Die
Debatte über Jugendkriminalität, die in Wirklichkeit eine Debatte über
die Kriminalität ausländischer Jugendlicher ist, berührt einen
heiklen Punkt. Das hat Roland Koch offenbar nicht hinreichend bedacht, sondern
geglaubt, er könne den Coup mit der Unterschriftenkampagne gegen die doppelte
Staatsbürgerschaft wiederholen. Da hatte er wie das Vorbild Kohl in Wahlkampfzeiten
den dezenten Schritt nach rechts probiert, nur um nach errungenem Sieg prompt
in die Mitte zurückzukehren. Die Lage ist aber so deutlich gewandelt, daß
die Hoffnung, man werde das Problem zunehmender Bedrohung der Autochthonen durch
die Eingewanderten einfach wieder ad acta legen können, kaum in Erfüllung
gehen dürfte. Vielmehr ist damit zu rechnen, daß das Thema ein Dauerthema
wird und dabei nicht mehr die Suche nach Lösungen hier und jetzt oder das
optimistische »Weiter so« oder das Bedürfnis nach nützlichen
Illusionen im Vordergrund steht, sondern die Frage nach den Ursachen und das heißt
die Frage nach den Verursachern. Die wird bisher so angestrengt vermieden, weil
die Politische Klasse insgesamt Verursacher ist und eben keine Seite glaubwürdig
mit dem Finger auf die andere weisen kann, sondern eine größtmögliche
Koalition über Jahrzehnte hinweg die Einwanderung forciert oder hingenommen
hat, blind für die langfristigen Folgen, aber bereit, jeden mundtot zu machen,
der diese etwa erwähnen wollte. Nun zeigt der Multikulturalismus - die »erzwungene
Vision« (Konrad Adam) einer dekadenten, alternden Gesellschaft - sein häßliches
Gesicht. Also bleibt als letzter Ausweg die Betonung des Zwangsläufigen und
die dreiste Behauptung, niemand habe ahnen können, worauf das alles hinauslaufe.
Man kennt diese Taktik noch aus den Debatten nach dem Zusammenbruch der DDR, als
zwar nicht leicht glaubhaft zu machen war, daß jeder vor 1989 für die
Wiedervereinigung eintrat oder den Kommunismus als inhumane Ideologie begriffen
hatte, aber doch immer wiederholt wurde, daß niemand habe ahnen können,
wie es in der »Zone« tatsächlich aussah und daß die Teilung
ja auch ihr Gutes hatte, jedenfalls friedenssichernd und zähmend wirkte und
gewisse »Errungensshaften« besaß, die man bewahren müsse.
Die neue Absetzbewegung folgt einem ähnlichen Muster. Frank Schirrmacher
hat schon das Signal gegeben. In seinem großen Artikel für die Frankfurter
Allgemeine (Ausgabe vom 15. Januar 2007) gibt er sich zum einen naiv - man habe
schließlich nicht wissen können, daß auch die Fremden einen,
eben antideutschen, Rassismus entwickelten - und weiter entschlossen, das Problem
anzupacken, indem er die Linie Kochs unterstützt. Was das so unerfreulich
macht, ist die erwähnte Neigung, der Fehlentwicklung keinesfalls auf den
Grund zu gehen. Mit dem Unterton des Erstaunten stellt Schirrmacher fest, daß
die westdeutsche Zivilgesellschaft, die sich so viel darauf zugute hielt, die
»Vergangenheit bewältigt« zu haben und ohne Feindbestimmung auszukommen,
plötzlich einem veritablen Feind gegenüberstehe, der solche Vorbehalte
gar nicht begreift, jedenfalls nicht bereit ist, sein Handeln daran auszurichten.
Wer so spricht und ernstgenommen werden will, darf seinen analytischen Fähigkeiten
kaum etwas zutrauen. Was sich wenigstens die nicht nachsagen lassen müssen,
die außerhalb des Konsensus standen. Vor mehr als vierzig Jahren, zu einem
Zeitpunkt, als man noch eher glauben durfte, die richtigen Lektionen gezogen zu
haben und mit der Bundesrepublik über ein Staatswesen zu verfügen, das
die Herausforderungen der Zukunft bestehen könnte, notierte Ernst Jünger
den Satz: »Wo der Liberalismus seine äußersten Grenzen erreicht,
schließt er den Mördern die Tür auf. Das ist Gesetz!«
(Ebd., Februar 2008, S. 1). |