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Der Ende einer
Lebenslüge. Altkanzler Helmut Schmidt provoziert eine heftige Debatte um
Einwanderung (von Alexander Griesbach) Es ist eine gespenstische
Debatte, die sich da im Gefolge des van-Gogh-Mordes in den Niederlanden und der
Auml;ußerungen von Altkanzler und Zeit-Mitherausgeber Helmut Schmidt zur "multikulturellen
Gesellschaft" entwickelt hat. Schmidt hat es im Hamburger Abendblatt als "Fehler"
bezeichnet, daß "wir" zu Beginn der 1960er Jahre "Gastarbeiter aus fremden Kulturen"
ins Land geholt hätten. Viele Ausländer wollten sich, so Schmidt, gar nicht integrieren.
Er zeigte sich überzeugt, daß "multikulturelle Gesellschaften" nur in "Obrigkeitsstaaten"
wie Singapur funktionieren könnten. Auf diese Einlassungen
folgte der in Deutschland übliche Sturm der Entrüstung, an dessen Spitze die Einwanderungslobbyisten
der Bündnisgrünen stehen. Da wurde einmal mehr die Mär erneuert, daß die Gastarbeiter
nach dem Krieg mitgeholfen hätten, "unser Land wieder aufzubauen" (Marieluise
Beck). Die Parteivorsitzenden Claudia Roth und Reinhard Bütikofer verstiegen sich
sogar zu der Behauptung, daß ohne "Multikulturalität Freiheit in modernen Gesellschaften
nicht mehr buchstabierbar" sein soll. Kein Politiker, der sich
zu Wort meldete, mochte darauf verzichten, irgendwelche Integrationskonzepte zu
empfehlen. Da will Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) Ausländer, die
einen deutschen Paß beantragen wollen, einen Eid auf das Grundgesetz schwören
lassen; Brandenburgs Innenministerpräsident Jörg Schönbohm (CDU) regte eine Ausländerquote
für Stadtviertel, Schulen und Kindergärten an. Und Bundesinnenminister Otto Schily
(SPD) hat schnell einen Drei-Punkte-Plan aus der Schublade geholt, mit dem in
Sachen Integration nichts mehr schiefgehen soll. Diese reichlich
verspäteten Initiativen zeigen nur eines: Die politische Klasse der Bundesrepublik
steht ratlos vor dem Scherbenhaufen multikultureller Illusionen, die sie aus ideologischer
Verblendung jahrzehntelang genährt hat. Letztlich müssen sich auch die Politiker
der Union den Vorwurf gefallen lassen, die Entwicklung viel zu lange treiben gelassen
zu haben. Die stärksten Zuwanderungsschübe erlebte Deutschland nämlich unter Helmut
Kohl. In seiner Regierungszeit entwickelten sich auch die "Parallelgesellschaften",
sprich: Ausländerghettos, die heute mehr und mehr ein kaum kontrollierbares Eigenleben
führen. Die Ratschläge und Empfehlungen deutscher Politiker dürften den Türken
in Berlin-Kreuzberg und anderswo reichlich gleichgültig sein. Hier hat sich längst,
weitgehend unabhängig von der deutschen Umwelt, eine Art Istanbul en miniature
herausgebildet. Eine kritische Diskussion hierüber konnte aber nicht geführt werden,
weil Gegner dieser Entwicklung schnell als "Ausländerfeinde" aus dem öffentlichen
Diskurs ausgegrenzt worden sind. Jetzt, nachdem diese multikulturellen
Gutmenschen von der Wirklichkeit eingeholt worden sind, lauten die neue Zauberworte
"Integration" und "Leitkultur", hier und da sogar mit dem schamhaften Zusatz "deutsch"
versehen. Mit ihnen soll das gerichtet werden, was jahrzehntelang versäumt worden
ist. Beide Begriffe werden allerdings stumpfe Instrumente bleiben, weil sie die
Ursache der Malaise unberührt lassen. Mit Recht hat der Osnabrücker
Soziologe Robert Hepp festgestellt, daß die multikulturelle Gesellschaft "Ausdruck
