 | | Geschichte und Nachgeschichte: Der Historiker Ernst Nolte über
das "Schwarzbuch des Kommunismus", über den Stand der Totaltarismusforschung
und seine neueste Studie "Ein Ausgriff des Menschen auf die Realität
im ganzen" (von Peter Krause)
In der Berliner Zeitung wurden
Sie von Jan Ross als "Ahnherr" des "Schwarzbuches des Kommunismus"
bezeichnet. Gleichwohl sind Sie zu keiner der vier Veranstaltungen mit dem Herausgeber
Stéphane Courtois in Deutschland als Diskussionspartner eingeladen worden.
Wie erklären Sie sich das? NOLTE: Wenn ich zu diesen Veranstaltungen
eingeladen worden wäre, wäre auch der großen Öffentlichkeit
klar gewesen, daß der so lautstark verkündete Sieg der "gutgesinnten"
Seite über die "Relativierer" im deutschen Historikerstreit immerhin
fraglich geworden ist. Zumal, wenn man den Briefwechsel zwischen François
Furet, der mit größerem Recht als der "Ahnherr" des Schwarzbuches
bezeichnet werden müßte, und mir herangezogen hätte, würde
einiges in eine andere Perspektive gestellt sein, als das heute meist der Fall
ist. Trotzdem bin ich froh, daß die alte Kampfposition nicht restituiert
worden ist, denn es hat sich ja doch eine Annäherung vollzogen, etwa im Zusammenhang
mit der Goldhagen-Affäre. Es ist zu hoffen, daß in Zukunft ein gemeinsames
Nachdenken die Stelle der Polemik einnehmen wird. Und es ist nicht ganz richtig,
daß ich überhaupt nicht gebeten worden bin. Schon vor einigen Monaten
habe ich im Deutschlandfunk und im Info-hRadio Berlin etwa mit Heinrich August
Winkler und Peter Steinbach ohne polemische Schärfe über die französische
Ausgabe des Schwarzbuches diskutiert. Aber der Auftritt in der großen Öffentlichkeit
wird mir, darin haben Sie recht, noch nicht zugestanden. Worin sehen Sie
die prinzipielle Bedeutung des "Schwarzbuches"? Die Zahlen waren bekannt. NOLTE:
Natürlich war das meiste bekannt. Aber viele spezielle und vereinzelte Studien
zusammenzufassen, auch wenn man das als eine Buchbindersynthese bezeichnen möchte,
ist verdienstlich und hat es in dieser gründlichen und umfangreichen Form
bisher nicht gegeben. Es kommt hinzu, daß gerade die Forschung über
die Sowjetunion geschlossene Archive nutzen konnte. Was von Nicolas Werth gesagt
wird, hat größeren Authentizitätswert als das, was vor 1989 gesagt
werden konnte. Es ist ein zu einfaches Argument zu sagen: Das wußten wir
ja alles schon. Es kommt auf die Synthese an, und hier zeigt sich klar, daß
der Begriff Stalinismus vor allem eine apologetische Bedeutung hat. Ein gewisses
Muster zeigt sich in allen kommunistischen Regimes. Und gerade in den Arbeiten
über die Sowjetunion im Schwarzbuch wird ja klar, daß der Terror 1917
unter Lenin begann und nicht erst unter Stalin. Der Stalinismus also nicht
als die Verzerrung des Kommunismus zur Unkenntlichkeit, sondern als, wie Horkheimer
sagt, die Entzerrung zur Kenntlichkeit? NOLTE: Stalinismus bedeutet
den Höhepunkt des Schreckens. Aber solche Höhepunkte hat es in anderen
kommunistischen Diktaturen ähnlich gegeben. Methodisch wird dem "Schwarzbuch
des Kommunismus" vorgeworfen, es summiere bloß die Opfer, stelle keine
argumentativen Zusammenhänge her. Teilen Sie diese Kritik? NOLTE:
Es hat vor einigen Jahren in der Zeitschrift "Die Woche" einen Artikel
von Peter Glotz gegeben, der sich mit mir befaßte; dieser Artikel war überschrieben:
"Der Buchhalter des Todes". Ich wüßte schlechterdings nicht,
wo ich als ein solcher aufgetreten wäre. Es ist aber merkwürdig, daß
Menschen, die sonst sehr an Zahlen hängen, jede Infragestellung von bloßen
Zahlen mit großer Heftigkeit bekämpfen und meine Versuche der verstehenden
Einordnung mit Verdächtigungen bedacht haben, nun, im Falle des Schwarzbuches,
von Zahlen nichts mehr wissen wollen. Ohne die Zahlen kann man nicht auskommen.
