. In der Einleitung zu seinem Aufsatz über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen hat Max Weber die Entstehung des »metaphysischen Bedürfnisses« als intellektuelle Reaktionsbildung auf die Erfahrung einer sinnlosen Welt beschrieben. (Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1919, Band I, S. 253). Als sinnlos wird die Welt erfahren, wenn objektive Ungewißheit auf Dauer gestellt ist und Wissenschaft nur noch Relativismen und Pluralismen anzubieten hat.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 89).

„Für den gläubigen Christen genügt es ..., in Gott die Transzendenz als Person zu erfahren. Und das hat einen faszinierenden dialektischen Umkehreffekt. Denn seither setzt Persönlichkeit einen Bezug auf Transzendenz voraus. Wie sehr sich unsere Idee der Persönlichkeit einer Lebensführung verdankt, die aus der jüdisch-christlichen Tradition herauswächst, hat Max Weber im Vergleich mit dem konfuzianischen Gentleman deutlich gemacht. Man kann die Lebensführung so rationalisieren, daß der Mensch in optimaler Weise seiner Umwelt angepaßt ist. Er hat dann zwar Haltung, aber kein Eigengewicht gegenüber der Welt. Persönlichkeit dagegen setzt Transzendenz voraus; ein »Hinausgreifen über die Welt« ( Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1919, Band I, S. 521).“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 97).

„Eine der berühmtesten Figuren aus Nietzsches Drama des abendländischen Nihilismus ist der tolle Mensch. Was er uns klar machen will, ist, daß das Wort »Gott ist tot« etwas ganz anderes meint als »nicht an Gott glauben«. Nur wenige haben das verstanden, aber immerhin die wichtigsten der Nietzscheaner: Max Weber und Sigmund Freud. Nietzsche, Weber und Freud verkünden eine Botschaft, die niemand hören will. Diese These klingt zunächst unverständlich, wenn man etwa an den weltweiten Publikumserfolg Nietzsches, die beherrschende Stellung Webers in der Soziologie, v.a. in der us-amerikanischen, und an die Allgegenwart psychoanalytischer Slogans denkt. Doch alle drei waren davon überzeugt, daß man den Menschen erst die Ohren zerschlagen müßte, damit sie jene Botschaft erreicht.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 103).

„Das ist die eine heroische Möglichkeit, sich in einer gottfernen Zeit zu behaupten, nämlich selbst einen neuen Gott zu schaffen, oder doch zumindest zu verkündigen - Nietzsche als neuer Prophet. Sein Schüler Max Weber hat die Bedingungen der zweiten Möglichkeit benannt, männlich in einer gottfernen Zeit leben - Politik als Beruf. Und die Weber-Formel für die dritte Möglichkeit, nämlich Wissenschaft als Beruf, paßt auf niemanden besser als auf Freud, den Begründer der Psychoanalyse, der sein ganzes Leben in den Dienst des Durcharbeitens zur historischen Wahrheit gestellt hat.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 104).

„Max Weber hat Nietzsches Forderung, aus dem Tod Gottes eine großartige Entsagung zu machen, ernst genommen. Das kann man seinen religionssoziologischen Untersuchungen genau so entnehmen wie den großen Reden über Wissenschaft und Politik als Beruf. Für den ernsten Menschen ist der Sinn des Lebens im Dienst an einer Sache zu finden, also im rational und methodisch ausgeübten Beruf, dessen asketische Bedeutung der Calvinismus so großartig herausgearbeitet hat. Die polemische Stoßrichtung des Lebensprogramms, das Heil der Seele im Beruf zu suchen, wird aus der Gegenstellung zur Kontemplation der Intellektuellen besonders deutlich.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 104).

„Max Weber übersetzt Luthers Zwei-Reiche-Lehre in die Antithese von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Obwohl es sich hier nicht um eine bündige Disjunktion handelt, sondern beide Ethiken sich in der konkreten Lebenswirklichkeit durchdringen können, arbeitet Weber doch ein großes Entweder / Oder heraus. Man muß zwischen einem Leben in religiöse Würde und Manneswürde unterscheiden. Und aus der Perspektive der Manneswürde muß das Leben in religiöser Würde geradezu als Würdelosigkeit erscheinen. Hier gibt es keine Kompromisse, und es ist eine unterhintergehbare Frage der eigenen letzten Stellungnahme, welche der Lebensformen als Gott wohlgefällig oder als des Teufels erscheint.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 104).

„Dem religiös Unmusikalischen ist die Lebensform der religiösen Würde unvollziehbar. Er läßt sich auf »diese Welt« und ihre durchschnittlichen Defekte ein. Max Weber verwandelt Nietzsches Pathos der Distanz in die politische Tugend des Augenmaßes, die allein »dem Ethos der Politik als ›Sache‹« entspricht. Mit der Wendung zum Beruf der Politik ist die religiöse Frage aber nicht erledigt, sondern stellt sich mit neuer Dringlichkeit. Denn die Sache der Politik ist zuletzt Glaubenssache.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 105).

