 | | Packen wir es an! (von Karlheinz Weißmann) Es muß kein Kind
sein, das ruft: Der Kaiser ist nackt! Manchmal ist es ein Vorstandsmitglied
der Bundesbank. Thilo Sarrazin hat es getan, mit seinem Buch Deutschland
schafft sich ab. Der Vorabdruck in Spiegel und Bild fand außerordentlich
starke und sehr positive Resonanz, schon vor Erscheinen stand der Band auf Platz
eins der Verkaufsliste von Amazon, und das, obwohl Sarrazin nach Herzenslust politische
Tabus bricht. Der Volkstod ist für ihn genauso ein Thema wie die Verblödung
durch Einwanderung, die natürliche Ungleichheit der Menschen, das Bereicherungsgeschwätz,
die kulturelle Fremdheit des Islam, das Sexualverhalten der Unterschicht, der
nationale Selbsthaß der Deutschen oder der fatale Einfluß der Achtundsechziger.
Was da geschieht, ist nicht nur ein Medienereignis, nicht nur das Bedürfnis,
eine satte und stumpfe Öffentlichkeit irgendwie zu kitzeln, und auch nicht
nur das Kalkül des Establishment, das eine Art Überdruckventil öffnet.
Hier wird jener Mentalitätswandel sichtbar, von dem an dieser Stelle vor
einem guten Jahr schon die Rede war: allmählicher Verschleiß des alten
Denkens, Abbau der Selbstverständlichkeiten, wachsende Scham, noch länger
mit dem intellektuellen Trödel (Jacques Le Goff) zu hantieren,
der lange, viel zu lange die Debatten bestimmt hat. Indizien deuten auf
Wandel hin Für diese Interpretation sprechen auch andere Indizien,
Basis- genauso wie Überbauphänomene, sogar einzelne Maßnahmen
der praktischen Politik, die man als Indizien dafür deuten kann, daß
ein Wandel in Gang kommt: von der Mehrheit gegen die Primarschule bei der Hamburger
Volksabstimmung bis zur Mehrheit für den Erhalt der Hauptschule in der letzten
demoskopischen Erhebung von Allensbach; von der Forderung nach einer neuen konservativen
Partei durch den Journalisten Michael Klonovsky und den Wissenschaftler Norbert
Bolz bis zur Absicht, den Historikerpreis an den Australier Christopher Clark
zu verleihen, der Preußen und Wilhelm II. verteidigt; von der Weigerung
der Slowakei, sich am Rettungsschirm für Griechenland zu beteiligen,
über das Ende der Quarantäne, die die Etablierten in bezug auf den niederländischen
Islamkritiker Geert Wilders verhängt hatten, bis zur Entscheidung der französischen
Regierung, 12.000 rumänische Zigeuner des Landes zu verweisen. Die
wichtigste Ursache für diese Veränderung ist der Faktor gesunder Menschenverstand,
die seit 45 oder 68 systematisch verächtlich gemachte Fähigkeit,
Erfahrung und Alltagswissen und Lebensklugheit zum Maßstab zu nehmen. Unbeeindruckt
von Expertenmeinungen und Indoktrination scheint ein erheblicher Teil der Bevölkerung
bei Trost geblieben zu sein. Das allein genügt aber nicht. Die schweigende
Mehrheit mag eine Mehrheit sein, aber sie verharrt bei sich selbst, wenn Führung
und hinreichend klare geistige Konzepte fehlen. Der gesunde Menschenverstand genügt,
um das Bestehende zu verteidigen oder die Nische auszukleiden, in die man sich
zurückzieht, oder für die innere Reserve, aber er setzt keinen grundsätzlichen
Wandel ins Werk. Deshalb kommt dem Auftreten von Ketzern in der Kaste
der Sinnvermittler (Helmut Schelsky) so große Bedeutung zu. Deshalb
muß man sorgfältig registrieren, wenn ein politisches Magazin von erheblicher
Reichweite über die Notwendigkeit einer neuen Rechtspartei spekulieren läßt
und ein Intellektueller, der dazu gehört, solche Häresie