Vielleicht sind sie zu stark in den Vordergrund gestellt worden. Wenn man aber
bedenkt, wie die Zahlen der Opfer des Kommunismus außerhalb der Sowjetunion
lange in den Hintergrund gedrängt worden sind, dann ist klar, daß die
Zahlen wichtig sind. Und daß es Unsicherheitsfaktoren gibt, was Courtois
keineswegs bestritten hat, ist klar: es fehlten die statistischen Ämter. Was
bemängeln Sie an dem Buch? NOLTE: Ich selbst habe immer die
"enthusiasmierende Seite" des Kommunismus ebenso hervorgehoben wie die
schreckenerregende, und auch im Schwarzbuch ist gelegentlich von der "hellen
Seite" des Kommunismus die Rede. Man muß aber vor allem sehen, daß
die helle und die dunkle Seite eng miteinander verknüpft sind. Vielleicht
läßt sich das durch einen stark vereinfachenden Gedankengang klarmachen:
Es gibt in jeder nationalen Gesellschaft eine Anzahl von Menschen, die "fortschrittlich"
und zugleich sowohl pazifistisch wie humanitär gesinnt sind. Nehmen wir an,
sie brächten es fertig, sich zu einer Partei zusammenzuschließen, die
sich "Fortschrittspartei" nennen würde. Diese Partei würde
eine bedeutende Kraft sein, aber schwerlich mehr als eine kleinere oder größere
Minderheit darstellen. Wenn es ihr gelänge, gewaltsam die alleinige Macht
zu erringen, würde sie sich gegenüber allen "reaktionären",
vergangenheitsorientierten Kräften in einer Bürgerkriegssituation befinden.
Sie müßte gegen die Majorität der Nation Krieg führen, müßte
bestrebt sein, die führenden Gruppen dieser Majorität des Volkes auszuschalten,
im Falle des Widerstandes sogar zu vernichten. Als militante Minderheitspartei
wird sie sich selbst "revolutionär" nennen. Und die Bolschewiki
waren 1917 ein solche "Fortschrittspartei"? NOLTE: In
gewisser Weise kann man die bolschewistische Partei in der Tat als "militante
Fortschrittspartei" verstehen. Das erklärt einerseits, weshalb ihr so
viel Sympathie bei den fortschrittlich Gesinnten der übrigen Welt begegnet.
Es erklärt andererseits, weshalb sie einen Vernichtungsfeldzug gegen so viele
Feinde führte: gegen den Adel, die Kirche, die Kosaken, die Kleinbürger,
die Kulaken
Diesen Auseinandersetzungen fielen schon in wenigen Jahren auf
direkte oder indirekte Weise Millionen von Menschen zum Opfer. Die helle Seite
wird, sobald die Fortschrittspartei militant ist, notwendig zur dunklen Seite.