„Doch dieser Glaubenssache der Politik kann man nicht durch ein Opfer des Intellekts entsprechen, sondern nur durch entschlossenes politisches Handeln, das unvermeidlich in Schuld verstrickt. Die Tragik des politischen Handeins fordert eine männliche und herbe Haltung, nämlich »Sachlichkeit und Ritterlichkeit« (Max Weber, Politik als Beruf, S. 53ff.). Diese stolzen Vokabeln machen deutlich, wie schwer die Aufgabe ist, den modernen Alltag auszuhalten. Und die Polarnacht, die Weber für Europa ankündigt, bestätigt noch einmal den tollen Menschen Nietzsches: »Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden?« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Band III, S. 481).“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 105).

„Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht, Max Webers Begriff von Politik als Dämonie der Gewalt und Freuds Enthüllung der triebhaften menschlichen Aggressivität sind drei Varianten derselben unerhörten Botschaft. Daß politische Aufgaben nur mit Gewalt zu lösen sind; daß Politik als Gewaltpragma unvereinbar mit dem Leben des Heiligen ist; daß Politik als Pakt mit dem Teufel begriffen werden muß, weil sie sich unweigerlich in Gewaltsamkeit verstrickt - all das wollen die politischen Kinder der modernen Gesellschaft nicht wahrhaben. Nicht Männlichkeit, sondern Kindlichkeit ist die Signatur unserer Zeit. Und die Kindlein hören es nicht gern, wenn man ihnen vom Bösen im Menschen erzählt. Man hat Ohren, um nicht zu hören. Und deshalb dringt durch die Schriften dieser großen Denker immer wieder der Verzweiflungsruf: Habt ihr mich verstanden?“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 105).

„Durchaus nicht! Und was Freud über Nietzsches Wahnsinn und Webers Resignation hinausträgt, ist allein die Tatsache, daß er dieses Nichthörenwollen selbst in seine Theorie integrieren konnte, nämlich als »Widerstand« in der und gegen die Psychoanalyse. Den toten Gott ins Register des Unbewußten einzutragen, war seine genialste Intuition. Gott ist tot, aber gerade dadurch mächtiger denn je, nämlich im Unbewußten. Die Religion verdankt ihre Macht dem Schicksal der Verdrängung. Wer Freuds Analysen ernst nimmt, kann Religion also nicht mehr einfach nur als Tradition begreifen, sondern muß sie als zwanghafte Erinnerung verstehen - als Wiederkehr des Verdrängten.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 105).

„Das zentrale Paradox des Glaubens besteht eben darin, daß das Ewige das Geschichtliche ist. Im Christ-Sein ist das Reich Gottes da. Das gibt ja auch der Gerichtsszene des Jesus vor Pilatus ihre Gewalt: Die Wahrheit bricht in die Realität ein und forden sie heraus. Doch von nun an bleibt die Wahrheit an das Opfer des Intellekts gebunden. Es geht um Pistis, nicht um Gnosis. Und man versteht das Evangelium durchaus richtig, wenn man es, wie Max Weber, als »Verkündigung eines Nichtintellektuellen nur an Nichtintellektuelle« liest. (Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1920, S. 379). Gott gibt den Glauben den Kindern, nicht den Intellektuellen; es geht nicht um das Wissen der Dogmen, sondern um Vertrauen in die Verheißung.“ (Ebd., S. 108).

„Nichtintellektuelle, Ungebildete, Kinder - das kann man leicht mißverstehen. Jesus sagt zwar: Liebe Gott wie ich ihn liebe, nämlich als sein Sohn. Doch dieses »Gotteskindschaftsbewußtsein« steigerte in der modernen Welt die Sentimentalität bis in pietistische Gefühlshöhen, deren »winselnder Tonfall ... kraftvolle Männer so oft aus der Kirche gescheucht hat.« (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1920, S. 345). Deshalb hat Max Weber die evangelische Kirche immer wieder daran erinnert, daß auch der Vater des Gottessohns kein zärtlicher moderner Papa ist, sondern, ganz kafkaesk, strenger Hausvater.“ (Ebd., S. 108-109).

„Der Begriff der christlichen Liebe mit ihrem Gebot der Feindesliebe und der Begriff des Politischen mit seiner Grundunterscheidung von Freund und Feind stehen sich unversöhnlich gegenüber. Daran ändern auch Carl Schmitts raffinierte Differenzierungsbemühungen nichts, die in die Unterscheidung von persönlichem und öffentlichem Feind, also inimicus und hostis, die Möglichkeit hineindeuten, die christliche Feindesliebe mit Realpolitik zu vereinbaren. Max Weber war hier konsequenter und hat der christlichen Liebe ohne Distanz das Nietzschesche Pathos der Distanz entgegengestellt.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 111).

