Meine ganze Arbeit ... ist von der Welt dieser Berge und Bauern getragen
und geführt. Zuweilen ist jetzt die Arbeit dort oben für längere
Zeit unterbrochen durch Verhandlunegn, Vortragsreisen, Besprechungen und die
Lehrtätigkeit hier unten. Aber sobald ich wieder hinaufkomme, drängt
sich schon in den ersten Stunden des Hüttendaseins die ganze Welt der früheren
Fragen heran, und zwar ganz in der Prägung, in der ich sie verließ.
Ich werde einfach in die Eigenschwingung der Arbeit versetzt und bi ihres verborgenen
Gesetzes im Grunde nicht mächtig.
Martin Heidegger,
Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz, Rundfunkvortrag
vom März 1934, abgedruckt erschienen in: Denkerfahrungen,
1910-1976, S. 11 |
Wenn die Rätsel einander drängten und kein Ausweg sich bot,
half der Feldweg.
Martin Heidegger,
Denkerfahrungen, 1910-1976, S. 39 |
Die Weite aller gewordenen Dinge, die um den Feldweg verweilen, spendet
Welt. Im Ungesprochenen ihrer Sprache ist ... Gott erst Gott.
Martin Heidegger,
Denkerfahrungen, 1910-1976, S. 39 |
Ölbergstunden meines Lebens: / im düsteren Schein / mutlosen
Zagens / habt ihr mich oft geschaut. // Weinend rief ich nie vergebens, / Mein
junges Sein / hat müd des Klagens / dem Engel »Gnade« nur vertraut.
Martin Heidegger,
Ölbergstunden, Gedicht, in: Allgemeine Rundschau,
April 1911 |
Die Philosophie, in Wahrheit ein Spiegel des Ewigen, refelktiert heute
vielfach nur mehr subjektive Meinungen, persönliche Stimmungen und Wünsche.
Der Antiintellektualismus läßt auch die Philosophie zum »Erelebnis«
werden; man geriert sich als Impressionisten .... Heute wird die Weltanschauung
navh dem »Leben« zgeschnoitten , statt umgekehrt.
Martin Heidegger, Aufsatz,
in: Akademiker, 1911 |
Wenn das Ganze nicht eine fruchtlose Nörgelei und ein scholastisches
Aufdecken von Widersprüchen werden soll, dann muß das Raum- und Zeitproblem
unter Orientierung an der mathematischen Physik einer vorläufigen Lösung
mindestens nahe gebracht werden.
Martin Heidegger,
Brief an Josef Sauer, 17. März 1912 |
Nur wer an die Bestimmbarkeit einer realen Natur glaubt, wird seine
Kräfte an deren Erkenntnis setzen.
Martin Heidegger,
Aufsatz, 1912, in: Frühe Schriften, 1912-1916, in: Ders.,
Gesamtausgabe, Band 1, S. 15 |
Grundlegung für die Erkenntnis der Widersinnigkeit und theoretischen
Unfruchtbarkeit des Psychologismus bleibt die Unterscheidung von psychischem
Akt und logischem Inhalt, von realem in der Zeit verlaufendem Denkgeschehen
und dem idealen außerzeitlichen identischen Sinn, kurz die Unterscheidung
dessen, was »ist«, von dem, was »gilt«
Martin Heidegger,
Aufsatz, 1912, in: Frühe Schriften, 1912-1916, in: Ders.,
Gesamtausgabe, Band 1, S. 22 |
Grundlegend für die Erkenntnis der Widersinnigkeit und theoretischen
Unfruchtbarkeit des Psychologismus bleibt die Unterscheidung von psychischem
Akt und logischem Inhalt, von realem in der Zeit verlaufendem Denkgeschehen
und dem idealen außerzeitlichen identischen Sinn, kurz die Unterscheidung
dessen, was ist, von dem, was gilt.
Martin
Heidegger, Die Lehre vom Urteil im Psychologismus,, 1913 |
Was real existiert, ist ein Idividuelles. .... Alles, was real existiert,
ist ein solches »Solches-Jetzt-Hier«. Die Form der Individualität
(haecceitas) ist dazu berufen, eine Urbestimmtheit der realen Wirklcihkeit abzugeben.
Martin Heidegger,
Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, 1915, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 1, S. 195 |
Im strengsten, absoluten Sinne wirklich ist nur Gott. Er ist
das Absolute, das Existenz ist, die im Wesen existiert und in der Existenz
»west«.
Martin Heidegger,
Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, 1915, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 1, S. 260 |
Das geistige Leben muß bei uns wieder ein wahrhaft wirkliches
werden - es muß eine aus dem Persönlichen geborene Wucht bekommen,
die »umwirft« und zum echten Aufstehen zwingt, und diese Wucht
äußert sich als echte nur in der Schlichtheit, nicht im Blasierten,
Dekadenten, Erzwungenen. .... Geistiges Leben kann nur vorgelebt und gestaltet
werden, so daß die, die daran teilhaben sollen, unmittelbar, in
ihrer eigensten Existenz davon ergriffen sind. .... Wo der Glaube an den
Selbstwert der eigenen Bestimmung wahrhaft lebt, da wird alles Unwertige
einer zufälligen Umgebung von innen heraus und für immer überwunden.
Martin
Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 15. Juni 1918 |
Es soll Pflicht bei uns sein, was wir in innerster Wahrhaftigkeit
in uns regsam und drängend erleben, den Gleichgesinnten zu äußeren.
Martin
Heidegger, Elisabeth Blochmann, 2. Oktober 1918 |
Glauben an den Geist und seine Macht - wer in ihm und für
ihn lebt, kämpft nie auf verlorenen Posten.
Martin
Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 6. November 1918 |
Wie ja das Leben überhaupt sich gestalten wird nach diesem
Ende, das kommen mußte und unsere einzige Rettung ist, ist ungewiß.
- Sicher ist und unerschütterlich der Forderung an die wahrhaft geistigen
Menschen, gerade jetzt nicht schwach zu werden, sondern eine entschlossene
Führung in die Hand zu nehmen und das Volk zur Wahrhaftigkeit und
echten Wertschätzung der echten Güter des Daseins zu erziehen.
Mir ist es in der Tat eine Lust zu leben - wenn auch manche äußere
Entbehrung und mancher Verzicht kommen wird -, nur innerlich arme Ästheten
und Menschen, die bisher als »geistige« mit dem Geist bur
gespielt haben, wie andere mit Geld und Vergnügen, werden jetzt zusammenbrechen
und ratlos verzweifeln - von ihnen wird auch kaum Hilfe und wertvolle
Direktiven zu erwarten sein.
Martin
Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 7. November 1918 |
Die vergangenen zwei Jahre, in denen ich mich um prinzipielle Klärung
meiner philosophischen Stellungnahme mühte ..., haben mich zu Resultaten
geführt, für die ich, in einer außerphilosophischen Bindung
stehend, nicht die Freiheit der Überzeugung und der Lehre gewährleistet
haben könnte. Erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf
die Theorie des geschichtlichen Erkennens haben mir das System des Katholizismus
problematisch und unannehmbar gemacht - nicht aber das Christentum und die Metaphysik,
diese allerdings in einem neuen Sinne. Ich glaube zu stark ... empfunden zu
haben, was das katholische Mittelalter an Werten in sich trägt. .... Meine
religionsphänomenologischen Untersuchungen, die das Mittelalter stark
heranziehen werden, sollen ... Zeugnis davon ablegen, daß ich mich durch
eine Umbildung meiner prinzipiellen Standpunkte nicht habe dazu treiben lassen,
das objektive vornehme Urteil und die Hochschätzung der katholischen Lebenswelt
einer verärgerten und wüsten Apostatenpolemik hintanzusetzen. ....
Es ist schwer zu leben als Philosoph - die innere Wahrhaftigkeit sich selber
gegenüber und mit Bezug auf die, für die man Lehrer sein soll, verlangt
Opfer und Verzichte und Kämpfe, die dem wissenschaftlichen Handwerker immer
fremd bleiben. Ich glaube, den inneren Beruf zur Philosophie zu haben und durch
seine Erfüllung in Forschung und Lehre für die ewige Bestimmung des
inneren Menschen - und nur dafür das in meinen Kräften Stehende
zu leisten und so mein Dasein und Wirken selbst vor Gott zu rechtfertigen.
Martin Heidegger,
Brief an Engelbert Krebs, 9. Januar 1919 |
Das neue Leben, das wir wollen, oder das in uns will, hat darauf
verzichtet, universal, d.h. unecht und flächig (über-flächlich)
zu sein - sein Besitztum ist Ursprünglichkeit, nicht das Erkünstelte-Konstruktive,
sondern das Evidente der totalen Intuition.
Martin
Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 1. Mai 1919 |
Es ist eine rationalistische Verkennung des Wesens der personalen
Lebensströmung, wenn man meint und fordert, sie müsse in denselben
weiten und klangreichen Amplituden schwingen, wie sie in begnadeten Augenblicken
aufquellen. Solche Ansprüche entwachsen einem Mangel innerer Demut
vor dem Geheimnis und Gnadencharakter alles Lebens. Wir müssen warten
können auf hochgespannte Intensitäten sinnvollen Lebens - und
wir müssen mit diesen Augenblicken in Kontinuität bleiben -
sie nicht so sehr genießen - als vielmehr ins Leben eingestalten
- im Fortgehen des Lebens sie mitnehmen und einbeziehen in die Rhythmik
alles kommenden Lebens. Und in Momenten, wo wir uns
selbst und die Richtung in die wir lebend hoiniengehören unmittelbar
erfühlen, da dürfen wir das Klargehabte nicht nur als solches
konstatieren, einfqach zu Protokoll nehmen - als stünde es uns wie
ein Gegenstand bloß gegen-über - sondern das verstehende Sichselbsthaben
ist nur echtes, wenn es wahrhaft gelebtes d.h. zugleich ein Sein ist.
Martin
Heidegger, Brief an Elisabeth Blochmann, 1. Mai 1919 |
Jaspers kennzeichnet seine methodische Haltung
als bloße Betrachtung. Was soll sie leisten? »Für alle
Betrachtung ist Gegenstand nur das, was bisher da ist. Alle Betrachtung
neigt dazu, dieses für das Ganze zu nehmen« (329). Ist das,
»was bisher da ist«, das »Dasein« und das »bisher«
für jederlei Betrachtung gleichsinnig? Jaspers, will betrachten,
»was das Leben ist« (250). Das soll die Betrachtung lehren,
sie steht im Dienst des wachsenden Lebens« (ebd.). Die Betrachtung
geht auf das im Vorgriff angesetzte Ganze und dessen konkrete Gestaltmannigfaltigkeit
als ihren Gegenstand. Als Betrachtung - an sich unschöpferisch -
sieht sie sich nur an, was da ist. Wie ist denn das »Leben«
da? Und wie wird das, was bisher da ist, gewonnen? Die Lebensphänomene
sind doch nicht wie Steiene auf einem Brett, die nun neu geordnet werden
sollen. Was bisher da ist an verfügbarem, erkennbarem Leben, ist
doch schon jeweils in verschiedenen Weisen des zum »Dasein«
bringenden Verstehens und der begrifflichen Fassung »da«;
und dieses so Gedeutete wird im Aufnehmen als daseiend von Jaspers selbst
wieder in einen bestimmten Verstehenszusammenhang eingeteilt, was derr
zur ABhebung gebrachte Vorgriff einsichtig gemacht haben dürfte.
Martin
Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers Psychologie
der Weltanschaungen, 1919, in: Wegmarken, S. 37-38 |
Daß wir heute in ganz eigentümlicher Art von, in und
mit der Geschichte leben, ist doch zu mindesten auch etwas (wenn nicht
gar mit eine Hauptsache), »was da ist«, auch wenn die
»Psychologie« diese Tatsache überhaupt noch nie und die
Philosophie lediglich in der objektiven Außenorientierung bemerkt
haben.
Martin
Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers Psychologie
der Weltanschaungen, 1919, in: Wegmarken, S. 38 |
Das zeigt, daß das Historische als eine Grundsinnbestimmtheit
von Existenz nicht gesehen und also auch das Methodenproblem hinsichtlich
seiner prinzipiellen Bedeutung und der Weise seiner Inangriffnahme darauf
nicht zugeschnitten ist.
Martin
Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers Psychologie
der Weltanschaungen, 1919, in: Wegmarken, S. 39 |
Die Unausdrückbarkeit des Seelischen wird oft und gern unter
Beziehung auf die Unmöglichkeit des restlosen Erfassens des Individuellen
formuliert. Hierbei fällt aber entscheidend die Frage ins Gewicht,
welcher Begriff des Individuellen in diesem Problem des begrifflichen
Ausdrucks zugrunde liegt. Statt das oft gesagte »individuum est
ineffiable« immer neu zu weiderholen, wäre es einmal an der Zeit
zu fragen, welchen Sinn denn dabei das »fari« haben soll und
ob diesem dictum nicht eine betsimmte Weise des Auffassens des Individuums
zugrunde liegt, die letztlich in einer ästhetischen Außenbetrachtung
auch dann noch wirksam bleibt, wenn die Persönlichkeit auch immanent
psychologfisch verstanden wird: der objektiv bildhafte Aspekt bleibt erhalten
(vgl. zum Beispiel Dilthey).
Martin
Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers Psychologie
der Weltanschaungen, 1919, in: Wegmarken, S. 39-40 |
Jaspers verfällt einer Täuschung, wenn er meint, in
einer bloßen Betrachtung würde gerade das Höchstmaß
von Nichteingreifen in die persönliche Entscheidung erreicht und
so der Einzelne für seine Selbstbesinnung freigegeben. Im Gegenteil,
gerade dadurch, daß Jaspers seine Untersuchung als bloße Betrachtung
gibt, scheint er zwar das Aufdrängen einer bestimmten, der
von ihm charakterisierten Weltanschauungen zu vermeiden, er treibt aber
aber gerade in die Suggestion, sein selbst unabgehobener Vorgriff (Leben
als Ganzes) und die damit zusammenhängenden wesentlichen Weisen des
Artikulierens seien etwas Unverbindliches, Selbstverständliches,
wo sich gerade doch am Sinn dieser Begriffe und dem Wie des Interpretierens
alles entscheidet. Die bloße Betrachtung gibt gerade das nicht,
was sie geben will, die Möglichkeit eines radikalen Nachprüfens
und Entscheidens und, was damit gleichbedeutend ist, das strenge Bewußtsein
von der Notwendigkeit des methodischen Fragens.
Martin
Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers Psychologie
der Weltanschaungen, 1919, in: Wegmarken, S. 42 |
Jaspers ... verkennt, daß »Allgemeine Psychologie«
und »Weltanschauungspsychologie« sich so unter sich und sie
beide von der prinzipiellen Problematik der Philosophie nicht ablösen
lassen.
Martin
Heidegger, Anmerkungen zu Karl Jaspers Psychologie
der Weltanschaungen, 1919, in: Wegmarken, S. 43 |
Die persönliche Stellungnahme des Philosophen soll - wie in jeder Wissenschaft -
ausgeschaltet bleiben ....
Martin Heidegger,
Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen
des Aristoteles zu Ontologie und Logik, Vorlesung, Sommersemester
1922, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 56 / 57, S. 10 |
Wir stehen an der methodischen Wegkreuzung, die über Leben und
Tod der Philosophie überhaupt entscheidet, an einem Abgrund: entweder ins
Nichts, d.h. der absoluten Sachlichkeit, oder es gelingt der Sprung in eine
andere Welt, oder genauer; überhaupt erst in die Welt.
Martin Heidegger,
Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen
des Aristoteles zu Ontologie und Logik, Vorlesung, Sommersemester
1922, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 56 / 57, S. 63 |
Dieses Erlebnis des »Sehens Ihres Platzes« halten Sie fest,
oder Sie können meine eigene Einstellung ebenfalls vollziehen: in den Hörsaal
tretend, sehr ich das Katheder .... Was sehe ich? Braune Flächen, die sich
rechtwinklig schneiden? Nein, ich sehr etwas anderes: eine Kiste, und zwar eine
größere, mit einer kleineren daraufgebaut. Keineswegs, ich sehe das
Katheder, an dem ich sprechen soll. Sie sehen das Katheder, von dem aus zu Ihnen
gesprochen wird, an dem ich schon gesprochen habe. Es liegt im reinem Erlebnis
auch kein - wie man sagt - Fundierungszusammenhang, als sähe ich zuerst
braune, sich schneidende Flächen, die sich mir dann als Kiste, dann als
Pult, weiterhin als akademisches Sprechpult, als Katheder gäben, so daß
ich das Kathederhafte gleichsam der Kiste aufklebte wie ein Etikett. All das
ist schlechte, mißdeutete Interpretation, Abbiegung vom reinen Hineinschauen
in das Erlebnis. Ich sehe das Katheder gleichsam in einem Schlag; ich sehe es
nicht nur isoliert: ich sehr das Pult als für mich zu hoch gestellt. Ich
sehe ein Buch darauf liegend, unmittelbar als mich störend ..., ich sehr
das Katheder in einer Orientierung, Beleuchtung, einem Hintergrund .... In dem
Erlebnis des Kathedersehens gibt sich mir etwas aus eine unmittelbaren Umwelt.
Dieses Umweltliche ... sind nicht Sachen mit einem bestimmten Bedeutungscharakter,
Gegenstände, und dazu noch aufgefaßt als das und das bedeutend, sondern
das Bedeutsame ist das Primäre, gibt soich mir unmittelbar, ohne jeden
gedanklichen Umweg über ein Sacherfassen. In einer Umwelt lebend, bedeutet
es mir überall und immer, es ist alles welthaft, es weltet.
Martin Heidegger,
Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen
des Aristoteles zu Ontologie und Logik, Vorlesung, Sommersemester
1922, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 56 / 57, S. 71-72 |
Die tief eingefresseneVerrantheit ins Theoretische ist ... ein großes
Hindernis, den Herrschaftsbereich des umweltlichen Erlebens ... zu überschauen.
Martin Heidegger,
Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen
des Aristoteles zu Ontologie und Logik, Vorlesung, Sommersemester
1922, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 56 / 57, S. 88 |
Die Dinghaftigkeit umschreibt eine ganz originäre Sphäre,
die uns aus dem Umweltlichen herausdestilliert ist, Daß »es weltet«,
ist in ihr bereits ausgelöscht. Das Ding ist bloß noch da als solches,
d.h. es ist real .... Das Bedeutungshafte ist ent-deutet bis aufdiesen Rest:
Real-sein. Das Umwelt-erleben idst ent-lebt bis aufden Rest: ein Reales als
solches erkenen. Das historische Ich ist ent-geschichtlicht bis auf den Rest
von spezifischer Ich-heit als Korrelat der Dingheit ....
Martin Heidegger,
Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen
des Aristoteles zu Ontologie und Logik, Vorlesung, Sommersemester
1922, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 56 / 57, S. 91 |
Alles, was sich in der »Intuition originär«
... darbietet, ist einfach hinzunnehmen ..., als was es sich gibt.
Martin Heidegger,
Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen
des Aristoteles zu Ontologie und Logik, Vorlesung, Sommersemester
1922, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 56 / 57, S. 109 |
Urhaltung des Erlebens.
Martin Heidegger,
Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen
des Aristoteles zu Ontologie und Logik, Vorlesung, Sommersemester
1922, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 56 / 57, S. 110 |
Theoretisch komme ich selbst aus dem Erleben her ..., mit dem man nun
nicht anzufangen weiß und für das nun der bequeme Titel des Irrationalen
erfunden ist.
Martin Heidegger,
Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen
des Aristoteles zu Ontologie und Logik, Vorlesung, Sommersemester
1922, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 56 / 57, S. 117 |
M. lb. S. Vor der Arbeit einen kurzen Gruß.
Ich bin gut im Zuge; ich muß sagen, wenn ich
meine Hüttenmanuskripte (Heideggers Hütte
im Schwarzwald wurde am 9. August 1922 bezogen; HB), die ich mit
habe, ansehe, sind sie alles andere als nicht gelungen.
Trotzdem brauche ich jetzt einmal eine zusammenhängende Zeit, wo
ich die Sache durchreißen kann. Mit Jaspers verstehe
ich mich sehr gut. Ich bekomme neue Einblicke u. lerne viel - Stoffliches.
Er hat eine große Bibliothek, die ich zwar nicht
haben möchte u. durch die ich mich wenig stören lasse.
Möglicherweise habt Ihr jetzt das schönste Wetter; hier ist
es regnerisch und neblig. Wir arbeiten fast immer,
da Jaspers wenig ausgehen kann. In den nächsten
tagen geh ich mal zu Rickert. Herzliche Grüße
Dir u. den Buben (Heideggers Kinder Jörg und
Hermann; HB). Dein M.. Herzlichen
Gruß an Herrn Maaß.
Martin
Heidegger, Brief [Postkarte aus Heidelberg] an seine Frau Elfride,
11.09.1922 |
»Ontologie« bedeutet Lehre vom Sein.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 1 |
Begleiter im Suchen war der junge Luther und Vorbild
Aristoteles, den jener haßte. Stöße gab Kierkegaard,
und dei Augen hat mir Husserl eingesetzt.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 5 |
Faktizität ist die Bezeichnung für den Sienscharakter
»unseres« »eigenen« Daseins. Gebauer bedeutet
der Ausdruck: jeweilig dieses Dasein (Phänomen der »Jeweiligkeit«;
vgl. das Verweilen, Nichweglaufen, Da-bei, Da-sein), sofern es seinsmäßig
in seinem Seinscharakter »da« ist. Seinsmäßig
dasein besagt; nicht und nie primär als Gegenstand der Anschauung
und anschaulicher Bestimmung, der bloßen Kenntnisnahme und Kenntnishabe
von ihm, sondern Dasein ist ihm selbst da im Wie seines eigensten Seins.
Das Wie des Seins öffnet und umgrenzt das jeweils mögliche »da«.
Sein - transitiv: das Faktische Leben sein! Sein selbst nie möglicher Gegenstand
eines Habens, sofern es auf es selbst, das Sein, ankommt.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 7 |
Dasein als je eigenes bedeutet nicht isolierende Relativierung auf äußerlich
gesehene Einzelne und so den Einzelnen (solus ipse), sondern »Eigenheit«
ist ein WIe des Seins, Anzeige des Weges des möglichen Wachseins. Nicht
aber eine regionale Abgrenzung im Sinne einer isolierenden Gegensetzung.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 7 |
Und faktisch heißt sonach etwas, was auf so seienden
Seinscharakter von ihmselbst her artikuliert ist und dergestalt »ist«.
Nimm man »Leben« als eine Weise von »Sein«, dann besagt
»faktisches Leben«: unser eigenes Dasein als »da« in
irgendwelcher seinsmäßigen Ausdrücklichkeit seines Seinscharakters.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 7 |
Thema der hermeneutischen Untersuchung ist je eigenes Dasein, und zwar
als hermeneutisch befragt auf seinen Seinscharakter im Absehen darauf, eine
wurzelhafte Wachheit seiner selbst auszubilden. Das Sein des faktischen Lebens
ist darin ausgezeichnet, daß es ist im Wie des seins des Möglichseins
seiner selbst. Die eigenste Möglichkeit seiner selbst, die das Dasein
(Faktizität) ist, und zwar ohne daß sie »da« ist, sei
bezeichnet als Existenz. Auf dieses eigentliche Sein ihrer selbst hin
wird die Faktizität durch den hermeneutischen Frageeinsatz in die Vorhabe
gestellt, von da her und daraufhin wird sie ausgelegt; die hierbei erwachsenden
begrifflichen Exolikate werden bezeichnet als Existenzialien.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 16 |
»Das Leben läßt sich erst erklären, wenn es durchgeleitet
ist, gleichwie auch Christus erst begann, die Schriften zu erklären un
d zu zheigen, wie sie von ihm lehrten - als er auferstanden war.« Kierkegaard,
Tagebuch, 15.IV.1838 (in: Theodor Haecker, Die Tagebücher 1835-1855, S. 99).
