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Etiam si omnes, ego non -
Andreas
Vonderach
Entwicklungspsychologie
als Schlüssel (Andreas Vonderach) |
Der
Aachener Soziologe Georg W. Oesterdiekhoff hat in den letzten Jahren in mehreren
Büchern eine umfassende Theorie zur Kulturbedingtheit der kognitiven Fähigkeiten
des Menschen vorgelegt.
Ihr Kern besteht in der konsequenten Anwendung
der Entwicklungspsychologie Jean Piagets (18961980). Piaget ist durch Beobachtungen
und Experimente zu einem Vier-Stadien-Schema der kindlichen Entwicklung der kognitiven
Fähigkeiten gelangt, wobei die höheren Stadien auf den niedrigeren aufbauen.
Der Säugling bis etwa anderthalb Jahre verharrt noch in einer vorstellungslosen,
sensomotorischen Phase des Denkens. In ihr orientiert sich das Kind sinnlich in
seiner räumlich-gegenständlichen Umgebung. Im zweiten Lebensjahr entwickelt
es die Fähigkeit zum symbolischen Denken, das heißt äußere
Sachverhalte innerlich zu repräsentieren. Diese präoperationale Phase
dauert etwa bis zum sechsten oder siebenten Lebensjahr. Sie überwindet die
Beschränkung auf das Hier und Jetzt der sinnlichen Wahrnehmung. Ab dem sechsten
Lebensjahr wird allmählich die Phase der konkreten Operationen aufgebaut.
In ihr gelingt der logische Umgang mit konkreten Objekten und Sachverhalten. Zum
Beispiel ist das Kind nun in der Lage zu erkennen, daß in ein schmaleres
Glas umgegossenes Wasser einen höheren Wasserspiegel ergeben muß (sogenannte
Mengenerhaltung). Erst ab dem zehnten Lebensjahr beginnt dann die Phase der formalen
Operationen. In ihr kann das Kind das logische Denken auch auf abstrakte, sinnlich
nicht wahrnehmbare Sachverhalte anwenden. Erst in diesem Stadium ist es in der
Lage, Hypothesen und Theorien zu entwickeln und auf die eigene Subjektivität
kritisch zu reflektieren.
Piagets Erkenntnisse sind vor allem für
die Kinderpsychologie und die Pädagogik fruchtbar geworden. Weniger bekannt
ist, daß auch zahlreiche an Piaget orientierte Untersuchungen in außereuropäischen
Kulturen durchgeführt wurden. Oesterdiekhoff spricht von mehr als tausend
Untersuchungen in über hundert Ethnien in den letzten siebzig Jahren. Obwohl
die Ergebnisse in eine eindeutige Richtung weisen, sind aus ihnen nie systematische
Schlußfolgerungen gezogen worden. Das wundert einen auch nicht, kennt man
erst einmal ihre von Oesterdiekhoff zusammengefaßten Ergebnisse: Danach
durchlaufen zwar alle Menschen das sensomotorische und das präoperationale
Stadium. Hinsichtlich der nächsten beiden Stadien der konkreten und formalen
Operationen zeigen die Befunde aber ebenso eindeutig, daß sie in den Entwicklungsländern
nur von einem Teil der Menschen oder gar nicht entwickelt werden.
In traditionellen
Regionen Afrikas, Asiens, Ozeaniens oder Lateinamerikas erreichen nur etwa dreißig
bis fünfzig Prozent der Menschen die Phase der konkreten Operationen. Isolierte
archaische Bevölkerungen (zum Beispiel australische Aborigines) entwickeln
das operationale Stadium überhaupt nicht. Das Stadium der formalen Operationen
mit seinem abstrakten, begrifflichen Denken wird selbst in den modernen Industrienationen
nur von einem Teil der Menschen erreicht. Je nach Schwierigkeitsgrad beherrschen
in diesen Ländern knapp die Hälfte bis etwa neunzig Prozent der Bevölkerung
das formal-logische Denken. In einfachen, vormodernen Gesellschaften fehlt es
völlig. In den Entwicklungsländern findet man es überhaupt nur
bei Menschen, die eine Schule nach westlichem Muster besucht haben.