„Am Thema der Feindesliebe kann man sich besonders gut vergegenwärtigen, wie schlüssig die Theoriebemühungen von Nietzsche, Freud und Weber ineinander greifen. So entwickelt der Soziologe Weber seinen Begriff der religiösen Rationalisierung aus dem Ressentimentbegriff des Philosophen Nietzsche («Geist der Rache«) und dem Sublimationsbegriff des Psychologen Freud. Feindesliebe ist demnach jene Sublimierung, die dem Feinde schrankenlos verzeiht, um ihn vor andern oder und vor allem vor sich selbst beschämen und verachten zu können. Man kann den Feind nur lieben und darauf verzichten, dem Übel mit Gewalt zu widerstehen, wenn man sicher sein kann, daß Gott dereinst vergelten wird. Es gibt also keine Kommunikation zwischen dem Gott der Liebe und dem Dämon der Politik. Und genau das markiert die wundeste Stelle der Kultur.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 111).

„Max Weber hat einmal gesagt, die Sekte liege im »Kriege gegen die Theologie« (Max Weber, Soziologie - Weltgeschichtliche Analysen - Politik, S. 396). Theologie ist nämlich die Rationalisierung des Heilsbesitzes; sie geht vom Faktum der Offenbarung aus: Es gibt Sinn. Und die Kirche versteht sich als Anstalt des Heils, die die Gnadengaben monopolartig verwaltet. Das gibt dem Priester seine unvergleichliche Stellung; er steht für das Heil von Amts wegen. Und gerade dem religiös unmusikalischen Menschen verhilft das von der Kirche verwaltete Dogma zum Glauben. Deshalb könnte man heute (heute!) sagen: Die Kirche ist das transzendentale Obdach der religiös Unmusikalischen. Denn religiös unmusikalisch heißt eben nicht irreligiös. Die Kirche überlebt gerade weil und wo die religiösen Motive schwach sind. Starke religiöse Motive führen ja zur Sektenbildung. Das stößt uns auf eine erstaunliche Paradoxie: Die Stärke der Kirche liegt in der Schwäche der religiösen Motivation.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 116).

„Am Anfang war die große Unvereinbarkeit von Griechentum und Christentum. Ihr verdanken die guten Europäer alles, was sie zukunftsfähig macht, vor allem auch eine unvergleichliche Eigenart der westlichen Kultur: die Fähigkeit zur Selbstkritik. Entweder entscheidet man sich zwischen Athen und Jerusalem und wird Christ wie Kierkegaard bzw. Antichrist wie Nietzsche. Oder man hält die große Unvereinbarkeit aus und kultiviert, wie Max Weber es forderte, eine gereifte Männlichkeit. Mit den Gutmenschen des heutigen Westens, die weder Altgriechisch können, noch Paulus kennen, hat das natürlich nichts zu tun; sie sind nicht selbstkritisch, sondern Kultgänger eines Bußrituals, das an die Stelle von historischer Erkennrnis getreten ist.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 135).

„Wir konstruieren die christliche Religion als Ellipse. Ihre beiden Brennpunkte sind die europäische Identität und die Glaubensrüstung des Ich. Denn obwohl unser Thema ja die neue Weltreligiosität ist, folgt unsere Darstellung - und wie wir gleich sehen werden: unvermeidlicherweise - einem Vorurteil für das Christentum.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 136).

„Fast 2000 Jahre lang haben fast alle intelligenten und gebildeten Menschen unserer europäischen Kultur die Frage nach dem christlichen Gott durchdacht und durchlitten; ob apologetisch, ob kritisch gleichviel. Jeder ernst zu nehmende Gedanke ist Metaphysik, und jede Metaphysik ist säkularisierte Theologie. Sich aus diesem Traditionszusammenhang herausreflektieren zu wollen, ist geistiger Selbstmord.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 136).

„Das ist der erste Brennpunkt unserer Ellipse: europäische Identität. Den zweiten Brennpunkt haben wir Glaubensrüstung des Ich genannt. Gemeint ist die unerschüttetliche Sicherheit einer Lebensführung, die durch und durch von einem Glauben an Gott geprägt ist. Das unüberbietbare Muster hat uns Max Weber im Puritaner gezeigt. Seine Religion ist die Reaktionsbildung auf die »irrationale Welt des unverdienten Leidens, des ungestraften Unrechts und der unverbesserlichen Dummheit.« (Max Weber, Politik als Beruf, S. 60). Gerade die ökonomische Rationalität stößt den Menschen auf die ethische Irrationalität der Welt. Wer aber einen Beruf im Sinne innerweltlicher Askese hat, ist »von glücklicher Borniertheit für jede Frage nach einem ›Sinn‹ der Welt geschlagen.« (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1920, S. 332). Die Welt ist zwar irrational, aber sein Handeln in ihr rational.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 137).