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 16-17 |
LogoV bedeutet in der klassischen Philosophie
der Griechen (Aristoteles) nie »Vernunft«, sondern Rede,
Gespräch; also Mensch ein Seiendes, das seine Welt hat in der Weise der
Angesprochenen. Schon in der Sroa setzt ide Verflachung der Begriffe ein, und
es tauchen in der hellenistischen Spekulation und Theosophie als Hypostasenbegriffe
der logoV, die sofia,
die pistiV auf.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 21-22 |
Das Heute ontologisch: Gegenwart des Zunächst, man, Miteinandersein;
»unsere Zeit«.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 30 |
Das »Heute« nach seinem ontologischen Charakter, als Wie
der Faktizität (Existenz), kann voll erst bestimmt werden, wenn explizit
das Grundphänomen der Faktizität sichtbar geworden ist: »die
Zeitlichkeit« (keine Kategorie, sondern Existenzial).
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 31 |
Das Dasein hat seine Öffentlichkeit und seine Sicht. Das dasein
bewegt sich (Grundphänomen) in einer bestimmten Weise des Redens von ihm
selbst, das Gerede (Terminus). Diese Reden »von« ihm selbst
ist die öffentlich-durchschnittliche Weise, in der das Dasein sich nimmt
und behält. Es liegt im Gerede eine bestimmte Vorauffassung, die das dasein
von ihm selbst hat: das leitende »als etwas«, in dem es »sich«
ausspricht. Dieses Gerede ist sonach das Wie, in dem dem Dasein selbst eine
bestimmte Ausgelegtheit seiner selbst zur Verfügumg steht. Diese
Ausgelegtheit selbst ist nicht etwas, was dem Dasein nachgetragen, von außen
angehängt, aufgeklebt wäre, sondern etwas, zu dem das Dasein von ihm
selbst her gekommen ist, woraus es lebt, wovon es gelebt wird (ein Wie
seines Seins).
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 31 |
Diese Ausgelegtheit des Heute ist ferner dadurch charakterisiert, daß
sie gerade nicht ausdrücklich erfahren ist, nicht gegenwärtig, sie
ist ein Wie des Daseins, von dem jedes gelebt wird. Gerade weil sie die Öffentlichkeit
ausmacht und als solche die Durchschnittlichkeit, ider jeder leicht mitkann
und dabei ist, bleibt ihr nichts, was passiert entzogen. Das Gerede beredet
alles in einer eigentümlichen Unterschiedsunempfindlichkeit. Als solche
Durchschnittlichkeit, das ungefährliche »Zunächst«, Zunächst
als Zumeist, ist die Öffentlichkeit die Seinsweise des »Man«:
man sagt, man hört,man erzählt,man vermutet, man erwartet,man ist
dafür, daß .... Das Gerede gehört niemand, niemand steht dafür
ein, das Man hat es gesagt.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 31-32 |
Man schreibt sogar Bücher aus dem Hörensagen. Dieses »Man«
ist das »Niemand«, das wie ein Gespenst im faktischen Dasein
umgeht, ein Wie des spezifischen Verhängnisses der Faktizität, dem
jedes faktische Leben seinen Tribut zahlt.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 32 |
Die Augelegtheit umgrenzt fließend den bezirk, aus dem das Dasein
selbst Fragen und Ansprüche stellt. Sie ist das, was dem »Da«
im faktischen Da-sein den Charakter eines Orientiertseins,einer bestimmten Umgrenzung
seiner möglichen Sichtart und Sichtweise gibt. Das Dasein spricht von ihm
selbst, es sieht sich so und so, und doch ist es nur eine Maske, die
es sich vorhält, um nicht vor sich selbst zu erschrecken. Abwehr »der«
Angst. Solche Sichtgabe ist die Maske, in der das faktische Dasein sich sich
selbst begegnen läßt, in der es sich vor-kommt, als »sei«
es; in dieser Maske der öffentlichen Ausgelegtheit präsentiert sich
das Dasein als höchste Lebendigkeit (des Betriebes nämlich).
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 32 |
Heute: Die Lage der Wissenschaften und der Universität ist
fragwürdiger geworden. Was geschieht? Nichts. Man schreibt Broschüren
über die Krisis der Wissenschaften, über den Beruf der Wissenschaft.
Einer sagt es dem anderen, man sage, wie man höre, mit den Wissenschaften
sei es aus. Es gibt heute schon eine eigene Literatur über die Frage, wie
es sein müßte. Sonst geschieht nichts.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 32-33 |
Ein Exponent der Ausgelegtheit des Heute ist zum Beispiel das Bildungsbewußtsein
einer Zeit, das Gerede des öfentlichen und durchschnittlcihen Geistes;
heut: moderne »Geistigkeit«. Dieses lebt von bestimmten Weisen des
Auslegens. Als solche seien im folgenden abgehoben: 1. das geschichtliche Bewutsein
(Kulturbewußtsein); 2. das philosophische Bewußtsein.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 33 |
Die heutige Ausgelegtheit des Heute.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 35 |
Das öffentliche Zunächst der Ausgelegtheit des Heute soll
gefaßt werden, so zwar, daß es möglich wird, durch den auslegenden
Rückgang von diesem Ansatz her einen Seinscharakter der Faktizität
in den Griff zu bekommen, d.h. als Existenzial durchsichtig zu machen, um damit
einen ersten ontologischen Zugang zur Faktizität auszubilden. (Anmerkung
Heideggers zu diesem Absatz: »Sachlich zutreffend, aber methodisch ganz
verfehlt, weil zu kompliziert und ohne positiven Vorblick.)
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 35 |
Die Ausgelegtheit des Heute sei nach zwei Auslegungsrichtungen verfolgt.
Sie lassen sich kennzeichnen als 1. das geschichtliche Bewußtsein im Heute,
2. die Philosophie im Heute.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 35 |
Herrschaft der Auslegungsrichtung, darin das hermeneutische Wie.
(Nicht Haltungen, Typik von Einstellungen, um sehe zu lassen, was es alles gibt;
keine Psychologie der Philosophie. Vielmehr um sehen zu lassen, wie in ihnen
unser Dasein ist, unser heutiges Dasein, und zwar nach Weisen seines
Seins, kategorial, und an Dasein »halten«, ob diese Auslegungstendenz
Dasein in Blick bringt; überhaupt, und welche Ontologie.)
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 35 |
Die Ausgelegtheit des Heute im geschichlichen Bewußtsein.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 35 |
Die Vornahme des geschichtlichen Bewußtseins als Exponent der
Angelegenheit des Heute ist von dem folgenden Kriterium her motiviert: Die Weise,
wie eine Zeit (das jeweilige Heute) die Vergangenheit (ein oder sein vergangenes
Dasein) sieht und anspricht, behält und aufgibt, ist das Anzeichen dafür,
wie eine Gegenwart zu ihr selbst steht, wie es als Dasein in ihrem »Da«
ist. Dieses Kriterium selbst ist nur eine bestimmte Formel für einen
Grundcharakter der Faktizität, ihre Zeitlichkeit.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 35-36 |
Die Standart unseres Heute zur Vergangenheit kann sich an den historischen
Geisteswissenschaften bewähren. Sie präsentieren sich als die
Wegform, in der geschichtliche Erfahrung vergangenes Leben zugänglich macht,
sie geben auch die führende Anweisung für die Weise der theoretisch-wissenschaftlichen
Vergegenständlichung des Vergangenen. Sie geben geschichtliche Vergangenheit
charakterisiert in ihrem bestimmt gefaßten Aussehen und als besprochen
in bestimmten Hinsichten an das »Bildungsbewußtsein« (ein
Wie der öffentlichen Ausgelegtheit) als fertigen Besitz ab. Vergangenheit,
vergangenes Leben als Gegenstandsgebiet der Wissenschaft.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 36 |
Als was wir nun vergangenes Dasein in diesen Wissenschaften im
vorhinein genommen? In welchem Gegenstandscharakter ist es für sie da?
Die Kunst. Literatur, Religion, Sitte, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft
stehen in einer aller jeweiligen konkreten Befragung und Betsimmung als führend
vorweglaufenden Charakterisierung: sie beginnen als »Ausruck«, Objektivationen
von Subjektivem, eines in ihnen zu Gestalt drängenden Kulturlebens (Kulturseele).
(»Das Ganze zu psychologisch; vielmehr auch die
Weise des Zeitlichseins, Inseins und die herrcshende Ontologie sichtbar machen«
Anm. von Heidegger zu diesem Absatz.)
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 36 |
Die durchherrschende Einheitlichkeit, in der dieses Leben einer Kultur
zum Ausdruck gelangt, darin sich hält und veraltet, wird bestimmt als der
jeweilige Stil der Kultur. Daß dem Seinscharakter dessen, wovon
die Kulturgebilde Ausdruck sind, nicht weiter nachgefragt wird, macht deutlich,
wie sehr das verstehende Interesse auf die Ausdrucksgestalten als solche im
Wie ihres Ausdruckseins abzielt. Die letzte und einzige Seinsbestimmung ist:
Kultur ist Organismus, eigenständiges Leben (Entfaltung, Blüte,
Absterben).
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 35 |
Spengler (Der Untergang des Abendlandes - Umrisse einer Morphologie
der Weltgeschichte, I. Bd.: Gestalt und Wirklichkeit) hat dieser Weise,
Vergangenheit zu sehen, den konsequenten und überlegenen Ausdruck verschafft.
Die sterile Aufgeregtheit der Philosophie und der Fachwissenschaften ist längst
still geworden. Man ist inzwischen heimlich dabei, allerwärts - sogar für
die Theologie - »Kapital zu schlagen«. Gewiß haben Nietzsche,
Dilthey, Bergson, die Wiener kunstgeschichtliche Schule (Karl Lamprecht)
vorgearbeitet. Das Entscheidende liegt aber daran, daß Spengler
all das, was hier unsicher und verängstigt zu einem Ende drängte,
wirklich von der Stelle brachte. Vor Spengler hatte niemand den Mut,
die in Ursprung und Entwicklung des neuzeitlichen geschichtlichen Bewußtseins
gelegene bestimmte Möglichkeit rücksichtslos wirklich zu machen.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 37 |
Man darf den »neuen« Schritt nicht übersehen. Alles
Unerquickliche und Halbe, das Dilettantische im Grundsätzlichen und begrifflichen
Habitus darf nicht den rein feststellenden Blick verdecken. Wirkungskräfte,
die die Ordinarienphilosophie, das heulende Elend in gestelzter leerer Vornehmtuerei,
überdauern. Er hat gespürt, was vorgeht. Die anderen tun so, als wäre
alles in bester Ordnung.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 37 |
Die nächste Frage ist: In welcher Weise wird die so als Gestaltwerdung
und Ausdrucksein vergegenständlichte Vergangenheit Thema einer theoretischen
Erkenntnisaufgabe (Wissenschaft) und welcher? Eine Kultur (Mannigfaltigkeit
solcher Kulturen) ist als geschlossener Organismus eigenen Lebens auf sich selbst
gestellt. In der Mannigfaltigkeit der in der Überlieferung in bestimmter
Auslegung andrängenden Kulturen ist jede ihrem eigensten Seinscharakter
nach der anderen (als Pflanze) gleichgestellt. Kein vergangenes Dasein
hat seinsmäßig vor dem anderen irgendeinen Vorrang. Wie die eine
Kultur, so muß die andere vergegenwärtigt werden.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 37 |
Aus dem Gegenstands- und Seinscharakter der so gesehenen Vergangenheit
her ist daher die Universalität der Geschichtsbetrachtung notwendig mitgegeben.
Gerade aus dem Gegenstand selbst ist nicht das mindeste Motiv zu einer kurzsichtigen
Beschränkung auf eine Kultur und deren Erforschung auszumitteln. Demnach
weitet sich das Gegenstandsfeld der Geschichtsbetrachtung so, daß darin
das »Werden[s] aller Menschlichkeit« (a.a.O., S. 208) verfolgbar
sein muß.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 37-38 |
Welches ist nun die aus der Gegenstands- und Seinsart der so gegenständlichen
Vergangenheit entspringende Weise der theoretischen Erfassung, Explikation und
begrifflichen Durchbildung derselben?
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 38 |
Es ist kein Zufall, daß heute unter den historischen Geisteswissenschaften
die Kunstgeschichte am weitesten ausgebildet ist und daß die anderen
Wissenschaften die Tendenz haben, es ihr, soweit das möglich ist, nachzumachen.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 38 |
Die Hinsicht, das Woraufhin des An-sehens, in die jede Kultur
gestellt wird, ist das jeweilige Wie des Ausdruckseins ihrer Gebilde; sie wird
befragt auf ihren Stil, d.h., ihre Ausdrucksgestalten werden auf eine Grundgestalt
von »Seelen und Menschentum« zurückgeleitet. (Einheitlichkeit
ihres So-seins; heißt?) Die Art der theoretischen Explikationen des Vergangenen
ist Abhebung der Gestaltcharaktere des Gestalthaften - Morphologie.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 38 |
Es begegnet aufgrund des betreffenden ontologischen Ansatzes eine in
sich ontisch gleichgestellte Mannigfaltigkeit von Kulturen, d. h. aber, diesem
Gegenstandszusammenhang angemessen ist die morphologische Betrachtung durchzuhalten.
Die Mannigfaltigkeit selbst ist auf ihr Gestalthaftes zu befragen, sie ist selbst
noch gestalthaft zugänglich zu machen. Die eine Kultur ist gestalthaft
an die andere zu halten. Es erwächst so die Methode einer universalen
Gestaltvergleichung. Die Verhältniskategorien der Homologie, Analogie,
Gleichzeitigkeit, Parallelität treten ins Spiel.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 38 |
Das so gesehene explizierte Ganze der geschichtlichen Vergangenheit
schlägt sich nieder in einem geschlossenen gestalthaften Zusammenhang von
Gestalten (bzw. es vermag sich niederzuschlagen; Niederschlag, in einem
Blick beherrschbar, bestimmt laufend). Es wird faßbar in Tafeln und Rubriken,
in denen die Vergleichungsbahnen geordnet festgelegt sind.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 38-39 |
Die leitende Vorwegnahme des Gegenstandscharakters der Vergangenheit
als stileinheitlicher Ausdrucksgestalt jeweilig eigenständiger Kulturen
motiviert sowohl aus dem so gesehenen Gegenstandsfeld wie aus ihrer eigensten
Zugangshaltung eine bestimmte Weise geschichtlicher Explikation: des gestaltvergleichenden
Ordnens. (Ordnung - Gestalterfassung. 1. Ordnung, 2. Ordnung, und schärfer:
Idee von Kultur überhaupt; Konsequenz; Gegenpol.)
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 39 |
Das konsequente Programm in umfassender Durchführung gibt Spengler:
»Mir schwebt eine spezifisch abendländische Art, Geschichte im höchsten
Sinne zu erforschen, vor, die bisher noch nie aufgetaucht ist und die der antiken
und jeder andern Seele fremd bleiben mußte. Eine umfassende Physiognomik
des gesamten Daseins, eine Morphologie des Werdens aller Menschlichkeit, die
auf ihrem Wege bis zu den höchsten und letzten Ideen vordringt; die Aufgabe,
das Weltgefühl nicht nur der eigenen, sondern das aller Seelen zu
durchdringen, in denen große Möglichkeiten überhaupt bisher
erschienen und deren Verkörperung im Bereiche des Wirklichen die einzelnen
Kulturen sind. Dieser philosophische Aspekt, zu dem die analytische Mathematik,
die kontrapunktische Musik, die perspektivische Malerei uns das Recht geben,
uns erzogen haben, setzt, über die Talente des Systematikers ... weit hinausgehend,
das Auge eines Künstlers voraus, und zwar das eines Künstlers, der
die sinnliche und greifbare Welt um sich in eine tiefe Unendlichkeit geheimnisvoller
Beziehungen sich vollkommen auflösen fühlt. So fühlte Dante,
so Goethe.« (A.a.O., S. 207-208).
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 39 |
(Nachträgliche Anwendung in der üblichen Geschichte. Religionsgeschichte
usf.. Umwegig, ohne Verhältnis dazu ein- und nachgeredet.)
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 39 |
Die hermeneutische Frage, für die jetzt das Gesichtsfeld beigebracht
ist, lautet: Als was begegnet in beiden Auslegungsrichtungen, dem geschichtlichen
Bewußtsein und der Philosophie, und da heißt zugleich in seiner
eigenen herrschenden Ausgelegtheit, das faktische Dasein? Als was ist
es im eigensten Sinne der Auslegungsrichtungen angesprochen? Weiter: als was
nimmt und hat das faktische Dasein in seiner Ausgelegtheit sich selbst? Und
schließlich: was ist das Sich-da-haben des Daseins als Sein, als Wie der
Faktizität, Existenzial?
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 51 |
Das geschichtliche Bewußtsein ist Thema als ein Exponent der Ausgelegtheit,
eine Weise des Öffentlichseins des Lebens. Als Auslegungsweise präsentiert
sie sich auch der Öffentlichkeit in der Weise ihres Seins, d. h. auslegenderweise.
Das besagt: Das geschichtliche Bewußtsein ist da dergestalt, daß
es sich in einer bestimmten Selbstauslegung in die Öffentlichkeit
bringt, sich in ihr hält und sie so durchherrscht. In dieser Selbstauslegung
bringt sie das zur Sprache, worauf es ihr selbst, und das im Hinblick auf das
Lebensdasein selbst, ankommt. Als Auslegungsweise des Daseins wird sie sonach
in ihrer Selbstauslegung gerade das hervorkehren, worauf es dem Dasein selbst
ankommt. Was das ist, muß aus der Selbstauslegung des gekennzeichneten
geschichtlichen Bewußtseins ersichtlich werden. (Entsprechend aus der
Selbstauslegung des Philosophierens.)
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 54-55 |
Spengler betont als bisherigen Mangel der Geschichtsbetrachtung
und Wissenschaft, daß ihr noch nie gelang, was sie anstrebt, »objektiv
zu sein«. Geschichtswissenschaft ist erst dann objektiv, wenn es ihr gelingt,
»ein Bild der Geschichte zu entwerfen, das nicht mehr vom zufälligen
Standort des Betrachters in irgendeiner - seiner - »Gegenwart
... abhängig ist« (a.a.O., S. 125). Was in den Naturwissenschaften
längst erreicht war - die Distanz vom Gegenstand, so daß er rein
für sich selbst spricht- fehlte bislang gegenüber der geschichtlichen
Welt. Es gilt also, »noch einmal die Tat des Kopernikus« (a.a.O.,
S. 126) der Geschichte gegenüber zu vollbringen, d. h. die Befreiung vom
Augenschein und dem Standort des Betrachters, »die Geschichte also von
den persönlichen Vorurteilen des Betrachters zu lösen, der sie in
unserem Falle wesentlich zur Geschichte eines Fragments des Vergangenen mit
dem in Westeuropa fixierten Zufällig-Gegenwärtigen als Ziel und den
augenblicklichen öffentlichen Idealen und Interessen als Wertmessern für
die Entwicklung des Erreichten und zu Erreichenden macht - das ist die Absicht
alles Folgenden.« (A.a.O., S. 126-127).
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 55 |
Diese Selbstauslegung des geschichtlichen Bewußtseins stellt dieses
sonach in die Aufgabe, »die ganze Tatsache Mensch« zu überschauen,
d.h. menschliches Dasein absolut objektiv in den Blick zu bringen. Eine neue
Aufgabe dergestalt, daß sich eine neue und eigentliche Möglichkeit
des Daseins und der Daseinserfassung als einer objektiven bietet.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 56 |
Diese Selbstauslegung gibt nicht einfach zur Kenntnis, was das geschichtliche
Bewußtsein ist, sondern gibt sich bekannt in der Weise, daß es sich
selbst, d.h. die Ausgelegtheit seines Heute, in das Verweilen hineindrängt,
in dem Vergangenheit objektiv ohne Augenverblendung begegnet. Die Selbstauslegung
kommt selbst dem zu erfassenden Gegenstand und dem von diesem ausgehenden Zug
zu ihm entgegen, d. h., die Neugier als eine gezogene drängt in ihr selbst
in die Richtung des Zuges.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 56 |
Die Auslegungsweise spricht in ihrer Selbstpräsentation mit
für die in ihr selbst zu vollziehende Erwerbung und Behauptung des
so gesehenen Daseins. Dieses geschichtliche Bewußtsein hat in seiner objektiven
Distanz zur Vergangenheit ebenso objektiv die Gegenwart des Daseins,
d.h. aber, im Sinne des angesetzten Gegenstandscharakters des Geschichtlichen:
»schon« seine Zukunft. Die Vorausberechnung dieser, der »Untergang
des Abendlandes«, ist keine Marotte von Spengler und kein billiger
Witz für die Masse, sondern der konsequente Ausdruck dafür, daß
sich das uneigentliche geschichtliche Bewußtsein in seiner eigensten,
ihm vorgezeichneten Möglichkeit zu Ende gedacht hat. (Das Noch-nicht,
an sich als Gegenwart in der Rechnung; vergleichende Ablesung.)
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 56 |
Spengler repräsentiert das heutige geschichtliche Bewußtsein,
so wie es sich nach seinen eigenen Möglichkeiten nehmen muß. Die
Opposition der Fachwissenschaft fällt dabei grundsätzlich nicht
ins Gewicht, sofern sie (in anderer Hinsicht belangreiche) Fehlinterpretationen
oder Vernachlässigung relevanter Tatbestände nachweist. In der grundsätzlichen,
wenn auch nicht ausdrücklichen Haltung kommt sie zusehends mehr unter den
Einfluß Spenglers.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 56-57 |
Wo sie daher grundsätzlich opponiert, verrät sie nur, daß
sie sich selbst nicht versteht; d.h., die historischen Geisteswissenschaften
merken nicht, daß sie sich an einer ganz bestimmten Möglichkeit ihrer
selbst, d.h. der Kunstgeschichte, vergreifen, d.h. in der Nachäffung dieser
sich eine höhere »Geistigkeit« geben, statt wie diese jeweils
sich auf ihren eigenen Gegenstand, seinen Seinscharakter und die angemessene
Zugangs- und Bestimmungsmöglichkeit zu besinnen.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 57 |
Die Nachäffung der Kunstgeschichte ist ein Mißbrauch dieser,
d.h. eine Geringschätzung, d.i. ein Mißverstehen. Die übrigen
Geisteswissenschaften, sofern sie diese nachahmen, verstehen diese damit sowenig
wie sich selbst. (Warum Kunstgeschichte in diesem Betracht (Stil, Gestalt, Ausdruck)
echt? Ihr Gegenstand aber auch das »Ordnen«! Hier noch Unklarheit;
hier deutlich, vor welchen Aufgaben.) (Diese drei Sätze in Klammern ist ein späterer Zusatz von Heidegger; HB).
)
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 57 |
Religion ist im Kern ihres Daseins mißverstanden, wenn die Religionsgeschichte
heute sich die billige Spielerei leistet, Typen, d.h. Stilformen der Frömmigkeit
auf eine unterhaltsame Bildertafel zu zeichnen. Das Analoge gilt von der Wirtschaftsgeschichte, der Philosophie- und der Rechtsgeschichte. Diese jeweilig echten
Möglichkeiten kommen nicht ins konkrete Dasein dadurch, daß den historischen
Wissenschaften ein philosophisch ausgeklügeltes System der Kultursysteme
als Operationsplan vorgelegt wird, sondem einzig so, daß jeweils innerhalb
dieser Wissenschaft der rechte Mann am rechten Platz zur rechten Zeit entscheidend
eingreift. (Was dazu die Philosophie beitragen soll, darüber ist nicht
zu »reden«.) (Dieser Satz in Klammern ist später von Heidegger durchgestrichen worden; HB).
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 57 |
Besteht es denn zu Recht, daß die Mathematik allen Wissenschaften
als Vorbild vorgehalten wird? Oder werden die Grundverhältnisse dadurch
nicht gerade auf den Kopf gestellt? Mathematik ist die am wenigsten strenge
Wissenschaft, denn der Zugang ist hier der allerleichteste. Geisteswissenschaft
(ist Mathematik nicht auch und erst recht eine Geisteswissenschaft?
