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Die Hedonismus-Falle (von
Jost Bauch) Wenn Samuel Huntingtons Analyse vom "Kampf der Kulturen"
richtig ist, dann ist der Westen (das Abendland, der Okzident) mehr als schlecht
auf diesen Kampf vorbereitet. Führen wir uns einen Kernsatz der Huntingtonschen
Analyse noch einmal vor Augen: "In der modernen Welt ist die Religion wirklich
die zentrale Kraft, die die Menschen motiviert und mobilisiert ... Was letztlich
zählt für die Menschen, ist nicht politische Ideologie oder ökonomisches
Interesse. Glaubensüberzeugung und Familie, Blut und Glaubenslehre sind das,
womit sich Menschen identifizieren und wofür sie kämpfen und sterben." Wenn
tatsächlich Glaubensüberzeugung, Familie und Blut die entscheidenden
Parameter im Kampf der Kulturen sind, dann hat der Westen mit seinem Hedonismus
und Utilitarismus, seiner Kultur des Wohlbefindens (Pleonexie) kaum eine Basis,
um sich dem Expansionismus insbesondere des Islam entgegenzustellen. Denn die
Auseinandersetzung mit den Glaubensinhalten einer anderen Kultur setzt immer eine
eigene Glaubensüberzeugung voraus. Es stellt sich dabei die Frage, ob die
säkularen Restwerte des westlichen Wohlbefindens (Zivilgesellschaft, Menschenrechte,
Demokratie) die diskriminative und bestimmende Kraft einer Glaubensüberzeugung
haben, um Gottesstaaten und Gotteskrieger Paroli bieten zu können. Die westliche
Kultur steht dabei in einer Paradoxie, die andere weniger säkularisierte
Kulturräume nicht haben: Will man die westliche Ethik des Wohlbefindens gegen
Fundamentalismen anderer Kulturräume verteidigen, muß man genau diese
Ethik des Wohlbefindens aufgeben. Die Ethik des Wohlbefindens ist tot, wenn man
sie nicht verteidigt, sie ist aber ebenso zu Grabe zu tragen, wenn man sie verteidigen
will! Der Einsatz der notwendigen Mittel zur Verteidigung macht die Suspendierung
des Zweckes erforderlich. Bevor man sich der Frage hingibt, ob es einen
Weg aus dieser Aporie gibt, wollen wir uns genauer mit dem Phänomen der Säkularisierung
befassen und insbesondere die Ambivalenz dieses Phänomens untersuchen: Die
These ist, daß die Säkularisierung in der westlichen Welt einerseits
zu einem Großteil die Vormachtstellung der westlichen Zivilisation ermöglicht
hat, andererseits aber auch ihre "Wehrlosigkeit" verursacht. Säkularisierung
kann in einem ersten begrifflichen Zugriff als "Verweltlichung" verstanden
werden. Im kanonischen Recht meint Säkularisation die Rückkehr eines
Ordensangehörigen in den weltlichen Stand. Als Terminus technicus soll "secularisieren"
zuerst in Münster gefallen sein, "und zwar während der Verhandlungen
zum Westfälischen Frieden aus dem Munde des französischen Gesandten
Longueville, der damit die zur Verhandlung stehende Liquidation geistlicher Herrschaft
bezeichnete, der Stifte, Bistümer zum Opfer fielen", so Herrmann Lübbe
in seiner Schrift "Säkularisierung" aus dem Jahre 1965. Säkularisation
stellt aber nicht nur einen unrechtmäßigen Raub von Kirchengütern
dar, wie weiter die Lokalgeschichte Münsters zeigt. Die Gründung
der Universität in Münster war mit einer Säkularisation verbunden,
welche die Kirche aus eigenem Willen vollzog. Das adlige Benediktinerinnenkloster
"Überwasser" wurde mit päpstlicher Genehmigung zur Urzelle
der Münsterschen Universität. Der Primär-Begriff der Säkularisation
ist also ursprünglich gegen das Urteil der Rechtmäßigkeit oder
Unrechtmäßigkeit offen, so resümiert Herrmann Lübbe, erst
im Gefolge der napoleonischen Kriege und Herrschaft galt Säkularisation in
der katholischen Interpretation als unberechtigte Aufhebung geistlicher Institute
und Einziehung von Kirchengütern durch den Staat. Erst viel später entkleidete
sich der Säkularisations-Begriff dieser besonderen Bedeutung und wurde mehr
oder weniger synonym mit "Verweltlichung" gebraucht. Seitdem bezeichnet
er eine bestimmte Geisteshaltung, die die Welt und das Weltgeschehen zunehmend
nicht mehr aus religiösen und transzendentalen, sondern aus innerweltlichen
Bezugspunkten heraus erklärt. Dabei wurde Säkularisation zu einer soziologischen
Prozeß-Kategorie und bezeichnet die zunehmende Abnahme der Bedeutung organisierter
Religion als eines Mittels sozialer Kontrolle. Will man die eigene Ethik
des Wohlbefindens gegen andere Weltanschauungen verteidigen, muß man genau
diese Ethik des Wohlbefindens aufgeben. Deshalb ist der "Fundamentalismus"
für den Westen so gefährlich. Von Anfang an ist dem Christentum
eine so verstandene Säkularisierungstendenz inhärent: Denken wir an
Jesus, der als Sohn Gottes Mensch geworden ist, denken wir an die Unterscheidung
von civitas dei und civitas terrena ( die "Zweireichelehre") bei Augustinus.