„Das ist die große religiöse Antithese zur Weltflucht. Der Puritaner ist eine Figur der Weltzugewandtheit, die aber nicht weltbejahend ist wie der antike Grieche und der Ja-und-Amen sagende Nietzsche, sondern weltablehnend. Ich wende mich der Welt zu - und lehne sie ab. Das macht die einzigartige Bedeutung des Berufs aus; er ist das Medium der Bewährung vor Gott als Bewährung vor sich selbst. Der Puritaner schließt sich gegen die Welt ab, um sie zu rationalisieren. So macht der Glaube in höchstem Maße realitätstüchtig.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 137).

„Aber es gibt noch eine zweite Figur des glaubensgerüsteten Ich, die sehr viel aktueller ist: Don Quijote. Gott verläßt die Welt, und da wird der Glaube zum Wahnsinn; ein Wahnsinn aber, der sich als ästhetische Strategie eines Dichters der eigenen Handlungen erweist und den Glaubensritter immun macht gegen die Täuschungen der Welt. Don Quijote führt sein Leben durch einen Glauben, den er als Fiktion durchschaut und an den er als Fiktion glaubt. Sein Heldentum erscheint grotesk und sein Glaube wahnsinnig, weil er sich nicht damit abfindet, daß ewige Inhalte und ewige Haltungen ihren Sinn verlieren, wenn ihre Zeit vorbei ist; daß die Zeit über ein Ewiges hinweggehen kann. Doch was könnte daran aktuell sein?“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 137-138).

„Jeder moderne Mensch, der heute sein Leben am christlichen Glauben orientiert, ist ein Don Quijote. Die Ritterrüstung des Christentums panzert ihn gegen die Kontingenzen des Alltags, die gottfremde Macht der Wissenschaft und die eigene kreatürliche Hinfälligkeit. Als religiös unmusikalischer Betrachter kann man das nur bewundern; wer einen Gott hat, ist beneidenswert.“ (Norbert Bolz, Das Wissen der Religion, 2008, S. 138).


Ungleichheit

„John Rawls' Vorstellung eines gesellschaftlichen Pooling der Intelligenz und Geschicklichkeit der Individuen als kollektivem Gut entspricht exakt der von Max Weber dem Kommunisten Babeuf und seiner »Verschwörung der Gleichen« zugeschriebenen Forderung, daß man »die Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung der geistigen Gaben auszugleichen habe durch strenge Vorsorge dafür, daß das Talent, dessen bloßer Besitz ja schon ein beglückendes Prestigegefühl geben könne, nicht auch noch seine besseren Chancen in der Welt für sich ausnützen könne.« (Max Weber, Soziologie, S. 269).“ (Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 122).

„Die Rangordnung der Autorität als strikt asymmetrische Sozialstruktur. Es handelt sich hier um eine anerkannte Beziehung der Ungleichheit, in der Differenzen von Status und Prestige, Prominenz und sozialer Bedeutsamkeit zum Ausdruck kommen. Im Gegensatz zum Zwang der Macht ist die Rangordnung der Autorität in der Verehrung durch die Untergeordneten fundiert. Wie in Max Webers Begriff des Charisma angedeutet, wird der hohe Rang gleichsam als Extension des Selbst erlebt. Entsprechend asymmetrisch ist die Aufmerksamkeitsverteilung - der Ranghöhere ist prominent. Und heute geht es in Fragen der Rangordnung auch gar nicht mehr um Befehl und Gehorsam. Denn je mehr die materiellen Lebensbedingungen sich angleichen, desto deutlicher treten die Motivationskräfte Status, Prestige, Anerkennung und Ehre hervor. Genauso wie bei der Liebe und dem Neid geht es hier um nicht-ökonomische Motive, die der metaphysische Individualismus der klassischen Wirtschaftswissenschaften unterschätzt.“ ( (Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 136).

„Max Weber hat einmal gesagt: »Bildungs- und Geschmackskultur-Schranken sind die innerlichsten und unübersteigbarsten aller ständischen Unterschiede.« (Max Weber, Soziologie, S. 477). Das ist für die moderne demokratische Gesellschaft natürlich ein permanenter Skandal, gegen den sie mit einer Flut reformpädagogischer Programme verzweifelt ankämpft. Doch Erfolg ist eine Funktion von Begabung, Fleiß und Bildung. Zwar kann man den Zugang zu den Bildungsanstalten für alle garantieren, also formal Chancengleichheit sichern, aber wie soll man Leistungsmotivation und Übung steuern? Und vollends machtlos ist der Staat ja gegenüber IQ und genetischer Mitgift. Auch die Herstellung gleicher Startchancen kann deshalb nichts daran ändern, daß Chancen unterschiedlich wahrgenommen werden. Wenn der Schüler sich nicht meldet, kann der Lehrer nichts machen. Manche sind stark genug, sich als »Streber« gegen das Mobbing der Verwöhnten und Faulen zu behaupten. Die meisten aber suchen ihr Heil in der Anpassung an eine Coolneß, die darin besteht, sich nicht für den Unterricht zu interessieren. Familien haben darauf einen gewissen, staatlich nicht steuerbaren Einfluß, die Lehrer dagegen sind ohnmächtig.“ ( (Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 141).