Es
überrascht nicht, daß die meisten Untersucher dazu tendierten, ihre
eigenen Ergebnisse abzuschwächen, und daß sie über die transkulturelle
Kognitionsforschung hinaus praktisch unbekannt blieben. Tatsächlich werden
sie durch die methodisch ganz anders gearteten Ergebnisse der psychometrischen
IQ-Forschung bestätigt, die in allen Ländern der »Dritten Welt«
deutlich niedrigere Werte als in den westlichen Ländern fanden. Im Gegensatz
zu den abstrakten IQ-Werten haben die Piagetschen Stadien jedoch den Vorteil,
daß sie die kognitiven Defizite anschaulich machen.
Gegenüber
einer verbreiteten kulturrelativistischen Interpretation als bloß »anderes«,
prinzipiell gleichwertiges Denken, gelingt es Oesterdiekhoff nachzuweisen, daß
es sich um tatsächliche kognitive Defizite handelt. Natürlich kann man
sagen, daß zum Beispiel in einer traditionellen Jäger-und-Sammler-Kultur
keine Notwendigkeit zum logischen Denken mit abstrakten Begriffen besteht, tatsächlich
wird die Fähigkeit dazu aber auch nicht entwickelt. Man muß kein Formaldenker
sein, um leben, jagen, Felder bewirtschaften, Häuser bauen oder Auto fahren
zu können.
Oesterdiekhoff sieht das entscheidende Stimulans im mindestens
dreijährigen Besuch einer Schule nach westlichem Vorbild. Das dort eingeübte,
von konkreten Gegenständen losgelöste Denken (Grammatik, Mathematik)
scheint zu dem entscheidenden Entwicklungsschritt zu befähigen. Entsprechend
geschulte Angehörige traditioneller Kulturen erreichen ebenso wie Westler
die fortgeschrittenen kognitiven Stadien. Oesterdiekhoff hält das für
den Beweis, daß die intellektuellen Unterschiede zwischen den Europäern
und den Bewohnern der Entwicklungsländer nicht auf genetischen Rassenunterschieden
beruhen, sondern auf den Einflüssen der kulturellen Umwelt. Da die kognitiven
Fortschritte mit der Entwicklung entsprechender neuronaler Strukturen verbunden
sind, steht für sie nur ein bestimmtes ontogenetisches Zeitfenster zur Verfügung.
Das heißt, wer als Jugendlicher das formal-operationale Denken nicht erlernt,
hat dazu als Erwachsener keine Möglichkeit mehr.
Oesterdiekhoff verfolgt
im einzelnen, welchen Einfluß die kognitiven Strukturen auf die Emotionen,
das Weltbild und die Moral- und Rechtsvorstellungen in den vormodernen Kulturen
haben. Aus ihnen leitet er magisches Denken und Animismus ab. Charakteristisch
ist die Unfähigkeit zur Trennung von subjektiver und objektiver Wirklichkeit.
Fabulieren und Lügen wirken als Selbstsuggestion. Das präformale Denken
ist unfähig, die Perspektive des Anderen zu übernehmen. Es gibt keinen
Zufall, hinter jedem Ereignis steckt ein tieferer Sinn. Unglücke sind Strafen
Gottes oder Folgen magischer Beeinflussung (Hexerei). Der Welt wohnt eine »immanente
Gerechtigkeit« inne, Handlungen ziehen ihre Sanktionierung automatisch nach
sich (»das Kind wäre nicht ins Wasser gefallen, wenn es nicht gestohlen
hätte«). Das soziale Handeln ist persönlich und konkret, nie prinzipiell.
Empirische Untersuchungen über das moralische Urteilen in außereuropäischen
Kulturen zeigen, daß dort die Orientierung an Gehorsam und Bestrafung sowie
am eigenen Vorteil vorherrschen, und die entwickelteren, auf der Verinnerlichung
abstrakter Prinzipien beruhenden Stufen fehlen.
