 | | Die DDR läßt grüßen Prügel
für den Dissidenten: Die Kampagne gegen Thilo Sarrazin soll das Volk disziplinieren (von
Thorsten Hinz)Soviel Aufmerksamkeit hat das elitäre und teure Magazin
Lettre international wohl noch nie erfahren wie jetzt durch das Interview mit
Thilo Sarrazin, Vorstand der Bundesbank, ehemaliger Berliner Finanzsenator und
erfolgreichster Landespolitiker der Hauptstadt wenigstens seit 1990. Das Kesseltreiben
gegen ihn setzt den üblichen Kampagnenjournalismus fort und markiert doch
angesichts der Brisanz, die die von Sarrazin angesprochenen Probleme inzwischen
erreicht haben eine neue Qualität. Je nach Ausgang könnte
es sich für die Bundesrepublik zu einem vergleichbaren Menetekel entwickeln
wie die staatliche Pressehetze gegen den DDR-Liedermacher Wolf Biermann nach dessen
Konzert 1976 in Köln. Biermann hatte von einem strikt sozialistischen Standpunkt
aus den Zustand der DDR kritisiert, worauf das SED-Politbüro ihn ausbürgerte
und die Staatsmedien furiengleich über ihn herfielen. Geschichtlich gesehen
vergab die DDR so ihre letzte Chance, eine realistische Staatsidee zu entwickeln
und damit einen würdevollen Beitritt zur Bundesrepublik vorzubereiten. Angesichts
von CIA-Prognosen, die für 2020 schwere ethnische Konflikte in Mitteleuropa
voraussagen, erscheint ähnliches auch auf der Zeitebene als eine realistische
Perspektive. Die meisten Politiker und Journalisten, die nun hysterisch reagieren,
kennen das gedanken- und faktengesättigte Interview überhaupt nicht
oder sind von ihm überfordert. Wenn Sarrazin das Versagen des Politik-, Presse-
und Wohlfahrtsbetriebs insbesondere am Ausländerproblem festmacht, das
wie überall in Wahrheit ein Moslemproblem ist, dann deckt sich das
mit den Alltagserfahrungen der überwältigenden Mehrheit der Bürger.
Seine inkriminierten Formulierungen sind eingebettet in eine differenzierte und
komplexe Argumentation. Sarrazin würdigt die Bildungserfolge der Vietnamesen,
Chinesen, Inder, der Osteuropäer und Rußlanddeutschen, die einen höheren
Abiturienten- und Studentenanteil aufwiesen als die Einheimischen. Die Türken,
Araber und bestimmte Ex-Jugoslawen aber legten in der Regel eine aggressive
und atavistische Mentalität an den Tag, deren Regenerierung vom deutschen
Sozialsystem noch gefördert würde. Die brisanteste Interview-Passage,
die die Kampagne überhaupt erst ausgelöst haben dürfte, wird in
vielen Pressemeldungen ausgespart. Darin berichtet Sarrazin über einen Türkei-Besuch
1978, bei dem ihm ein türkischer Staatssekretär stolz erläuterte,
daß die Türkei die Bevölkerungszahl der Deutschen bald einholen
werde. Diese Äußerung setzt Sarrazin in Beziehung zu der berüchtigten
Rede des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der im
Februar 2008 eine Assimilierung der Türken in Deutschland als Verbrechen
gegen die Menschlichkeit bezeichnete: Das ist dieselbe Mentalität,
die Erdogan dazu verleitet hat, diese Rede in der Köln-Arena zu halten. Die
Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert
haben: durch eine höhere Geburtenrate. Mit diesen Sätzen
hat Sarrazin die Grenzen dessen gesprengt, was in dieser Republik denk- und sagbar
ist. Selten hat ein prominenter Angehöriger der politischen Klasse so klar
auf den Zusammenhang zwischen verfehlter Zuwanderung, sinkenden Bildungsstandards,
der Krise der Sozialsysteme und der Haltlosigkeit der Integrationsrhetorik verwiesen.
Wo das Verständnis von Politik und Geschichte sich in sozialem Machbarkeitswahn
auflöst, gerät der Hinweis auf kulturelle Unterschiede und auf die demographischen
und kulturellen Ursachen von Kriegen automatisch zum Skandal. Zugleich hat Sarrazin
klargestellt, daß wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Status auch mit dem
ererbten IQ korrelieren ein unverzeihlicher Verstoß gegen die Gleichheitsideologie! Es
fällt auf, daß kein Sarrazin-Kritiker die sachliche Auseinandersetzung
wagt. Wenn der türkischstämmige Unternehmer und SPD-Europaabgeordnete
Vural Öger, von dem der Satz überliefert ist: Das, was Sultan
Süleyman mit der Belagerung Wiens 1683 begonnen hat, werden wir über
die Einwohner, mit unseren kräftigen Männern und gesunden Frauen, verwirklichen,
den Ausschluß Sarrazins aus der SPD fordert, ist das ein Treppenwitz, aber
auch Ausdruck wachsenden Machtgefühls. Die weisungsgebundene
Staatsanwaltschaft ermittelt unterdessen wegen möglicher Volksverhetzung.
Das weckt Erinnerungen an die DDR, wo es einen ganzen Strauß vergleichbarer
Paragraphen gab: Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen,
Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, staatsgefährdende
Propaganda und Hetze, Staatsverleumdung, staatsfeindliche
Hetze, Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit,
ungesetzliche Verbindungsaufnahme zum Klassenfeind. Durchweg handelte
es sich um Gummiparagraphen, die Kritiker einschüchtern, eine eigenständige
politische Reflexion unterbinden und ihre Veröffentlichung kriminalisieren
sollten. Denn noch die kleinste und bestgemeinte Kritik verwies auf die Brüchigkeit
des Ganzen. Die Ursache dafür lag in der Schwäche und angestrengten
ideologischen Künstlichkeit des DDR-Systems selbst. Um keine gegenläufige
Hysterie zu propagieren: Die Zustände in der Bundesrepublik sind bei weitem
nicht mit denen in der DDR vergleichbar, jedoch hat eine Entwicklung in Richtung
DDR light Fahrt aufgenommen. Die Kampagne gegen Sarrazin führt
den Umbau des öffentlichen Raums in einen Bezirk fort, der nach dem Prinzip
des vorauseilenden Gehorsams funktioniert. Die aktuelle Disziplinierung gilt dem
Demos, sie widerspiegelt aber auch eine Eigendynamik innerhalb der politisch-medialen
Klasse selbst. Indem sie den Dissidenten aus den eigenen Reihen prügelt,
stellt sie ihre Geschlossenheit wieder her.
Junge
Freiheit vom 9. Oktober 2009
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