„Ist die moderne Gesellschaft vor einem ihrer Teilsysteme, nämlich der Wirtschaft, in die Knie gegangen? Regiert das Geld die Welt? Gerade Leute, die nicht genug Geld haben, also die Armen, und Leute, die meinen, nicht genug Geld zu bekommen, also die Intellektuellen, neigen zu dem Glauben, die Wirtschaft beherrsche die ganze Welt. Und genau das hat der Sentimentalismus der Entfremdungskritiker dem Kapitalismus seither zum Vorwurf gemacht. Geld fließt dorthin, wo es sich vermehren kann, nicht dorthin, wo es gebraucht wird. Selbst der nüchterne Max Weber hat die vollkommen durchmonetarisierte Wirtschaft deshalb als den eigentlichen Träger der Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit bezeichnet. Besonders einschlägig sind hier natürlich die Formulierungen des »Kommunistischen Manifests« von Karl Marx, das Marktsystem habe »die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst ... und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹« (Karl Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, S. 528).“ ( (Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 154).

„Die Frage nach den religiösen Grundlagen des Kapitalismus zielt nicht auf theologische Dogmen, sondern auf die vom Glauben bestimmte Lebensführung. In diesem Sinne hat Max Weber in seinen Kapitalismusstudien Religion als System der Lebensregulierung interpretiert. Denn so wie der Rechtsstaat auf Voraussetzungen beruht, die er nicht selbst garantieren kann - das ist das große Thema der Verfassungsrechtler Böckenförde und Forsthoff -, so beruht auch der liberale Kapitalismus auf Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann. Das ist heute die zentrale Einsicht der Kommunitaristen, die schon Vilfredo Paretos Begriff der »Residuen«, Ferdinand Tönnies' Soziologie der »Gemeinschaft« und dem Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre zu Grunde liegt. Wirtschaftsethik ist die verzweifelte Suche nach dem verlorenen Geist des Kapitalismus. Was kann an die Stelle der innerweltlichen Askese treten?“ ( (Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 157).

„Eine poetische Antwort gibt Diotimas Traum in Musils »Mann ohne Eigenschaften«: die »Vereinigung von Wirtschaft und Seele« (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1930-'42, S. 108). Die Prosa der Ökonomen kennt diese Sehnsucht als das Adam-Smith-Problem. Wie kann man die Tatsache erklären, daß der Autor des Grundbuchs der Nationalökonomie, »The Wealth of Nations« (1776), auch der Autor einer » Theory of Moral Sentiments« (1759) ist? Was haben moralische Gefühle mit Wettbewerb und Gewinnstreben zu tun? Welche Beziehung gibt es zwischen den Leidenschaften und den Interessen, zwischen der Seele und der Wirtschaft?“ ( (Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 157).

„Albert Hirschman hat sehr schön gezeigt, wie der Kapitalismus die großartige Kulturleistung erbrachte, die Leidenschaften und ihre Ungewißheiten in den Griff zu bekommen. Im System des kapitalistischen Wirtschaftens wurden die Menschen leidenschaftsloser, trockener und berechenbarer - man könnte sagen: sie wurden auf Zivilisationstemperatur gebracht. Das Profitmotiv ersetzte den Thymos, zu Deutsch: Herz, Mut und Gesinnung. »Mehr Geld« statt Ehre. Der Geist des Kapitalismus entstand also durch rationale Temperierung im Gegensatz zur Gier des kapitalistischen Abenteurers. Man kann diese großartige Kulturleistung des Kapitalismus in der Definition resümieren, die Max Weber für den Begriff Verantwortung gefunden hat. Verantwortung verankert Leidenschaft in deren scheinbarem Gegenbegriff: Sachlichkeit.“ ( (Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 157).

„Im Profitmotiv »mehr Geld« liegt der Akzent nicht auf »Geld«, sondern auf »mehr«. Natürlich wollen wir bekommen, was wir uns wünschen, aber mehr noch wollen wir herausfinden, was wir wirklich wollen. So können wir das Leben heute als Erforschung eines Wertefeldes betrachten. Mit dem Sieg des Kapitalismus wurde nämlich der Blick wieder frei auf die nicht-ökonomischen Kräfte - also die sozialen und moralischen Werte, das Begehren nach Anerkennung - und auf die andere Seite der Vernunft -, also Gefühle, Geschichten.“ ( (Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 157-158).