HB) setzt viel mehr wissenschaftliche Existenz voraus, als sie ein mathematiker
je erreichen kann. Man darf Wissenschaft nicht als System von Sätzen und
Begründungszusammenhängen ansehen, sondern als etwas, worin sich faktisches
Dasein mit sich selbst auseinandersetzt. Diese Einsetzung eines Vorbildes ist
unphänomenologisch, vielmehr ist aus der Gegenstandsart und der ihr angemessenen
Zugangsart der Sinn für die Strenge der Wissenschaft zu erheben.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 72 |
Phänomenologie ist also ein Wie der Forschung, das
sich die Gegenstände anschaulich vergegenwärtigt und sie nur, soweit
sie anschaulich da sind, bespricht.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 72 |
Phänomenologie ist also ein ausgezeichnetes Wie der Forschung.
Die Gegenstände kommen so zur Bestimmung, wie sie sich selbst geben.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 74 |
Die jeweilige Lage einer Wissenschaft steht vor dem bestimmten Stand
ihrer Dinge. Ihr Sich-zeigen kann ein Aspekt sein, der sich durch Tradition
so festgelegt hat, daß diese Uneigentlichkeit gar nicht mehr erkannt,
sondern für das Eigentliche gehalten wird. Und was sich an ihm selbst zeigt,
braucht noch nicht die Sache selbst zu sein. Sofern man es dabei bewenden läßt,
hat man schon in der Aufstellung des Bodens eine Zufällogkeit für
ein Ansich ausgegeben. Man nimmt eine Verdeckung für die Sache selbst.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 75 |
Eine solche schlichte Aufnahme verbürgt also noch gar nichts. Es
gilt über die Anfangsstellung hinaus zur verdeckungsfreien Sacherfassung
zu kommen. Dazu ist nätig die Erschließung der Verdeckungsgeschichte.
Die Tradition der philosophischen Fragen muß bis zu den Sachquellem zurückverfolgt
werden. Dadurch erst ist eine ursprüngliche Sachstellung möglich.
Dieser Rückgang stellt die Philosophie wieder vor die entscheidenden Zusammenhänge.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 75 |
Das ist heute nur möglich durch grundsätzliche historische
Kritik. Diese ist nicht bloß Aufgabe als bequeme Illustration, sondern
Grundaufgabe der Philosophie selbst. Wie bequem man sich es macht, zeigt die
Geschichtslosigkeit der Phänomenologie: man glaubt, die Sache sei durch
beliebige Blivkstellung in naiver Evidenz zu gewinnen. Weiterist charakteristisch
der Dilettantismus, mi dem Meinungen aus der Geschichte aufgegriffen und weitergebildet
werden. Man macht aus der Geschichte einen Roman.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 73 |
Bei dem kritischen Abbau der Tradition bleibt keine Möglichkeit
mehr, sich in scheinbar wichtige Probleme zu verzetteln. Abbau, das heißt
hier: Rückgang zur griechischen Philosophie, zu Aristoteles, um
zu sehen, wie ein bestimmtes Ursprüngliches zu Abfall und Verdeckung kommt,
und zu sehen, daß wir in diesem Abfall stehen. Entsprechend unserer
Stellung ist die ursprüngliche Stellung wieder neu auszubilden, d.h., sie
ist entsprechend der geänderten historischen Lage etwas anderes un d doch
dasselbe.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 76 |
Hiermit ist erst die Möglichkeit geboten, ursprünglich auf
den Gegenstand der Philosophie zu stoßen.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 76 |
Hierin bewegt sich die Philosophie jetzt in der Tradition.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 76 |
Sollte es sich nun herausstellen, daß es zum Seinscharakter
des Seins, das Gegenstand der Philosophie ist, gehört: zu sein in
der Weise des Sich-versteckens und Sich-verschleierns - und zwar nicht akzessorisch,
sondern seinem Seinscharakter nach -, dann wird es eigentlich ernst mit der
Kategorie Phänomen. Die Aufgane: es zum Phänomen zu bringen, wird
hier radikal phänomenologisch.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 76 |
Diesen Weg versucht die Hermeneutik der Faktizität zu gehen.
Sie nennt sich selbst Auslegung, d.h., sie ist keine bloße Abschilderung
im ersten Aspekt. Jedes Auslegen ist ein Auslegen auf etwas hin. Die Vorhabe,
die ausgelegt werden soll, muß in den Gegenstandszusammenhang hineingesehen
werden. Man muß von der zunächst liegenden sache weggehen zu dem,
was ihr zugrunde liegt.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 76-77 |
Durch eine erste Betrachtung des daseins in seinem Heute wurden an ihm,
in der Blickstellung auf das Grundphänomen »Augelegtheit«,
zwei Auslegungsrichtungen abgehoben. Sie zeigten sich als Weisen, in denen das
Dasein in einer betonten Art zu und von ihm selbst spricht, d.h. sich für
es selbst präsent macht und in dieser Präsenz hält. Das so gekennzeichnete
Sichselbstdahaben des daseins sieht sich dabei, im gecshichtlichen Bewußtsein,
in der Seinsart eines bestimmten Gewesenseins seiner selbst, in der Philosophie
in der eines bestimmten Immersoseins. In beiden Auslegungsrichtungen, d.h. im
Grundphänomen Ausgelegtheit, zeigt sich das Phänomen der Neugier,
und zwar als das Wie eines Sichverhaltens (Seins) im erkennenden bestimmten
Gerichtetsein auf etwas.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 79 |
Dasein (faktisches Leben) ist Sein in einer Welt.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 80 |
Fernzuhalten ist das Schema: Es gibt Subjekte und Objekte, Bewußtsein
und Sein; das Sein ist Objekt der Erkenntnis; das eigentliche Sein ist das Sein
der Natur; das Bewußtsein ist »ich denke«, also ichlich, Ichpol,
Aktzentrum, Person; Iche (Personen) haben sich gegenüber: Seiendens, Objekte,
naturdinge, Wertdinge, Güter. .... Auf diesem Fragebogen
liegen die Möglichkeiten, die alle immer wieder ausprobiert und in endlosen
Diskussionen aufeinander losgelasen werden: Das Objekt ist abhängig vom
Subjekt, oder das Subjekt vom Objekt, oder beide korrelativ voneinander. Diese
konstruktive, durch die Hartnäckigkeit einer verhärteten Tradition
fast unausrottbare Vorhabe verbaut grundsätzlich und für immer den
Zugang zu dem, was als fatisches Leben (Dasein) angezeigt ist. Keine Modifikation
dieses Schemas vermag seine Unangemessenheit zu beseitigen. Das Schema selbst
hat sich traditionsgeschichtlich aus isoliert verlaufenden und dann je verschieden
zusammengebrachten Konstruktionen seiner Glieder: Subjekt und Objekt ausgebildet.
Der verhängnisvolle Einbruch dieses Schemas in die phänomenologische
Forschung wurde schon bei der Kennzeichnung der geschichlichen Lage, aus der
phänomenologische Forschung erwauchs, betont. Die Herrschaft dieses erkenntnistheoretischen
Problems (und der entsprechenden in anderen Disziplinen) ist charakteristisch
für eine oft feststellbare Art, in der Wissenschaft, und Philosophie im
besonderen, sich am Leben erhält. 90% der Literatur ist damit beschäftigt,
solche verkehrten Probleme nicht verschwinden zu lassen und sie immer neu und
mehr zu konfundieren. Diese Literatur beherrscht den Betrieb; man sieht und
mißt an ihr Fortschritt und Lebendigkeit der Wissenschaft.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 81 |
Formale Anzeige der Vorhabe: »Faktisches Leben (Dasein) besagt:
Sein in einer Welt«
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 85 |
Diese Welt begegnet als das Besorgte; dieses im Charakter des
Zunächst und des Demnächst charakterisiert die Welt der Alltäglichkeit
als Umwelt. Das Umhafte eröffnet als interpretiert aus der Bedeutsamkeit
das verständnis der faktischen Räumlichkeit, aus der erst, durch eine
bestimmte Bllickänderung, der Naturraum und der geometrische Raum entspringen.
Aus ihr läßt sich die ontologische Bedeutung des Seins »in«
dem Umhaften der Welt bestimmen. Dieses Sein selbst
ist das, dem die Welt begegnet, so zwar, daß es in ihr als dem besorgten,
dem Weltdasein, ist. Es kennzeichn et sich als das Sorgen, eine Grundweise
des Seins, darin ausgezeichnet, daß es seine ihm begegnende Welt selbst
»ist«. Dieses, das besorgte Weltdasein-Sein, ist eine
Daseinsweise des faktischen Lebens.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 86 |
Es sei die reinste Alltäglichkeit aufgesucht: das Verweilen zu
Hause, Im-Zimmer-sein, wo am Ende so etwas begegnet wie »ein Tisch«!
Als was begegnet er? Ein Ding im Raum; als Raumding ist es dazu ein materielles.
es ist so und so schwer, so ud so gefärbt, so geformt, mit rechteckiger
oder runder Platte; so hoch, so breit, mit glatter oder rauher Fläche,
Das Ding kann zerstückt, verbrannt oder sonstwie aufgelöst werden.
.... Näher besehen ist aber der Tisch noch etwas mehr; er ist nicht nur
ein materielles Raumding, sondern dazu noch ausgestattet mit bestimmten Wertprädikaten:
schön gemacht, brauchbar; er ist Gerät, Möbel, Ausstattungsstück.
Dere Gesamtbereich des Wuirklichen läßt sich demnach in zwei Reiche
aufteilen: Naturdinge und Wertdinge, welche letzteren in sich immer als
eine Grundschicht ihres seins das Sein als naturding haben. Das eigentliche
Sein des Tisches ist: materielles Raum-ding. Diese Deskriptionen
sind,auf das Resultat angesehen, scheinbar echt, aber nur scheinbar. Es läßt
sich zeigen, daß sie in mehrfacher Weise konstruktiv sind und unter der
Herrschaft von fast unausrottbaren Vorurteilen stehen. Bei einem solchen
nachweis wird auch sichtbar, daß es noch gar nichts besagt, wenn ma, wie
jetzt allmählich Mode wird, dem Sein der wert- und bedeutungsbehafteten
Dinge eine Ebenbürtigkeit zuschreibt, solange darüber grundsätzlcihe
Unklarheit herrscht, wie sie begegnen und in welcher Blickstellung über
sie etwas auszumitteln ist, und daß Bedeutsamkeit kein sachcharakter,
sondern ein Seinscharakter ist. Die Theorien überWirklichkeit
und Realität sind nach vier Hinsichten einer phänomenologisch-kritischen
Destruktion zu unterwerfen. .... Es ist zu zeigen, 1. warum die Bedeutsamkeit
nicht als solche gesehen wird; 2. warum sie, sofern ein theoretisierter Scheinaspekt
derselben angesetzt ist, doch noch für erklärungsbedürftig gehalten
und erklärt wird; 3. warum sie durch Auflösung in ein ursprünglicheres
Wirklichsein »erklärt« wird; 4. warum dieses eigentliche, fundierende
Sein im Sein der Naturdinge gesucht wird. (Immerdasein, Gesetzlichkeit, Nichtzuifälligkeit;
Flucht in eine Beständigkeit des Erkannten, d.i. vermeintlich des Seienden
- epistemh).
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 88-89 |
Von dem in der zuerst gegebenen Deskription Genannten findet sich im
konkret verweilenden Umgang gar nichts, und wenn etwas davon, dann anDers. Es
sei rein stofflich genommen »dasselbe« Beispiel festgehalten und
die Deskription so geführt, daß zunächst mehr eine Mannigfaltigkeit
zusammengehöriger Phänomene sichtbar wird vor ihrem phänomenalen
Zusammenhang. Den soll die nachkommende Analyse zur Abhebung bringen.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 90 |
In dem Zimmer da ist es der Tisch da (nicht »ein« Tisch
neben vielen anderen in anderen Zimmern und Häusern), an den man sich setzt
zum Schreiben, Essen, Nähen, zum Spielen. Man sieht es ihm, z. B. bei einem
Besuch, gleich an: Es ist ein Schreibtisch, Eßtisch, Nähtisch; primär
begegnet er so an ihm selbst. Der Charakter des »zu etwas« wird
ihm nicht erst zugeschoben aufgrund einer vergleichenden Beziehung auf etwas
anderes, was er nicht ist. Sein Dastehen im Zimmer besagt:
in dem so und so charakterisierten Gebrauch diese Rolle spielen; das und das
an ihm ist »unpraktisch«, ungeeignet; das ist schadhaft; er steht
jetzt besser als früher im Zimmer, bessere Beleuchtung zum Beispiel; früher
stand er überhaupt nicht gut (für. ..). Da und da zeigt er Striche
-an dem Tisch machen sich die Buben zu schaffen; diese Striche sind nicht beliebige
Unterbrechungen der Bemalung, sondern: das sind die Buben gewesen, und das sind
sie noch. Diese Seite ist nicht die nach Osten, und diese schmale um soviel
cm kürzer als die andere, sondern die, an die sich abends die Frau setzt,
wenn sie noch lesen will; an dem Tisch da führten wir damals die und die
Diskussion; hier fiel damals jene Entscheidung mit einem Freund, da wurde damals
jene Arbeit geschrieben, jenes Fest gefeiert. Das ist der
Tisch, so ist er da in der Zeitlichkeit der Alltäglichkeit, und als solcher
begegnet er vielleicht nach vielen Jahren wieder, wenn er auf dem Boden, als
abgestellt und unbrauchbar, angetroffen wird, so wie andere »Sachen«,
z. B. ein Spielzeug, verbraucht und fast unkenntlich, -es ist meine Jugend.
Im Keller in einer Ecke stehen ein Paar alte Skier; der eine ist durchgebrochen;
was da steht, sind nicht materielle Dinge, die verschieden lang sind, sondern
die Skier von damals, von jener waghalsigen Fahrt mit dem und dem. Dieses Buch
da ist geschenkt von X; dieses da hat der und der Buchbinder gebunden; dieses
muß demnächst zu ihm hingebracht werden; mit dem habe ich mich lange
herumgeschlagen; das da ist eine unnötige Anschaffung, ein Reinfall; das
muß ich erst noch lesen; diese Bibliothek ist nicht so gut wie die von
A, weit besser als die von B; diese Sache ist nicht so, daß man seine
Freude daran haben wird; was werden die anderen zu dieser Aufmachung sagen,
und dergleichen. Das sind Begegnischaraktere. Jetzt ist zu fragen, wie sie das
Dasein der Welt ausmachen. Von den zwei Beschreibungen wurde die erste als Fehldeskription
bezeichnet. d. h. im Hinblick auf die fundamentale Aufgabe, die gestellt ist:
das unmittelbare Zunächst des Daseienden ontologisch-kategorial zu fassen.
Das heißt also nicht, »falsch« in dem Sinne, als hätte
sie keinen sachhaltigen Boden. Es kann sein, daß Wesentliches ihrer Resultate
sich ausweist angesichts eines bestimmten Daseinsbezirkes, als gegenständlich
da für ein bestimmt gerichtetes theoretisches Betrachten.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 90-91 |
Das Daseiende begegnet im Wie des Besorgtseins, d. h. im Da, das in
ein Besorgen gestellt ist. Im betonten Sinne bedeutet Besorgtsein Erledigtsein:
wenn die Sorge mit ihm fertig ist, wenn es verfügbar da ist; und gerade
dann ist es erst eigentlich Besorgtes.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 101 |
Als Besorgtes im weiteren Sinne hat begegnendes Dasein seine eigene
Zeitlichkeit. Besorgtes ist da als noch nicht, als erst zu-, als schon,
als nahezu, als bis jetzt, als fürs erste, als schließlich. Das sei
bezeichnet als kairologische Momente des Daseins. Aus dieser Zeitlichkeit
werden alle Grundmomente der Zeit erst verständlich.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 101 |
Für das Verständnis des phänomenalen Zusammenhangs der
Bedeutsamkeit ist zu sehen, daß die Erschlossenheit in der jeweiligen
Sorge steht. Die Verweisungsmannigfaltigkeit ist nichts anderes als das,
worin das Besorgen sich aufhält. Im vorhinein sind das Wofür und Wozu
und seine mitweltlichen Anderen das, worum es in der Sorge geht. Der Verweisungszusammenhang
selbst ist das Besorgte.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 101 |
Dieses im Verweisungszusammenhang hin-und-her-Gehen charakterisiert
Sorgen als Umgehen. Der Verweisungszusammenhang ist das eigentlid1 Umhafte.
Bedeutsamkeit ist ontologisch zu bestimmen als das daseiende Womit eines besorgenden
Umgangs mit ihm. Von diesem Um her ist die faktischräumliche Umwelt in
ihrem So-da-sein getragen.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 101 |
Die faktisch vom Besorgen durchsetzte Räumlichkeit hat ihre
Entfernungen, als da ist: zu weit, nahe bei, durch diese StraBe, durch die Küche,
ein Katzensprung, hinterm Münster, und dgl. In dieser Räumlichkeit
liegt eine jeweilige Vertrautheit . mit ihren Verweisungen, die immer solche
des Besorgens sind.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 101 |
Das » Um« bestimmt sich primär-ontologisch keineswegs
aus einem Neben- und Umeinander-gelagert-sein und geometrischen Zusammenhängen,
sondern ist das Um des besorgenden weltlichen Umgangs. Es gibt die Möglichkeit,
die ontologische Bedeutung des In- und InnerhaIb-einer-WeIt-Seins zu interpretieren.
In-der-Welt-sein besagt nicht: Vorkommen unter anderen Dingen, sondern heißt:
das Um der begegnenden Welt besorgend bei ihm Verweilen. Die eigentliche Weise
des Seins selbst in einer Welt ist das Sorgen, als Herstellen, Verrichten,
In-Besitz-nehmen, Verhindern, Vor-Verlust-Bewahren usw. Das Umhafte ist die
Durchschnittlichkeit, Offentlichkeit des Lebens. Das Leben spricht sich im Sorgen
weltlich an.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 102 |
Aus der Rückschau auf das über den mitweltlichen Vorschein
Gesagte ergibt sich: im besorgten Da ist die Mitwelt und mit dieser man selbst
das Besorgte. Sein Grundcharakter ist dadurch bestimmt: mit dem, worauf
es ausgeht, stellt es sich selbst in die Sorge. Sorgen besorgt sich immer irgend
wie selbst. (Das ist keine Rückbezüglichkeit des Sorgens auf sich
selbst, davon ist nicht die Rede.) Es besorgt sich selbst, indem es sich weltlich
im begegnenden Da antrifft. Sorgen als solches ist gerade das, was ursprünglich
die Welt da hat und die Zeitlichkeit so stellt, daß für es und in
ihm Welt begegnet. Dieses Grundphänomen darf in keiner Weise abgeschwächt
werden
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 102 |
Sein im Wie eines solchen Sorgens ist die Besorgnis. Sie kennzeichnet
Leben als umgänglich besorgendes Gestelltsein in eine Welt. Sorgen ist
Sein-in-einer-Welt und darf nicht als ein Akt im Bewußtsein gedeutet werden.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 102 |
Die Tragweite des methodischen Verfahrens, daß die Analyse bei
bloßen Sachen stehen blieb, wird jetzt sichtbar daran, daß im nächsten,
alltäglichen Umgang die Umwelt immer auch als Mitwelt und Selbstwelt da
ist. Diese Termini grenzen keine Regionen gegeneinander ab, sondern sind bestimmte
Weisen des Begegnens von Welt; jede zeigt den spezifischen Um-Charakter. Dieses
Umhafte ist nichts anderes als die Durchschnittlichkeit, die Offentlichkeit.
(Alles hier nur gedrängt, im Hinblick auf die Analysen des Heute.)
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 102-103 |
Leben ist in der Alltäglichkeit da als begegnende Welt, besorgte
und vom Sorgen betroffene Welt. Leben besorgt sich selbst und, da die Sorge
jeweilig ihre Sprache hat, spricht es sich dabei weltlich an.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 103 |
Im Seinscharakter der Sorge liegt es, daß sie in ihrer Zeitigung,
in ihrem Vollzug aufgeht. In der Gewohnheit und Offentlichkeit der Alltäglichkeit
verschwindet die Sorge; das besagt aber nicht, sie h öre auf, sondern sie
zeigt sich nicht mehr, sie ist verdeckt. Besorgen und Umgang haben den nächsten
Aspekt der Sorglosigkeit. Die begegnende Welt erscheint als in schlichter
Weise einfach da.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 103 |
In diesem nivellierten Da der besorgenden Sorglosigkeit, in dem die
Welt als Selbstverständlichkeit begegnet, schläft die Sorge. Dadurch
besteht in der Welt die Möglichkeit einer plötzlich ausbrechenden
Bedrängnis. Nur als bedeutsame kann die Welt begegnen als Bedrängnis.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 103 |
(Ich muß hier abbrechen). Aus diesem fixierten Charakter des Daseins
der Welt muß verständlich gemacht werden, inwiefern die Neugier
(cura-curiositas!) ein Wie des Sorgens ist. Wie sie in ihrem ausdrücklichen
Vollzug die Selbstverständlichkeit des Daseins nicht beseitigt, sondern
verstärkt. Sie kann das dadurch, daß die Sorge der Neugier sich beständig
selbst verdeckt. Die vier Charaktere der Selbstauslegungl sind Maskierungen
der Neugier, durch die sie sich vor ihrer eigenen Sorge verdeckt. Das »wir
alle« Sprangers ist nur die Maske der Unsicherheit: keiner hat es gesehen,
keiner glaubt es, jeder ist zu feige, es einzugestehen.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 103 |
Das Phänomen der Sorge muß als ein Grundphänomen
des Daseins gesehen werden. Es kann nicht aus theoretischen, praktischen,
emotionalen Bestandteilen zusammengesetzt werden. Erst aus ihm muß verständlich
gemacht werden, wie im Dasein des Sorgens selbst, gefaßt in seiner Ursaprünglichkeit
cor jeder Auseinanderlegung, die Sorge des bloßen Sehens und des bloßen
Fragens im Sein der menschlichen Existenz gegründet ist.
Martin Heidegger,
Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Vorlesung, Sommersemester
1923, in: Ders., Gesamtausgabe, Band 63, S. 103-104 |
Mein liebes Seelchen! Es ist Sonntag abend
u. ich möchte ein Weilchen zu Dir kommen und erzählen. ....