Einerseits lebt der Christ im Reich Gottes, andererseits lebt der Christ in einer
Welt, die Gott geschaffen hat, die jedoch in Schuld und Sünde gefallen ist.
Denken wir an das Gottesgnadentum des Protestantismus wie bei Calvin formuliert
(der weltliche Reichtum zeigt mir, ob Gott mir gnädig ist) oder an das "sola
fides"-Prinzip bei Luther. In der 1520 verfaßten Schrift "Von
der Freiheit eines Christenmenschen" heißt es: "Überaus leichtlich
zu merken ist, warum der Glaub so viel vermag und daß keine gute Werk ihm
gleich sein mugen, Denn kein gut Werk hanget an dem gottlichen Wort, wie der Glaub,
kann auch nit in den Seelen sein, sondern allein das Wort und Glaube regieren
in den Seelen." Wenn allein der Glauben zählt und nicht die Teilhabe
an kollektiven, rituellen Handlungen, dann wird Religion verinnerlicht und transzendiert
gleichermaßen. Die Welt wird freigesetzt und folgt eigenen Gesetzen, vielleicht
noch in Gang gesetzt von Gott, dem "ersten Beweger". Max Weber
ist den Säkularisierungstendenzen in seiner berühmten Schrift "Die
protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" nachgegangen und kommt
zu dem Schluß, daß die Religion sich durch eigene Rationalisierung
selbst einen tragischen Untergang bereite. Nach Weber begründete der Protestantismus
eine "innerweltliche Askese" und legte damit die Grundlage für
die "ursprüngliche Akkumulation" des Kapitalismus. Weber schreibt
wörtlich: "Die innerweltlich protestantische Askese - so können
wir zusammenfassen - schnürte die Konsumption, speziell die Luxuskonsumption
ein. Dagegen entlastete sie im psychologischen Effekt den Gütererwerb von
den Hemmungen der traditionalistischen Ethik, sie sprengte die Fesseln des Gewinnstrebens,
indem sie es nicht nur legalisierte, sondern direkt als gottgewollt ansah."