„Um die Grenzen der möglichen Gerechtigkeit zu erkennen, braucht man die Tapferkeit der Bürgerlichkeit. Sie besteht darin, auf ein Konzept von Glück als Wunscherfüllung zu verzichten. Niemand war hier konsequenter als Kant, der in seiner Ethik das Glück/Unglück-Problem systematisch ausschaltete - im Namen der Pflicht. Max Weber hat dieses Thema dann großartig orchestriert, indem er die Tapferkeit der Bürgerlichkeit als Quintessenz der Lebensweisheit von Platon bis Goethe herauspräpariert hat. Sein Vortrag über den Beruf zur Wissenschaft endet bekanntlich mit der Ermahnung, wir alle sollten nicht auf das Heil warten, sondern »an unsere Arbeit gehen und der ›Forderung des Tages‹ gerecht werden - menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.« (Max Weber, Soziologie, S. 339).“ ( (Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 177).

„Diese Ermutigung zur Bürgerlichkeit stützt sich auf den Mythos von der Spindel der Norwendigkeit, den Platon auf den letzten Seiten seines Buches über den Staat etzählt. Jeder wählt sich seinen Dämon und verharrt dann in der gewählten Lebensbahn. Jeder wählt sein Los, nimmt das ihm Zufallende auf und ist alleine schuld an der Wahl. Gerade weil es keine Taxis der Psychen, keine Rangordnung der Seelen gibt, kommt alles darauf an, gute und schlechte Lebensweisen unterscheiden zu können. Denn die besseren Lebensweisen machen eine gerechte Seele. Max Weber übersetzt nun diese Wahl des eigenen Dämons durch bürgerliche Pflichterfüllung, so wie Goethe sie in seiner berühmten Betrachtung über die Grenzen der Betrachtung definiert hat: »Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.«, (Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 442f.).“ ( (Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, 2009, S. 177).

 

NACH OBEN Anmerkungen:


Erläuterung der Weber-Tabelle () - Denk-Biographie von Max Weber (1880-1936 ):
1. „Stadium“ („Winter“ - 1864-1882) und seine 3 „Stufen“: Webers frühe Kindheit (1. Stufe); Grund-Schulzeit (2. Stufe); Gymnasialzeit (3. Stufe), also bis zum Übergang von der Schule zur Universität (1882).
2. „Stadium“ („Frühling“ - 1882-1904) und seine 3 „Stufen“: Webers Studienzeit von 1882 bis 1886 (4. Stufe); die Zeit der nicht-mehr-studentischen Universitätsarbeit über die Promotion in Jura (1889, mit: magna cum laude) und Habilitation für Römisches, Deutsches und Handelsrecht (1892) bis zur ersten Professorenstelle für Handelsrecht in Berlin (1893), also die Zeit von 1886 bis 1893 (5. Stufe); die folgenden 11 Jahre bis zum Erscheinen des Werkes Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, also die Zeit von 1893 bis 1904 (6. Stufe).
3. „Stadium“ („Sommer“ - 1904-1918) und seine 3 „Stufen“: Webers Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus bis zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), also die Zeit von 1904 bis 1909 (7. Stufe); von der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) bis zum Beginn des 1. Weltkrieges, also die Zeit von 1909 bis zum 28. Juli 1914 (8. Stufe); der 1. Weltkrieg, also die Zeit vom 28. Juli 1914 bis zum 11. November 1918 (9. Stufe).
4. „Stadium“ („Herbst“ - 1918-1920) und seine 3 „Stufen“: Webers Arbeit seit dem Ende des 1. Weltkrieges bis zur Unterzeichnung des Versailler Diktats (Versailler DiktatVersailler Diktat), also die Zeit vom 11. November 1918 bis zum 28. Juni 1919 (10. Stufe); die Zeit von der Unterzeichnung des Versailler Diktats bis zum Beginn einer Lungenentzündung, die durch die Spanische Grippe ausgelöst worden war; also die Zeit vom 28. Juni 1919 bis Januar / Februar 1920 (11. Stufe); vom Beginn dieser durch die Spanische Grippe ausgelösten Lungenentzündung bis zu Webers Tod als deren Folge, also von Januar / Februar 1920 bis zum 14. Juni 1920 (12. Stufe).
Fazit: Weber ist zu früh gestorben!