Weil die Partei der Bolschewiki indessen aus dem Weltkrieg heraus in den Weltfrieden
eintrat, durfte sie ein großes historisches Recht für sich in Anspruch
nehmen. Aber da sie vor allem die Partei der Armen und Ausgebeuteten sein wollte,
vernichtete sie auch diejenigen Kräfte, die bis dahin immer als Spitze des
Fortschritts gegolten hatten, nämlich das industrielle Bürgertum und
die Intelligenzija. Und da sie sich an dem archaisch-utopischen Begriff der "Abschaffung
des Privateigentums" orientierte, mußte sie auch wiederum als das Gegenteil
einer Fortschrittspartei erscheinen. Sehr früh wurde mithin eine tiefe innere
Widersprüchlichkeit erkennbar. Sie kritisieren also eine gewisse Vereinfachung
der Geschichte im "Schwarzbuch"? NOLTE: Mit einfachen Begriffen
läßt sich der "Klassenkrieg", den die Bolschewiki, zuerst
mit dem Ziel der "sozialen Vernichtung", in Gang setzten, so wenig erfassen
wie später der nationalsozialistische "Rassenkrieg". Man kann so
zwar das kommunistische Phänomen zunächst durch einen sehr einfachen
Begriff kennzeichnen: "militante Fortschrittspartei", im Weiterdenken
wird die Sache aber sehr widersprüchlich, zumal heute der Begriff "Fortschritt"
selbst seine einstige Eindeutigkeit verloren hat. Daher würde ich das kommunistische
Vernichtungswerk, das dem Aufbau einer durchsichtigen, moralischen und egalitären
Gesellschaft dienen sollte, nicht durch den zivilrechtlichen Begriff "Verbrechen"
charakterisieren, sondern ich würde nicht anders als die späteren und
entsprechenden, wiewohl gegensätzlichen Vernichtungsmaßnahmen des Nationalsozialismus
als ideologisch begründete "Untat" bezeichnen. Schon mit dem Untertitel
des Schwarzbuches: "Unterdrückung, Verbrechen und Terror" würde
ich also nicht ganz einverstanden sein. Aber gegenüber der Verherrlichung
der "Progressiven" ist es nicht minder im Recht, als es schon Solschenizyns
"Archipel Gulag" war. Es ist ein Antidot für die Verharmloser. Legt
das "Schwarzbuch" Folgerungen nahe, die es selbst nicht ausdrücklich
vornimmt? NOLTE: Mir scheint, daß durch das Schwarzbuch die
Einsicht unumgänglich wird, daß es schon in den zwanziger Jahren Publikationen
gegegeben hat, deren Lektüre "das Blut in den Adern erstarren"
läßt, und daß man solche Bücher nun nicht mehr als "antikommunistische
Hetzliteratur" abtun darf. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts kann nicht
als der simple Kampf der "Guten" gegen die "Bösen" erscheinen,
sondern als ein Konzentrat tragischer Verkehrungen, die zwar dem moralischen Urteil
über persönliche oder parteimäßige Schuld oder Unschuld unterliegen
und ihrer Unterschiedlichkeit nicht entkleidet werden dürfen, die aber dem
selektiven Moralismus und den politischen Instrumentalisierungen in den Kämpfen
der Gegenwart entzogen werden sollten. Alles war bekannt! Wieso weigerte
und weigert sich eine maßgebende politische und intellektuelle Schicht in
Deutschland, die Öffentlichkeit umfassend und aufklärerisch mit diesen
Schrecken zu konfrontieren? NOLTE: Die "fortschrittlich Gesinnten"
sind in der Regel Menschen, die sich in erster Linie an Gedanken orientieren,
nicht an Realitäten. Wenn man sie mit der Realität ihrer Idee derart
konfrontiert, wie es das Schwarzbuch macht, dann müssen sie diese Belege
kleinreden. Der urkommunistische Impuls eines harmonischen, konfliktfreien Lebens
ist ja sehr schön, aber es gibt zwischen dem Gedankenkommunismus und dem
Gewaltkommunismus, der hellen und der dunklen Seite, eine enge Verknüpfung,
die immer noch geleugnet wird. Ich schrecke vor der These nicht zurück, daß
das Überschießen oder der Extremismus des Guten nicht weniger schlimm
sein kann als das Überschießen oder der Extremismus des Schlechten.