Das Städtchen ist ganz entzückend - das paßt
so ganz zu mir. Gestern Nachmittag kam die Sonne u. ich bummelte durch
die buckligen Straßen mit den niedlichen Häuschen - jedes guckt
anders drein u. alle sind sie zusammen gehuschelt wie die Hessenmädchen,
die in ihrem Putz einkaufen gehen. Die Lahn hat viel Wasser u. fließt
zwischen großen Weidenbäumen durch - von einer Brücke
ist ein ähnlicher Blick wie in Heidelberg neckaraufwärts. Ich
habe das Gefühl, das alles gut wird mit meiner Arbeit hier. Aber
trotzdem bin ich noch traurig, daß Du nicht da bist u. wir nicht
uns zusammen freuen können - hoffentlich kann ich Dich bald schon
führen.Vielleicht wirst Du noch mehr sehen. Mein
Dämchen ist sehr nett u. das Trienchen macht seine Sache gut. Ich
bezahle für diese beiden Zimmer 5 markenfreie Brote - z.Zt. 320 Mill.
das Brot - 4 Brote kostet ein Studentenzimmer. Die
Dame bittet aber, daß ich Bettwäsche bringe, das ist jetzt
allgemein üblich - auch Handtücher? Dann hätte ich gern
für morgens Kakao - kannst Du mir schicken? ebenso Tee - Frau Hartmann
hat mir bis jetzt ausgeliehen. Ferner habe ich keine Stehlampe - Gadamer
kann mir nur vorläufig seine ausleihen. Aber ich will möglichst
bei Tag arbeiten, um Licht zu sparen. Dann fehlt mir die Weste zum Schniepel
- die Straßenbahnkarte hab ich trotz eifrigen Suchens nicht gefunden
- sieh mal bitte nach in der äußeren Seitentasche des grauen
Anzugs - oder in der Skijoppe. Die Brotmarken sollen
ja weitergehen; ich brauche also eine Abmeldung - auch muß ich bald
nach Kohlen sehen. Nächsten Sonntag ist Rektoratsübergabe
- am 1. Nov. beginn ich die Vorlesungen. Hartmanns
sind reizend - ich muß jetzt die 3 Tage immer Mittag zu Tisch kommen
- ich glaube, daß ich gut mit ihm fahre - das Töchterchen (Dagmar,
die Tochter von Nicolai und Alice Hartmann; HB) freut sich schon
sehr auf die Buben (Heideggers Kinder Jörg
und Hermann; HB) - ich mußte viel von der Hütte erzählen
u. die Bildchen zeigen. Heute war ich bei Natorp -
morgen gehen wir zusammen spazieren - die Frau ist etwas laut u. überschwänglich
- aber doch lieb - Jaensch ist für einige Tage verreist. Heute Nachmittag
bin ich bei Gadamers - der alte Herr (Johannes Gadamer,
HB) sehr nett - ich lernte gleich dort den neuen Rektor kennen
u. den Prof. Busch (neue Geschichte) - der mal in den 90er Jahren in Freiburg
war - die Leute sind alle sehr herzlich .... Ich habe
jetzt nur noch einen Wunsch, daß es Dir gut geht u. den Buben u.
daß Ihr recht bald kommt. Ich umarme Dich mit
einem lb. Kuß Dir und den Bengelchen. Dein Möhrchen.
Bitte Bettschuh u. Pulswärmer!
Warte mit dem Abschicken der Sachen bis ich nochmal schreibe.
Martin
Heidegger, Brief an seine Frau Elfride, 14.10.1923 |
Das Dasein ... weiß um seinen Tod. .... Es ist ein Vorlaufen des
Daseins zu seinem Vorbei.
Martin Heidegger,
Der Begriff der Zeit, Vortrag 1924, S. 12 |
Dieses Vorbei ist das Wie meines Daseins schlechthin.
Martin Heidegger,
Der Begriff der Zeit, Vortrag 1924, S. 18 |
Das Abstellen von Vorurteilen - schlichtes Sehen und Festhalten
des Geschehenen, ohne die neugierige Frage, was damit anzufangen sei.
Martin Heidegger,
Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, 1925, in: Ders.,
Gesamtausgabe, Band 20, S. 37 |
(Phänomenologie ist) Arbeit des Abbauens der Verdeckungen,... des
freilegenden Sehenlassens.
Martin Heidegger,
Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, 1925, in: Ders.,
Gesamtausgabe, Band 20, S. 37 |
Ich fahre am 1.8. auf die Hütte - und freue mich sehr auf
die starke Luft der Berge - dieses weiche leichte Zeug hier unten ruiniert
einen auf die Dauer. Acht Tage Holzarbeit - dann wieder Schreiben.
Martin
Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 24.07.1925 |
Hier oben ist es herrlich - am liebsten bleibe ich gleich bis
zum Frühjahr hier oben bei der Arbeit. Nach der Gesellschaft der
Professoren habe ich kein Verlangen. Die Bauern sind viel angenehmer und
sogar interessanter.
Martin
Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 23.09.1925 |
Ich habe am 1. April den Druck meiner Abhandlung »Sein und
Zeit« begonnen. .... Ich bin richtig im Zug und ärgere mich
lediglich über das kommende Semester und die spießige Luft,
die einen jetzt wieder umgibt. .... Es ist schon tiefe Nacht - der Sturm
fegt über die Hütte, in der Hütte knarren die Balken, das
Leben liegt rein, einfach und groß vor der Seele. .... Zuweilen
begreife ich nicht mehr, daß man da unten so merkwürdige Rollen
spielen kann.
Martin
Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 24.04.1926 |
Der Titel Phänomen bedeutet ... gewissermaßen immer eine
Aufgabe.
Martin Heidegger,
Logik, Vorlesung, Wintersemester 1925/26, in: Werke (GA), Band 21, S. 33 |
Die ganze Geschichte (um das zu veröffentlichende und tatsächlich erst 1927 veröffentlichte Werk »Sein und Zeit«; HB) ist ... mir gänzlich gleichgültig ....
Martin
Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 24.04.1926 |
Im Ganzen ist es für mich eine Übergangsarbeit (das
zu veröffentlichende und tatsächlich erst 1927 veröffentlichte
Werk »Sein und Zeit«; HB) ....
Martin
Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 24.05.1926 |
Die Studenten bieder, ohne besondere Antriebe. Und da ich mich
viel mit dem Problem der Negativität beschäftige, habe ich hier
die beste Gelegenheit zu studieren, wie »das Nichts« ausieht.
Martin
Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 02.12.1926 |
Ich schätze die Arbeit (das
zu veröffentlichende und tatsächlich erst 1927 veröffentlichte
Werk »Sein und Zeit«; HB) nicht übermäßig
hoch ein, habe aber auf ihrem Grunde verstehen gelernt ..., was Größere
wollten ....
Martin
Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 21.12.1926 |
Mehr wird mir die
Arbeit (das
zu veröffentlichende und tatsächlich erst 1927 veröffentlichte
Werk »Sein und Zeit«; HB) überhaupt nicht einbringen, als was ich schon von ihr besitze:
daß ich für mich selbst ins Freie gekommen bin und mit einiger
Sicherheit und Direktion Fragen stellen kann.
Martin
Heidegger, Brief an Karl Jaspers, 26.12.1926 |
Ich bin der Armen (gemeint ist seine Mutter Johanna Heidegger, geb. Kempf; HB)
natürlich eine große Sorge, und sie meint immer, daß sie wäre
verantwortlich für mich. Ich habe sie darüber beruhigt - aber gleichwohl
trägt sie schwer daran. So stark sind doch die Mächte, daß sie
gerade in solchen Stunden sich besonders geltend machen. Mutter war sehr ernst,
fast sogar hart - und ihr eigentliches Wesen war wie verdeckt. »Beten
kann ich für dich nicht mehr«, sagte sie, »denn ich hab
für mich selbst zu tun.« Ich muß das tragen, und meine Philosophie
soll ja auch nicht nur auf dem Papier stehen. .... Ich spüre es diesmal
noch stärker denn je, daß mich direkt mit dre hiesigen Welt nichts
mehr verbindet; was ich aus dem Elernhaus und der Heimat empfing, ist in die
Arbeit eingegangen. (Todestag seiner Mutter: 03.05.1927; HB). Ich will auf jeden Fall bis Montag bleiben.
Martin
Heidegger, Brief an seine Frau Elfride, 05.02.1927 |
Daß ich für sie eine schwere Sorge bin und das Sterben schwer
mache, werden Sie ungefähr ermessen. Die letzte Stunde, die ich bei meiner
Mutter verbrachte ... war ein Stück praktischer Philosophie,
das mir bleiben wird. Ich glaube, den meisten Philosophen ist die
Frage Theologie und Philosophe oder besser Glaube und Philosophie - eine reine
Schreibtischfrag.e
Martin Heidegger,
Brief an Karl Jaspers, 01.03.1927 |
Mutter ist in der kurzen Zeit, in der
ich da bin, zusehends schwächer geworden. Auch der Puls läßt
nach. Seit einer Woche lebt die Arme nur noch von Wein und Wasser. Dazu das
Erbrechen alle paar Stunden. Es ist ein Jammerbild, und Mutter selbst wünscht
sich das Ende. Mutter hat sich sehr gefreut, als sie mich
sah - war schon sehr besorgt, ob ich auch abgeholt werde und ein richtiges Zimmer
habe zum Studieren. Sie hat sich nach Dir und den Kindern öfters erkundigt.
Meist dämmert sie so hin - und hat, von der Unleidigkeit des ganzen Zustandes
abgesehen, keine Schmerzen. (Todestag seiner Mutter: 03.05.1927; HB). Ich will auf jeden Fall bis Montag bleiben.
Martin
Heidegger, Brief an seine Frau Elfride, 21.04.1927 |
Und so gilt es denn, die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 1 |
Die genannte Frage ist heute in Vergessenheit gekommen, obzwar unsere Zeit
sich als Fortschritt ausrechnet, die »Metaphysik« wieder zu bejahen.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 2 |
Das »Sein« ist ist der »allgemeinste« Begriff ....
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 3 |
»Sein« ist nicht so etwas wie Seiendes.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 4 |
Die eigentliche »Bewegung« der Wissenschaften
spielt sich ab in der nicht mehr oder minder radikalen und ihr selbst
nicht durchsichtigen Revision der Grundbegriffe. Das Niveau einer Wissenschaft
bestimmt sich daraus, wie weit sie einer Krisis ihrer Grundbegriffe fähig
ist. In solchen immanenten Krisen der Wissenschaften kommt das Verhältnis
des positiv untersuchenden Fragens zu den befragten Sachen selbst ins
Wanken. Allenthalben sind heute in den verschiedenen Disziplinen Tendenzen
wachgeworden, die Forschung auf neue Fundamente umzulegen.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 9 |
Die scheinbar strengste und am festesten gefügte Wissenschaft,
die Mathematik, ist in eine »Grundlagenkrisis« geraten.
Der Kampf zwischen Formalismus und Intuitionismus geht um die Gewinnung
und Sicherung der primären Zugangsart zu dem, was Gegenstand dieser
Wissenschaft sein soll. Die Relativitätstheorie der Physik
erwächst der Tendenz, den eigenen Zusammenhang der Natur selbst,
so wie er »an sich« besteht, herauszustellen. Als Theorie
der Zugangsbedingungen zur Natur selbst sucht sie durch Bestimmung aller
Relativitäten der Unveränderlichkeit der Bewegungsgesetze zu
wahren und bringt sich damit vor die Frage nach der Struktur des ihr vorgegebenen
Sachgebietes, vor das Problem der Materie. In der Biologie erwacht
die Tendenz, hinter die von Mechanismus und Vitalismus gegebenen Bestimmungen
von Organismus und Leben zurückzufragen und die Seinsart von Lebendem
als solchem neu zu bestimmen. In den historischen Geisteswissenschaften
hat sich der Drang zur geschichtlichen Wirklichkeit selbst durch Überlieferung
und deren Darstellung und Tadition hindurch verstärkt: Literaturgeschichte
soll Problemgeschichte werden. Die Theologie sucht nach einer ursprünglicheren,
aus dem Sinn des Glaubens selbst vorgezeichneten und innerhalb seiner
verbleibenden Auslegung des Seins des Menschen zu Gott. Sie beginnt langsam
die Einsicht Luthers wieder zu verstehen, daß ihre dogmatische
Systematik auf einem »Fundament« ruht, das nicht einem primär
glaubenden Fragen entwachsen ist und dessen Begrifflichkeit für die
theologische Problematik nicht nur nicht zureicht, sondern sie verdeckt
und verzehrt.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 9-10 |
Wissenschaft überhaupt kann als das Ganze eines Begründungszusammenhanges
wahrer Sätze bestimmt werden. Diese Definition ist weder vollständig,
noch trifft sie die Wissenschaft in ihrem Sinn. Wissenschaften haben als
Verhaltungen des Menschen die Seinsart dieses Seienden (Mensch). Dieses
Seiende fassen wir terminologisch als Dasein. Wissenschaftliche
Forschung ist nicht die einzige und nicht die nächste mögliche
Seinsart dieses Seienden. Das Dasein selbst ist überdies vor anderem
Seienden ausgezeichnet. Diese Auszeichnung gilt es vorläufig sichtbar
zu machen. Hierbei muß die Erörterung den nachkommenden und
erst eigentlich aufweisenden Analysen vorgreifen.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 11-12 |
Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden
vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es
diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Zu dieser
Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß es in seinem
Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. Und das wiederum besagt:
Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in
seinem Sein. Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein
dieses ihm erschlossen ist. Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit
des Daseins. Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß
es ontologisch ist.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 12 |
Ontologisch-sein besagt hier noch nicht: Ontologie ausbilden.
Wenn wir daher den Titel Ontologie für das explizite theoretische
Fragen nach dem Sein des Seienden vorbehalten, dann ist das gemeinte Ontologisch-sein
des Daseins als vorontologisches zu bezeichnen. Das bedeutet aber nicht
etwa soviel wie einfachhin ontisch-seiend, sondern seiend in der Weise
eines Verstehens von Sein.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 12 |
Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann
und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz. Und weil
die Wesensbestimmung dieses Seienden nicht durch Angabe eines sachhaltigen
Was vollzogen werden kann, sein Wesen vielmehr darin liegt, daß
es je sein Sein als seiniges zu sein hat, ist der Titel Dasein als reiner
Seinsausdruck zur Bezeichnung dieses Seienden gewählt.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 12 |
Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer
Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein.
Diese Möglichkeiten hat das Dasein entweder selbst gewählt,
oder es ist in sie hineingeraten oder je schon darin aufgewachsen Die
Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäumens nur vom
jeweiligen Dasein selbst entschieden. Die Frage der Existenz ist immer
nur durch das Existieren selbst ins Reine zu bringen. Das hierbei
führende Verständnis seiner selbst nennen wir das existenzielle.
Die Frage der Existenz ist eine ontische »Angelegenheit« des
Daseins. Es bedarf hierzu nicht der theoretischen Durchsichtigkeit der
ontologischen Struktur der Existenz. Die Frage nach dieser zielt auf die
Auseinanderlegung dessen, was Existenz konstituiert. Den Zusammenhang
dieser Strukturen nennen wir die Existenzialität. Deren Analytik
hat den Charakter nicht eines existenziellen, sonder existenzialen Verstehens.
Die Aufgabe einer existenzialen Analytik des daseins ist hinsichtlich
ihrer Möglichkeit und Notwendigkeit in der ontischen Verfassung des
Dasein vorgezeichnet.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 12-13 |
Sofern nun aber Existenz das Dasein bestimmt, bedarf die ontologische
Analytik dieses Seienden je schon immer einer vorgängigen Hinblicknahme
auf Existenzialität. Diese verstehen wir aber als Seinsverfassung
des Seienden, das existiert. In der Idee einer solchen Seinsverfassung
liegt aber schon die Idee von Sein überhaupt. Und so hängt auch
die Möglichkeit einer Durchführung der Analytik des daseins
an der vorgängigen Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein
überhaupt.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 13 |
Wisenschaften sind Seinsweisen des Daseins, in denen es sich auch
zu Seienden verhält, das es nicht selbst zu sein braucht. Zum Dasein
gehört aber wesenhaft: Sein in einer Welt. Das dem Dasein zugehörige
Seinsverständnis betrifft daher gleichursprünglich das Verstehen
von so etwas wie »Welt« und Verstehen des Seins des Seienden,
das innerhalb der Welt zugänglich wird. Die Ontologien, die Seiendes
von nicht daseinsmäßigem Seinscharakter zum Thema haben, sind
demnach in der ontischen Struktur des Daseins selbst fundiert und motiviert,
die die Bestimmtheit eines vorontologischen Seinsverständnisses in
sich begreift.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 13 |
Daher muß die Fundamentalontologie, aus der alle
andern erst entspringen können, in der existenzialen Analytik
des Daseins gesucht werden.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 13 |
Das Dasein hat sonach einen mehrfachen Vorrang vor allem anderen
Seienden. Der erste Vorrang ist ein ontischer: dieses Seiende ist
in seinem Sein durch Existenz bestimmt. Der zweite Vorrang ist ein ontologischer:
Dasein ist auf dem Grunde seine Existenzbestimmtheit an ihm selbst »ontologisch«.
Dem Dasein gehört nun aber gleichursprünglich - als Konstituens
des Existenzverständnisses - zu: ein Verstehen des Seins alles nicht
daseinsmäßigen Seienden. Das Dasein hat daher den dritten Vorrang
als ontisch-ontologische Bedingung der Möglichkeit aller Ontologien.
Das dasein hat sich so als das vor allem anderen Seienden ontologisch
primär zu Befragende erwiesen.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 13 |
Die existenziale Analytik ihrerseits aber ist letztlich existenziell,
d.h. ontisch verwurzelt. Nur wenn das philosophisch-forschende
Fragen selbst als Seinsmöglichkeit des je existierenden Daseins existenziell
ergriffen ist, besteht die Möglichkeit einer Erschließung der
Existenzialität der Existenz und damit die Möglichkeit der Inangriffnahme
einer zureichend fundierten ontologischen Problematik überhaupt.
Damit ist aber auch der ontische Vorrang der Seinsfrage deutlich geworden.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 13-14 |
Soll
für die Seinsfrage selbst die Durchsichigkeit ihrer eigenen Geschichte gewonnen
werden, dann bedarf es der Auflockerung der verhärteten Tradition und der
Ablösung der durch die gezeitgten Verdeckungen. Diese Aufgabe verstehen wir
als die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion
der überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichen
Erfahrungen, in deren die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen
wurden.Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 22 |
Dieser
Nachweis der Herkunft der ontologischen Grundbegriffe, als untersuchende Ausstellung
ihres »Geburtsbriefes« für sie, hat nichts zu tun mit einer schelchten
Relativierung ontologischer Standpunkte..Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 22 |
Die Destruktion hat ebenso wenig den negativen Sinn einer
Abschüttelung der ontologischen Tradition. Sie soll umgekehrt diese
in ihren positiven Möglichkeiten, und das besagt immer, in ihren
Grenzen abstecken, die mit der jeweiligen Fragestellung und der aus dieser
vorgezeichneten Umgrenzung des möglichen Feldes der Untersuchung
faktisch gegeben sind.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 22 |
Phänomenologie ist Zugangsart zu dem und die
ausweisende Bestimmungsart dessen, was Thema der Ontologie werden soll. Ontologie
ist nur als Phänomenologie möglich. Der phänomenologische
Begriff von Phänomen meint als das Sichzeigende das Sein des Seienden,
seinen Sinn, seine Modifikatioen und Derivate. Und das Sichzeigen ist kein beliebiges
noch gar so etwas wie Erscheinen.
Martin Heidegger,
Sein und Zeit, 1927, S. 31 |
§ 8. Der Abriß der Abhandlung
Die Frage nach dem Sinn des Seins ist die universalste und leerste; in ihr liegt
aber zugleich die Möglichkeit ihrer eigenen schärfsten Vereinzelung
auf das jeweilge Dasein. Die Gewinnung des Grundbegriffes »Sein«
und die Vorzeichnung der von ihm geforderten ontologischen Begrifflichkeit und
ihrer notwendigen Abwandlungen bedürfen eines konkreten Leitfadens. Der
Universalität des Begriffes von Sein widerstreitet nicht die »Spezalität«
der Untersuchung - d.h. das Vordringen zu ihm auf dem Wege einer speziellen
Interpretation eines bestimmten Seienden, des daseins, darin der Horizont für
Verständnis und mögliche Auslegung von Sein gewonnen werden soll.
Dieses Seiende selbst aber ist in sich »geschichtlich«, so daß
die eigenste ontologische Durchleuchtung dieses Seienden notwendig zu einer
»historischen« Interpretation wird.
Die Ausarbeitung der Seinsfrage gabelt sich so in zwei Aufgaben ; ihnen entspricht
die Gliederung der Abhandlung in zwei Teile:Erster Teil: Die Interpretation des
Daseins auf die Zeitlichkeit und die Explikation der Zeit als des transzendentalen
Horizontes der Frage nach dem Sein.
Zweiter Teil: Grundzüge einer phänomenologischen
Destruktion der Geschichte der Ontologie am Leitfaden der Problematik
der Temporalität.
Der erste Teil zerfällt in
drei Abschnitte:
1. Die vorbereitdende
Fundamentalanalyse des Daseins (S. 41-230).
2. Dasein
und Zeitlichkeit (S. 231-437).
3.
Zeit und Sein.
Der zweite Teil (der leider nie erschienen ist;
HB) gliedert sich ebenso dreifach:
1.
Kants Lehre vom Schematismus und der Zeit als Vorstufe einer Problematik
der Temporalität.
2. Das ontologischre
Fundament des »cogito sum« Descartes' und die Übernahme
des mittelalterlichen Ontologie in die Problematik der »res cogitans«.
3. Die Abbildung des Aristoteles
über die Zeit als Diskrimen der phänomenaletn Basis und der
Grenzen der antiken Ontologie.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 39-40 |
Das
ontisch Nächste und Bekannte ist das ontologisch Fernste, Unerkannte und
in seiner ontologischen Bedeutung ständig Übersehene.Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 43 |
Die
Idee der »Transzendenz«, daß der Mensch etwas sei, das über
sich hinauslangt, hat ihre Wurzeln in der christlichen Dogmatik ....Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 49 |
Leben
ist eine eigene Seinsart, aber wesenhaft nur zugänglich im Dasein.Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 50 |
Dasein ist Seiendes, das sich in seinem
Sein verstehend zu diesem Sein verhält. Damit ist der formale Begriff
von Existenz angezeigt. Dasein existiert. Dasein ist ferner Seiendes,
das je ich selbst bin. Zum existierenden Dasein gehört die Jemeingkeit
als Bedingung der Möglichkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit.
Dasein existiert je in einem dieser Modi, bzw. in der modalen Differenz
ihrer. Diese Daseinsbestimmungen müssen nun aber a priori auf dem
Grunde der Seinsverfassung gesehen und verstanden werden, die wir das
In-der-Welt-sein nennen. Der rechte Ansatz der Analytik des Daseins
besteht in der Auslegung dieser Verfassung.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 52-53 |
Der zusammengesetzte Ausdruck »In-der-Welt-sein«
zeigt schion in seiner Prägung an, daß mit ihm ein einheitliches
Phänomen gemeint ist. Dieser primäre Befund muß im Ganzen
gesehen werden. Die Unauflösbarkeit in zusammenstückbare Bestände
schließt nicht eine Mehrfältigkeit konstitutiver Strukturmomente
dieser Verfassung aus. Der mit diesem Ausdruck angezeigte phänomenale
Befund gewährt in der Tat eine dreifache Hinblicknahme. Wenn wir
ihm unter vorgängiger Festhaltung des ganzen Phänomens nachgehen,
lassen sich herausheben: 1. Das »in der Welt«; in bezug
auf dieses Moment erwächst die Aufgabe, der ontologischen Struktur
von »Welt« nachzufragen und die Idee der Weltlichkeit
als solcher zu bestimmen. 2. Das Seiende, das je in der Weise des
In-der-Welt-seins ist. Gesucht wird mit ihm das, dem wir im »Wer?«
nachfragen. In phänomenologisdier Aufweisung soll zur Bestimmung
kommen, wer im Modus der durchsdinittlidten Alltäglichkeit des Daseins
ist. 3. Das In-Sein als solches; die ontologisdie Konstitution
der Inheit selbst ist herauszustellen. Jede Hebung des einen dieser Verfassungsmomente
bedeutet die Mithebung der anderen, das sagt: jeweilig ein Sehen des ganzen
Phänomens. Das In-der-Welt-sein ist zwar eine apriori notwendige
Verfassung des Daseins, aber längst nicht ausreichend, um dessen
Sein voll zu bestimmen. Vor der thematischen Einzelanalyse der drei herausgehobenen
Phänomene soll eine orientierende Charakteristik des zuletzt genannten
Verfassungsmomentes versucht werden.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 53 |
In-Sein ... meint eine Seinsverfassung des
Daseins und ist ein Existenzial. Dann kann damit aber nicht gedacht
werden an das Vorhandensein eines Körperdings (Menschenleib) »in«
einem vorhandenen Seienden. Das In-Sein meint so wenig ein räumliches
»Ineinander« Vorhandener, als »in« ursprünglich
gar nicht eine räumliche Beziehung der genannten Art bedeutet (vgl.