Puritanismus (Puritanismus) und Malthusianismus, Darwinismus bzw. Sozialdarwinismus (bzw. Soziobiologismus) sind durchaus verwandt. Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Johannes Calvin (1509-1564), der von Martin Luther (1483-1546) beeinflußt war, und Charles Darwin (1809-1882), der von Thomas Malthus (1766-1834) beeinflußt war (MalthusMalthus und Darwin), und in den angelsächsichen Ländern, gerade auch seit Herbert Spencer (1820-1903), faßt man ja „die Auslese als einen individuellen Kampf ums Dasein auf (Kampf ums Dasein), der - weil quasi naturrechtlich den Abläufen inhärent - an und für sich nützlich und wünschenswert sei. Insbesondere dürfe er nicht durch staatliches - etwa sozialpolitisches - Eingreifen behindert werden. Die weitreichende Rezeption solcher Ideen wurde wohl auch dadurch gefördert, daß sie mit dem Puritanismus kompatibel waren. Wegbereitend für diese Koexistenz wirkte hier - worauf Max Weber mit Nachdruck hinwies - im Grunde bereits die Prädestinationslehre des schweizerischen Reformators Johannes Calvin. Calvins Auffassung von der göttlichen Vorsehung unterschied sich scharf von der katholischen Lehre der Werkgerechtigkeit und nahm ethische Grundprinzipien vorweg, wie sie charakteristisch werden sollten für den englischen Puritanismus und den modernen Kapitalismus westlicher Prägung. Das Schicksal eines Menschen galt Calvin als schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschlichen Willen vorherbestimmt: entweder- ohne Verdienst - als Gnadenwahl zur Seligkeit, oder - ohne Schuld - als Prädamnation zur Verdammnis. Ihren irdischen Status quo verdankten die Menschen daher allein Gottes freier Entscheidung. Diese Lehre deckt sich mit Extrempositionen, die sich Spencers Nachfolger zu eigen machen. sollten - beispielsweise wenn das besitzlose Proletariat als ein Rückstandsprodukt der »natürlichen Auslese« erscheint und das Zugrundegehen der Armen als ein Naturgesetz. Insbesondere der (us-)amerikanische Sozialdarwinismus - wie ihn etwa William Graham Sumner (1840-1910) an der Yale-Universität und William James (1842-1910) an der Harvard-Universität propagierten - machte in letzter Konsequenz den gesellschaftlichen Erfolg von Individuen oder den geschichtlichen Erfolg von Gruppen zum Kriterium der Lebensbewährung und biologischen Wertigkeit, baute er doch auf folgende Argumentationsstränge: (A) Struggle tor existence und survival of the fittest sind ein Teil der Gesamtökonomie der Natur. Da die menschliche Gesellschaft ihrerseits Teil der Natur ist, gelten auch für sie eben diese Naturgesetze. (B) Die Menschen sind von Natur aus ungleich, weshalb die soziale Stufenleiter diese Ungleichheit widerspiegelt. (C) Da der soziale Fortschritt sich nach Naturgesetzen vollzieht, soll man ihn ungehindert vonstatten gehen lassen. (D) Hieraus resultiert eine streng deterministische Auffassung der Gesellschaft. Staatliche Interventionen sind in gewissem Sinne gegen die Religion, da das Walten der Naturgesetze mit dem Willen Gottes zusammenfällt (Wilhelm E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, 1984, S. 110-115). Auch dem Lebenswerk von Darwins Vetter Francis Galton (1822-1911) liegen sozialdarwinistische Ideen zugrunde. Seine auf das Zustandekommen von Hoch- und Höchstbegabungen ausgerichteten Familienstudien überzeugten Galton davon, die Erblichkeit habe für schöpferische Leistungen mehr Bedeutung als die Umwelt. Die Auffassung, nature dominiere über nurture, machte Galton zum Begründer der Eugenik. Der Darwinsismus wurde also in dem Moment zum Steinbruch von Moral und Ideologie, als die Spenceristen und Sozialdarwinisten aus dem survival of the fittest unbedenklich ein survival of the best machten.“ (Volker Sommer, Grundzüge des Sozialdarwinismus, in: Soziobiologie: Wissenschaftliche Innovation oder ideologischer Anachronismus?, in: Eckart Voland, Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel, 1992, S. 54-56Quelle). Wie schon gesagt: Darwin war Malthusianer oder zumindest doch sehr stark von Malthus beeinflußt; Spencer war Darwinianer bzw. Darwinist in dem Sinne, als daß er Darwins Theorie ausbaute und zum Hauptvertreter des Evolutionismus wurde; der Evolutionismus und der Sozialdarwinismus sind verwandt, doch der Sozialdarwinismus ist wohl eher, jedenfalls wenn man ihn als ein Extrem der Soziobiologie verstehen will, als Soziobiologismus zu bezeichnen. Mehr

