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Angst
vor dem Volk Krise der Demokratie: Die Herrschenden mißtrauen den
Beherrschten (von Karlheinz Weißmann) Es gibt zwei grundsätzliche
Probleme politischer Ordnung: die Neigung der Herrschenden, ihre Position um jeden
Preis zu behaupten, und die Neigung der Beherrschten, sich nicht beherrschen zu
lassen. Was den ersten Punkt betrifft, so handelt es sich um eine Selbstverständlichkeit,
die keiner Erläuterung bedarf. Es liegt in der Natur des Machtbesitzes, mit
einer Prämie verbunden zu sein, die kaum jemand freiwillig aufgibt. Was die
zweite Schwierigkeit angeht, so ist zwar bekannt, daß man auf Bajonetten
schlecht sitzt, heikler bleibt die Beantwortung der Frage, wie man die Beherrschten
zur Hinnahme oder - besser noch - Bejahung des Beherrschtwerdens veranlassen kann. Der
Aufstieg der modernen Demokratie erklärt sich aus der Verheißung, daß
sie beide Probleme weitgehend oder vollständig beheben könne: Herrschaft
auf Zeit durch gewählte Repräsentanten, institutionelle Kontrolle und
Prinzip der Rechtsgleichheit, Abstimmungsverfahren und Mehrheitsentscheidung sollten
Machtmißbrauch ausschließen; in einer Demokratie würde die Staatsordnung
von allen bereitwillig getragen, da sie die Staatsordnung aller wäre. Daß
die hochgespannte Erwartung nicht ohne weiteres in Erfüllung gehen würde,
zeichnete sich schon nach den ersten Erfolgen der demokratischen Bewegung im 19.
Jahrhundert ab. Der Liberale John Stuart Mill, der eben noch als "Demokrat"
gegolten hatte, gab offen zu, daß man nur aus polemischen Gründen mit
dem "Volk" argumentiert habe, seine tatsächliche Beteiligung an
der Macht erscheine kaum sinnvoll; der mündige Bürger, die Voraussetzung
der Demokratie, stehe nicht in unbegrenzter Zahl zur Verfügung. Versuche,
die Demokratisierung aufzuhalten, abzubrechen oder umzubiegen, scheiterten indes
an der Wucht, mit der sich dieser Prozeß in Europa, den beiden Amerikas
und den weißen Siedlungskolonien in Übersee vollzog. Schon am Ende
des Ersten Weltkriegs war er weitgehend erfolgreich. Aber nach Etablierung des
demokratischen Prinzips kehrte überraschenderweise das Problem zurück,
wie man die Zustimmung der Vielen zur bestehenden Ordnung sichern sollte. Die
Loyalität der Massen war auch dann ungewiß, wenn die Identität
von Herrschern und Beherrschten behauptet wurde. Noch am besten haben jene
Staaten die Schwierigkeiten bewältigt, die über eine lange gewachsene
Demokratietradition verfügten - vor allem Großbritannien und die skandinavischen
Länder - und in denen bestimmte, nichtdemokratische, Bestände geschützt
waren, die die Stabilität des Verfassungsganzen förderten. Wo es keine
so günstigen Bedingungen gab, drohte sich regelmäßig die radikale
Alternative dieser "organischen Demokratie" durchzusetzen: die "totalitäre
Demokratie". Der von Jakob Talmon geprägte Begriff bezeichnet Systeme,
die ihre Legitimität zwar aus der Zustimmung des Volkes ableiten, aber den
Souverän einer permanenten Mobilisierung und einer Erziehung mit allen Mittel
des positiven (Propaganda) und negativen Zwangs (Terror) unterwerfen. In der totalitären
Demokratie, dem Sowjetsystem ebenso wie dem Nationalsozialismus, ist auch die
Wiederkehr des ersten Problems aller politischen Ordnung offenkundig: Diese Staatsformen
werden regelmäßig von einer Nomenklatura beherrscht, die keine Machtkonkurrenz
duldet und Regeln aufstellt, die von ihr selbst nicht eingehalten werden müssen. Man
hat es als besonderen Vorzug des dritten Typus der Demokratie angesehen, daß
er diese Dysfunktion vermied. Gemeint ist die alimentierende Demokratie, also
eine Demokratie, die ihre Bürger durch Versorgung bindet. Versorgt wird man
entweder mit ökonomischen Vorteilen - so im Fall des Wohlfahrtsstaates -
oder ökonomischen Chancen wie im Fall des amerikanischen Systems. Die alimentierende
Demokratie war im 20. Jahrhundert oft gefährdet, aber nach dem Kollaps der
Sowjetunion rückte ihr Endsieg in greifbare Nähe. Nur hielt auch dieser
Triumph nicht, was er versprach. In den alimentierenden Demokratien waren längst
politische Klassen entstanden, die sich abschotteten und über Möglichkeiten
verfügten, um Mitbewerber von der Einflußnahme fernzuhalten. Die in
ihren Verfassungen festgelegten Grundrechte und das Mehrheitsprinzip wurden regelmäßig
in Frage gestellt, wenn das der Machterhaltung diente; im Namen aller möglichen
demokratiefremden Prinzipien hat man Sondergesetze und Privilegien für korporativ
erfaßte Bevölkerungsteile geschaffen und eine Gesellschaftspädagogik
entwickelt, die zwar sanfter ist als die totalitäre, aber doch darauf ausgeht,
den Souverän nach einem Bild zu formen, das nicht seinem Wesen entspricht. Die
Effizienz dieser Herrschaftspraxis ist unbestreitbar, und doch wächst das
Unbehagen. Das hat nur am Rande mit dem Verbleib der "unterentwickelten"
Regionen zu tun, wichtiger ist das Mißtrauen der Herrschenden gegenüber
den Beherrschten. Die hat man gezielt in eine unorganische Größe überführt,
die alte Gleichung demos=ethnos aufgehoben und eine Menge von Einzelnen geschaffen,
die wenig mehr verbindet als das Interesse daran, daß die Versorgung aufrechterhalten
wird. Je heterogener aber die Bevölkerungen, desto stärker die Gefahr,
daß sich Teile verselbständigen und den Loyalitätsglauben ganz
verlieren. Da dem immer weniger durch Alimentierung begegnet werden kann, greift
man auf klassische Polizeimaßnahmen und neuartige, umfassende Kontrollen
zurück. Klügere Beobachter haben indes bemerkt, daß zum
Gelingen der Integration des Einzelnen in das größere Ganze Bestände
gehören, wie sie nur in der organischen Demokratie vorhanden waren. Vom Fußballpatriotismus
über die "Aktion Gemeinsinn" bis zum Appell der Kirchen an die
"Tugenden", von der kommunitaristischen Theorie bis zur Debatte über
"Ligaturen", die dem Individuum mehr gesellschaftlichen Halt geben sollen,
reicht mittlerweile die lange Kette hilfloser Versuche, etwas wiederzugewinnen,
was längst verloren ist und jedenfalls nicht nach Wunsch "konstruiert"
werden kann. Was die Stärke der organischen Demokratie ausgemacht hat,
wurde zerstört, um die Durchgriffschancen zu erhöhen. Jetzt sind die
Ressourcen aufgebraucht, und die Mächtigen haben Angst vor dem "großen
Lümmel" wie die Mächtigen in vordemokratischen Zeiten. Die Sorgen
schwinden nicht einmal bei besseren Wirtschaftsdaten. Anfang des Monats ergab
eine Umfrage in Deutschland zum ersten Mal, daß über die Hälfte
der Beteiligten kein Zutrauen mehr in die Demokratie hat.
Junge Freiheit vom 1. Dezember 2006 | |  |