Jacob Grimm, Kleinere Schriften, Band VII, S. 247); »in«
stammt von innan-, wohnen, habitare, sich aufhalten; »an«
bedeutet: ich bin gewohnt, vertraut mit, ich pflege etwas; es hat die
Bedeutung von colo im Sinne habito und diligo. Dieses Seiende, dem das
In-Sein in dieser Bedeutung zugehört, kennzeichneten wir als das
Seiende, das ich je selbst bin. Der Ausdruck »bin« hängt
zusammen mit »bei«; »ich bin« besagt wiederum:
ich wohne, halte mich auf bei ... der Welt, als dem so und so Vertrauten.
Sein als Infinitiv des »ich bin«, d.h. als Existenzial verstanden,
bedeutet wohnen bei ..., vertraut sein mit .... In-Sein ist demnach
der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesentliche
Verfassung des In-der-Welt-seins hat. Das »Sein bei« der
Welt, in dem noch näher auszulegenden Sinne des Aufgehens in der
Welt, ist ein im In-Sein fundiertes Existenzial.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 54 |
Das Dasein hat selbst ein eigenes »Im-Raum-sein«,
das aber seinerseits nur möglich ist auf dem Grunde des In-der-Welt-seins
überhaupt.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 56 |
Das Verständnis des In-der-Welt-seins als Wesensstruktur
des Daseins ermöglicht erst die Einsicht in die existenziale Räumlichkeit
des Daseins.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 56 |
Das In-der-Welt-sein des Daseins hat sich mit
dessen Faktizität je schon in bestimmte Weisen des In-Seins zertreut
oder gar zersplittert. Die Mannigfaltigkeit solcher Weisen des in-Seins
läßt sich exemplarisch durch folgende Aufzählung anzeigen:
zutunhaben mit etwas, herstellen von etwas, bestellen und pflegen von
etwas, verwenden von etwas, aufgeben und in Verlust geraten lassen von
etwas, unternehmen, durchsetzen, erkunden, befragen, betrechten, besprechen,
bestimmen. Diese Weisen des In-Seins haben die noch eingehend zu charakterisierende
Seinsart des Besorgens. Weisen des Besorgens sind auch die defizienten
Modi des Unterlassens, Versäumens, Verzichtens, Ausruhens, alle Modi
des »Nur noch« in bezug auf Möglichkeiten des Besorgens.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 56-57 |
»Besorgen«
in der vorliegenden Untersuchung als ontologischer Terminus (Existenzial) ...
als Bezeichnung des Seins eines möglichen In-der-Welt-seins. Der Titel ist
nicht deshalb gewählt, weil etwa das Dasein zunächst und in großem
Ausmaß ökonomisch und »praktisch« ist, sondern weil das
Sein des Daseins selbst als Sorge sichtbar gemacht werden soll.Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 57 |
Weil
zu Dasein wesenhaft das In-der-Welt-sein gehört, ist sein Sein zur Welt wesenhaft
Besorgen.Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 57 |
Erkennen ist ein Seinsmodus des Daseins
als In-der-Welt-sein .... Erkennen ist ein im In-der-Welt-sein fundierter
Modus des Daseins.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 61-62 |
Natur ist - ontologisch-kategorial verstanden
- ein Grenzfall des Seins von möglichem innerweltlichen Seienden.
Das Seiende als Natur in diesem Sinne kann das Dasein nur in einem bestimmten
Modus seines In-der-Welt-seins entdecken. Dieses Erkennen hat den Charakter
einer bestimmten Entweltlichung der Welt.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 65 |
»Natur«
als der kategoriale Inbegriff von Seinstrukturen eines bestimmten innerweltlich
begegnenden Seienden vermag nie Weltlichkeit verständlich zu machen.
Ebenso ist auch das Phänomen »Natur« etwa im Sinne des Naturbegriffes
der Romantik erst aus dem Weltbegriff, d.h. der Analytik des Daseins her ontologisch
faßbar.Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 65 |
Das
In-der-Welt-sein und sonach auch die Welt sollen im Horizont der durchschnittlichen
Alltäglichkeit als der nächsten Seinsart des Daseins zum Thema der Analytik
werden. Dem alltäglichen In-der-Welt-sein ist nachzugehen, und im phänomenalen
Anhalt an dieses muß so etwas wie Welt in den Blick kommen.Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 66 |
Das Ent-fernen ist zunächst und zumeist
umsichtige Näherung, in die Nähe bringen als beschaffen, bereitstellen,
zur Hand haben. Aber auch bestimmte Arten des rein erkennenden Entdeckens
vom Seienden haben den Charakter der Näherung. Im Dasein liegt
eine wesenhafte Tendenz auf Nähe.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 105 |
Das
ontologisch relevante Ergebnis der ... Analyse des Mitseins liegt in der
Einsicht, daß der »Subjektcharakter« des eigenen Daseins und
der Anderen sich existenzial bestimmt, das heißt aus gewissen weisen zu
sein. Im unweltlich Besorgten begegnen die Anderen als das, was sie sind: sie
sind das, was sie betreiben. Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 116 |
Die »Substanz« des Menschen
ist nicht der Geist als die Synthese von Leib und Seele, sondern die Existenz.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 117 |
Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-seins
ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt
des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen.
Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 118 |
W. von Humboldt (Über die Verwandtschaft der Ortsadverbien
mit den Pronomen in einigen Sprachen, 1829, a.a.O.) hat auf Sprachen
hingewiesen, die das »Ich« durch »hier«, das »Du«
durch »da«, das »Er« durch »dort«
ausdrücken, die demnach - grammatisch formuliert - die Personalpronomen
durch Ortsadverbien wiedergeben. Es ist strittig, welches wohl die ursprüngliche
Bedeutung der Ortsausdrücke sei, die adverbiale oder die pronominale.
Der Streit verliert den Boden, wenn beachtet wird, daß die Ortsadverbien
Bezug haben auf das Ich qua Dasein. Das »hier«, »dort«
und »da« sind primär keine Ortsbestimmungen des innerweltlichen
an Raumstellen vorhandenen Seienden, sondern Charaktere der ursprünglichen
Räumlichkeit des Daseins. Die vermutlichen Ortsadverbien sind Daseinsbestimmungen,
sie haben primär existenziale und nicht kategoriale Bedeutung. Sie
sind aber auch keine Pronomina, ihre Bedeutung liegt vor der Differenz
von Ortsadverbien und Personalpronomina; die eigentlich räumliche
Daseinsbedeutung dieser Ausdrücke dokumentiert aber, daß die
theoretisch unverborgene Daseinsauslegung dieses unmittelbar in seinem
räumlichen, das ist ent-fernend-ausrichtenden »Sein bei«
der besorgten Welt sieht. Im »hier« spricht das in seiner
Welt aufgehende Dasein nicht auf sich zu, sondern von sich weg auf das
»dort« eines umsichtig Zuhandenen und meint doch sich
in der existenzialen Räumlichkeit.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 119-120 |
Dasein
versteht sich zunächst und zumeist aus seiner Welt, und das Mitsein der Anderen
begegnet vielfach aus dem innerweltlich Zuhandenen her. Aber auch wenn die Anderen
in ihrem Dasein gleichsam thematisch werden, begegnen sie nicht als vorhandene
Persondinge, sondern wir treffen sie »bei der Arbeit«, das heißt
primär in ihrem In-der-Welt-sein. Selbst wenn wir den Anderen »bloß
herumstehen« sehen, ist er nie als vorhandenes Menschending erfaßt,
sondern das »Herumstehen« ist ein existenzialer Seinsmodus: das unbesorgte,
umsichtslose Verweilen bei Allem und keinem. der Andere begegnet in seinem Mitdasein
in der Welt. Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 120 |
Wenn
das Mitsein für das In-der-Welt-sein existenzial konstitutiv bleibt, dann
muß es ebenso wie der umsichtige Umgang mit dem innerweltlich Zuhandenen,
das wir vorgreifend als Besorgen bezeichneten, aus dem Phänomen der Sorge
interpretiert werden, als welche das Sein des Daseins überhaupt bestimmt
wird. Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 121 |
In
der Struktur der Weltlichkeit liegt es, daß die Anderen nicht zunächst
als freischwebende Subjekte vorhanden sind ..., sondern in ihrem umweltlichen
besorgenden Sein in der Welt aus dem in dieser Zuhandenen her sich zeigen
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 123 |
Im Seinsverständnis des Daseins liegt
schon, weil das Sein Mitsein ist, das Verständnis Anderer. Dieses
Verstehen ist, wie Verstehen überhaupt, nicht eine aus Erkennen erwachsene
Kenntnis, sondern eine ursprünglich existenziale Seinsart, die Erkennen
und Kenntnis allererst möglich macht. Das Sicherkennen gründet
in dem ursprünglich verstehenden Mitsein.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 123-124 |
Die
Analyse hat gezeigt: Das Mitsein ist ein existenziales Konstituens des In-der-Welt-seins.
das Mitsein erweist sich als eigenen Seinsart von innerweltlich begegnendem Seienden.
Sofern Dasein überhaupt ist, hat es die Seinsart des Miteinanderseins.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 125 |
Das
Dasein steht als alltägliches Miteinandersein in der Botmäßigkeit
der Anderen. Nicht es selbst ist, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen.
Das Belieben der Anderen verfügt über die alltäglichen Seinsmöglichkeiten
des Daseins. Diese Anderen sind dabei nicht bestimmte Andere. Im Gegenteil,
jeder Andere kann sie vertreten. Entscheidend ist nur die unauffällige,
vom dasein als Mitsein unversehens schon übernommene Herrschaft der Anderen.
Man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht. Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 126 |
»Die Anderen«, die man so nennt, um die eigene wesenhafte
Zugehörigkeit zu ihnen zu verdecken, sind die, die im alltäglichen
Miteinandersein zunächst und zumeist »da sind«.
Das Wer ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige
und nicht die Summe Aller. Das »Wer« ist das Neutrum, das
Man.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 126 |
In der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung
des Nachrichtenwesens ist jeder Andere wie der Andere. Dieses Miteinandersein
löst das eigene Dasein völlig in die Seinsart »der Anderen«
auf, so zwar, daß die Anderen in ihrer Unterschiedlichkeit und Ausdrücklichkeit
noch nicht verschwinden. In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit
entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 126 |
Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt;
wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man
sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom »großen Haufen«
zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden »empörend«,
was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist
und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart des
Alltäglichen vor.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 126-127 |
Das
Man hat selbst eigene Weisen zu sein. Die genannte Tendenz des Mitseins, die wir
die Abständigkeit nannten, gründet darin, daß das Miteinandersein
als solches die Durchschnittlichkeit besorgt. Sie ist ein existenzialer
Charakter des Man. Dem Man geht es in seinem Sein wesentlich um sie. Deshalb hält
es sich faktisch in der Durchschnittlichkeit dessen, was sich gehört, was
man gelten läßt und was nicht, dem man Erfolg zubilligt, dem man ihn
versagt. Diese Durchschnittlichkeit in der Vorzeichnung dessen, was gewagt werden
kann und darf, wacht über jede sich vordrängende Ausnahme. Jeder Vorrang
wird geräuschlos niedergehalten. Alles Ursprüngliche ist über Nacht
als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes
Geheimnis verliert seine Kraft. Die Sorge der Durchschnittlichkeit enthüllt
wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung aller
Seinsmöglichkeiten nennen. Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 127 |
Abständigkeit,
Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was
wir als »die Öffentlichkeit« kennen. Sie regelt zunächst
alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht. Und das nicht
auf Grund eines ausgezeichneten und primären Seinsverhältnisses zu den
»Dingen«, nicht weil sie über eine ausdrücklich zugeeignete
Durchsichtigkeit des Daseins verfügt, sondern auf Grund des Nichteingehens
»auf die Sachen« .... Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 127 |
Weil
das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen
Dasein die Verantwortlichkeit ab. Das Man kann es sich gleichsam leisten, daß
»man« sich ständig auf es beruft. Es kann am leichtesten alles
verantworten, weil keiner es ist, der für etwas einzustehen braucht. Das
Man »war« es immer und doch kann gesagt werden, »keiner«
ist es gewesen. In der Alltäglichkeit des Daseins wird das meiste durch das,
von dem wir sagen müssen, keiner war es. Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 127 |
Das
Man entlastet so das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit. Nicht
nur das; mit dieser Seinsentlastung kommt das Man dem Dasein entgegen, sofern
in diesem die Tendenz zum Leichtnehmen und Leichtmachen liegt. Und weil das Man
mit der Seinsentlastung dem jeweiligen Dasein ständig entgegenkommt, behält
es und verfestigt es seine hartnäckige Herrschaft. Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 127-128 |
Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. Das Man, mit
dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet,
ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je
schon ausgeliefert hat.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 128 |
Man
ist in der Weise der Unselbständigkeit und Uneigentlichkeit. Diese
Weise zu sein bedeutet keine Herabminderung der Faktizität des Daseins,
so wenig wie das Man als das Niemand ein Nichts ist. Im Gegenteil, in
dieser Seinsart ist das Dasein ein ens realissimum, falls »Realität«
als daseinsmäßiges Sein verstanden wird.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 128 |
Das
Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen
zur positiven Verfassung des Daseins. Es hat selbst wieder verschiedene Möglichkeiten
seiner daseinsmäßigen Konkretion. Eindringlichkeit und Ausdrücklichkeit
seiner Herrschaft können geschichtlich wechseln. Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 129 |
Zunächst ist das faktische Dasein in der durchschnittlich
entdeckten Mitwelt. Zunächst »bin« nicht »ich«
im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man.
Aus diesem her und als dieses werde ich mir »selbst« zunächst
»gegeben«. Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt
es so.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 129 |
Zunächst »bin« nicht »ich«
im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man.
Aus diesem her und als dieses werde ich mir »selbst« zunächst
»gegeben«. Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt
es so. Wenn das Dasein die Welt eigens entdeckt und sich nahebringt, wenn
es ihm selbst sein eigentliches Sein erschließt, dann vollzieht
sich dieses Entdecken von »Welt« und Erschließen von
Dasein immer als Wegräumen der Verdeckungen und Verdunkelungen, als
Zerbrechen der Verstellungen, mit denen sich das Dasein gegen es selbst
abriegelt.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 129 |
Mit
der Interpretation des Mitseins und des Selbstseins im Man ist die Frage nach
dem Wer der Alltäglichkeit des Miteinanderseins beantwortet. Diese Betrachtungen
haben zugleich ein konkretes Verständnis der Grundverfassung des Daseins
erbracht. Das In-der-Welt-sein wurde in seiner Alltäglichkeit und Durchschnittlicllkeit
sichtbar. Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 129 |
Wenn
schon das Sein des alltäglichen Miteinanderseins, das sich scheinbar ontologisch
der puren Vorhandenheit nähert, von dieser grundsätzlich verschieden
ist, dann wird das Sein des eigentlichen Selbst noch weniger als Vorhandenheit
begriffen werden können. Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf
einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine
existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 130 |
Die Selbigkeit des eigentlich existierenden Selbst ist aber dann
ontologisch durch eine Kluft getrennt von der Identität des in der
Erlebnismannigfaltigkeit sich durchhaltenden Ich
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 130 |
Zunächst ist gefordert, die Erschlossenheit des Man, das
heißt die alltägliche Seinsart von Rede, Sicht und Auslegung,
an bestimmten Phänomenen sichtbar zu machen. Mit Bezug auf diese
mag die Bemerkung nicht überflüssig sein, daß die Interpretation
eine rein ontologische Absicht hat und von einer moralisierenden Kritik
des alltäglichen Daseins und von »kulturphilosophischen«
Aspirationen weit entfernt ist.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 167 |
Alles sieht aus wie echt verstanden, ergriffen und gesprochen
und ist es im Grunde doch nicht, oder es sieht nicht so aus und ist es
im Grunde doch.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 173 |
Die
Angst ist nicht nur Angst vor ..., sondern als Befindlichkeit zugleich Angst
um .... Worum die Angst sich abängstet, ist nicht eine bestimmte
Seinsart und Möglichkeit des Daseins. Die Bedrohung ist ja selbst unbestimmt
und vermag daher nicht auf dieses oder jenes faktisch konkrete Seinkönnen
bedrohend einzudringen.Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 187 |
Worum
sich die Angst ängstet, ist das In-der-Welt-sein selbst.Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 187 |
In
der Angst versinkt das umweltlich Zuhandene, überhaupt das innerweltlich
Seiende. Die »Welt« vermag nichts mehr zu bieten, ebensowenig das
Mitdasein Anderer. Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend
sich aus der »Welt« und der öffentlichen Ausgelegtheit zu verstehen.
Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches
In-der-Welt-sein-können. Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes
In-der-Welt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft.
Mit dem Worum des Sichängstens erschließt daher die Angst das Dasein
als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her
als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann.Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 187-188 |
Die
Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt
das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens.
Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für ... (propensio in
...) die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon
ist. Dieses Sein aber ist es zugleich, dem das Dasein als In-der-Welt-sein überantwortet
ist.Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 188 |
Das,
worum die Angst sich ängstet, enthüllt sich als das, wovor
sie sich ängstet: das In-der-Welt-sein.Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 188 |
Die Selbigkeit des Wovor der Angst
und ihres Worum erstreckt sich sogar auf das Sichängsten selbst.
Denn dieses ist als Befindlichkeit eine Grundart des In-der-Welt-seins.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 188 |
Eigentliche Angst ist ... bei der Vorherrschaft des Verfallens
und der Öffentlichkeit selten.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 190 |
Das Zusammenvorhandenensein
von Physischen und Psychischen ist ontisch und ontologisch völlig
verschieden vom Phänomen des In-der-Welt seins.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 204 |
Den Unterschied und Zusammenhang
des »in mir« und außer mir« setzt Kant - faktisch
mit Recht, im Sinne einer Beweistendenz aber zu Unrecht - voraus. Desgleichen
ist nicht erwiesen, daß das, was über das Zusammenvorhandensein
von Wechselndem und Beharrlichem am Leitfaden der Zeit ausgemacht wird,
auch für den Zusammenhang des »in mir« und »außer
mir« zutrifft. Wäre aber das im Beweis vorausgesetzte Ganze
des Unterschieds und Zusammenhangs des »Innen« und
»Außen« gesehen, wäre ontologisch begriffen, was
mit dieser Voraussetzung vorausgesetzt ist, dann fiele die Möglichkeit
in sich zusammen, den Beweis für das »Dasein der Dinge außer
mir« für noch ausstehend und notwendig zu halten.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 204-205 |
Der »Skandal der Philosophie«
besteht ... darin, daß solche Beweise immer wieder erwartet und
versucht werden. Dergleichen Erwartungen, Absichten und Forderungen
erwachsen einer ontologisch unzureichenden Ansetzung dessen, davon
unabhängig und »außerhalb« eine »Welt«
als vorhandene bewiesen werden soll. .... Die Seinsart des beweisenden
und beweisheischenden Seienden ist unterbestimmt. Daher kann der
Schein entstehen, es sei mit dem Nachweis des notwendigen Zusammenvorhandenseins
zweier Vorhandener über das Dasein als In-der-Welt-sein etwas erwiesen
oder auch nur beweisbar. Das recht verstandene Dasein widersetzt sich
solchen Beweisen, weil es in seinem Sein je schon ist, was nachkommende
Beweise ihm erst anzudemonstrieren für notwendig halten.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 205 |
Wollte man aus der Unmöglichkeit
von Beweisen für das Vorhandensein der Dinge außer uns schließen,
dieses sei daher »bloß auf Glauben anzunehmen«,
dann wäre die Verkehrung des Problems nicht überwunden. Die
Vormeinung bliebe bestehen, im Grunde und idealerweise müßte
ein Beweis geführt werden können. Mit der Beschränkung
auf einen »Glauben an die Realität der Außenwelt«
ist der unangemessene Problemansatz auch dann bejaht, wenn diesem Glauben
ausdrücklich sein eigenes »Recht« zurückgegeben
wird. Man macht grundsätzlich die Forderung eines Beweises mit, wenngleich
versucht wird, ihr auf anderem Wege als dem eines stringenten Beweises
zu genügen. (Vgl. W. Dithey,
Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unsres Glaubens an
die Realität der Außenwelt und seinem Recht, 1890. Ges. Schr.,
V, 1, S. 90 ff.. - Dilthey sagt gleich zu Beginn dieser Abhandlung unmißverständlich:
»Denn soll es für den Menschen eine allgemeingültige Wahrheit
geben, so muß, nach der zuerst von Descartes angegebenen Methode,
das Denken sich einen Weg von den Tatsachen des Bewußtseins entgegen
der äußeren Wirklichkeit bahnen«, a.a.O., S. 90.)
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 205 |
Selbst wenn man sich darauf
berufen wollte, das Subjekt müsse voraussetzen und setze bewußt
auch schon immer voraus, daß die »Außenwelt« vorhanden
sei, bliebe die konstruktive Ansetzung eines isolierten Subjekts doch
noch im Spiel. Das Phänomen des In-der-Welt-seins wäre damit
ebensowenig getroffen wie mit dem Nachweis eines Zusammenvorhandenseins
von Physischem und Psychischem. Das Dasein kommt mit dergleichen Voraussetzungen
immer schon »zu spät«, weil es, sofern es als Seiendes
diese Voraussetzung vollzieht - und anders ist sie nicht möglich
-, als Seiendes je schon in einer Welt ist. »Früher«
als jede daseinsmäßige Voraussetzung und Verhaltung ist das
»Apriori« der Seinsverfassung in der Seinsart der Sorge.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 206 |
Das Man läßt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht
aufkommen.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 254 |
Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 273 |
Die im Gewissen-haben-wollen liegende Erschlossenheit des Daseins wird
demnach konstituiert durch die Befindlichkeit der Angst, durch das Verstehen
als Sichentwerfen uaf das eigenste Schuldigsein und durch die Rede als Verschwiegenheit.
Diese ausgezeichnete, im Dasein selbst durch sein Gewissen bezeugte Erschlossenheit
- das verschwiegene angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein
- nennen wir die Entschlossenheit.
Martin Heidegger,
Sein und Zeit, 1927, S. 296-297 |
Die Entschlossenheit löst als eigentliches
Selbstsein das Dasein nicht von seiner Welt ab, isoliert es nicht
auf ein freischwebendes Ich. Wie sollte sie das auch - wo sie doch als
eigentliche Erschlossenheit nichts anderes als das In-der-Welt-sein
eigentlich ist. Die Entschlossenheit bringt das Selbst gerade in das
jeweilige besorgende Sein bei Zuhandenem und stößt es in das
fürsorgende Mitsein mit den Anderen.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 298 |
&Die Entschlossenheit bedeutet Sich-aufrufen-lassen aus der Verlorenheit
in das Man.
Martin Heidegger,
Sein und Zeit, 1927 S. 299 |
Geschichte ist das in der Zeit sich begebende
spezifische Geschehen des existierenden Daseins, so zwar, daß das
im Miteinandersein »vergangene« und zugleich »überlieferte«
und fortwirkende Geschehen im betonten Sinne als Geschichte gilt.
Martin
Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 379 |
....
Erfassung des Seienden auf
das Verstehen von dessen Sein (phänomenologische Reduktion). |
Entwerfen
des vorgegebenen Seienden auf sein Sein und dessen Strukturen (phänomenologische
Konstruktion). |
  Kritischer
Abbau überkommener Begriffe (Destruktion). |
....
Martin
Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, 1927, in: Werke (GA), Band 24,
S. 31 |
Die Theologie ist eine positive Wissenschaft
und als solche daher von der Philosophie absolut verschieden.
Martin
Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: Wegmarken,
S. 49 |
Theologie ist die Wissenschaft des Glaubens.
Martin
Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: Wegmarken,
S. 55 |
Philosophie ist das formal anzeigende ontologische Korrektiv
des ontischen, und zwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe.