aufnimmt und die Position noch einmal deutlich verschärft. In einem Gastkommentar
für den Tagesspiegel schrieb Bolz: Die politische Rechte steht für
Bürgerlichkeit. Wenn es ihr gelingen sollte, sich als Partei zu formieren,
wäre unsere Gesellschaft endlich auch parlamentarisch balanciert. Es
sind aber auch die kleineren Abweichungen von der Hauptlinie zu registrieren,
wie das geschlossene Lob von Feuilleton und Zunft für Clark, der Schlüsselepochen
der deutschen Geschichte einer Umwertung unterzieht. Aus dem angelsächsischen
Bereich kam schon früher Kritik an Sonderwegs- oder Alleinschuldthesen, aber
das wurde bestenfalls als Außenseitermeinung hingenommen. Damit scheint
es vorbei zu sein. Unbekümmert wendet man sich einem wohlwollenderen Bild
der nationalen Vergangenheit zu, ohne die übliche Warnung vor den fatalen
Konsequenzen für die Geschichtspolitik. Daß die Deutschen zu
Geduld im Übermaß neigen, ist eine altbekannte Tatsache. Auch deshalb
sind sie eher bereit, sich umzuorientieren, wenn sie am fremden Modell beobachten
und lernen können. Deshalb erscheinen die Maßnahme Sarkozys gegenüber
den rumänischen Zigeunern und die massive Unterstützung der eigenen
Bevölkerung für diese Maßnahme in einem besonderen Licht. Denn
was bei der Diskussion über eine rigide Abschiebungspolitik der Regierung
Berlusconi in Italien noch selbstverständlich war, die allfälligen Kommentare
und die Nutzung der Faschismuskeule mit sich brachte, das versagt in diesem Zusammenhang.
Politische Veränderungen bereiten sich im kleinen vor Mehr
noch, es wird einfach zur Kenntnis genommen, daß eine europäische Regierung
tatsächlich das Problem ernstnimmt, daß Einwanderung kein Vorgang ist,
bei dem irgendwelche Individuen irgendeinen Flecken Erde besiedeln, auf dem zufällig
andere Individuen leben sondern daß Kollektive kommen beziehungsweise
im Einwanderungsland neu entstehen und diese sich in deutlicher Abgrenzung oder
sogar in betonter Feindseligkeit gegenüber den Autochthonen und der bestehenden
Ordnung konstituieren. Das wiederum zwingt dazu, davon abzugehen, sich mit den
einzelnen zu befassen, und statt dessen die Gruppe in den Blick zu nehmen, die
deren ethnisches Kapital repräsentiert und mehrt. Alexis de Tocqueville
schrieb über die große Revolution, es habe niemals ein weniger
vorhergesehenes Ereignis gegeben. Politische Veränderungen, auch solche
von erheblicher Wirkung, bereiten sich im kleinen vor. Selten durch Hinterzimmerverschwörungen
oder die Opferbereitschaft irgendwelcher Auslesegruppen, sondern durch eine veränderte
Wahrnehmung der vielen, dann das Auftreten von Dissidenten in den tonangebenden
Kreisen, die aus verschiedenen Gründen bessere Einsicht kann genauso
eine Rolle spielen wie Opportunismus den geltenden Konsens brechen, schließlich
durch die Erprobung praktischer Maßnahmen, die bis eben noch als undurchführbar
galten. Es beginnt mit dem, was man Mentalitätswandel nennt, mit der
Aufgabe alter Denkgewohnheiten und Selbstverständlichkeiten, der subkutane
Wirkung alternativer Ideen, dem Anheben des Schleiers, der gerade noch über
den Dingen lag. Eine solche Entwicklung, einmal eingeleitet, ist schwer aufzuhalten,
aber zum Ziel kommt sie nur, wenn es Reserveeliten gibt, die sich die neue Sache
zu eigen machen und den nötigen Durchsetzungswillen haben.
Junge
Freiheit vom 4. September 2010
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