Erklärt das auch die ungewöhnliche Gereiztheit, mit der dem "Schwarzbuch"
von linker und auch linksliberaler Seite begegnet wird? NOLTE: Das
hängt wohl damit zusammen, daß nicht nur der Kommunismus nicht mehr
schönzureden ist, sondern daß der Nationalsozialismus in die Dimension
der Vergleichbarkeit gerät. Das einfache Geschichtsbild wird so fragwürdig.
Die These von der Vergleichbarkeit ist ja nicht etwa von mir eingeführt worden.
Das hat Hannah Arendt bereits getan, die die beiden totalitären Systeme in
gewisser Beziehung sogar gleichgesetzt hat. Mir wirft man vor, daß ich eine
Kausalität hergestellt habe zwischen dem früheren Kommunismus und dem
reagierenden Faschismus. Nun sagen manche Leute: post hoc ergo propter hoc
das sei Noltes falscher Schluß. Diese Leute haben sich nie gründlich
mit der frühen Phase des Nationalsozialismus beschäftigt. Nun ist der
Faschismus sicher nicht nur ein militanter Antikommunismus gewesen. Daß
es sich dabei nur um einen Teilaspekt handelt, wenngleich um einen grundlegenden,
habe ich stets klargemacht. Ihr Werk ist heftiger Kritik, auch Mißverständnissen
ausgesetzt, die beinahe gesucht wirken. Worin sehen Sie die Gründe für
die Polemik? NOLTE: Man hatte in den siebziger und achtziger Jahren
geglaubt, einen großen Schritt getan zu haben, indem man die populäre
Formel "Rot gleich Braun" gleichsam zu einem schmutzigen Wort gemacht
hatte, so daß die Totalitarismustheorie überwunden zu sein schien.
Was ich 1986 gesagt habe und dann im "Europäischen Bürgerkrieg"
dargelegt habe, was aber eigentlich schon 1963 in "Der Faschismus in seiner
Epoche" zu lesen war, ist nicht eine Gleichsetzung von Rot und Braun, sondern
die These, daß Rot eine größere Ursprünglichkeit hat. Wenn
man das Braun als eine militante Re-Aktion begreift, ist überhaupt nicht
ausgeschlossen, daß es sich dabei um etwas Verbrecherisches, Grausames,
Böses handelt. Im Gegenteil. Als manche Leute noch nicht so voreingenommen
waren, wurde ich ja noch 1985 in der Historischen Zeitschrift von einem
israelischen Autor etwa bezeichnet als derjenige, der als erster der "Endlösung"
die angemessene Stelle in der Interpretation des Nationalsozialismus gegeben hat.
Vorgeworfen wird mir nun, daß ich in das Verhältnis der beiden Totalitarismen
ein historisch-genetisches Moment hineingebracht und den Kommunismus als ursprünglicher
und eigentlich stärker bezeichnet habe. Stärker deshalb, weil er ein
uralter Menschheitsgedanke ist. Der Nationalsozialismus reagierte auf die diese
Utopie durch das Postulat einer Weltanschauung, der die elementare Mächtigkeit
der linken Utopien aber fehlte. Die NS-Ideologie hatte einen künstlichen
Charakter, aber keinen bloßen Wahncharakter. Der Nationalsozialismus hatte
historisch-politische Realitätsgehalte, und darauf hingewiesen zu haben,
hat man mir außerordentlich übel genommen. Ihren Versuchen, den
Faschismus zu historisieren, wurde vor allem mit Moralisierung und Ideologisierung
begegnet. Sehen Sie eine Entwissenschaftlichung der Historie? NOLTE:
Ich bin meiner Absicht und Methode nach ein Wissenschaftler. Wissenschaft ist
prinzipiell rational. Viele Historiker verstehen jedoch Ihre Aufgabe als eine
nationalpädagogische. Das ist im Prinzip nicht unberechtigt. Dieses Ziel
habe ich auch gehabt. Historiker sind keine Buchhalter. Aber nach einer gewissen
Zeit, erst recht nach 50 Jahren, sollte sich methodisch etwas ändern. Ich
versuche seit einiger Zeit, zu dem historischen Phänomen Nationalsozialismus
mehr Abstand zu gewinnen, und der Tendenz entgegenzutreten, dasjenige, was früher
Gegenstand des Bemühens um eine richtige Einschätzung war, nun zu einem
Klischee zu machen, das überhaupt nicht mehr infragegestellt werden darf.
