 | | Der Kern des Eigenen Ausweitung
der Kulturkreise: Zur Aktualität von Oswald Spenglers Prophezeiungen (von
Günter Zehm)
Viel ist jetzt vom Dialog der Kulturen die
Rede, auch vom Krieg der Kulturen. Was aber ist eine Kultur? Es hat
sich da ein Klischee, eine Art Puppenstuben-Perspektive herausgebildet, derzufolge
Kultur das sei, womit man das Leben ausstaffiert, es verschönt, ihm Geschmack
verleiht. Wichtiger, eigentlicher als Kultur sei allemal Zivilisation,
verstanden als das Insgesamt technisch-wissenschaftlicher Lebensprägung. Zivilisation
sei primäre Welt, Arbeitswelt, wo Verträge abgeschlossen und Bürokratien
aufgebaut werden, Kultur sei sekundäre Welt, Freizeitwelt, wo es weniger
auf Verträge und Bürokratien als auf Volkstanz und Götterglauben
ankomme. Kultur sei im Grunde vormodern, wer sich auf Kultur berufe,
der habe den Prozeß der Zivilisierung, der Technifizierung und Modernisierung
noch vor sich. Der Krieg der Kulturen sei im wesentlichen ein Krieg
der Moderne gegen die Vormoderne. Auch Samuel Huntington, der zur Zeit so
häufig zitierte amerikanische Spengler-Schüler, huldigt - wenigstens
partiell - diesem Denkschema. Für ihn ist Kultur Traditionsbestand,
etwas, womit man zwar rechnen müsse, das dem einzelnen Individuum letztlich
aber dennoch äußerlich sei, erwachsen aus regionalen Zufälligkeiten,
aus Eigenheiten der Landschaft und des Klimas. Huntington möchte Oswald Spengler
gewissermaßen mit Adam Smith und Montesquieu versöhnen, wie das früher
schon einmal Arnold Toynbee versucht hat, die Gestaltlehre mit der Klimaforschung. Ob
das die richtige Wegweisung ist, um mit den neuen Herausforderungen zurechtzukommen?
Oder müssen wir zurück zu Spengler selbst, dessen Kulturbegriff viel
ausgedehnter und viel ernster war? Für den deutschen Morphologen
war Kultur nie und nimmer ein Zusatz oder ein Beiwerk oder eine Akquisition, sondern
die Sache am Ursprung, von der jede Menschenprägung ausging. Der Mensch,
lehrte er, ist ein Naturwesen wie Pflanze und Tier, aber seine Natur, seine Morphé,
seine Gestalt, ist eben die Kultur. Und so, wie jede Pflanze und jedes Tier ihre
ganz spezifische Gestalt haben, so hat jeder Mensch seine spezifische Kultur. Alles,
was innerhalb einer Gestalt wächst und sich entfaltet, entfaltet sich nach
spezifischen Daseinsprinzipien und muß vorrangig aus der betreffenden Gestalt
heraus interpretiert werden. Alles an einer Gestalt ist Geschichte und gehört
in den Kontext dieser einmaligen Gestaltgeschichte. Kultur im populären
Verständnis, also der bestimmte Lebensstil einer Gruppe, eines Stammes, eines
Volkes, ist immer nur Kultur-Kreis um die Gestalt herum, ihre Aura,
ihre Ausdünstung, wenn man will. Je enger der Kreis, um so kraftvoller die
kulturelle Gestalt. Die primären Institute individueller Sozialisation, Familie,
Stamm, Volk, sind in jedem Fall kulturhaltiger (und folglich lebenskräftiger)
als die ferner stehenden Institute der Zivilisation wie Vertragswelt und Bürokratie. Natürlich
berühren und durchdringen sich die einzelnen Kulturkreise, überlappen
sich auch, räumlich wie zeitlich. Doch der aufmerksame Hermeneutiker wird
stets eine kulturelle Kernzone ausmachen, die gestalthaft aus sich selbst lebt,
die sich von außen allenfalls vernichten, nie aber grundlegend ummodeln
läßt, die also eine fensterlose Monade im Sinne von Leibniz ist. Jeder
Kulturkreis ist ein Lebewesen, das geboren wird, Jugend, Hochblüte und Vergreisung
durchmacht und schließlich stirbt. Die Zivilisation aber, wie sie sich vor
allem in der Erreichung eines gewissen technisch-industriellen Niveaus ausdrückt,
ist nicht, wie sich das Voltaire und andere Aufklärer dachten, Höhepunkt
einer historischen Entwicklung, sondern bereits Abstieg, Vergreisung, Dekadenz. Höhepunkt
einer Gestaltkultur und natürlich noch mehr ihre Jugend werden - Nietzsche
läßt grüßen - markiert durch eine gewisse antizivilisatorische
Aggressivität, eine gewisse Ungehobeltheit, ein siegesgewiß polterndes
Barbarentum, durch kecke Ausgriffe ins Unerwartete, Ungeregelte und Ungehörige.
