Philosophie
muß sich von Wissenschaft und Dichtung unterscheiden, wobei es zwischen
ihnen Überschneidungen gibt. Karl Jaspers hat die Eigenart der Philosophie
prägnant bestimmt: »Die Art der in der Philosophie zu gewinnenden Gewißheit
ist nicht die wissenschaftliche, nämlich die gleiche für jeden Verstand,
sondern ist eine Vergewisserung, bei deren Gelingen das ganze Wesen des Menschen
mitspricht.« Nicht der einzelne Gegenstand, sondern das Ganze des Seins
ist der Raum der Philosophie, der nach dem Sinn befragt wird. Philosophie bedeutet
radikales Fragen. Von der Dichtung unterscheidet sie, daß sich dieses Fragen
in jedem Fall auf die Wirklichkeit bezieht und die Phantasie eine untergeordnete
Rolle spielt. Vor allem ist Philosophie in jedem Fall ein methodisches Vorgehen
auf dem Weg der Erkenntnis, kein freies Assoziieren. Beide Unterscheidungen treffen
für Jünger nicht eindeutig zu. Dazu ist sein Werk zu heterogen, widmet
sich auf verschiedene Art und Weise verschiedenen Gegenständen. Jünger
hat Romane und Erzählungen geschrieben und ständig Tagebuch geführt.
Und er hat sich in seinen Essays immer auf seine Eigenschaft als Beobachter, der
beschreibt, was er sieht, berufen. Dennoch oder gerade deshalb hat Jünger
einen genuin philosophischen Anspruch. Das geht so weit, daß sogar seine
Dichtung »wesentlich Metaphysik« (Hans-Peter Schwarz) ist, was nicht
unbedingt für Jüngers Dichtung spricht. Ich kenne keinen, der vom erzählerischen
Werk Jüngers, von den Marmorklippen einmal abgesehen, nachhaltig ergriffen
worden wäre. Es ist von der Metaphysik verstellt. Jünger will uns in
Heliopolis, den Gläsernen Bienen oder Eumeswil um jeden
Preis eine philosophische Deutung der Gegenwart aufdrängen. Jünger ist
aber nur dort echt, wo er seine genauen Beobachtungen nicht in eine erzählerische
Form gießen muß: Im Tagebuch und im Essay. Deshalb wird Jüngers
Name auch immer mit den Stahlgewittern, dem Arbeiter und mit dem
Waldgang in Verbindung gebracht werden. In ihnen erschöpft sich Jünger
nicht in der Beschreibung der Lage, er ist hier im besten Sinne Philosoph. Er
bleibt nicht im Empirischen hängen, sondern verfeinert die induktive Methode.
Aus dem, was ist (»das alles gibt es also«), was man aber auch sehen
muß, ergibt sich die radikale Frage, nach dem Sinn des Ganzen. Den wollte
Jünger der Lage gleichsam ablauschen: dem Weltkrieg, der Technik, der Massengesellschaft
und schließlich dem Einzelnen. (Ebd., Februar 2008, S. 37).Der
von Jünger sehr geschätzte Lichtenberg schreibt: »Man bedenkt
nicht, daß Sprechen, ohne Rücksicht von was, eine Philosophie ist.
Jeder, der Deutsch spricht, ist ein Volksphilosoph und unsere Universitätsphilosophie
besteht in Einschränkungen von jener.« Vielleicht ist so das Verhältnis
zu beschreiben, in dem Jünger zu dem stand, was man unter akademischer Philosophie
versteht. Jünger hat sich ganz bewußt in diese Ecke gestellt. Als sich
nach dem Ersten Weltkrieg die Frage der Studienwahl stellte, hat er nicht Philosophie,
sondern Zoologie studiert. Er folgte damit einem Zug der Zeit. Die Universitätsphilosophie
stand im Ruf der völligen Lebensferne und Abstraktheit, so daß die
Wißbegierigen, die den Sinn des Lebens suchen wollten, in die Naturwissenschaften
und die Medizin gingen. Es sei nur an Gottfried Benn erinnert, der diese Entscheidung
schon vor dem Weltkrieg traf. Nicht umsonst hat die Generation des Fronterlebnisses
sich den großen Außenseiter der Philosophie, Nietzsche, zum Leitstern
gewählt. Jünger hat sich neben Nietzsche vor allem mit Goethe beschäftigt.
Hierin ist er vermutlich Oswald Spengler gefolgt, der der Philosophie ebenfalls
von außen entscheidende Impulse gab und durch die Prognose des Untergangs
des Abendlandes die 1920er Jahre und damit ach Jüngers geistige Entwicklung
prägte. (Ebd., Februar 2008, S. 37-38).Bei Jünger
äußerte sich diese vor allem in der Zeitkritik, die an sich noch nicht
philosophisch sein muß. Daß sie es ist, hat Heidegger indirekt bewiesen.
Die Auseinandersetzung Heideggers mit Jüngers Werk ist als Aspekt der Philosophiegeschichte
immer wieder behandelt worden und hat dazu geführt, in diesem Austausch so
etwas wie einen philosophischen Ritterschlag für Jünger zu sehen. Heidegger
war vom Arbeiter so gepackt, daß er darüber ein privates Seminar
für seine höheren Semester, vor allem aber die Assistenten veranstaltete.