Denn diese Tendenz, wenn sie sich völlig durchsetzte, würde die Erstarrung
des geistigen Lebens bedeuten. Ist es vielleicht auch Ihr wissenschaftlicher
Habitus, der Ihre Gegner so provoziert? Sie pflegen einen distanzierten, kühlen
Stil, während gerade die Geschichte des Nationalsozialismus starke Emotionen
hervorruft. NOLTE: In dieser "Kühle" steckt in Wahrheit
nicht wenig an Emotion. Ich will das auch gar nicht verstecken. Daß ich
wie alle Deutschen, wie alle Menschen entsetzt bin über das, was in Auschwitz,
Treblinka oder durch die Einsatzgruppen im Osten geschehen ist, das sollte ich
eigentlich nicht dauernd betonen müssen. Aber schon früh ist mir aufgegangen,
daß es in all diesem Entsetzen etwas Verfehltes gibt: nämlich daß
diejenigen Opfer, die wenig an Artikulationsfähigkeit besaßen und in
der Welt keine Verwandten und Freunde hatten, vollständig vergessen werden.
Wer, um nur ein Beispiel zu nennen, die Beschreibung der Deportation von Kulakenfamilien
in den Jahren 1930 bis 1932 liest, und nicht die Ähnlichkeit mit den späteren
Deportationen von Juden erkennen will, dem fehlt etwas. Und wer sich, wenn er
die beiden Geschichten kennt, weiterhin ausschließlich auf den einen Schrecken
konzentriert und den anderen ausblendet, der denkt weder historisch noch ist er
moralisch. Der Wissenschaftler sollte das Bemühen um Verstehen über
das bloße Moralisieren stellen. Worin liegt das Festhalten an der
"Mystifizierung" des Nationalsozialismus nach mehr als 50 Jahren begründet? NOLTE:
Die verspätete und heute ungefährliche Gegnerschaft zum Nationalsozialismus
ist ein Religionsersatz. An die Stelle des absoluten Guten, das Gott war, ist
das absolute Böse getreten: eine historisches Phänomen. Wenn nun jemand
dieses "absolute Böse" auch nur im Ansatz verstehbar, nachvollziehbar
machen will, dann hat das für einen Gläubigen etwas Entsetzliches. Für
einen Gläubigen hat das etwas Entsetzliches. Die neue Pseudoreligiosität
ist aber zu leicht durchschaubar, als daß ich großen Respekt davor
hätte. Wenn man Kommunismus und Nationalsozialismus auch als extreme
politische Produkte einer bestimmten modernen Denkart betrachtet, nämlich
des Übergreifens von Machbarkeitsdenken auf die Realität im ganzen:
Ist dann nicht auch so etwas wie das Paradox eines liberalenTotalitarimus denkbar?
NOLTE: In einigen meiner Aufsätze und in meinem neuen Buch
kommt der Terminus Liberismus vor. Dieser Begriff sucht ein bestimmtes Entwicklungsstadium
dessen zu fassen, was ich das "liberale System" genannte habe. "Liberismus"
ist ein Entwicklungsmoment dieser vielpoligen Gesellschaft, mit dem der Liberalismus
in gewisser Weise totalitär wird. Aber der totalitäre Liberalismus weist
grundsätzlich andere Merkmale auf als andere Totalitarismen: er ist hedonistischer
Individualismus und damit die Verneinung des Begriffs der Pflicht. Insofern ist
der liberale Totalitarismus von präzendenzloser Art. Darüber nachzudenken,
wird Aufgabe Ihrer Generation sein. Ich will mir nicht anmaßen, einen Endpunkt
anzugeben, obwohl eine solche Gesellschaft einen Endpunkt darstellen könnte.