Martin
Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: Wegmarken,
S. 65 |
Nun gehört es aber nicht zum Wesen der Philosophie und ist aus ihr selbst
und für sie selbst nie zu begründen, daß sie eine solche korrektivische
Funktion für die Theologie haben muß. Wohl dagegen läßt
sich zeigen, daß die Philosophe als das freie Fragen des rein auf sich
gestellten Daseins ihrem Wesen nach die Aufgabe der ontologisch begründeten
Direktion bezüglich aller anderen nicht-theologischen, positiven Wissenschaften
hat. Als Ontologie gibt die Philosophe wohl die Möglichkeit, im
Sinne jenes charakteristischen Korrektivs von der Theologie genomen zu werden,
wenn anders die Theologie mit der Faktizität des Glaubens faktisch werden
soll. Die Forderung aber, daß sie so genommen werden muß,
stellt nicht die Philosophie als solche, sondern gerade die Theologie, sofern
sie sich als Wissenschaft selbst versteht. Und daher ist in der genaueren Bestimmung
und zusammenfassen zu sagen (siehe nächsten Absatz):
Martin
Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: Wegmarken,
S. 65-66 |
Die Philosophie ist das formal anzeigende ontologische Korrektiv
des ontischen, und zwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe.
Philosophie kann aber sein, was sie will, ohne daß sie als dieses
Korrektiv faktisch fungiert.
Martin
Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: Wegmarken,
S. 66 |
Dieses eigentümliche Verhältnis schließt
nicht aus, sondern eben ein, daß der Glaube in seinem innersten
Kern als eine spezifische Existenzmöglichkeit gegenüber der wesenhaft
zur Philosophie gehörigen und faktisch höchst veränderlichen
Existenzform der Todesfeind bleibt. (Daß es sich hier um die grundsätzliche
[existenziale] Gegenüberstellung zweier Existenzmöglichkeiten handelt,
die ein je faktischen, exsistenzielles, gegenseitiges Ernstnehmen und Anerkennen
nicht aus-, sondern einschließt, sollte nicht erst weitläufig
diskutiert werden müssen.) So schlechthin, daß die Philosophie gar nicht
erst unternimmt, jenen Todefeind in irgendeiner Weise bekämpfen zu wollen!
Dieser existenzielle Gegensatz zwischen Gläubigkeit und und freier
Selbstübernahme des ganzen Daseins, der schon vor der Theologie
und der Philosophie liegt und nicht erst durch diese als Wissenschaften entsteht,
dieser Gegensatz muß gerade die mögliche Gemeinschaft
von Theologie und Philosophie als Wissenschaften tragen, wenn anders
diese Kommunikation eine echte, von jeglicher Illusion und schwächlichen
Vermittlungsversuchen freie soll bleiben können. Es gibt daher nicht so
etwas wie eine christliche Philosophie, das ist ein »hölzerenes Eisen«
schlechthin. Es gibt aber auch keine neukantische, wertphilosophische, phänomenologische
Theologie, so wenig wie eine phänomenologische Mathematik. Phänomenologie
ist immer nur die Bezeichnung für das Verfahren der Ontologie,das sich
wesenhaft von dem aller anderen positiven Wissenschaften unterscheidet.
Martin
Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: Wegmarken,
S. 66-67 |
Insofern wir im Sprechen - ausdrücklich oder nicht - überall
»ist« sagen, Sein jedoch Anwesenheit bedeutet un d diese neuzeitlich
als Gegenständlichkeit und Objektivität ausgelgt wird, bringen
Denken als Vor-stellen und Sprechen als Verlautbarung unvermeidlich eine
Verfestigung des in sich fließenden »Lebensstromes«
und dadurch eine Verfälschung desselben mit sich. Andererseits ist
eine solche Festsetzung von Bleibendem, wenngleich sie verfälscht,
unentbehrlich für die Erhaltung und den Bestand des menschlichen
Lebens.
Martin
Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: Wegmarken,
S. 71-72 |
Das Geheimnis der Sprache, worin sich die ganze Besinnung versammeln
muß, bleibt das denk- und fragwürdigste Phänomen, vor
allem dann, wenn die Einsicht erwacht, daß die Sprache kein Werk
des Menschen ist. Die Sprache spricht. Der Mensch spricht nur, indem er
der Sprache entspricht. .... Die Sprache ist ein Urphänomen, dessen
Eigenes sich nicht durch Tatsachen beweisen, das sich nur erblicken läßt
in einer unvoreingenommenen Spracherfahrung. Der Mensch kann künstlich
Lautgebilde und Zeichen erfinden, aber kann solches nur machen im Hinblick
auf eine schon gesprochene Sprache und aus dieser her.
Martin
Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: Wegmarken,
S. 72 |
Was heißt objektivieren? Etwas zu einem Objekt machen, es
als Objekt setzen und nur so vorstellen. Und was heißt Objekt? Im
Mittelalter bedeutete obiectum das, was dem Wahrnehmen, der Imagination,
dem Urteilen, Wünschen und Anschauen entgegengeworfen, entgegengehalten
wird. Dagegen bedeutete subiectum das upokeimenon,
das von sich aus (nicht durch ein Vorstellen entgegengebrachte) Vorliegende,
das Anwesende, z.B. die Dinge.
Martin
Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: Wegmarken,
S. 72-73 |
Die Bedeutung der Worte subiectum und obiectum ist im Vergleich
mit der heute üblichen gerade die umgekehrte: subiectum ist das für
sich (obejektiv) Exisitierende, obiectum das nur (subjektiv) Vorgestellte.
Martin
Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: Wegmarken,
S. 73 |
Ist die Sprache nur ein Werk des Menschen? Ist der Mensch dasjenige
Wesen, das die Sprache in seinem Besitz hat? Oder ist es die Sprache,
die den Menschen »hat«, insofern er in die Sprache gehört,
die ihm erst Welt eröffnet und zugleich damit sein Wohnen in der
Welt?
Martin
Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: Wegmarken,
S. 75 |
Heute besteht und wächst die Gefahr, daß die wisenschaftlich-technische
Denkweise auf alle Gebiete des Lebens sich ausbreitet. Dadurch verstärkt
sich der falsche Schein, als sei alles Denken und Sprechen objektivierend.
Die These, die grundlos dogmatisch solches behauptet, fördert und
unterstützt ihrerseits die verhängnisvolle Tendenz, alles nur
noch technisch-wissenschaftlich als Objekt möglicher Steuerung und
Manipulation vorzustellen. Von diesem Prozeß der schrankenlosen
technischen Objektivierung wird nun zugleich die Sprache selbst und deren
Bestimmung betroffen. Die Sprache wird zu einem Instrument der Meldung
und der berechenbaren Information umgefälscht. Sie wird wie ein manipulierbares
Objekt behandelt, dem sich die Weise des Denkens angleichen muß.
Aber das Sagen der Sprache ist nicht notwendig ein Aussprechen von Sätzen
über Objekte. Sie ist in ihrem Eigensten ein Sagen von
dem, was sich dem Menschen in mannigfaltiger Weise offenbart und zuspricht,
sofern er sich nicht, durch die Herrschaft des objektivierenden Denkens
auf dieses sich beschränkend, dem, was sich zeigt, verschließt.
Martin
Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: Wegmarken,
S. 76 |
Daß Denken und Sprechen nur in einem abgeleiteten und eingeschränkten
Sinne objektivierend sind, läßt sich niemals wissenschaftlich
durch Beweise deduzieren. Das eigene Wesen des Denkens und Sagens läßt
sich nur einsehen in einem vorurteilsfreien Erblicken der Phänomene.
Martin
Heidegger, Phänomenologie und Theologie, 1927, in: Wegmarken,
S. 76 |
Die Metaphysik, die Leibniz entfaltet, ist
gemäß der Überlieferung eine Interpretation der Substanzialität
der Substanz.
Martin
Heidegger, Aus der letzten Marburger Vorlesung: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, 1928, in:
Wegmarken, S. 79 |
In der Idee der Monade als dem vorstellenden, zum Übergang
tendierenden Drang liegt es beschlossen, daß zu ihr je die Welt
in einer perspektivischen Brechung gehört, daß mithin alle
Monaden als Drangeinheiten im vorhinein auf die vorausgestellte Harmonie
des Alls des Seienden orientiert sind: harmonia praestabilita.
Martin
Heidegger, Aus der letzten Marburger Vorlesung: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, 1928, in:
Wegmarken, S. 98 |
In jeder Monade liegt der Möglichkeit nach das ganze Universum.
Die im Drang als Einigung sich vollziehende Vereinzelung ist also wesenhaft
immer Vereinzelung von einem der Welt monadisch zugehörigen Seienden.
Die Monanden sind nicht isolierte Stücke, die erst in der Summe das
Universum ergeben. Jede Monade ist als der charakterisierte Drang je das
Universum selbst in ihrer Art. Der Drang ist vor-stellender Drang, der
je aus einem Augenpunkt die Welt vorstellt. Jede Monade ist eine kleine
Welt, ein Mikrokosmos. Diese letzte Rede trifft insofern nicht das Wesentliche,
als jede Monade das Universum in derWeise ist, daß sie drängend
das Weltganze in seiner Einheit vorstellt, obzwar nie total erfaßt.
Jede Monade ist je nach der Stufe ihrer Wachheit eine die Welt präsentierende
Welt-Geschichte. Daher ist das Universum in gewisserWeise ebensooft vervielfältigt,
als es Monaden gibt, analog wie dieselbe Stadt gemäß den je
verschiedenen Situationen der einzelnen Beobachter verschieden repräsentiert
ist.
Martin
Heidegger, Aus der letzten Marburger Vorlesung: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, 1928, in:
Wegmarken, S. 99 |
Sofern die Monade je in einem Augenpunkt das Ganze ist,
ist sie gerade auf Grund dieser Zuordnung zum Universum endlich: Sie verhält
sich zu seinem Widerstand, zu solchem, was sie nicht ist, aber gleichwohl
sein könnte. Zwar ist der Drang aktiv, aber in allem endlichen Drang,
der sich je in einer Perspektive vollzieht, liegt immer und notwendig
Widerständiges, was dem Drang als solchem entgegensteht. Denn sofern
er je aus einem Augenpunkt auf das ganze Universum drängend ist,
ist er so und so vieles nicht. Er ist durch den Augenpunkt modifiziert.
Zu beachten bleibt, daß der Drang als Drängen gerade deshalb
widerstandsbezogen ist, weil er der Möglichkeit nach das ganze Universum
sein kann, aber nicht ist. Zur Endlichkeit des Dranges gehört diese
Passivität im Sinne dessen, was der Drang nicht erdrängt.
Martin
Heidegger, Aus der letzten Marburger Vorlesung: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, 1928, in:
Wegmarken, S. 100-101 |
Dieses Strukturmoment der Passivität gibt Leibniz das Fundament,
um den nexus der Monade mit einem materiellen Körper (materia secunda,
massa) metaphysisch verständlich zu machen und positiv zu zeigen,
warum die extensio nicht, wie Descartes lehrte, das Wesen der materiellen
Substanz ausmachen kann.
Martin
Heidegger, Aus der letzten Marburger Vorlesung: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, 1928, in:
Wegmarken, S. 101 |
Die temporale Analytik ist zugleich die Kehre.
Martin
Heidegger, Aus der letzten Marburger Vorlesung: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, 1928, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 26, S. 201 |
Die folgende Untersuchung stellt sich die Aufgabe,
Kants Kritik der reinen Vernunft als eine Grundlegung der metaphysik auszulgen,
um so das Problem der metaphysik als das einer Fundamentalontologie vor
Augen zu stellen.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
1 |
Fundamentalontologie heißt diejenige ontologische Analytik
des endlichen Menschenwesens, die das Fundament für die zur »Natur
des Menschen gehörige« Metaphysik bereiten soll. Die Fundamentalontologie
ist die zur Ermöglichung der Metaphysik notwendig geforderte Metaphysik
des menschlichen Daseins.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
1 |
Sofern die Metaphysik zur »Natur des Menschen« gehört
und mit diesem faktisch existiert, hat sie sich auch je schon in irgendeiner
Gestalt ausgebildet. Eine ausdrückliche Grundlegung der Metaphsik
geschieht daher nie aus dem Nichts, sondern in Kraft und Unkraft einer
Überlieferung, die ihr die Möglichkeiten des Ansatzes vorzeichnen.
Mit Bezug auf die in ihr eingeschlossene Überlieferung ist dann aber
jede Grundlegung, im Verhältnis zu früheren, eine Verwandlung
derselben Aufgabe. So muß denn die folgende Interpretation der Kritik
der reinen Vernunft alseiner Grundlegung der Metaphysik versuchen, ein
Vierfaches ans Licht zu bringen:
1. Die Grundlegung der Metaphysik im Ansatz.
2. Die Grundlegung der Metaphysik in der Durchführung.
3. Die Grundlegung der Metaphysik in ihrer Ursprünglichkeit.
4. Die Grundlegung der Metaphysik in einer Wiederholung.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
2-3 |
Die Auseinanderlegung der Idee einer Fundamentalontologie durch
die Auslegung der Kritik der reinen Vernunft als einer Grundlegung der
Metaphysik. ERSTER ABSCHNITT. Die
Grundlegung der Metaphysik im Ansatz. Die Herausstellung
des Kantischen Ansatzes für eine Grundlegung der Metaphysik ist gleichbedeutend
mit der Beantwortung der Frage: Warum wird für Kant die Grundlegung
der Metaphysik zur Kritik der reinen Vernunft? Die Antwort muß sich
einstellen durch die Erörterung der folgenden drei Teilfragen: 1.
Welches ist der von Kant vorgefundene Begriff der Metaphysik? 2. Welches
ist der Ansatz der grundlegung dieser überlieferten Metaphysik? 3.
Warum ist diese Grundlegung eine Kritik der reinen Vernunft?
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
5 |
Mit ... Kant ... kommt die erste und innerste Erschütterung
in das Gebäude der überlieferten Metaphysik.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
12 |
Um ... den doppelten Gang, den Kant die Deduktion nehmen läßt,
zu verstehen, muß erneut an ihre Aufgabe erinnert werden. Seiendes
wird für ein endliches Wesen nur zugänglich auf dem Grunde eines
vorgängig sich zuwendenden Gegenstehenlassens. Dieses nimmt im vorhinein
das möglicherweise begegnende Seiende in den Einheisthorizont einer
möglichen Zusammengehörigkeit. Diese a priori einigende Einheit
muß dem Begegnenden entgegen vorgreifen. Das Begegnede selbst aber
ist im vorhinein schon umgriffen durch den in der reinen Anschauung vorgehaltenen
Horizont der Zeit. Die vorgreifend einigende Einheit des reinen Verstandes
muß sich daher zuvor auch schon mit der reinen Anschauung geeinigt
haben. Diese a priori einigende Ganze von reiner Anschauung und reinem
Verstand »bildet« den Speilraum des Gegenstehenlassens, in
den herein alles Seiende begegnen kann. Im Blick auf diese Ganze der Transzendenz
gilt es zu zeigen, wie, d.h. hier zugleich, daß reiner Verstand
und reine Anschauung a priori aufeinander angewisen sind. Dieser Nachweis
der inneren Möglichkeit der Transzendenz kann offenbar auf zwei Wegen
geführt werden.
Einmal so, daß die Darstellung beim reinen Verstand einsetzt und
durch die Aufhellung seines Wesens die innerste Angewiesenheit auf die
Zeit zeigt. Dieser erste Weg fängt gleichsam »oben« beim
Verstand an und führt hinab zur Anschauung (A 116-120).
Der zweite Weg geht »von unten auf« (A 119), anfangend bei
der Anschauung, zu rinen Verstand (A 120-128).
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
77 |
Die bildende Mitte der ontologischen Erkenntnis als transzendentale
Einbildungskraft.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
127 |
Im Durchlaufen der einzelnen Stadien der Kantischen Grundlegung
ergab sich, wie diese zuletzt auf die transzendentale Einbildungskraft
stößt als den Grund der inneren Möglichkeit der ontogischen
Synthesis, d.h. der Transzendenz.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
205 |
Keine Zeit hat so viel und so Mannigfaltiges vom Menschen gewißt
wie die heutige. Keine Zeit hat ihr Wissen vom Menschen in einer so eindringlichen
und bestrickenden Weise zur Darstellung gebracht wie die heutige. Keine
Zeit hat bisher vermocht, dieses Wissen so schnell und leicht anzubieten
wie die heutige. Aber auch keine Zeit wußte weniger, was der Mensch
sei, als die heutige. Keiner zeit ist der Mensch soi fragwürdig geworden
wie der unsrigen.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
209 |
Das Problem der Endlichkeit im Menschen und die Metaphysik des
Daseins. Um dieses fundamentale Problem der Nowendigkeit
der Frage nach der Endlichkeit im Menschen in Absicht auf eine Grundlegung
der Metaphysik ans Licht zu bringen, wurde die vorstehende Auslegung der
Kritik der einen Vernunft unternommen.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
218 |
An jedem Seienden »gibt es« ... Was-sein und Daß-sein,
essentia und existentia, Möglichkeit und Wirklichkeit. Heißt
hier »Sein« je dasselbe? Wenn nicht, woran leigt es, daß
das Sein in Was-sein und Daß-sein gespalten ist? Gibt es diesen
allzu selbstverständlich aufgerafften Unterschied - essentia und
existentia - so wie es Hund und auch Katzen gibt, oder liegt hier ein
Problem, das endlich gestellt werden muß und das offenbar nur gestellt
werden kann, wenn gefragt wird, was das Sein als solches sei?
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
223-224 |
Ist das Sein nicht so etwas wie das Nichts? In der Tat, kein Geringerer
als Hegel: »Das reine Sein und das reine Nichtts ist also dasselbe«
(Wissenschaft der Logik, WW, Bd. III, S. 78).
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
226 |
Nur auf dem Grunde des Seinsverständnisses ist Existenz möglich.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
227 |
Existenz ist als Seinsart in sich Endlichkeit und als diese nur
möglich auf dem Grund des Seinsverständnisses. Dergleichen
wie Sein gibt es nur und muß es geben, wo Endlichkeit existent geworden
ist. So offenbart sich das Seinsverständnis, das unerkannt in seiner
Weise, Ständigkeit, Unbestimmtheit und Fraglsoigkeit die Existenz
des Menschen durchherrscht, als der innerste Grund seiner Endlichkeit.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
228 |
Ursprünglicher als der Mensch ist die Endlichkeit des
Daseins in ihm.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
229 |
Die Endlichkeit des Daseins - das Seinsverständnis - liegt
in der Vergessenheit.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
233 |
Die existenziale Analytik der Alltäglichkeit willnicht beschreiben,
wie wir mit Messer und Gabel umgehen. Sie soll zeigen, daß und wie
allem Umgang mit dem Seienden, für den es gerade so aussieht, als
gäbe es eben nur Seiendes, schon die Transzendenz des Daseins - das
In-der-Welt-sein - zugrundeliegt. Mit ihr geschieht der obzwar
verborgene und zumeist unbestimmte Entwurf des Seins des Seienden
überhaupt, so zwar, daß sich dieses zunächst und zumeist
ungegliedert und doch im ganzen verständlich offenbart. Dabei bleibt
der Unterschied von Sein und Seiendem als solcher verborgen.
Der Mensch selbst kommt als ein Seiendes unter dem übrigen Seienden
vor.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
235 |
Das In-der-Welt-sein ist aber nicht erst die Beziehung zwischen
Subjekt und Objekt, sondern das, was eine solche Beziehung zuvor schon
ermöglicht, sofern die Transzendenz den Entwurf des Seins von Seiendem
vollzieht. Dieses Entwerfen (Verstehen) wird nun in der existenzialen
Analytik zunächst nur in dem Umkreis sichtbar gemacht, den ihr Einsatz
eröffnet. Es gilt nicht so sehr, das Verstehen sogleich bis in die
innerste Verfassung der Transzendenz zu verfolgen, als vielmehr, seine
wesenhafte Einheit mit der Befindlichkeit und Geworfenheit des Daseins
aufzuhellen.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
235 |
Die Einheit der transzendentalen Struktur der innersten Bedürftigkeit
des Daseins im Menschen hat die Benennung »Sorge« erhalten.
Am Wort selbst liegt zwar gar nichts, wohl aber alles am Verständnis
dessen, was die Analytik des Daseins mit dem so Genannten herauszustellen
versuchte. Nimmt man aber den Ausdruck »Sorge« - entgegen
und trotz der nocj ausdrücklich gegebenen Anweisung, daß es
sich nicht um eine ontische Charakteristik des Mensche handelt - im Sinne
einer weltanschaulich-ethischen Einschätzung des »menschlichen
Lebens« statt als Bezeichnung für die strukturale Einheit
der in sich endlichen Transzendenz des Daseins, dann gerät alles
in Verwirrung. Von der die Analytik des Daseins einzig leitenden Problematik
wird dann überhaupt nichts sichtbar. Allerdinsg
bleibt zu bedenken, daß gerade in der Absicht auf die Begründung
der Metaphysik geforderte Herausarbeitung des innersten Wesens der Endlichkeit
grundsätzlich selbst immer endlich sein muß und nie absolut
werden kann. Daraus folgt aber nur dieses: die je erneute Besinnung auf
die Endlichkeit kann nicht gelingen durch ein gegenseitiges Ausspielen
und vermittelndes Ausgleichen von Standpunkten, um schließlich doch
noch die versteckterweise angesetzte »an sich wahre« absolute
Erkenntnis der Endlichkeit zu gewinnen. Es bleibt vielmehr nur die Ausarbeitung
der Problematik der Endlichkeit als solcher, die sich ihrem eigensten
Wesen nach offenbart, wenn sie durch einen unentwegt von der ursprünglich
begriffenen Grundfrage der Metaphysik geleiteten Einsatz zugänglich
gemacht wird,derfreilich nie als der einzig mögliche beansprucht
werden kann.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
236-237 |
Die fundamentalontologische Analytik des Daseins versucht mit
Absicht, unmittelbar vor der einheitlichen Interpretation der Tarnszendenz
als »Sorge« die »Angst« als eine »entscheidende
Grundbefindlichkeit« herauszuarbeiten, um so einen konkreten Hinweis
darauf zu geben, daßdie existenziale Analytik ständig von der
sie erweckenden Frage nach der Möglichkeit des Seinsverständnisses
geleitet ist. Die Angst gilt als entscheidende Grundbefindlichkeit nicht
in Absicht auf irgendeine weltanschauliche Verkündigung eines konkreten
Existenzideals,sondern sie hat ihren entscheidenden Charakter lediglich
aus dem Hinblick auf das Seinsproblem als solches.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
237-238 |
Wenn die Interpretation des Daseins als Zeitlichkeit das Ziel
der Fundamentalontologie ist, dann muß sie einzig vom Seinsproblem
als solchem motiviert sein. Damit aber eröffnet sich erst der fundamentalontologische,
d.h. der in »Sein und Zeit« einzig leitende, Sinn der
Frage nach der Zeit.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
239 |
Die fundamentalontologische Grundlegung der Metaphysik in »Sein
und Zeit« muß sich als Wiederholung verstehen.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
239 |
Wo liegt ... der Grund für dieses ... Verstehen des Seins
aus der Zeit?
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
241 |
Wenn die Problematik der Metaphysik als die von »Sein und
Zeit« benannt wird, so kann jetzt aus der Verdeutlichung
der Idee einer Fundamentalontologie klar geworden sein, daß in diesme
Titem das »und« das zentrale Problem in sich birgt. »Sein«
sowohl wie »Zeit« brauchen die bisherige Bedeutung nicht aufzugeben,
wohl aber muß eine ursprünglichere Auslegung ihr Recht und
ihre Grenze begründen.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
242 |
Die Idee der Fundamentalontologie und die Kritik der reinen
Vernunft.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
243 |
Nicht weil die Zeit als »Form der Anschauung« fungiert
und eingangs in der Kritik der reinen Vernunft als solche ausgelegt wird,sondern
deshalb, weil das Seinsverständnis aus dem Grunde der Endlichkeit
des Daseins im Menschen sich auf die Zeit entwerfen muß, gewinnt
die Zeit in der wesenhaften Einheit mit der transzendentalen Einbildungskraft
die zentrale metaphysische Funktion in der kritik der reinen Vernunft.
