 | | CD: Industrial
Wilde SchwermutViele Künstler aus der Industrial/Neofolk-Szene
berufen sich auf Ernst Jünger (1895-1998), zitieren ihn, ohne sich je wirklich
mit seinem Werk auseinanderzusetzen. Ausnahmen gibt es freilich, zu denken wäre
hier an Gerhard P. (Allerseelen), Nick Nedzynski (Lady Morphia) oder Michael Moynihans
(Blood Axis) unübertroffenes "The Storm before The Calm". Einer,
der es ebenfalls nicht nötig hat, mit dem Namen Jüngers zu protzen,
ist der dem Vernehmen nach französische, ungenannt bleibende Künstler,
der sich hinter dem Ambient-Musikprojekt His Divine Grace (HDG) verbirgt. Das
zweite Studioalbum von HDG ist jüngst erschienen und heißt so, wie
Jünger ursprünglich seine Erzählung "Auf den Marmorklippen"
nennen wollte: "Die Schlangenkönigin", veröffentlicht auf
dem Hau-Ruck!-Label von Albin Julius (Der Blutharsch) in Kooperation mit Tesco-Distributions
(Tesco/Hau Ruck!-CD 42). Wer Jüngers uvre kennt, dem fällt
bei den Titeln dieser CD (etwa "Das Rote Waldvögelein" oder "Die
Rautenklause") natürlich sofort der Bezug zu den "Marmorklippen"
auf. Aber, und das spricht sehr für HDG, weder der Name des Werkes noch der
Ernst Jüngers werden genannt. Denn es scheint dem Künstler nicht darum
zu gehen, sich mit Schlagworten werbeträchtig in Szene zu setzen, sondern
eher darum, eine stille Hommage an Jünger bzw. an die Welt der Großen
Marina der Marmorklippen zu geben. Kürzere Rezitationen aus Jüngers
Erzählung sind eingebettet in eine sanfte und mitunter bedrohliche Musik.
Die Wortzitate stammen aus Christian Brückners Lesung der Erzählung. Das
Album spinnt den Hörer in eine Traumwelt ein, die jenseits der profanen Gegenwart
zu liegen scheint. Es ist ganz Stimmung und Wirkung: eine "akustische Landschaft",
um diesen Begriff von Gerhard P. zu verwenden. Der Schrei des Kuckucks ertönt
- das war im "Abenteuerlichen Herz" des Oberförsters Art zu lachen
-, und immer wieder sind Donnerklänge zu vernehmen, Symbol der Bedrohung,
die über der alten Kulturlandschaft, der Marina, schwebt. His Divine
Grace bieten meditativ-ruhige Klänge, die trefflich die der Erzählung
innewohnende Melancholie hörbar machen. Die Musik scheint sich an verschiedenen
Vorgängern zu orientieren: etwa das Album "The Sadness of Things"
von David Tibet (Current 93) und Steven Stapleton (Nurse with Wound). Auch eine
innere Verwandtschaft ist zu erkennen: Handelt Tibet / Stapletons Kollaboration
von der Traurigkeit der Dinge, so ist es bei HDG die "wilde Schwermut"
des Weltenlaufs, dem das Individuum und die tradierte Kultur ausgesetzt sind.
Andere Vorbilder vermag man zu sehen in Tor Lundvall / Tony Wakefords (Sol Invictus)
CD "Autumn Calls" von 1998, die - im Gegensatz zur genannten "Sadness
of Things" - ebenso wie His Divine Grace mit Streichern arbeitet. Und schließlich
der im Winter 1996 eingespielte Klassiker "Die Weiße Rose" von
Les Joyaux de la princesse Regard Extrême. Die "Legendenbildung",
die um HDG betrieben wird, ist reichlich albern. Da wird von ungarisch-französischen
Geheimbünden, von Asiaten oder einem Moonchild geraunt ("Moonchild"
war ein Buchtitel von Aleister Crowley und späterhin beliebter Spitzname
in Gruftie-Kreisen). Sofern das nicht eine ironische Replik auf verschwörerische
Anwandlungen der "Szene" sein soll, ist das schlicht überflüssig.
Das vorgelegte Album spricht für sich und kann eigenständig bestehen
ohne jeden Firlefanz. Bleibt nur, auch denjenigen, die nicht so sehr szene-involviert
sind, daß sie ohnehin alle einschlägigen Neuheiten erwerben, diese
so stille wie gelungene CD zu empfehlen als Untermalung für dunkle Herbst-
und Winternachmittage.
Junge
Freiheit vom 12. Dezember 2003
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