„Es ist bewunderungswürdig, mit welcher Sicherheit der englische Instinkt aus der ... ganz doktrinären und kahlen Lehre Kalvins sein eignes religiöses Bewußtsein formte. Das Volk als Gemeinschaft der Heiligen, das englische insbesondere als das auserwählte Volk, jede Tat schon dadurch gerechtfertigt, daß man sie überhaupt tun konnte, jede Schuld, jede Brutalität, selbst das Verbrechen auf dem Wege zum Erfolg ein von Gott verhängtes und von ihm zu verantwortendes Schicksal - so nahm sich die Prädestination im Geiste Cromwells und seiner Soldaten aus. Mit dieser unbedingten Selbstsicherheit und Gewissenlosigkeit des Handelns ist das englische Volk emporgestiegen.“ (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 41 Spengler). Wenn in England die Tat oder die Arbeit „für sich“ und daher der persönliche Erfolg als göttliches Zeichen der Erlösung heilig ist, so in Preußen die Tat oder die Arbeit „für andere“. So formuliert es Ehrhardt Bödecker. „Die Bezeichnung Pietismus, ursprünglich ein akademischer Spitzname für Streber und Pedanten, haben die Calvinisten in Halle von den orthodoxen Lutheranern in Leipzig erhalten.“ (Ehrhardt Bödecker, Preußen und die Wurzeln des Erfolgs, 2004, S. 113). Halle fiel 1680 an Brandenburg-Preußen (Preußen), August Hermann Francke (1663-1727 ) wurde zum Hauptvertreter des Pietismus in Halle und dadurch auch in Brandenburg-Preußen - seit der Königskrönung (1701) hieß es nur Preußen. Nicht der englische Kapitalismus, sondern der preußische Pietismus - der soziale Gemeingeist - führte zur modernen Sozialversicherung. Nicht England mit seinem eigenbrötlerischen Parlamentarismus, sondern Deutschland mit seinem sozialen Gemeingeist hatte die weltweit erste soziale Versicherungsgesetzgebung. Was wir heute als Soziale Marktwirtschaft oder etwas ungenau als Rheinischen Kapitalismus bezeichnen, ist nur sekundär rheinisch und primär preußisch (Preußen), also insgesamt als deutsch zu bezeichnen: Deutscher Kapitalismus ist Deutsche Marktwirtschaft, weil sozial! Gerechtigkeit ohne Gemeingeist gibt es nicht.

„Beruf“ (NHD; aus MHD: „beruof“, „Leumund“) - die neuhochdeutsche Bedeutung hat Martin Luther (1483-1546) geprägt! In der Bibel benutzte er es zunächst als „Berufung“ durch Gott für klesis (griech.) bzw. vocatio (lat.), dann auch für Stand und Amt des Menschen in der Welt, die schon Meister Eckhart (1250-1327) als göttlichen Auftrag erkannt hatte. Dieser ethische Zusammenhang von Berufung und Beruf ist bis heute wirksam geblieben, wenn das Wort jetzt auch gewöhnlich nur die bloße Erwerbstätigkeit meint. „Nun ist unverkennbar, daß schon in dem deutschen Worte »Beruf«, ebenso wie in vielleicht noch deutlichere Weise in dem englischen »calling«, eine religiöse Vorstellung: - die einer von Gott gestellten Aufgabe - wenigstens mitklingt und, je nachdrücklicher wir auf das Wort im konkreten Fall den Ton legen, desto fühlbarer wird. Und verfolgen wir nun das Wort geschichtlich und durch die Kultursprachen hindurch, so zeigt sich zunächst, daß die vorwiegend katholischen Völker für das, was wir »Beruf« (im Sinne von Lebensstellung, umgrenztes Arbeitsgebiet) nennen, einen Ausdruck ähnlicher Färbung ebenso wenig kennen wie das klassische Altertum, während es bei allen vorwiegend protestantischen Völkern existiert. Es zeigt sich ferner, daß nicht irgendeine ethnisch bedingte Eigenart der betreffenden Sprachen, etwa der Ausdruck eines »germanischen Volksgeistes« dabei beteiligt ist, sondern daß das Wort in seinem heutigen Sinn aus den Bibelübersetzungen stammt, und zwar aus dem Geist der Übersetzer, nicht aus dem Geist des Originals. Es erscheint in der lutherische Bibelübersetzung zuerst an einer Stelle des Jesus Sirach (11,20,21) ganz in unserem heutigen Sinn verwendet zu sein.“ (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904, S. 66). Seit Luther also gibt es das Wort „Beruf“ in der noch heute gültigen Bedeutung: die hauptsächliche Erwerbstätigkeit des Einzelnen, die auf dem Zusammenwirken von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten beruht (also auf Bildung bzw. Ausbildung) und durch die er sich in die Volkswirtschaft eingliedert. Der Beruf dient meist der Existenzbasis. Es war vor allem der Protetestantismus mit seiner Askese (vgl. PuritanismusPuritanismus), der die sittliche Leistung der Arbeit stark betonte und den Beruf zum Gebot der Pflichterfüllung steigerte. Diese Haltung hat sich als Berufsethos, als innere, enge Verbundenheit des abendländischen Menschen mit seinem Beruf erhalten. Moderne Antriebe zur Verweltlichung gingen vom Deutschen Idealisms (Deutscher Idealismus) aus, der im Beruf das Postulat der Persönlichkeitsentfaltung entdeckte.


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