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
243 |
Hat Kant nicht in der zweiten Auflage der kritik der reinen Vernunft
dem Verstand die Herrschaft zurückgegeben? Ist nicht zufolge dieser
die Metaphysik bei Hegel so radikal wie nie zuvor zur »Logik«
geworden?
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
244 |
Was bedeutet der im deutschen Idealismus anhebende Kampf gegen
das »Ding an sich« anderes als das wachsende Vergessen dessen,
was Kant erkämpfte: daß die innere Möglichkeit und die
Notwendigkeit der Metaphysik, d.h. ihr Wesen, im Grunde getragen und erhalten
werden durch die ursprünglichere Ausarbeitung und verschärfte
Erhaltung des Porblems der Endlichkeit?
Martin
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1929, S.
244 |
Davoser Vorträge. Kants
Kritik der reinen Vernunft und die Aufgabe einer Grundlegung der Metaphysik.
Die Vorlesungen sollten die These erweisen: Kants Kritik
der reinen Vernunft ist eine bzw, die erste, ausdrückliche Grundlegung
der Metaphysik. - (Negativ heißt das gegen die traditionelle Interpretation
des Neukantianismus: sie ist keine Theorie der mathematisch-naturwissenschaftlichen
Erkenntnis - überhaupt keine Erkenntnistheorie) - Durch die Aufhellung
dieser Grundlegung der Metaphysik sollte zugleich deutlich werden,daß
und wie die Frage nach dem Wesen des Menschen innerhalb einer »Metaphysik
von der Metaphysik« wesentlich ist. - Das Hauptgweicht der Darelgungen
wurde darauf gelegt, den inneren Zug der Problematik der Grundlegung,
die Hauptschritte und ihre Notwendigkeit aufzuweisen.
1. Die Grundlegung der Metaphysik im Ansatz.
2. Die Grundlegung der Metaphysik in der Durchführung.
3. Die Grundlegung der Metaphysik in ihrer Ursprünglichkeit.
Zu 1. Der Ansatz Kants in der überlieferten Metaphysik bestimmt die
Form des Problems. Sofern die metaphysica specialis die Erkenntnis des
Übersinnlichen (Weltganzen, Seele [Unsterblichkeit], Gott) die »eigentliche
metaphysik« (Kant) ausmacht, lautet die Frage nach der Möglichkeit
allgemin also: wie ist Erkenntnis von Seiendem überhaupt möglich?
Sofern zur Möglichkeit der Erkenntnis von Seiendem das vorgängie
Verstehen der Seinsverfassung des Seienden gehört, wird die Frage
nach der Möglichkeit der ontischen Erkenntnis zurückgeworfen
auf die nach der Möglichkeit der ontologischen, d.h. die Grundlegung
der metaphysica specialis konzentriert sich auf die Grundlegung der metaphysica
generalis (Ontologie). - Es wird sodann gezeigt, wie diese Frage nach
der Möglichkeit der Ontologie die Problemform einer »kritik
der reinen Vernunft« annimmt.
Zu 2. Für das verständnis der Durchführung der Grundlegung
ist es entscheidend, sich klar zu machen, daß u nd wie im vorhinein
die reine menschliche, d.h. endliche Vernunft allein den
Bezirk der Problematik umgrenzt. Zu diesem Zweck ist es notwendig, das
Wesen der endlichen Erkenntnis überhaupt und die Grundcharaktere
der Endlichkeit als solcher herauszustellen. Hieraus erwächst erst
die Einsicht in den metaphysischen - nicht psychologischen und sensualistischen
- Begriff der Sinnlichkeit als endlicher Anschauung. Weil die Anschauung
des Menschen endlich ist, bedarf sie des Denkens das als solches durch
ud durch endlich ist. (Die Idee eine unendlichen Denkens ist ein Widersinn.)
- Endliche Erkenntnis besteht aus »zwei Grundquellen des Gemütes«
(Sinnlichkeit und Verstand) oder aus »zwei Stämmen«,
die »vielleicht« aus einer »gemeinsamen, aber uns unbekannten
Wurzel entspringen«. - Die Aufhellung der Möglichkeit
der ontologischen Erkenntnis (synthetische Erkenntnis a priori) wird zur
Frage nach dem Wesen einer »reinen« (erfahrungsfreien) Synthesis
von reiner Anschauung und reinem Denken. - Die Hauptstadien der Durchführung
der grundlegung sind daher folgende:
a) Herausstellung der Elemente des Wesens reiner Erkenntnis: d.h.
reiner Anschauung (Raum, Zeit) und reinen Denkens (transzendentale Ästhetik
und Analytik der Begriffe).
b) Charakteristik der Wesenseinheit dieser Elemente in der reinen
Synthesis (§ 10 der 2. Auflage).
c) Aufhellung der inneren Möglichkeit dieser Wesenseinheit,d.h. der
reinen Synthesis (transzendentale Deduktion).
d) Enthüllung des Grundes der Möglichkeit des Wesens
der ontologischen Erkenntnis (Schematismuskapitel).
Zu 3. Die Grundlegung in ihrer Ursprünglichkeit.
Ergebnis des Vorigen: Der grund der Möglichkeit der synthetischen
Erkenntnis a priori ist die transzendentale Einbildungskraft. Kant hat
im Verlauf der Grundlegung entgegen dem leitenden Ansatz eine dritte
Grundquelle des Gemütes eingeführt. Diese liegt nicht »zwischen«
den beiden angesetzten Stämmen, sondern ist deren Wurzel. Dies wird
gezeigt dadurch, daß reine Sinnlichkeit und reiner Verstand auf
die Einbildungskraft zurückgeführt werden - nicht nur diese,
sondern theoretische und praktische Vernunft in ihrer Geschiedenheit
und Einheit. - Der Ansatz der Vernunf ist so gesprengt worden. - Damit
hat Kant sich selbst durch seine Radikalismus vor eine Position gebracht,
vor der er zurückschrecken mußte. Sie besagt: Zerstörung
der bisherigen Grundlagen der abendländischen Metaphysik (Geist,
Logos, Vernunft). Sie verlangt eine radikale erneute Enthüllung des
Grundes der Möglichkeit der Metaphysik als Naturanlage des Menschen,
d.h. eine auf die Möglichkeit der Metaphysik als solche greichtete
Metaphysik des Daseins, die die Frage nach dem Wesen des Menschen stellen
muß ineiner Weise,die vor aller philosophischen Anthropologie
und Kulturphilosophie liegt.
Martin
Heidegger, Davoser Vorträge, in: Ders., Kant und
das Problem der Metaphysik, 1929, S. 271-273 |
Um 1850 ist es so, daß sowohl die Geistes-
als die Naturwissenschaften die Allheit des Erkennbaren besetzt haben,
so daß die Frage entsteht: was bleibt noch der Philosophie, wenn
die Allheit des Seienden unter die Wissenschaften aufgeteilt ist?
Martin
Heidegger, Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin
Heidegger, in: Ders., Kant und das Problem der Metaphysik,
1929, S. 274 |
Es bleibt nur noch Erkenntnis der Wissenschaft, nicht des Seienden.
Und unter diesem Gesichtspunkt ist dann der Rückgang auf Kant bestimmt.
Kant wurde infolgedessen gesehen als Theoretiker der mathematisch-physikalischen
Erkenntnistheorie. Erkenntnistheorie ist der Aspekt, unter dem Kant gesehe
wurde.
Martin
Heidegger, Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin
Heidegger, in: Ders., Kant und das Problem der Metaphysik,
1929, S. 274-275 |
Ich verstehe unter Neukantianismus die Auffassung der Kritik der
reinen Vernunft, die den Teil der reinen Vernunft, der bis zur transzendentalen
Dialektik führt, erklärt als Theorie der Erkenntnis mit Bezug
auf die Naturwissenschaft. Mir kommt es darauf an zu zeigen, daß
das, was hier als Theorie der Wissenschaften herausgenommen wird, für
Kant unwesentlich war. Kant wollte keine Theorie der Naturwissenschaft
geben, sondern wollte die Problematik der Metaphysik zeigen, und zwar
der Ontologie. Worauf es mir ankommt, ist, diesen Kerngehalt des positiven
Grundstücks der Kritik der reinen Vernunft in die Ontologie positiv
hereinzuarbeiten. Aufgrund meiner Interpretation der Dialektik als Ontologie
glaube ich zeigen zu können, daß das Problem des Scheins in
der transzendentalen Logik, das bei Kant nur negativ da ist, wie es zunächst
scheint, ein positives problem ist, daß das fraglich ist: ist der
Scehin nur eine Tatsache, die wir konstatieren, oder muß das ganze
Problem der Vernunft so gefaßt werden, daß man von vornhinein
begreift,wie zur Natur des Menschen notwendig der Schein gehört.
Martin
Heidegger, Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin
Heidegger, in: Ders., Kant und das Problem der Metaphysik,
1929, S. 275 |
Was Kant eigentlich in der Lehre von den Grundsätzen geben
wollte, ist nicht eine kategoriale Strukturlehre des Gegenstandes der
mathematischen Naturwisenschaft. Was er wollte, war eine Theorie des Seienden
überhaupt. (Heidegger belegt dies.) Kant sucht eine Theorie des Seins
überhaupt, ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wären, ohne
einen bestimmten Bezirk des Seienden (weder den psychischen noch den physischen)
anzunehmen. Er sucht eine allgemeine Ontologie, die vor einer Ontologie
der Natur als Gegenstand der Naturwissenschaft und vor eine Ontologie
der Natur als Gegenstand der Psychologie liegt. Was ich zeigen will, ist,
daß die Analytik nicht nur eine Ontologie der Natur als Gegenstand
der Naturwissenschaft ist, sondern eine allgemeine Ontologie, eine kritisch
fundierte metaphysica generalis. Kant sagt selbst: Die Problematik der
Prolegomena, die er so illustriert, wie ist Naturwissenschaft möglich
usw., ist nicht das zentrale Motiv, sondern das ist die Frage nach der
Möglichkeit der metaphysica generalis bzw.die Ausführung derselben.
Martin
Heidegger, Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin
Heidegger, in: Ders., Kant und das Problem der Metaphysik,
1929, S. 278-279 |
Die Philosophie hat nicht die Aufgabe, Weltanschauung zu geben,
wohl aber ist Weltanschauung die Voraussetzung des Philosophierens.
Martin
Heidegger, Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin
Heidegger, in: Ders., Kant und das Problem der Metaphysik,
1929, S. 284 |
Fragen an Cassirer:
1. Welchen Weg hat der Mensch zur Unendlichkeit? Und wie ist die Art,
wie der Mensch an der Unendlichkeit teilhaben kann?
2. Ist die Unendlichkeit als private Bestimmung der Endlichkeit zu gewinnen,
oder ist die Unendlichkeit ein eigener Bereich?
3. Wie weit hat die Philosophie die Aufgabe, frei zu lassen von der Angst?
Oder hat sie nicht die Aufgabe, den Menschen gerade radikal der Angst
auszuliefern?
Martin
Heidegger, Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin
Heidegger, in: Ders., Kant und das Problem der Metaphysik,
1929, S. 285-286 |
Ich habe gesprochen von einer Befreiung in dem Sinne, daß
die Befreiung der inneren Transzendenz des Daseins der Grundcharakter
des Philosophierens selbst ist. Wobei der eigentliche Sinn dieser Befreiung
nicht darin liegt, frei zu werden gewissermaßen für die gestaltenden
Bilder des Bewußtseins und für das Reich der Form, sondern
frei zu werden für die Endlichkeit des Daseins. Geread hineinzukommen
in die Geworfenheit des Daseins, hineinzukommen in den Widerstreit, der
im Wesen der Freiheit liegt. Die Freiheit habe ich mir nicht selbst gegeben,
obwohl ich durch das Freisein erst ich selbst sein kann. Aber ich selbst
nun nicht im Sinne eines indifferenten Explizierungsgrundes, sondern:
Das Dasein ist das eigentliche Grundgeschehen, in dem das Existieren des
Menschen und damit alle Problematik der Existenz selbst wesentlich wird.
Martin
Heidegger, Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin
Heidegger, in: Ders., Kant und das Problem der Metaphysik,
1929, S. 289 |
Was ich Dasein nenne, ist wesentlich mitbestimmt nicht nur durch
das, was man als Geist bezeichnet, und nicht nur durch das, was man Leben
nennt,sondern worauf es ankommt, ist die ursprüngliche Einheit ud
die immanente Struktur der Bezogenheit des Menschen,der gewissermaßen
in einem Leib gefesselt ist und in der Gefesseltheit in den Leib in einer
eigenen Gebundenheit mit dem Seienden steht, inmitten desselben sich befindet,
nicht im Sinne eines darauf herabblickenden Geistes, sondern in dem Sinne,
daß das Dasein, inmitten des Seienden geworfen,, als freies einen
Einbruch in das Seiende vollzieht, der immer geschichtlich und in einem
letzten Sinn zufällig ist. So zufällig, daß die höchste
Form der Existenz des Daseins sich nur zurückführen läßt
auf ganz wenige und seltene Augenblicke der Dauer des Daseins zwischen
Leben und Tod,daßder Mensch nur in ganz wenigen Augenblicken auf
der Spitze seiner eigenen Möglichkeit existiert, sonst aber inmitten
seines Seienden sich bewegt.
Martin
Heidegger, Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin
Heidegger, in: Ders., Kant und das Problem der Metaphysik,
1929, S. 289-290 |
Weil die Philsophie auf das Ganze und Höchste des Menschen
geht, muß sich in der Philosophie die Endlichkeit in einer ganz
radikalen Weise zeigen.
Martin
Heidegger, Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin
Heidegger, in: Ders., Kant und das Problem der Metaphysik,
1929, S. 295-296 |
Der Zeitraum des Berichts deckt sich mit der
Entstehung, Fortbildung, Auswirkung und Umbildung der philosophischen
Forschung an der Marburger Universität, die in der Geschichte der
Philosophie als »Marburger Schule« bereits ihre feste
und eundeutige Stelle hat.
Martin
Heidegger, Zur Geschichte des philosophischen Lehrstuhls seit
1866, in: Ders., Kant und das Problem der Metaphysik,
1929, S. 304 |
Der Zusammenbruch der Hegelschen Schule führte gegen die
Mitte des 19. jahrhunderts zu einem allgemeinen Verfall der Philosophie.
Im Umkreis der gleichzeitig aufstrebenden positiven Wissenschaften (Historie
und Naturwissenschaften) verlor die Philosophie vollends ihr Ansehen.
Wo sie gepflegt wurde, geschah es in der Unkenntnis und Verkehrung ihres
eigenen Wesens. Sie sollte sich durch eine ihr selbst zuwiderlaufende
Angleichung an die positiven Wissenschaftenals naturwissenschaftliche
»Philosophie« (Psychologie) bzw. als Philosophiehistorie
vor dem herrschenden wissenschaftlichen Bewußtsein Geltung verschaffen.
Martin
Heidegger, Zur Geschichte des philosophischen Lehrstuhls seit
1866, in: Ders., Kant und das Problem der Metaphysik,
1929, S. 304 |
Die seit den 60er Jahren anhebende Erneuerung der wissenschaftlichen
Disziplinen zielte dagegen, wenngleich tastend, auf eine Wiedergewinnung
des Verständnisses der eigenständigen philosophischen Problematik.
Entscheidende Antriebe und maßgebende Förderung empfingen die
Bemühungen um Gegenstand, Behandlungsart und systematische Einheit
der Philosophie durch die an der Marburger Universität geleistete
Forschungsarbeit. Diese suchte sich zunächst des wissenschaftlichen
Wesens der Philosophie wieder zu versichern durch eine neue Aneignung
der »kritischen« Arbeit Kants. In den 60er Jahren war
allerdings schon durch Eduard Zeller (1849-62 Professor der
Philosophie in Marburg), Otto Liebmann, Hermann Helmholtz und
Friedrich Albert Lange der Ruf laut geworden: zurück zu Kant!
Martin
Heidegger, Zur Geschichte des philosophischen Lehrstuhls seit
1866, in: Ders., Kant und das Problem der Metaphysik,
1929, S. 304 |
Das Nichts ist das Nicht des Seienden und so
das vom Seienden her erfahrene Sein. Die ontologische Differenz ist das
Nicht zwischen Seiendem und Sein.
Martin
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, 1929, in: Wegmarken,
S. 123 |
Vorlesung SS 1927: »Die Grundprobleme der Phänomenologie«
.... Das Ganze der Vorlesung gehört zu »Sein und Zeit«,
I. Teil, 3. Abschnitt »Zeit und Sein«.
Martin
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, 1929, in: Wegmarken,
S. 134 |
Die Transzendenz als Bezirk der Frage nach dem Wesen des Grundes.
Martin
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, 1929, in: Wegmarken,
S. 137 |
Subjektsein heißt: in und als Transzendenz Seiendes sein.
Das Transzendenzproblem läßt sich nie so erörtern, daß
eine Entscheidung gesucht wird, ob die Transzendenz dem Subjekt zukommen
könne oder nicht, vielmehr ist das Verständnis von Transzendenz
schon die Entscheidung darüber, ob wir überhaupt so etwas wie
»Subjektivität« im Begriff haben oder nur gleichsam ein
Rumpfsubjekt in den Ansatz bringen. - Freilich wird zunächst durch
die Charakteristik der Transzendenz als Grundstruktur der »Subjektivität«
für das Eindringen in diese Verfassung des Daseins wenig genommen.
Im Gegenteil, weil jetzt überhaupt der ausdrückliche oder meist
unausdrückliche Ansatz eines Subjektbegriffes eigens abgewehrt ist,
läßt sich auch die Transzendenz nicht mehr als »Subjekt-Objekt-Beziehung«
bestimmen. Dann übersteigt aber das transzendente Dasein (ein bereits
tautologischer Ausdruck) weder eine dem Subjekt vorgelagerte und es zuvor
zum Inbleiben (Immanenz) zwigende »Schranke« noch eine »Kluft«,
die es vom Objekt trennt,. Die Objekte - das vergegenständlichte
Seiende - sind aber auch nicht das, woraufzu der Überstieg
geschieht. Was überstiegen wird, ist gerade einzig das
Seiende selbst, und zwar jegliches Seiende, das dem Dasein unverborgen
sein und werden kann, mithin auch und gerade das Seiende, als welches
»es selbst« existiert. - Im Überstieg kommt das
Dasein allererst auf solches Seiendes zu, das es ist, auf es als
es »selbst«. Die Transzendenz konstituiert die Selbstheit.
Aber wiederum nie zunächst nur diese, sondern der Überstieg
betrifft je eins auch Seiendes, das das Dasein selbst nicht ist;
genauer: im Überstieg und durch ihn kann sich erst innerhalb des
Seienden unterscheiden und entscheiden, wer und wie ein »Selbst«
ist und was nicht. Sofern aber das Dasein als Selbst existiert - und nur
insofern - kann es »sich« verhalten zu Seiendem, das
aber vordem überstiegen werden muß. Obzwar inmitten des Seienden
seiend und von ihm umfangen, hat das Dasein als existierendes die Natur
immer schon überstiegen.
Martin
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, 1929, in: Wegmarken,
S. 138 |
Wir nennen das, woraufhin das Dasein als solches transzendiert,
die Welt und bestimmen jetzt die Transzendenz als In-der-Welt-sein.
Martin
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, 1929, in: Wegmarken,
S. 139 |
»Der wichtigste Gegenstand in der Welt, auf den der Mensch
alle Fortschritte in der Kultur anwenden kann, ist der Mensch,
weil er sein eigner letzterZweck ist. Ihn also seiner
Spezies nach als mit Vernunft begabtes Erdwesen zu erkennen, verdient
besonders Weltkenntnis genannt zu werden., ob er gleich nur einen
Teil der Erdgeschöpfe ausmacht.« (Kant, Anthropolgie in
pragmnatischer Hinsicht, 1798, Vorrede, S. 3).
Martin
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, 1929, in: Wegmarken,
S. 153 |
»Das Dasein transzendiert« heißt: es ist im
Wesen seines Seins weltbildend, und zwar »bildend«
in dem mehrfachen Sinne, daß es Welt geschehen läßt,
mit der Welt sich einen ursprünglichen Anblick (Bild) gibt, der nicht
eigens erfaßt, gleichwohl gerade als Vor-bild für alles offenbare
Seiende fungiert, darunter das Dasein jeweils selbst gehört.
Martin
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, 1929, in: Wegmarken,
S. 158 |
Hier mag der Hinweis erlaubt sein, daß das bisher Veröffentlichte
aus den Untersuchungen über »Sein und Zeit« nichts anderes
zur Aufgabe hat als einen konkret-enthüllenden Entwurf der Transzendenz
(vgl. §§ 12-83; bes. § 69). Dies wiederum geschieht zur
Ermöglichung der einzig leitenden Absicht, die in der Überschrift
des ganzen ersten Teils kalr angezeigt ist, den »transzendentalen
Horizont der Frage nach dem Sein« zu gewinnen. Alle konkreten
Interpretationen, vor allem die der Zeit, sind allein in der Richtung
auf die Ermöglichung der Seinsfrage auszuwerten. Sie
haben mit der modernen »dialektischen Theologie« so wenig
zu tun wie mit der Scholastik des Mittelalters.
Martin
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, 1929, in: Wegmarken,
S. 162 |
Die Erörterung des »Satzes vom Grunde« hat das
Problem des Grundes in den Bezirk der Transzendenz verwisen (I). Diese
ist auf dem Wege einer Analyse des Weltbegriffes als das In-der-Welt-sein
des Daseins bestimmt worden (II). Jetzt gilt es, aus der Transzendenz
des Daseins das Wesen des Grundes aufzuhellen.
Martin
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, 1929, in: Wegmarken,
S. 163 |
Der Überstieg zur Welt ist die Freiheit selbst.
Martin
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, 1929, in: Wegmarken,
S. 163 |
Welt ist nie, sondern weltet.
Martin
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, 1929, in: Wegmarken,
S. 164 |
Die Freiheit ist der Ursprung des Satzes vom Grunde; denn
in ihr, der Einheit von Überschwung und Entzug, gründet sich
das als ontologische Wahrheit sich ausbildende Begründen.
Martin
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, 1929, in: Wegmarken,
S. 172 |
Woran im Wort »Dasein«überall
durch die Abhandlung von »Sein und Zeit« hindurch gedacht
istg, darüber gibt schon der Leitsatz (S, 42) eine Auskunft, der
lautet: » D a s W e s e n
d e s D a se i n s
l i e g t i n s e i n e r
E x i s t e n z « .
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929,
S. 15 |
Die tiefe Langeweile, in den Abgründen des Daseins wie ein
schweigender Nebel hin- und herziehend, rückt alle Dinge, Menschen
und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichgültigkeit
zusammen. Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929,
S. 33 |
Die Befindlichkeit der Stimmung enthüllt nicht nur je nach
ihrer Weise das Seiende im Ganzen, sondern dieses Enthüllen ist zugleich
-weit entfernt von einem bloßen Vorkommnis - das Grundgeschehen unseres
Da-seins.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 33 |
Was wir so »Gefühle« nennen, ist weder eine flüchtige
Begleiterscheinung unseres denkenden und willentlichen Verhaltens, noch
ein bloßer verursachender Antrieb zu solchem, noch ein nur vorhandener
Zustand, mit dem wir un s so oder so abfinden.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 33 |
Angst ist grundverschieden von Furcht.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 34 |
Die Unbestimmtheit dessen ..., wovor und worum wir uns ängstigen,ist
kein bloßes Fehlen der Bestimmtheit, sondern die wesenhafte Unmöglichkeit
der Bestimmbarkeit.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 34 |
In Angst - sagen wir - »ist es einem unheimlich« ....