Das ist cura posterior.
Nun droht der Geschichtswissenschaft nicht nur die Gefahr der Ideologisierung
und Beschränkung. Sie hat Konkurrenz bekommen von neuen Medien:
Filme, Fernsehserien vermitteln, oft trivial und einseitig, die
Geschichtsbilder, beeinflussen Geschichtsbewußtsein.
NOLTE:
Geschichtswissenschaft hat es dagegen schwer. Das einzige, was sie sich erhoffen
kann, ist, daß ihren Forschungen und ihrem Nachdenken wenigstens kein Riegel
vorgeschoben wird, was in totalitären Staaten von jeher der Fall war und
was nun auch in unserer Gesellschaft drohen könnte, die ein freie sein will.
Man sollte sich aber nicht wundern, wenn der nationalpädagogischen Trivialisierung
der Geschichtsbilder durch die eine Seite eine Trivialisierung durch die andere
Seite entspräche und sich diese Trivialisierung ebenso als sehr attraktiv
erweisen könnte. Zwischen den beiden Trivialisierungen, der gegenwärtig
sehr starken linken und der noch schwachen rechten, darf sich Geschichtswissenschaft
aber nicht aufgeben. Es ist zu hoffen, daß sie dabei Unterstützung
bekommt durch Verlage, Medien etc., die nicht nur Sensation produzieren wollen. Verstehen
Sie Ihre Geschichtsschreibung als nationale Sinnstiftung? NOLTE:
Nein. Aber ich meine, auch ein Amerikaner oder ein Franzose sollte der Auffassung
sein, ein Volk dürfe sich nicht so sehr aufgeben, wie es in Deutschland nach
der zweiten Niederlage und besonders nach 1968 geschehen ist, und zwar nicht nur
im eigenen Interesse, sondern auch in dem der anderen Nationen, damit nicht ein
potentiell verhängnisvoller Sonderweg eingeschlagen wird.
Ihren historischen Arbeiten liegt ein geschichtstheoretisches Paradigma
zugrunde: die Ausschau nach dem Ganzen, die "historische Transzendenz".
Hängt das häufige Mißverstehen Ihres Werkes auch
damit zusammen, daß dieses Denken einer Spätmoderne mit
ihren disparaten Wahrnehmungsformen nicht entspricht?
NOLTE:
Daß so ein Begriff wie "Transzendenz" in einem Werk der Geschichtswissenschaft
auftaucht, ist sicher etwas Exzeptionelles. Es ist aber 1963 sogar in Amerika
recht positiv aufgenommen worden. Daß ich heute in Deutschland und ebenfalls
in den USA, keineswegs aber in Italien und auch nicht in Frankreich, als ein Ausgestoßener
gelte, hängt sicherlich nicht mit diesem Begriff zusammen, sondern hat viel
konkretere Ursachen. Das eigentliche Verständnis auf den geschichtstheoretischen
Rahmen wird zwar immer auf kleine Kreise beschränkt sein, es gibt aber Hinweise,
daß sich jüngere Forscher gerade diesem Gebiet wieder stark zuwenden. Was
wird Ihr neues Buch "Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?",
das im Herbst im Piper-Verlag erscheinen soll, bringen? NOLTE: Es
wird, wie ich meine, eine konsequente Fortsetzung des Faschismus in seiner Epoche
und des Europäischen Bürgerkrieges von 1987 sein. Der Faschismus in
seiner Epoche hatte den Nationalsozialismus in den Rahmen anderer Faschismen gestellt,
aber nicht, um ihn im Generischen verschwimmen zu lassen, wie es diejenigen tun,
die den Terminus "deutscher Faschismus" verwenden, sondern um ihn als
"Radikalfaschismus" gerade zu unterscheiden. Der Bürgerkrieg bezog
den Kommunismus mit großer Ausführlichkeit in den Rahmen des 20. Jahrhunderts