Hier hat Heidegger den Impuls für seine Technikkritik her und damit den Kern
seiner Kritik am Nationalsozialismus. Heidegger hat offenbar früh gesehen,
daß es Jünger nicht um eine verquere Art des Nationalbolschewismus
ging, sondern um eine planetarische ... Entwicklung, die sich aus zwei Ereignissen,
die dem Zeitalter der Massen und der Technik die Konsequenzen abtrotzen, speist:
dem Ersten Weltkrieg und der Erfahrung des technischen Krieges, in dem der einzelne
Mensch bedeutungslos wird ... sowie der russischen Revolution .... Wenn man sich
anschaut, wie sich in den verschiedensten Ländern in den 1920er und 1930er
Jahren die Formierung der Massen vollzog, wie sie einem Plan unterworfen wurden,
hat Jünger keine Gespenster gesehen. Für Heidegger
ist Jüngers Einsicht entscheidend, daß die Technik nichts ist, was
der Mensch steuern kann. Es ist Nietzsches Einsicht: »Einst aber werden
größere Drachen zur Welt kommen.«. (Ebd., Februar 2008,
S. 38).Gleichzeitig wird etwas offenbar, was schon seit Nietzsche
kein Geheimnis mehr war: die Macht des Nihilismus. Jünger widmet ihm seine
Schrift Über die Linie, die in einer Festschrift für Heidegger
erscheint. Der reagiert darauf mehrfach, freundlich, aber doch Jüngers Überlegungen
in zentralen Punkten kritisierend. Während Jünger davon redet, daß
»in der Welt der Tatsachen der Nihilismus sich den letzten Zielen«
annähere, meint Heidegger, daß es keine Ziele mehr geben könne,
weil es nichts gebe, was außerhalb des Nihilismus stünde. Jünger
sei metaphysisch befangen, restaurativ, könne die notwendige »Verwindung
der Metaphysik« nicht mittragen. Dazu hat Jünger auch gar keinen Grund.
Der Unterschied zwischen Jünger und Heidegger in den 1950er Jahren liegt
in deren jüngster Vergangenheit. Heidegger hatte, wie auch Benn, 1933 mehr
als ein Jahr geglaubt, die NS-Bewegung sei das antinihilistische Moment, auf das
alle gewartet hatten. Die sich bald einstellende Enttäuschung wog bei Heidegger
offenbar schwerer, wie sich den seit einigen Jahren vorliegenden Manuskripten
der 1930er und 1940er Jahre entnehmen läßt: Konsequenterweise war damit
alles dem Nihilismus anheimgefallen und nur der »letzte Gott« läßt
hoffen. Dagegen hatte Jünger nie Illusionen über den Nationalsozialismus
und konnte so nach 1945 recht ungebrochen die »eigene Brust« anführen:
»Hier steht ein jeder, gleichviel von welchem Stand und Range, im unmittelbaren
und souveränen Kampfe, und mit seinem Siege verändert sich die Welt.«
Hier blitzt Jüngers echte Anteilnahme am Menschen auf und damit auch seine
philosophische Haltung. (Ebd., Februar 2008, S. 38).Jünger
ist Existenzphilosoph. Damit ist nicht gemeint, daß Jünger einer so
bezeichneten philosophischen Strömung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
anhängt. Existenzphilosophie ist ein Phänomen der Gegenaufklärung.
Mit Kierkegaard geht es um den Menschen als »Synthesis von Unendlichkeit
und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit«,
die erst im Bewußtsein dieses Verhältnisses zu sich selbst findet.
Jünger nennt das nicht Existenz, sondern Soldat, Arbeiter, Waldgänger.
Und natürlich ist der Einzelne immer mehr als er selbst, er weist über
sich hinaus. Existentiell heißt für Jünger: Erkenne die Lage und
damit auch die Feinde. Diese haben Jünger und die Philosophie gemeinsam:
Positivismus, Materialismus, Relativismus und schließlich den Nihilismus.
Es geht Jünger um das Absolute und das Konkrete. Er definiert den Freiheitsanspruch
als Arbeitsanspruch, Freiheit stellt sich dar als Ausdruck der Notwendigkeit.
»Das bedeutet, daß das Maß der Freiheit des Einzelnen genau
dem Maße entspricht, in dem er Arbeiter ist. Arbeiter, Vertreter einer großen,
in die Geschichte eintretenden Gestalt zu sein, bedeutet, Anteil zu haben an einem
neuen, vom Schicksal zur Herrschaft bestimmten Menschentum.« Das bedeutet
die Verinnerlichung des Freiheitsbegriffs Preußens: in Freiheit dienen.
Nur gab es dieses Preußen nicht mehr, keinen König und keinen Gott.