Aus der mangelnden sozialen
Perspektivübernahme resultieren das grausame Strafrecht und die Allgegenwart
von Gewalt in vormodernen Kulturen. Auch das europäische Mittelalter und
die antiken Hochkulturen zeigen nach Oesterdiekhoff diese Strukturmerkmale. In
der germanischen Antike galten Schwerter und Schiffe als beseelt. Gegenständen
und Haustieren konnte der Prozeß gemacht werden. Noch im siebzehnten Jahrhundert
schrieben Rechtsgelehrte Abhandlungen über Leichen, die in Gegenwart ihres
Mörders zu bluten anfangen. Das formallogische Denken ist demnach keine zeitlose
anthropologische Konstante, sondern erst historisch im Zuge der europäischen
Neuzeit entstanden. Die Unterschiede zwischen den vormodernen Kulturen, von steinzeitlichen
Jägern bis zur Antike, spielen sich nach Oesterdiekhoff alle im präformalen
Bereich ab.
Oesterdiekhoffs Theorie beeindruckt durch die Folgerichtigkeit
ihrer Argumentation. Da die Piagetsche Theorie schon ein gewisses Alter hat, stellt
sich allerdings die Frage, wie sie von der aktuellen Entwicklungspsychologie eingeschätzt
wird und ob möglicherweise neue Erkenntnisse Oesterdiekhoffs Theorie entwerten.
Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, daß die kognitiven Stadien
nicht universell, sondern eher bereichsspezifisch entwickelt werden. So lassen
sich manche Fähigkeiten, die nach Piaget erst in höheren Stadien auftreten,
auch schon bei jüngeren Kindern nachweisen. Das gilt für kausales Denken
und auch für die Unterscheidung von Realität und Fiktion, wobei letztere
aber immer noch als viel wirklicher erlebt wird als von Erwachsenen. Der Grund
für das frühere Auftreten operationaler Fähigkeiten wird zum Teil
in einer allgemeinen Akzeleration (Entwicklungsbeschleunigung) in den letzten
Jahrzehnten in der westlichen Kultur gesehen. Oesterdiekhoffs Argumentation wird
durch diese Befunde kaum entkräftet, ja, soweit man eine Entwicklungsbeschleunigung
annehmen kann, sogar bestätigt.
Eine Schwäche von Oesterdiekhoffs
Theorie stellt meiner Ansicht nach die allzu summarische Zusammenfassung aller
vormodernen Kulturen als präformal dar. Es gibt viele Hinweise darauf, daß
es auch schon in den alten Hochkulturen formal operationales Denken gab. So sind
schon im alten Mesopotamien komplexe Formen wissenschaftlichen Denkens wie die
Annahme von Gesetzmäßigkeiten und Hypothesenbildung nachweisbar. In
der Antike hatte die Wissenschaft in der hellenistischen Zeit eine Blüte,
die alle Zeichen abstrakten theoretischen Denkens aufwies (Euklid, Archimedes).
So waren die Griechen schon zu einer ziemlich genauen Berechnung der Entfernung
der Sonne und des Mondes in der Lage. Ebenso ist sicher auch für andere Hochkulturen
die Existenz formal-operationalen Denkens nicht auszuschließen. Es dürfte
sich dabei aber immer nur um die Fähigkeit einer kleinen Elite gehandelt
haben, die oftmals ihr Wissen als Herrschaftswissen eifersüchtig hütete.
Zu einer weiteren Verbreitung fand das formal-logische Denken tatsächlich
erst im neuzeitlichen Europa.
Oesterdiekhoff sieht in der Tatsache, daß
auch Nichtwestler das formale Stadium erreichen können, den Nachweis für
den nichtgenetischen Charakter der vorgefundenen Intelligenzunterschiede. Ohne
Zweifel ist Oesterdiekhoffs Theorie das zur Zeit schärfste Schwert im Lager
der Milieutheoretiker auch wenn die meisten von ihnen das noch nicht begriffen
haben. Die Gegenthese, nämlich daß den IQ-Unterschieden genetisch begründete
Rassenunterschiede zugrunde liegen, wird von dem Psychologen Richard Lynn vertreten.