Die Pointe des berühmtesten Spenglerschen Buches, Der Untergang des
Abendlandes von 1918, mit dem er Sensation machte, lag ja gerade darin,
daß dem Abendland, der westlich-faustischen Industrie- und Demokratie-Zivilisation,
vorgehalten wurde, daß es zu wenig gesundes Barbarentum verkörpere,
daß es sich also auf dem absteigenden Ast befinde und bald von jüngeren
Kulturkreisen an den Rand gedrängt und begraben werde. In den konkreten
Voraussagen, wer genau das Abendland beerben werde, blamierte sich Spengler gründlich:
Er hielt Rußland für den Kulturkreis, der demnächst am kräftigsten
aufblühen werde, und empfahl den Deutschen, sich gerade noch rechtzeitig
vom Westen abzukoppeln und sich in Form eines preußischen Sozialismus
an Rußland anzunähern. Das wirkt aus heutiger Perspektive recht komisch,
auf jeden Fall tragikomisch. An der Bedenklichkeit der Spenglerschen Prophetie
ändert es aber wenig. Wenn westliche Prognostiker in der Spur Francis Fukuyamas
heute behaupten, die Weltgeschichte biege gerade in ihre Zielgerade ein und nähere
sich mit Windeseile ihrer eigentlichen Bestimmung, nämlich dem amerikanischen
Demokratie- und Wirtschaftsmodell, so genügt ja schon die simpelste Beobachtung
der Tagespolitik, um solche Aussagen zu relativieren. Dazu war nicht einmal der
11. September 2001 nötig. Statt daß sich die Ströme und
Gestalten der Geschichte zu einem einzigen Strom Globalisierung zusammenfinden,
gewahren wir immer neue Kontraktionen und Individuationen, immer neue Gestalten
und sich formierende Kulturkreise, und diese Gestalten und Kulturkreise scheinen
keineswegs gewillt, unser westliches Zivilisationsmodell blindlings zu übernehmen
oder auch nur als Generalvorbild zu akzeptieren. Im Gegenteil, das Kulturkreisdenken
unterminiert zusehends das westliche Zivilisationsmodell, dem Internet und seinen
weltweiten Infoströmen zum Trotz. Je lauter und insistenter sich die
Fukuyamas bemerkbar machen, um so größer und bedrohlich-blindwütiger
wird der Widerstand. Bescheidenheit, Höflichkeit, glaubhaft bezeugter Respekt
vor den Gestalten und Kulturkreisen sind angesagt, auf allen Seiten, in möglichst
allen Lebenslagen, auf allen Kanälen und Websites. Denn wie gesagt, das je
Eigene der lebendigen Gestalten und Kulturen kann nicht umgemodelt und gleichgemacht
werden, es kann höchstens vernichtet und dem Erdboden gleichgemacht werden.
Und das will hoffentlich niemand. Junge
Freiheit vom 26. Oktober 2001 | |  |