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Schwundstufe
Zivilisation. Ahnherr der Globalisierungskritik: Zum 125. Geburtstag des Philosophen
Oswald Spengler (von Baal Müller) Spengler ist Makulatur",
meinte Helmut Kohl nach irgendeinem Meilenstein des europäischen Einigungsprozesses
kurz und bündig feststellen zu können und durfte seinerzeit offenbar
noch annehmen, daß eine relevante Anzahl von Fernsehzuschauern mit dem Titel
von Oswald Spenglers Hauptwerk vertraut und sogar auch imstande sei, die Kluft
zwischen diesem und der Realität des vereinigt blühenden Europa zu erkennen.
Indes war dies lange vor dem 11. September, und kaum jemand hat damals vermutet,
daß nicht nur das geflügelte Wort vom "Untergang des Abendlandes",
sondern auch die nach herrschender Meinung "irrationalistische" und
"reaktionäre" Kulturkreislehre des für überwunden Gehaltenen
bald wieder diskursfähig sein könnte, wozu der Bestseller des Spenglerianers
Samuel Huntington über den "Kampf der Kulturen" nicht wenig beigetragen
hat. Während Huntington jedoch im wesentlichen nur empirische Untersuchungen
über demographische und politisch-ökonomische Entwicklungen vorlegt
und zudem im englischen Original von civilisations statt von Kulturen spricht,
die deutsche Kulturtheoretiker wie Oswald Spengler oder Ferdinand Tönnies
strikt voneinander trennen, geht es dem am 29. Mai 1880 in Blankenburg im Harz
geborenen Denker um etwas ganz anderes: um eine Metaphysik der Geschichte bzw.
um die "Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte" - so der Untertitel
seines zwischen 1918 und 1922 erschienenen monumentalen Werkes, das seinen griffigen
Haupttitel dem findigen Lektor des Beck-Verlages verdankt. Mit dem Begriff
"Morphologie" knüpfte der bis dahin weitgehend unbekannte Privatgelehrte,
der den ungeliebten Brotberuf des Lehrers nach einer Erbschaft sogleich aufgegeben
hatte, an Goethes Naturanschauung an, deren phänomenologische Methode er
auf die historischen Wissenschaften übertrug. Geschichte wird damit nach
dem Vorbild des Organischen als Entwicklung, Blütezeit und Verfall von Kulturen
im Sinne von Kollektiv-Organismen verstanden, und die Morphologie ist die Lehre
von ihren Entwicklungsgesetzen, aufgrund deren Erkenntnis Spengler beanspruchte,
auch Künftiges bestimmen zu können: "In diesem Buche wird zum erstenmal
der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal
einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung
begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen
Stadien zu verfolgen." Die Beschränkung auf diejenige Kultur,
der Spengler selbst angehörte und die er deshalb als einzige von innen heraus
zu verstehen behauptete, folgt aus seiner Abkehr von der Universalgeschichte,
welche den eigentlichen Paradigmenwechsel und weitaus mehr als seine - im einzelnen
oft falschen, im ganzen aber doch beeindruckenden - Prophezeiungen die bleibende
geschichtsphilosophische Leistung Spenglers darstellt: Es gibt für ihn nicht
mehr "die" Geschichte (auch wenn er genötigt ist, weiterhin von
einem solchen Konstrukt zu reden), sondern nur noch die Geschichten der einzelnen
Kulturkreise. Diese werden nicht lediglich, wie im heutigen, ratlos-defensiven
Diskurs über europäische Identität, nach geographischen Grenzen
oder ethisch-religiösen Kriterien eingeteilt (erstere sind zu beliebig, letztere
aufgrund ihres Universalismus viel zu weit), sondern nach ihrem jeweiligen "Ursymbol",
ihrem Stilprinzip oder nach ihrer eigentümlichen Ausdrucksform unterschieden,
die sich besonders deutlich in der jeweiligen Raumerfahrung und Raumgestaltung
zeige. Für die antike, von Spengler "apollinisch" genannte
Kultur sei die Auffassung des Raumes vom einzelnen begrenzten Körper her
charakteristisch; dieser befinde sich nicht "im" Raum, sondern der Raum
sei sein ihm gemäßer Ort, sein umschließendes Gefäß.
Demgegenüber sei der "faustische" Raum des in der Völkerwanderungszeit
erstmals in seiner kulturspezifischen "Urzeit" in Erscheinung tretenden,
in der Gotik seine Jugendblüte ausbildenden und im Barock seinen Altersausdruck
findenden "abendländischen" Menschen von einer unendlichen Leere
aus erfahren, die mit einer entsprechenden - linear aufgefaßten - Zeit korrespondiere.