Speziell der Protestantismus habe dem "okzidentalen Rationalismus" die
Starthilfe gegeben und werde, wenn die moderne säkularisierte Gesellschaft
einmal etabliert ist, nicht länger in Anspruch genommen. Wie Pascal
Bruckner in seinem Buch "Verdammt zum Glück" schreibt, wurde die
Vorstellung von Glückseligkeit vom Christentum geprägt, doch diese im
Himmel lokalisierte Glückseligkeit entfaltete eine irdische Kraft, die sich
gegen das Christentum wenden mußte. "Das Motiv des Glücks ging
aus dem Christentum hervor, doch entwickeln sollte es sich gegen dieses. Wie Hegel
als erster bemerkt hatte, enthält diese Religion bereits alle Keime ihrer
Überwindung und der Abkehr der Gläubigen." Der aus dem Geist des
Protestantismus geborene Kapitalismus "als die Herrschaft des Mittels geht
hilflos an sich selbst zugrunde, weil uns alle Zwecke fehlen", schreibt der
junge Carl Schmitt in seinen Tagebüchern. "In der sündigen Welt
des Kapitalismus vertauschen die Menschen die Vorzeichen des Lebens. Sie beten
die Mittel an und haben die letzten Zwecke vergessen." Auf der einen
Seite begründete der in der westlichen Welt verankerte Säkularismus
die technologische Überlegenheit gegenüber anderen Kulturräumen,
als der Geist des Kapitalismus zu einer ungeheuren Entfesselung der Produktivkräfte
führte. Oswald Spengler spricht vom "faustischen Charakter" der
abendländischen Kultur, diese will alle Grenzen der Naturbeherrschung niederreißen
und unter die Kontrolle des Menschen stellen. So ist es nicht verwunderlich, daß
mit der Vormachtstellung des Bürgertums im Naturrecht und mit der Aufklärung
alle Sozialbeziehungen rationalisiert werden und "more geometrico" der
Natur die letzten Geheimnisse entrissen werden sollen. Die abendländische
Säkularkultur zeichnet so ganz wesentlich verantwortlich für die technologische
Überlegenheit des Okzidents. Auf der anderen Seite führte die
okzidentale Entzauberung der Welt zu einer "Verdiesseitigung des Wohlbefindens",
transzendent begründete Werte und Normen verlieren - als Werteverlust oft
diskutiert - ihre lebenspraktische Kraft und konvergieren zu materialen Restwerten
des komfortablen Lebens. Menschen eines solchermaßen säkularisierten
Kulturraumes sind nur in extremen Ausnahmefällen bereit, für eine Idee
ihr Leben einzusetzen, weil das Leben hier und jetzt ja den höchsten Wert
darstellt. Und genau diese Einstellung markiert die differentia specifica zu den
Gotteskriegern des Islam. Für sie ist es ein Fest, ihr irdisches Leben für
die Idee des Islam hinzugeben, um durch die für sie heroische Tat belohnt
mit 72 Jungfrauen ins Paradies einzugehen. In einer Säkularkultur, in der
nichts mehr zählt als ebendieses irdische Leben, kann eine solche religiös
motivierte Einstellung nur auf Unverständnis stoßen. Aber genau diese
materialistische, säkulare Grundhaltung der westlichen Zivilisation markiert
ihre schwache Seite. Auch wenn der Westen seine volle technologische Überlegenheit
ausspielt und weiter in arabische Länder einmarschiert, entstehen mit jedem
territorialen Sieg neue Gotteskrieger, die mit ihrer Terrordrohung genau den Nerv
des westlichen Hedonismus treffen. Es wird zum Risiko, bequem zu leben: Massenveranstaltungen
zu besuchen, Flugreisen in ferne Länder zu unternehmen, überhaupt liberalen,
unkomplizierten, weltoffenen Umgang untereinander zu pflegen. Die "offene
Gesellschaft", conditio sine qua non der "leisure-Kultur", steht
auf dem Spiel. Säkularisierung bedeutet, wie von Niklas Luhmann in
seinem Aufsatz "Das Medium der Religion" dargelegt, "daß
religiöse Kommunikation nicht mehr verlangt wird und Teilnahme an Religion
nicht mehr zur Voraussetzung der Teilnahme an anderen Funktionssystemen gemacht
werden kann". Dabei gilt es festzuhalten, daß in anderen Kulturräumen
eine solche Entkopplung des Religionssystems von anderen Funktionssystemen (wie
Politik, Ökonomie, Erziehung, Wissenschaft etc.) in diesem Ausmaß nicht
üblich ist. Auch wenn der Westen seine volle technologische Überlegenheit
ausspielt und weiter in arabische Länder einmarschiert, entstehen immer wieder
neue Gotteskrieger, die auf unsere Achillesferse zielen. Man kann das als
Evolutionsgewinn von funktionaler Differenzierung in westlich modernen Gesellschaften
sehen. Fundamentalismus auf der anderen Seite bedeutet, daß die Partizipation
des Einzelnen an religiöser Kommunikation die Voraussetzung für die
Integration in andere Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft darstellt.