Der gibt in seinem Buch Race Differences in Intelligence einen weltweiten
Überblick über die bisherigen IQ-Ergebnisse. Die auch in einer Karte
dargestellten Unterschiede sind eindrucksvoll: Der durchschnittliche IQ der autochthonen
Bevölkerung (ohne eingewanderte Europäer) beträgt in Ostasien (China,
Japan, Korea) 105, in Europa 100, in Südostasien 90, in Nordafrika, dem Mittleren
Osten, Südasien und Amerika 85, in Schwarzafrika 67 und ist am niedrigsten
bei den noch altsteinzeitlich lebenden Australiern (62) und südafrikanischen
Buschleuten (56). Lynn verweist auf die Korrelation zur Gehirngröße,
deren geographische Verteilung mit der des IQ weitgehend parallel geht, und sieht
in den vorgefundenen Unterschieden das Ergebnis einer Evolution in Anpassung an
das Klima. Die harten Überlebensbedingungen im kalten, eiszeitlichen Klima
des Nordens evoluierten den hohen IQ der Ostasiaten und Europäer. Von den
Umwelteinflüssen, deren Einfluß auf die geographischen IQ-Unterschiede
er auf maximal fünfzig Prozent schätzt, erachtet Lynn die Ernährung,
die während des kindlichen Wachstums auch die Gehirnentwicklung beeinflussen
kann, als am wichtigsten, während er im Gegensatz zu Oesterdiekhoff der Erziehung
nur eine geringe Bedeutung einräumt.
Oesterdiekhoff
zitiert als Beleg für die große Rolle der Erziehung ältere IQUntersuchungen,
die für noch traditionell lebende Chinesen und Japaner einen niedrigen IQ
auswiesen, und Adoptionsstudien, die bei in weißen Mittelschichtfamilien
aufgewachsenen schwarzen Kindern einen überdurchschnittlichen IQ fanden.
Lynn beruft sich auf Studien, wonach südafrikanische Schüler und indische
Studenten auch nach langjährigem Schulbesuch nur einen mäßigen
IQ zeigen, sowie auf Adoptionsstudien, nach denen der IQ der Adoptierten dem ihrer
ethnischen Herkunftsgruppe ähnlicher ist als dem ihrer Adoptiveltern. Letztere
Adoptionsstudien scheinen gegenüber denen mit positiverem Adoptionseffekt
zahlenmäßig zu überwiegen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren,
daß beide Autoren bevorzugt solche Untersuchungsergebnisse zitieren, die
ihre Theorien bestätigen. Offensichtlich gibt es beides, Nichtwestler, die
bei entsprechender Ausbildung westliches Niveau erreichen, und solche, die es
trotz Förderung eben nicht erreichen. Welches Phänomen von beiden das
signifikantere ist und welche Faktoren hier wirksam sind, ist noch völlig
offen. Stellen die erfolgreichen Nichtwestler genetische Siebungsgruppen ihrer
Populationen dar, heimische Eliten, die schon einen Aufstiegsprozeß innerhalb
ihrer Kultur hinter sich haben? Sind bei den Nichterfolgreichen trotz Förderung
immer noch retardierende Einflüsse ihrer Kultur und sozialen Stellung wirksam?
Ausschließen kann man beides sicher nicht. Auf jeden Fall zeigen die Befunde
Oesterdierkhoffs, daß man die hohe Heritabilität der IQ-Unterschiede
innerhalb von Populationen nicht so ohne weiteres auf die Unterschiede zwischen
den Rassen und Völkern übertragen kann.
Die
von Oesterdiekhoff zusammengestellten Befunde stellen eine eindrückliche
Warnung vor einer naiven Verallgemeinerung europäischer Denkmuster dar. Stärker
noch als die IQ-Untersuchungen machen die entwicklungspsychologischen Daten deutlich,
wie weit die Realität der meisten außereuropäischen Kulturen von
jenen verharmlosenden Multikultur-Vorstellungen entfernt ist, die in kulturellen
Unterschieden lediglich folkloristische Äußerlichkeiten sehen wollen.
Das weitgehende Fehlen formal-operationalen Denkens dürfte auch der Grund
für das Fehlschlagen so vieler Demokratisierungs- und Entwicklungshilfeprojekte
in der »Dritten Welt« sein. Politisch legen die kognitionspsychologischen
Erkenntnisse meines Erachtens vor allem zwei Schlußfolgerungen nahe: Erstens
müssen die Gefahren einer ungesteuerten Einwanderung deutlich gemacht werden,
und zweitens die Notwendigkeit konsequenter Schulbildung, insbesondere schon im
Vor- und Grundschulalter. (Ebd., April 2007).
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Zur
benutzten und empfohlenen Literatur von:
WWW.HUBERT-BRUNE.DE