Mit diesen beiden Kulturen überschneidet sich, wenn man das verabsolutierende
Maß der Universalgeschichte anlegt, die um die Zeitenwende beginnende "magische"
Kultur mit ihren frühchristlichen, gnostischen, manichäischen, islamischen
Ausprägungen und ihrem Verständnis der Welt als Höhle. Entspreche
der apollinischen Kultur als architektonisches Symbol der Tempel und der faustischen
die Kathedrale, so offenbare die magische ihr Raumgefühl in der Basilika. Mit
dieser stiltypologischen Methode, die an die zeitgenössische Wiener Schule
der Kunstgeschichte um Franz Wickhoff, Alois Riegl und Max Dvorak sowie an Heinrich
Wölfflin und den Ästheten des Expressionismus Wilhelm Worringer anschloß,
gelang es Spengler, unterschiedlichste Phänomene wie die griechische Plastik,
die chinesische Landschaftsmalerei, die indische Mathematik, den römischen
Straßenbau, das preußische Heer, die Musik Bachs oder die Infinitesimalrechnung
als spezifische Ausdrucksformen ihrer Kulturkreise in deren jeweiligem Entwicklungsstadium
zu verorten, was ihm von seiten der Fachwissenschaftler den Vorwurf des beliebig
analogisierenden Dilettantismus und aus der Sicht der sich allzu grob in historische
Schubladen gezwängt fühlenden Anhänger der spätabendländischen
Weltanschauungen den Tadel des Relativismus und amoralischen Ästhetizismus
eingebracht hat. In der Tat mutet Spengler seinen Lesern einiges zu: Humanistischen
Bildungsbürgern erklärt er die Orientierung an klassischen Maßstäben
als "Pseudomorphose", d.h. als oberflächliche Übernahme kultureller
Schemata der Antike, die ihrem Wesen nach für uns unverständlich seien;
Christen sollten sich damit abfinden, daß die heutigen Reste ihrer Religion
mit dem auf unmittelbare Nachfolge abzielenden "Jesuskult" der Urgemeinde
ebensowenig zu tun habe wie dieser mit der gräzisierenden Theologie der Scholastik,
ja daß es eine einheitliche christliche Religion überhaupt nicht gebe,
sondern lediglich einen Gebrauch derselben Worte in gänzlich unterschiedlichen
Kontexten. Der exakte Wissenschaftler schließlich wird sich kaum damit
zufriedengeben können, daß seine "faustische", mit unendlichen
Größen rechnende Mathematik völlig inkommensurabel sei mit der
am körperhaft-ganzzahligen Muster ausgerichteten der Griechen, und Anhänger
der liberalen Demokratie sind empört, wenn sie Spenglers Invektiven gegen
parlamentarische "Schwatzbuden", sein Loblied auf den "heroischen
Menschen", auf autoritär-charismatische Führung sowie militärischen
und ökonomischen Imperialismus zur Kenntnis nehmen sollen. Man muß
Spengler nicht in jeder Hinsicht folgen und braucht doch auch nicht - nach einem
bekannten Diktum Ernst Jüngers - den Seismographen zu zerschlagen, der das
Erdbeben angekündigt hat. Es ist eine Sache, was Spengler beschrieben, und
eine andere, ob er dieses auch selbst gewollt und vielleicht befördert hat.
Nicht in seinen aktivistischen Stellungnahmen nach dem Ersten Weltkrieg, den zahllosen
Detailbetrachtungen im "Untergang" oder in der zum Schematismus neigenden
analogisierenden Methode - und erst recht nicht in dem krassen Relativismus, der
jeden Einfluß einer Kultur auf eine andere leugnet und jedes transkulturelle
Menschsein überhaupt bestreitet - liegt seine eigentliche Bedeutung, sondern
in den originellen, die Methoden von New Historicism und Cultural Studies souverän
vorwegnehmenden, kühnen Schnitten durch die Universalhistorie, der Abkehr
von der individualisierenden Genieästhetik oder auch in der kämpferischen
Unterscheidung gewachsener, regional verwurzelter Kultur von der einheitlich-globalen
"Schwundstufe" der Zivilisation. Besonders als philosophischer Ahnherr
der Globalisierungskritik könnte er heute wiederentdeckt werden. Junge Freiheit vom 29. Mai 2005 | |  |