 | | Exklusivität deutscher Verbrechen als
Staatsräson? (von Klaus Kunze)
Der jahrzehntelang
nur in engen Zirkeln verbreitete sogenannte historische Revisionismus ist erwachsen
geworden. Dem Dogma, Deutschland sei schon immer an allem schuld gewesen, hatten
Amateurhistoriker die Antithese entgegengesetzt: Deutschland war an nichts schuld;
und dabei hatten sie teilweise erstaunliche, von der historischen Forschung vernachlässigte
Details ans Licht befördert. Seit dieser Revisionismus das rührend
naive Stadium "Deutschland war an nichts schuld" verlassen hat und sich
mit Namen verbindet wie Professor Hellmut Diwald oder Ferdinand Otto Miksche,
erreicht er in zunehmendem Maße eine breitere Öffentlichkeit. Die Historisierung
des von dem Berliner Geschichtsprofessor Ernst Nolte sogenannten europäischen
Bürgerkriegs von 1914 bis 1945 vermittelt einem Millionenpublikum differenzierte
Aussagen zur Frage der Kriegsschuld an beiden Weltkriegen und zum Ausmaß
deutscher und alliierter Verbrechen. Anders als frühere revisionistische
Amateure, vertreten diese Autoren keineswegs die Auffassung, eigentlich sei das
nationalsozialistische Deutschland ganz harmlos und liebenswert gewesen. Als zahlenmäßig
und moralisch bedeutend werden den deutschen Verbrechen die alliierten Verbrechen
gegenübergestellt, und wenn das ein Millionenpublikum nicht etwa aus der
Feder eines verbohrten Altnazis liest, sondern im Buch eines Miksche, der im Zweiten
Weltkrieg Offizier im persönlichen Stabe von General de Gaulle gewesen ist,
kann eine Bewußtseinsverschiebung in einer breiteren Öffentlichkeit
nicht ausbleiben. Wer als Leser derartiger Bücher die Meinungsfreiheit
in diesem Lande einer Probe aufs Exempel unterzieht und etwa, Miksche folgend,
im privaten Kreise behauptet, es seien nicht sechs, sondern höchstens 1,5
Millionen Juden ermordet worden, sieht sich zu seinem Erstaunen strafrechtlicher
Verfolgung ausgesetzt. Gefährlich ist es auch, darauf weist Diwald in seinem
Buch "Deutschland einig Vaterland" von 1990 hin, die Konzentrationslager
des Dritten Reiches zu einem Gegenstand historischer Forschung zu machen. Wer
an der alleinigen Schuld Deutschlands zweifelt, wird als Verfassungsfeind und
Staatsfeind angesehen und behandelt. Wer diese Behauptung Diwalds in seinem oben
zitierten Werk liest und die einschlägige Gerichtspraxis nicht kennt, wird
ihn belächelt und sich im Wohlgefühl gesonnt haben, im freiesten Staat
zu leben, den es je auf deutschem Boden gegen hat. Indessen entzieht der Zweifler
an der alleinigen Schuld Deutschlands eben diesem Staat und den Grundlagen der
Verfassungsmäßigkeit allen staatlichen Handelns nach Meinung von Diwald
den Boden: Wenn sich nämlich das Grunddogma der alleinigen Schuld nicht aufrechterhalten
lasse, werde der Zweite Weltkrieg zum größten Verbrechen der Geschichte,
das zu einem bedeutenden Teil auf England, Frankreich und den Vereinigten Staaten
laste. Daß dieser Begründungszusammenhang aktuell ist, bestätigte
das höchste deutsche Verwaltungsgericht in einem Urteil vom 28.09.1990, in
dem es die Wertungen Diwalds indirekt bestätigt und ihnen die juristische
Weihe verleiht (NJW, 1991, S.997). Das Bundesverwaltungsgericht entfernte einen
Soldaten trotz überdurchschnittlicher dienstlicher Leistungen aus dem Dienst.