Daher die Selbstverpflichtung des Menschen als Antwort auf die Frage: Warum handeln,
wenn wir doch sterben müssen? - Weil wir gar nicht anders können. Dieses
Verständnis setzt sich im Waldgang fort: »Waldgänger ist also
jener, der ein ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit besitzt, das sich,
zeitlich gesehen, darin äußert, daß er dem Automatismus sich
zu widersetzen und dessen ethische Konsequenz, den Fatalismus, nicht zu ziehen
gedenkt.« (Ebd., Februar 2008, S. 38-39).Bereits
1959 hat Jünger dann seine zweite Leidenschaft, die Geschichtsphilosophie,
zu einem Höhepunkt geführt und ein bis heute nicht gänzlich ausgedeutetes
Buch geschrieben, das damals ein gewisses Aufsehen erregte: An
der Zeitmauer Das, was später als Ende der Geschichte und Ende des Menschen
die Runde machte, ist hier in aller Deutlichkeit gesehen. Eine völlig neue
Phase der Erdgeschichte eröffnet sich, wenn der Mensch sich und seine Artgenossen
selbst auslöschen oder die Evolution selbst in die Hand nehmen kann. Der
Weltstaat erscheint da nur als Zwischenstadium. Jünger, das wird hier deutlich,
ist kein Alt-Konservativer, er hält den Prozeß der Modernisierung für
unaufhaltbar, wenn auch für bedauerlich. Trotzdem weiß er, daß
das Leben nicht aufgeht, daß wir uns nicht selbst in der Hand haben und
daß es mehr gibt, als die handgreifliche Realität. Das, was man in
der Metaphysik als Grundbegriff bezeichnet, hat Jünger in Worte gefaßt
und damit oftmals überhaupt erst sichtbar gemacht. Dabei bleibt es nicht
aus, daß sich in Jüngers Werk manche Zeitgeistverhaftung findet. Die
Themen, die er aufgriff, waren virulent, gegenwärtig, aktuell. Da es Jünger
aber nicht darum geht, und auch das zieht ihn auf die Seite der Philosophie, eine
Weltanschauung zu basteln, wird er nie mainstream. Er läßt sich
immer neu beeindrucken: »Wo der Verstand dem Urphänomen begegnet, stößt
er auf Stärkeres. Hier muß er haltmachen; hier kann ihm ein Damaskus
zuteil werden.« (Ebd., Februar 2008, S. 39).Jünger
hat es nicht zu einem philosophischen System gebracht. Seine Schriften bestehen
in der Mehrzahl aus Essays, Notizen, Tagebüchern, selten wird mal ein Gedanke
länger durchgehalten. Die Neigung zur kleinen Form ist jedoch kein Argument
gegen Jünger, weil wir wissen, daß Nietzsche und nach ihm auch Dávila
keine andere Möglichkeit mehr gesehen haben, den Gedanken im Strom der Zeit
und der Beliebigkeit festzuhalten. Es spricht für Jünger, daß
er sich bis ins hohe Alter immer wieder der Anstrengung unterworfen hat, einem
Gedanken methodisch nachzugehen. Das Werk Jüngers bietet auch deshalb viel,
weil in ihm eine Entwicklung stattfindet, die es glaubwürdig und nachvollziehbar
macht. Gerhard Nebel, der sich vielleicht am konsequentesten an die philosophische
Auslegung Jüngers machte, hat seine Jünger-Lektüre als »Grenzniederlegung«
bezeichnet, die ihm die Augen für die Wirklichkeit geöffnet und aus
der Realität befreit habe. Darin liegt vielleicht der bleibende Rang Jüngers.
Er ist philosophisch sicherlich nicht der bedeutendste Geist des 20. Jahrhunderts.
Aber er vermag es, mit seiner am Konkreten geschulten Art der Darstellung dem
noch nicht festgelegten Sucher eine Richtung zu geben. Mit der Lektüre Jüngers,
den Essays und Kriegstagebüchern, war bei mir der erste und entscheidende
Schritt in die Welt des Geistes getan, ohne den die weiteren nicht hätten
folgen können. (Ebd., Februar 2008, S. 39). Abenteuer
(Erik Lehnert) |
Ernst Jünger hat sich seit
seiner frühesten Jugend nach Abenteuern gesehnt, ist 18jährig in die
Fremdenlegion geradezu geflüchtet und hat den Ausbruch des Ersten Weltkrieges
als Erlösung empfunden. Er hat aber auch gezeigt, daß Abenteuer nicht
unbedingt eine Sache der Tat sein müssen. Er stürzte sich nicht in politische
Abenteuer, sondern fand zum »abenteuerlichen Herz«. In Zeiten, in
denen das Abenteuer durch Agenturen und Versicherungen vermittelt und gehegt wird,
muß man an den Punkt gelangen, sein eigenes Leben als Abenteuer zu begreifen.
Darin liegt vielleicht eine kaum zu überbietende Tragik, aber wo gibt es
eine Kontinuität, die zu durchbrechen sich lohnen würde? Sollen wir
unsere »versagenden Nerven« und damit unser Temperament durch »Rauschmittel«
bändigen? Heute lautet das Abenteuer: Bindung, Tradition, Kontinuität.
(Ebd., Februar 2008, S. 60). |