ein. In dem neuen und letzten Buch wird das Zwanzigste Jahhundert als ganzes in
den Zusammenhang der Weltgeschichte gestellt nicht in der Weise einer Erzählung
selbstverständlich, sondern durch die Analyse von Kategorien und Existenzialien,
welche seit dem Ende der Vorgeschichte für das Dasein der Kulturen bestimmend
waren. Mindestens einige dieser Existenzialien, wie etwa "Adel" und
"großer Krieg", werden im Zwanzigsten Jahrhundert durch die Entwicklung
überholt, und dieses Jahrhundert stellt sich daher als der Übergang
zu einem anderen Zustand dar, den man "Nachgeschichte" nennen mag, einem
Zustand, von dem sich Comte und Marx eine viel zu idyllische Vorstellung gemacht
haben. Ich versuche, durch die andere zeitliche Perspektive unverdient begünstigt,
eine realistische Analyse zu geben. In diesem Zusammenhang erscheint der Kommunismus,
die "militante Fortschrittspartei", als der verfehlte Versuch, die "Nachgeschichte"
vorzeitig und gewaltsam herzustellen, und der Nationalsozialismus als der Todeskampf
der historischen Existenz. Also geht es nun primär um den Gegensatz
der Totalitarismen? NOLTE: Der Gegensatz zwischen den beiden Totalitarismen
steht weit mehr im Vordergrund, als meine Gegner wahrnehmen wollen, aber es ist
nicht der Gegensatz zwischen dem "Positiven" und dem "Negativen".
Beide Phänomene geben vielmehr Zeugnis von der Macht der Verkehrungen in
der Geschichte. Ob ein solches Geschichtsdenken in der "Nachgeschichte"
die ich als den Triumph der praktischen Transzendenz verstehe, das heißt
des Ausgriffs des Menschen auf die Welt im ganzen und der Machbarkeit von allem
einschließlich weithin des Menschen selbst eine Fortsetzung finden
kann, ist eine offene Frage. Um einer Antwort näher zukommen, müßte
vom Verständnis der praktischen zur theoretischen Transzendenz die Rede sein.
Das läßt sich in diesem Gespräch nicht leisten. Aber ein Antoß
zu weiterem Nachdenken kann sehr wohl davon ausgehen. Prof. Dr. Ernst
Nolte wurde 1923 in Witten/ Ruhr geboren. Er studierte Deutsch, Griechisch und
Philosophie an den Universitäten Münster, Berlin und Freiburg (u. a.
bei Martin Heidegger). 1952 wurde er mit einer Arbeit über "Selbstentfremdung
und Dialektik im Deutschen Idealismus und bei Marx" promoviert, 1964 mit
der Studie "Der Faschismus in seiner Epoche" auf Vorschlag Theodor Schieders
an der Universität Köln habilitiert. 1974 erschien "Deutschland
und der Kalte Krieg", 1983 "Marxismus und Industrielle Revolution". Im
Sommer 1986 entzündete sich an seinem in der "Frankfurter Allgemeinen
Zeitung" veröffentlichten Vortrag "Vergangenheit, die nicht vergehen
will" der "Historikerstreit". Nolte hatte geschrieben: "War
nicht der Klassenmord der Bolschewiki das logische und faktische Prius
des Rassenmordes der Nationalsozialisten?" Die Kontroverse
um das Verhältnis von Realkommunismus und Nationalsozialismus entflammte
1987 neu durch das Buch "Der Europäische Bürgerkrieg 19171945".
Nolte veröffentlichte danach u.a. 1991 "Geschichts-denken des 20. Jahrhunderts";
1992 "Heidegger"; 1993 "Streitpunkte"; und 1995 "Die
Deutschen und ihre Vergangenheiten". Im Herbst wird das Buch "Historische
Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?" erscheinen.
Junge
Freiheit vom 3. Juli 1998 | |  |