Ein Offizier verstoße gegen seine Pflicht zur Loyalität gegenüber
dem Staat, wenn er nationalsozialistische Verbrechen leugne. Die politische Treuepflicht
gehöre zu den Kernpflichten des Soldaten und verlange, sich zu der Idee des
Staates, dem er dient, zu bekennen. Durch das Bestreiten der Verfolgung und Tötung
von Juden im Dritten Reich habe der Soldat gegen die Pflicht verstoßen,
die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes anzuerkennen
und durch sein gesamtes Verhalten für ihre Erhaltung einzutreten. Das
Urteil entspricht dem geltenden Gesetzesrecht und dem Selbstverständnis dieser
Bundesrepublik. Zum Kernpunkt des Staatsverständnisses und zur Grundlage
der Verfassungsmäßigkeit gehört das Dogma von der Alleinschuld
Deutschlands und von der Einzigartigkeit seiner Verbrechen. Eine historische Forschung,
die diese Verbrechen und alliierte Verbrechen, begangen von den Führem demokratischer
Staaten, als moralisch und zahlenmäßig gleichgewichtig nebeneinander
stellt, trifft die Grundlage der Legitimität der Nachkriegsordnung ins Mark.
Wenn der durch das nationalsozialistisehe Deutschland an den Juden begangene Völkermord
und andere Verbrechen nicht einzigartig und nicht schwerwiegender waren, als beispielsweise
der angloamerikanische Bombenkrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung, als
das Verhungernlassen von bis zu einer Million deutscher Kriegsgefangener in amerikanischen
Gefangenenlagem, dann steht auch die Rechtfertigung aller Verfolgungsmaßnahmen
seit den Nümberger Prozessen in Frage. Spätestens seit dem Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts haben wir es schwarz auf weiß: Die "Idee
unseres Staates" ist keine Schimäre; es gibt sie wirklich. Nach dem
klassischen Staatsrecht weist jeder Staat die Komponenten des Staatsvolks auf,
des Staatsgebiets und der Staatsgewalt. Letztere geht vom Volk aus. Der Staat
hat die Aufgabe, durch seine Staatsgewalt den Frieden und die Wohlfahrt des Staatsvolkes
nach innen und außen zu schützen. Das Bundesverwaltungsgericht
hat diesen klassischen juristischen Kanon erweitert und eine "Staatsidee"
juristisch dingfest gemacht. Im politischen Bereich' definierte sich die
Identität unseres Gemeinwesens von Anfang an im Gegensatz zu allem, was mit
dem Dritten Reich zusammenhängt oder mit diesem in Zusammenhang gebracht
werden kann. Jetzt hat dieses politische Selbstverständnis in der Jurisprudenz
Einzug gehalten, einer Wissenschaft, die dem Politischen sonst verschlossen gegenübersteht. Die
moralische Rechtfertigung für die historisch einzigartige Metamorphose einer
Nation zu einer sich selbst leugnenden Gesellschaft ist die angeblich historisch
singuläre Schuld unserer Großvätergeneration. Wegen unserer blutmäßigen
Abstammung von dieser Generation der "Täter" weist man uns Jüngeren
eine "Betroffenheit" zu. Die rassische Komponente der Abstammung und
die moralische Komponente der singulären Schuld werden funktionalisiert,
um uns auf das historische Novum einer bestimmten Staatsidee einzuschwören.