Religion hat sich bei fundamentalistisch strukturierten Gesellschaften gegenüber
anderen Funktionssystemen nur unzureichend funktional ausdifferenziert, sie "überdeterminiert"
das Prozessieren anderer gesellschaftlicher Systeme. Diese Situation erinnert
an mittelalterliche Verhältnisse in Europa, als die einzelnen gesellschaftlichen
Teilbereiche und wissenschaftlichen Disziplinen sich nur als "Magd der Theologie"
profilieren konnten. Galilei mußte widerrufen, das ptolemäische Weltbild
galt auf Geheiß der Religionsführer weiter, die Wissenschaft war noch
nicht "selbstreferentiell". Natürlich stellt sich in diesem
Zusammenhang auch die Frage, ob eine "Ent-Säkularisation", eine
"Re-Sakralisierung" insbesondere Europas dem Westen wieder die Kraft
geben könnte, im Kampf der Kulturen besser zu bestehen. Solche Versuche haben
Tradition. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das europäische Unglück
als Konsequenz des Jahrhunderts ohne Gott angesehen, so bei Alfred Müller-Armack.
Er will den Säkularisierungsvorgang durch eine Reaktivierung der "bewahrenden
Macht" rückgängig machen, die für "alle europäischen
Völker in der Glaubenstradition des Christentums beschlossen liegt".
Diese Einheit Europas im Christentum, so Müller-Armack im Jahre 1948, werde
künftig mehr bedeuten als dessen konfessionelle Differenzierung. Problematisch
an solchen Positionen, die heute ja wieder vielfach vertreten werden, ist die
Tatsache, daß Glaube nicht dekretiert werden kann (schon gar nicht politisch).
Glaube wächst zu, vielleicht verstärkt in schlechten Zeiten. Auch sollte
bedacht werden, daß Glaube, so wie wir ihn mit einem individualistischen
Zug in christlicher und besonders protestantischer Tradition verstehen, auf säkulare
Institutionen wie den Staat angewiesen ist. In den Worten von Herrmann Lübbe:
"Es ist die Sprache des Mangels an Einsicht, daß Glaube und Kirche
gegen die Gewalt- und Rechthaberei totalitärer Mächte heute einzig bei
den säkular definierten Freiheitsrechten, die der säkularisierte Staat
garantiert, geschützt sind." Vor allen tagespolitischen Auseinandersetzungen
müssen wir uns vor Augen führen, daß der "clash of civilizations"
auch im Zusammenhang mit Globalisierungserscheinungen zu interpretieren ist. Mit
der fortschreitenden kommunikationstechnischen und ökonomischen Globalisierung,
die ja auch die arabischen Staaten erfaßt hat, setzt in diesen Ländern
ebenfalls ein "Säkularisierungsschub" ein. Teile der Bevölkerung
wehren sich gegen die sich aufbauenden neuen Welten im eigenen Lande durch traditionalistische
Orientierung und religiösen Fanatismus. Die Islamwissenschaftlerin Sonja
Hegasy vom Zentrum Moderner Orient in Berlin spricht von einer "arabischen
Depression" angesichts der westlichen Demütigungen von Napoleon bis
Bush. Auch ohne den dezidierten Kampf der Amerikaner gegen Terrorismus und
"Schurkenstaaten" gibt es aus internen Gründen der Ablehnung und
Angst vor diesen Entwicklungen bei Teilen der Bevölkerung eine "hausgemachte"
Radikalisierung. Die kulturunsensible Machtpolitik der Amerikaner setzt dieser
Entwicklung nur die Krone auf. Der Westen muß verstehen lernen, daß
die Menschen anderer Kulturräume sehr viel stärker traditionalistisch
gebunden und Versatzstücke der westlichen Säkularkultur nicht ohne Widerstand
in bestehende, jahrhundertealte Kulturen zu implantieren sind. Globalisierungseffekte
produzieren in säkularisierten Gesellschaften weniger dramatische Auswirkungen
und Reaktionen als in vorwiegend traditionalistisch strukturierten Gesellschaften. Auf
alle Fälle müssen wir uns zuerst mit dem Gedanken vertraut machen, daß
der Westen mit seinem Säkularismus eine Sonderstellung innehat. Wir sind
die Ausnahme und der Sonderling und nicht die anderen Kulturräume, die fast
allesamt (noch oder wieder) transzendental und religiös begründete Normen
und Werte des Alltags verteidigen. Eine globalisierte Welt nach westlichem Zuschnitt
ist so eine große Illusion, und im "Kampf der Kulturen" ist noch
nichts entschieden. Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der
Universität Konstanz. Zuletzt erschien von ihm: "Krankheit und Gesundheit
als gesellschaftliche Konstruktion. Gesundheits- und medizinsoziologische Schriften
1979-2003". Junge
Freiheit vom 25. Juni 2004 | |  |