eines egalitären, kosmopolitischen und humanitären Nihilismus" sei, "dem im Grunde
genommen alles gleichgültig ist". Es ist dieser Nihilismus, der im Namen "kultureller
Gleichheit" verunmöglicht, daß eine Überprüfung der kulturellen Kompatibilität
bestimmter Zuwanderergruppen stattfinden kann. Deshalb wurde insbesondere aus
dem linken politischen Spektrum, das die prinzipielle Gleichheit der Kulturen
wie eine Monstranz vor sich herträgt, bisher jede Anpassung an eine "europäische"
oder gar "deutsche Leitkultur" abgelehnt. Welches Demokratie-
und Staatsverständnis, welche Arbeitsethik und welche Wertesysteme für die ethnischen
Gruppen prägend sind, die nach Deutschland einwandern, spielt keine Rolle. Aus
der Sicht der Kulturnihilisten ist es unerheblich, ob Einwanderer aus Nigeria
oder Afghanistan kommen, oder ob sie Rußlanddeutsche sind. Eine Konsequenz dieses
Ansatzes ist, daß kein Wort darüber verloren wird, wie diejenigen Gruppen, deren
Wertvorstellungen von grundsätzlich anderer Natur sind, in die deutsche Gesellschaft
integriert werden können. Weil dem so ist, erleben wir gerade in der dritten oder
vierten Zuwanderungsgeneration bestimmter Ethnien, insbesondere aber bei den Türken,
sogenannte "Reethnisierungstendenzen". Sprich: Die Ansätze von Assimilation und
Integration, die es gegeben haben mag, werden durch die permissive deutsche Zuwanderungspolitik,
die stark wachsende Diasporas nicht kulturkompatibler Ethnien ermöglicht, wieder
rückgängig gemacht. Es ist eben nicht zufällig, sondern bezeichnend,
wenn nach einer Umfrage von 1997 etwa sechzig Prozent der türkischen Jugendlichen
im Alter von 15 bis 21 Jahren der These zustimmen: "Das Türkentum ist unser Körper,
unsere Seele ist der Islam. Ein seelenloser Körper ist ein Leichnam." Was das
bedeutet, liegt auf der Hand und ist in Deutschland mittlerweile tagtägliche Realität:
Der multikulturelle (Schein)Konsens muß mit ständigen, (von "Sozialpädagogen"
moderierten) teuren Konfliktgesprächen herbeigeführt werden, um die gesellschaftlichen
Desintegrationstendenzen in einem erträglichen Rahmen zu halten. Dieser
angebliche Konsens ist allerdings nicht in der Lage, die Beharrungskräfte, mit
denen bestimmte Gruppen an ihrer kulturellen und ethnischen Identität festhalten,
zu überbrücken. Multikulturalisten bleiben sprachlos, wenn es zum Beispiel um
die Unterdrückung islamischer Frauen in deutschen Ausländerghettos geht. Wie paßt
Diese Tatsache eigentlich zu der "Freiheit" der modernen, multikulturellen Gesellschaft,
von der sie schwärmen? Die Ghettoisierung scheint in jedem
Einwanderungsland einer eisernen Regel zu folgen: Wenn die Wertvorstellungen eines
Zuwanderungslandes mit den Wertvorstellungen der Zuwandernden kollidieren, kommt
es zu Abschottungstendenzen. Wie diese Ghettos aufgelöst werden könnten, wie es
Helmut Schmidt für wünschenswert hält, ist nicht ersichtlich. Wie auch: Deutschland
hat sein Selbstbestimmungsrecht in Fragen der Zuwanderung weitgehend aufgegeben.
Internationale Verträge werden auch in Zukunft für einen unkontrollierbar großen
Strom von Zuwanderern sorgen, der jede Integrationsbemühung zunichte machen wird.
So müßte vor allem darüber nachgedacht werden, wie Deutschland in Fragen der Zuwanderung
seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnen kann. Junge
Freiheit vom 3. Dezember 2004 | |  |