Da diese Staatsidee eines sich sonst als pluralistisch verstehenden Staates ausschließlich
in der Negation eines bestimmten historisch verflossenen Reiches mit allen seinen
Erscheinungsformen besteht, muß jede Veränderung des historisch fixierten
Bildes vom Dritten Reich als Angriff auf die als Spiegelbild fixierte Idee unseres
heutigen Staates angesehen werden. Darum wertet das Bundesverwaltungsgericht und
werten deutsche Gerichte und Regierungen jeden Versuch einer Korrektur selbst
bloßer historischer Detailfragen als Mohrenwäsche oder Verharmlosung,
lassen eine Beweisaufnahme über wirkliche oder angebliche "historische
Tatsachen" nicht zu. Fragwürdig ist nicht nur die Verteidigung
historischer Detailfragen durch den Strafrichter, wie beispielsweise die Frage
der exakten Anzahl der jüdischen Opfer, oder die Frage, ob die Morde an Juden
etwa durch Massenerschießungen verübt wurden oder mit Gaskammern, als
käme es für die grundsätzliche historische Bewertung darauf noch
an. "Der Strafjustiz würde damit eine Rolle in der politischen und historischen
Auseinandersetzung aufgebürdet, mit der sie überfordert ist. Wir bezweifeln
auch, daß solche Auseinandersetzungen in einer freiheitlichen Gesellschaft
mit strafrechtlichen Kategorien belastet werden dürfen", erklärte
sogar der Vorstand des linksstehenden Republikanischen Anwaltsvereins Klaus Eschen
(Zeitschrift für Rechtspolitik 1983, S. 10) und vertritt die Auffassung,
bei aller wünschenswerten Eindämmung neonazistischer Tendenzen sei die
strafrechtliche Festschreibung historischer Dogmen kein geeignetes Mittel. Damit
hätte die Strafjustiz die Aufgabe, historische Vorgänge als "strafrechtlich
wahr" festzustellen, deren Anzweiflung oder Verharinlosung fürderhin
mit Strafe bedroht wäre. Die Strafjustiz hätte (... ) historische Dogmen
zu bilden und ihr Leugnen zu ahnden." Die Klärung historischer
Verbrechen würde zum "Gegenstand der Beweisaufnahme. Es käme zu
der unerträglichen Situation, daß sich deutsche oder ausländische
Sachverständige, Historiker, Politologen und Ethnologen darüber auseinandersetzen
mußten, was als historische Wahrheit (... ) zu gelten hätte. Diese
Schwierigkeit wird deutlich, wenn sich eine der inkriminierten Schriften nicht
mit dem Völkermord als Ganzem, sondern lediglich mit Teilakten beschäftigt,
etwa mit der Existenz oder Funktion des Warschauer Gettos." Genau diese Probleme,
von Klaus Eschen 1983 hellsichtig vorausgesehen, sind heute aber Gegenstand der
Rechtsprechung. Diese hilft sich mit dem Pochen auf "Historisch feststehende
Tatsachen" und lehnt es grundsätzlich ab, in Beweisaufnahme über
die Richtigkeit historischer Behauptungen einzutreten. Die "Idee"
unseres Staates, sich ausschließlich als Negation eines früheren Systems
zu begreifen und den Zweifler an historischen Details zum Staatsfeind zu machen,
ist politisch und juristisch systemwidrig. Politisch systemwidrig in einem pluralistischen
System ist es, einen Bürger wegen einer abweichenden Meinung zu historischen
Ereignissen zu bestrafen. Dem politischen Pluralismus zuwider ist vor allem aber
die Vorstellung, das Staatsvolk auf irgendeine bestimmte Idee des Staates einschwören
zu wollen. Es ist ja gerade Merkmal des politischen Pluralismus, dem Bürger
jede Freiheit der Ideen und Gedanken zu gewähren. Ein pluralistischer Staat
darf keine "Idee" haben, sonst ist er nicht mehr pluralistisch. Juristisch
systemwidrig ist die Annahme, wer bestimmte vorgegebene historische Behauptungen
nicht glaube oder ein anderes Staatsverständnis als das der Negation eines
bestimmten historischen Modells habe, sei deshalb ein Feind der Demokratie. Es
wäre traurig um unser demokratisches Gemeinwesen bestellt, wenn es zu seiner
Legitimation des feststehenden Feindbildes des "Nazis" und der Einzigartigkeit
seiner Verbrechen bedürfte. Die Negation von irgend etwas Vergangenem oder
die Festschreibung historischer "Tatsachen" ist kein Wesensmerkmal der
freiheitlichen demokratischen Grundordnung und darf auch nicht dazu gemacht werden.
Andernfalls droht dieser Demokratie ein zwangsläufiger Legitimationsverlust,
sobald sich historische Detailbehauptungen, von der Strafjustiz erbittert verteidigt,
durch die Geschichtswissenschaft selbst nicht mehr aufrechterhalten lassen. Klaus
Kunze ist Rechtsanwalt in Uslar. Junge
Freiheit vom 26. Juli 1991 | |  |