Wir können nicht sagen, wovor einem unheimlich ist. Im Ganzen ist
einemso. Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgültigkeit.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 34 |
Die Angst offenbart das Nichts.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S.35 |
Wir schweben in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns
schweben, weil sie das Seiende im ganzen zum Entgleiten bringt. Darin
liegt, daß wir selbst - diese seienden Menschen - inmitten des Seienden
uns mitentgleiten. Daher ist im Grunde nicht »dir« oder »mir«
unheimlich, sondern »einem« ist es so. Nur das reine Da-sein
in der Durchschütterung dieses Schwebens, darin es sich an nichts
halten kann, ist noch da.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 35 |
Die Angst verschlägt uns das Wort. Weil das Seiende im Ganzen
entgleist und so gerade das Nichts aufdrängt, schweigt im Angesicht
seiner jedes »Ist-Sagen. daß wir in der Unheimlichkeit
der Angst oft die leere Stille gerade durch ein wahlloses Reden zu brechen
suchen, ist nur der Beweis für die Gegenwart des Nichts. Daß
die Angst das Nichts enthüllt, bestätigt der Mensch selbst unmittelbar
dann, wenn die nagst gewichen ist. In der Helle des Blickes, den die frische
Erinnerung trägt, müsen wir sagen: wovor u nd warum wir uns
ängsteten, war »eigentlich« - nichts. In der Tat: das
Nichts selbst - als solches - war da.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 35 |
Mit der Grundstimmung der Angst haben wir das Geschehen des Daseins
erreicht, in dem das Nichts offenbart ist und aus dem heraus es befragt
werden muß.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 35 |
Das Nichts enthüllt sich in der Angst . aber nicht als Seiendes.
Es wird ebensowenig als Gegenstand gegeben. Die Ansgt ist kein Erfassen
des Nichts. Gleichwohl wird das Nichts durch sie u nd in ihr offenbar,
wenngleich wiederum nicht so, als zeigte sich das Nichts abgelöst
»neben« dem Seienden im Ganzen, das in der Unheimlichkeit
steht.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 36 |
In der Angst geschieht keine Vernichtung des ganzen Seienden an
sich, aber ebensowenig vollziehen wir eine Verneinung des Seienden im
Ganzen, um das Nichts allererst zu gewinnen. Abgesehen davon, daß
der nagst als solcher der ausdrückliche Vollzug einer verneinende
Aussage fremd ist, wir kämen auch it einer solchen Verneinung, die
das Nichts ergeben sollte, jederzeit zu spät. Das Nichts begegenet
vordem schon. Wir sagten, es begene »in eins mit« dem eigentlichen
Seienden im Ganzen.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 36-37 |
In der Angst liegt ein Zurückweichen vor ..., das freilich
kein Fliehen mehr ist, sondern eine gebannte Ruhe. Dieses Zurück
vor ... nimmt seinen Ausgang vom Nichts. Dieses zieht nicht auf sich,
sondern ist wesenhaft abweisend. Die Abweisung von sich ist aber als solche
das entgleitenlassende Verweisen auf das versinkende Seiende im Ganzen.
Diese im Ganzen abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im
Ganzen, als welche das Nichts in der Angst das Dasein umdrängt, ist
das Wesen des Nichts: die Nichtung. Sie ist weder eine Vernichtung des
Seienden, noch entspringt sie einer Verneinung. Die Nichtung läßt
sich auch nicht in Vernichtung und Verneinung aufrechnen. Das Nichts selbst
nichtet.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 37 |
Das Nichten ist kein beliebiges Vorkommnis, sondern als abweisendes
Verweisen auf das entgleitende Seiende im Ganzen offenbart es dieses Seiende
in seiner vollen, bislang verborgenen Befremdlichkeit als das schlechthin
Andere - gegenüber dem Nichts.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 37 |
In der hellen Nacht des Nichts der Angst entsteht
erst die ursprüngliche Offenbarkeit des Seienden als eines solchen:
daß es Seiendes ist - und nicht Nichts. Dieses von uns in der Rede
dazugesagte »und nicht Nichts« ist aber keine nachgetragene
Erklärung, sondern die vorgängige Ermöglichung der Offenbarkei
von Seiendem überhaupt. DasWesen des ursprünglich nichtenden
Nichts liegt in dem: es bringt das Da-sein allererst vor das Seiende als
solches.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, 1929, S. 37 |
Da-sein heißt: Hineingehaltensein in das Nichts.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 38 |
Sich hineinhaltend in das Nichts ist das Dasein je schon über
das Seiende im Ganzen hinaus. Diese Hinaussein über das Seiende nennen
wir die Transzendenz. Würde das Dasein im grunde seines Wesens nicht
transzendieren, d.h. jetzt, würde es sich nicht im vorhinein in das
Nichts hineinhalten, dann könnte es sich nie zu Seiendem verhalten,
also auch nicht zu sich selbst.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 38 |
Da-sein heißt: Hineingehaltenheit in das Nichts.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 38 |
Ohne usrprüngliche Offenbarkeit des Nichts kein Selbstsein
und keine Freiheit.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 38 |
Damit sit die Antwort auf die Frage nach dem Nichts gewonnen.
Das Nichts ist weder ein Gegenstand noch überhaupt ein Seiendes.
Das Nichts kommt weder für sich vor noch neben dem Seienden, dem
es sich gleichsam anhängt. Das Nichts ist die Ermöglichung der
Offenabrkeit des Seienden als eines solchen für das menschliche Dasein.
Das Nichts gibt nicht erst den Gegenbegriff zum Seienden her, sondern
gehört ursprünglich zum Wesen selbst. Im Sein des Seienden geschieht
das Nichten des Nichts.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 38 |
Es - das Nichts in seinem Nichten - verweist uns gerade an das
Seiende. Das Nichts nichtet unausgesetzt, ohne daß wir mit dem Wissen,
darin wir uns alltäglich bewegen, um dieses Geschehen eigentlich
wissen.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 39 |
Das Nichts entsteht nicht durch die Verneinung, sondern die Verneinung
gründet sich auf das Nicht, das dem Nichten des Nichts entspringt.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 39-40 |
Das Nichts ist der Ursprung der Verneinung, nicht umgekehrt.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 40 |
Die Idee der »Logik« selbst löst sich auf im
Wirbel eines ursprünglicheren Fragens.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 40 |
Die Durchdrungenheit des Daseins vom nichtenden Verhalten bezeugt
die ständige und freilich verdunkelte Offenbarkeit des Nichts, das
ursprünglich nur die Angst enthüllt. Darin leiht aber: diese
Angst wird im Dasein zumeist niedergehalten. Die Angst ist da. Sie schläft
nur. Ihr Atem zittert ständig durch das Dasein ....
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929, S. 40 |
»Das reine Sein und das reine Nichts ist also
dasselbe.« Dieser Satz Hegels (Wissenschaft der Logik, I. Buch WW
III, S. 78) besteht zu Recht. Sein und Nichts gehören zusammen, aber
nicht weil sie beide - vom hegelschen Begriff des Denkens aus gesehen
- in ihrer Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit übereinkommen, sondern
weil das Sein selbst im Wesen endlich ist und sich nur in der Transzendenz
des in das Nichts hienausgehaltenen Daseins offenbart.
Martin
Heidegger, Was ist Metaphysik?, Antrittsvorlesung, 1929,
S. 43 |
Novalis sagte einmal in einem Fragment:
»Die Philosophie ist eigentlich Heimweh, ein Trieb überall
zu Hause zu sein«.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 7 |
Descartes hatte die Grundtendenz, die Philosophie zu einer
absoluten Erkenntnis zu machen. Gerade bei ihm sehen wir etwas Merkwürdiges.
Hier beginnt das Philosophieren mit dem Zweifel, und es sieht so
aus, als werde alles in Frage gestellt. Aber es sieht nur so aus. Das
Dasein, das Ich (das ego) wird gar nicht in Frage gestellt. Dieser Schein
und diese Zweideutigkeit einer kritischen Haltung ziehen sich durch die
ganze neuzeitliche Philosophie hindurch bis in die nächste Gregenwart
hinein.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 30 |
Wer verbürgt uns, daß der Mensch in dieser seiner
heutigen Selbstauffassung nicht eine Mittelmäßigkeit seiner
selbst zum Gott erhoben hat?
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 32 |
Zu Beginn der neuzeitlichen Philosophie, die man gern als Bruch
mit der alten Philosophie ausgibt, finden wir gerade das betont und festgehalten,
was das eigentliche Anliegen der mittelalterlichen Metaphysik gewesen
ist.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 64 |
Daß in der Antike wie in der mittelaterlichen Philosophie
nach dem Seienden im Ganzen gefragt wird, möchte ungefähr deutlich
geworden sein. Viel unsicherer, ja fast unfaßbar dagegen ist das
zweite Moment, wie in der antiken Philosophie der metaphysisch Fragende
selbst durch dieses Fragen in Frage gestellt wird. Aber gerade dieses
Moment, daß das inbegriflliche Fragen den Fragenden miteinbegreift,
ist es, was uns die Möglichkeit gibt, das Neue in der neuzeitlichen
Metaphysik in seinem metaphysischen Gehalt zu verstehen.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 82 |
Das Problem der absoluten Gewißheit ist vor allem
das Grundproblem der neuzeitlichen Philosophie, nicht im Sinne einer Erkenntnistheorie,
sondern getragen und geführt durch das inhaltliche Problem der Metaphysik
selbst. .... Von diesem Vorrang des Problems der Gewißheit in Absicht
auf die metaphysische Erkenntnis ist die Entwicklung der neuzeitlichen
Metaphysik getragen. .... Wir sehen, daß in der Tat das Ich,
das Bewußtsein, die Vernunft, die Person, der Geist im Zentrum der
Problematik steht. Wenn wir dieses Tatsache beachten und fragen, ob am
Ende dieser zentralen Stellung des Ich, des Selbstbewußtseins zum
Ausdruck kommt, daß in der neuzeitlichen Philosophie das fragende
Ich mit in Frage gestellt wird, dann müssen wir sagen: Es ist in
der Tat so, aber in einer eigentümlichen Weise. Denn das Ich, das
Bewußtsein, die Person wird so in die Metaphysik hineingenommen,,
daß dieses Ich gerade nicht in Frage gestellt wird. Das bedeutet
nicht ein einfaches Unterlassen des Infragestellens, sondern das Ich und
das Bewußtsein wird gerade als das sicherste und fragloseste
Fundament dieser Metaphysik zugrundegelegt, so daß in der neuzeitlichen
Metaphysik ein ganz bestimmtes inbegriffliches Fragen sich zeigt,
ein Miteinbegreifen des Fragenden im negativen Sinne, so, daß
das ich selbst das Fundament für alles weitere Fragen wird. Das ist
der innerste Zusammenhang, in dem der Vorrang des Subjektproblems und
der Gewißheitsfrage mit der inhaltlichen Frage der überlieferten
Metaphysik steh. Das mag genügen, um einmal die Andersartigkeit der
neuzeitlichen Metaphysik zu zeigen und zum anderen deutlich zu machen,
daß diese Bemühung um letzte Gewißheit und die Orientierung
auf das Ich und Bewußtsein nur einen Sinn hat, wenn die alte
Problematik restlos festgehalten wird.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 83-84 |
Hieraus wird deutlich: Stimmungen wecken ist eine Art und
Weise, das Da-sein hinsichtlich seiner jeweiligen »Weise«,
in der es ist, das Da-sein als Da-sein zu ergreifen, besser, das Da-sein
sein zu lassen, wie es ist oder sein kann als Da-sein. Vielleicht mag
dieses Wecken ein merkwürdiges Tun sein, sdiwierig und wenig durchsichtig.
Wenn wir unsere Aufgabe begriffen haben, dann müssen wir gerade darauf
halten, daß wir jetzt nicht wieder unversehens über
die Stimmung und gar über das Wecken verhandeln, sondern in
der Weise dieses Weckens als Handlung handeln.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 103 |
§ 18. Die Versicherung unserer heutigen Lage und der
sie durchherrschenden Grundstimmung als Voraussetzung für die Weckung
dieser Grundstimmung.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 103 |
Aber auch wenn wir uns daran halten, begegnen wir doch noch Schwierigkeiten,
die notwendige sind und die uns im Durchlaufen derselben nur deutlich
machen, daß dieses Wecken einer Grundstimmung nichts ist, was man
so ohnehin unternehmpn kann, wie etwa das Pflücken einer Blume.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 103 |
A) Vier Deutungen unserer heutigen Lage: der Gegensatz von Leben
(Seele) und Geist bei Oswald Spengler, Ludwig Klages, Max Scheler, Leopold
Ziegler.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 103 |
Also eine Gundstimmung wecken! Sogleich erwächst die
Frage: Welche Stimmung sollen wir wecken bzw. in uns wachwerden
lassen? Eine Stimmung, die uns von Grund aus durchstimmt? Wer sind
wir denn? Wie meinen wir uns, wenn wir jetzt »uns«
sagen? Wir, diese Anzahl von Menschenindividuen, die hier in diesem Raum
zusammengekommen sind? Oder »uns«, sofern wir hier an der
Universität vor bestimmten Aufgaben des Studiums der Wissenschaften
stehen? Oder »uns«, sofern wir, als der Universität zugehörig,
zugleich in den Prozeß der Bildung des Geistes einbezogen sind?
Und diese Geschichte des Geistes - ist sie nur als deutsche oder als ein
abendländisches und weiterhin europäisches Geschehen? Oder sollen
wir den Kreis dessen, worin wir stehen, noch weiter ziehen? »Uns«
meinen wir, aber in welcher Lage, in welcher Aus- und Abgrenzung dieser
Lage?
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 103-104 |
Je weiter wir für diese Lage die Perspektive nehmen, um so
verblaßter wird der Horizont, um so unbestimmter die Aufgabe. Und
doch -wir spüren, je weiter wir die Perspektive nehmen, um so brennender
und entscheidender faßt sie uns - jeden von uns - an.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 104 |
Damit drängt sich uns aber auch eine klare Aufgabe
näher, der wir offenbar nicht mehr ausweichen können. Wenn wir
in uns eine Grundstimmung wecken sollen und wollen, dann müssen wir
uns hierzu unserer Lage versichern. Welche Stimmung aber ist für
uns heute zu wecken? Diese Frage können wir nur beantworten,
wenn wir unsere Lage selbst hinreichend kennen, um daraus zu entnehmen,
von welcher Grundstimmung wir durchherrscht sind. Da es sich doch offenbar
bei der Weckung der Grundstimmung und deren Absicht um etwas Wesentliches
und Letztes handelt, muß diese unsere Lage in der größtmöglichen
Weite gesehen werden. Wie sollen wir dieser Forderung genügen? Wenn
wir näher zusehen, dann erweist sich die Forderung der Kennzeichnung
unserer Lage nicht nur nicht neu - diese Aufgabe ist auch in mannigfacher
Weise schon erfüllt. Für uns wird es sich nur darum handeln,
die Kennzeichnung unserer Lage auf ihren einheitlichen Charakter
zu bringen und ihren durchgehenden Grundzug festzuhalten.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 104 |
Wenn wir uns nach den in Frage kommenden ausdrücklichen
Kennzeichnungen (Deutungen, Darstellungen) unserer heutigen Lage umsehen,
dann können wir deren vier herausneben und in aller Kürze
kenntlich machen. Die Auswahl bleibt in solchen Fällen nie frei von
Willkür. Diese wird jedoch unschädlich durch den Gewinn.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 104-105 |
Die bekannteste und kurze Zeit erregende Deutung unserer
Lage ist diejenige geworden, die sich ausdrückt in dem Schlagwort
»Untergang des Abendlandes« (O. Spengler, Der Untergang
des Abendlandes, Band 1, 1918, Band 2, 1922). Das Wesentliche ist
für uns das, was als Grundthese dieser »Prophezeiung«
zugrundeliegt. Es ist - auf eine Formel gebracht - dieses: Untergang des
Lebens am und durch den Geist. Was der Geist, zumal als Vernunft (ratio),
sich bildet und geschaffen hat in der Technik, Wirtschaft, im Weltverkehr,
in der ganzen Umbildung des Daseins, symbolisiert durch die Großstadt,
das wendet sich gegen die Seele, gegen das Leben und erdrückt sie
und zwingt die Kultur zu Niedergang und Verfall.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 105 |
Die zweite Deutung bewegt sich in derselben Dimension,
nur ist das Verhältnis von Seele (Leben) und Geist anders gesehen.
Dieser anderen Sicht entsprechend bleibt es nicht bei einer Voraussage
des Untergangs der Kultur durch den Geist, sondem es kommt zur Absage
an den Geist. Der Geist gilt als der Widersacher der Seele (L. Klages,
Der Geist als Widersacher der Seele, Band 1 und 2, 1929). Der Geist
ist eine Krankheit, die es auszutreiben gilt, um die Seele freizumachen.
Befreiung vom Geist heißt hier: Zurück zum Leben! Leben wird
aber hier genommen im Sinne des dunkelnden Brodelns der Triebe, was zugleich
als der Nährboden des Mythischen gefaßt wird. Diese Meinung
wird durch die Popularphilosophie von Ludwig Klages gegeben. Sie ist wesentlich
bestimmt durch Bachofen und vor allem durch Nietzsche.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 105 |
Eine dritte Deutung hält gleichfalls die Dimension
der beiden ersten fest, sieht aber weder einen Prozeß des Unterganges
dei Geistes am Leben, noch will sie einen Kampf des Lebens gegen den Geist.
Sie versucht und macht sich vielmehr zur Aufgabe einen Ausgleich zwischen
Leben und Geist. Das die Auffassung Max Schelers in der letzten
Periode seines Philosophierens. Am deutlichsten kommt sie zum Ausdruck
inseinem Vortrag an der Lessing-Hochschule »Der Mensch , Weltalter
des Ausgleichs« (Max Schler, Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs,
in: Ders., Philosophische Weltanschauung, 1929, S. 47 ff.)). Scheler sieht
den Menschen , Weltalter des Ausgleichs von Leben und Geist.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 105-106 |
Eine vierte Deutung bewegt sich im Grunde in der der dritten
und nimmt zugleich die erste und zweite in sich auf. Sie ist die relativ
unselbständigste und philosophisch brüchigste. Sie sei nur erwähnt,
weil sie eine historische Kategorie zur Kennzeichnung unserer heutigen
Lage einführt und auf ein neues Mittelalter hinausblickt. Mittelalter
soll hier nicht heißen: Renaissance der bestimmten geschichtlichen
Epoche, die wir kennen und freilich recht verschieden auffassen, sondern
der Titel geht in der Richtung der dritten Deutung. Gemeint ist ein mittleres-vermittelndes
Weltalter, das es zu einer neuen Aufhebung des Gegensatzes von »Leben
und Geist« bringen soll. Vertreter dieser vierten Deutung ist Leopold
Ziegler mit seinem Buch »Der europäische Geist« (1929).
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 106 |
Dies ist nur ein summarischer und formelhafter Hinweis auf solches,
was man heute so kennt, wovon man spricht, was man z. T. schon wieder
vergessen hat, Deutungen, die z. T. aus zweiter und dritter Hand entlehnt
und zu einem Gesamtbild gestaltet sind, solches, was im weiteren die höhere
Journalistik unseres Zeitalters durchdrängt und den geistigen Raum
schafft - wenn man so sagen darf -, in dem wir unsbewegen. Wollte man
diesen Hinweis auf die vier Deutungen unserer Lage als mehr nehmen, denn
was er ist, eben nur ein Hinweis, dann wäre er notwendig ungerecht,
weil zu allgemein. Und doch, das Wesentliche, worauf es für uns ankommt,
ist der Grundzug dieser Deutungen, besser, die Perspektive, in der sie
alle unsere heutige Lage sehen. Das ist, wiederum formelhaft gesprochen,
das Verhältnis von Leben und Geist. Es ist kein Zufall, daß
wir diesen Grundzug der Deutungen unserer Lage in seinem so formelhaften
Unterschied und Gegensatz antreffen.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 106-107 |
Angesichts dieses Unterschiedes und der beiden Schlagworte
wird man zunächst sagen: damit ist doch ein Altbekanntes geführt;
wie soll damit das Eigentümliche der heutigen und künftigen
Lage des Menschen gefaßt werden? Aber es wäre ein Mißverständnis,
wollte man diese beiden Titel nur in dem Sinne nehmen, als bezeichneten
sie gleichsam zwei Bestandstücke des Menschen: Seele (Leben) und
Geist, zwei Bestandstücke, die man ihm von jeher zugesprochen hat
und über deren Verhältnisse von jeher Streit war. Diese Titel
denken vielmehr aus bestimmten Grundhaltungen des Menschen. Wenn wir die
Ausdrücke so nehmen, dann zeigt sich in der Tat leicht, daß
es sich hier nicht um eine theoretische Klärung des Verhältnisses
von Geist und Seele handelt, sondern um das, was Nietzsche unter
dem Titel des Dionysischen und Apollinischen meint. So gehen denn
auch alle vier Deutungen auf gemeinsame Quelle, auf Nietzsche und
eine bestimmte Nietzsche-Auffassung zurück. Alle vier Deutungen sind
nur möglich unter einer bestimmten Aufnahme der Nietzscheschen Philosophie.
Dieser Hinweis soll nicht die Originalität der Deutungen in Frage
stellen, sondern er hat nur die Absicht, die Stell und Quelle zu zeigen,
an der die eigentliche Auseinandersetzung zu geschehen hat.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 107 |
B) Nietzsches Grundgegensatz zwischen dem Dionysischen Apollinischen
als Quelle der vier Deutungen unserer heutigen Lage.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 107 |
Wir können uns hier im Konkreten nicht auf Nietzsches
Auffassung dieses Grundgegensatzes einlassen. Er mag nur soweit charakterisiert
sein, daß wir sehen, worum es sich handelt. Inwiefern wir uns dieser
Aufgabe der Interpretation der vier Deutungen unserer Lage und ihrer Quelle
entschlagen können,
werden wir später deutlicher sehen.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 107-108 |
Dieser Gegensatz Dionysos-Apollo trägt und führt von
früh an Nietzsches Philosophieren. Er selbst wußte das.
Dieser Gegensatz, aus der Antike entnommen, mußte sich dem jungen
klassischen Philologen, der mit seiner Wissenschaft brechen wollte, auftun.
Er wußte aber auch, daß dieser Gegensatz, so sehr er sich
in seinem Philosophieren durchhält, für ihn mit seinem Philosophieren
sich gewandelt hat. Er selbst wußte:»Nur wer sich wandelt,
ist mit mir verwandt.« Ich möchte mit Absicht die letzte Deutung
heranziehen, die er in seinem großen und entscheidenden Werk gegeben
hat, in jenem Werk, das er nicht vollenden durfte, wie er es in sich trug:
»Der Wille zur Macht«. Die Überschrift des zweiten Abschnittes
des IV. Buches lautet: »Dionysos«. Es finden sich hier eigentümliche
Aphorismen, wie überhaupt das ganze Werk mehr ein Zusammenschieben
wesentlicher Gedanken, Forderungen, Wertungen ist. Zunächst gebe
ich einen Beleg dafür, wie klar Nietzsche um diese Zeit, kurz vor
seinem Zusammenbruch, sah, daß dieser Gegensatz ihn von früh
an bestimmte. Nietzsche wurde schon vor seiner Promotion als Extraordinarius
1869 nach Basel berufen.
»Gegen 1876 hatte ich
den Schrecken, mein ganzes bisheriges Wollen kompromittiert
zu sehen, als ich begriff, wohin es jetzt mit Wagner hinauswollte:
und ich war sehr fest an ihn gebunden, durch alle Bande der tiefen
Einheit der Bedürfnisse, durch Dankbarkeit, durch die Ersatzlosigkeit
und absolute Entbehrung, die ich vor mir sah. Um dieselbe Zeit schien
ich mir wie unauflösbar eingekerkert in meine Philologie
und Lehrtätigkeit in einen Zufall und Notbehelf meines
Lebens : ich wußte nicht mehr, wie herauskommen, und
war müde, verbraucht, vernutzt. Um dieselbe Zeit begriff ich,
daß mein Instinkt auf das Gegenteil hinauswollte als der Schopenhauers:
auf eine Rechtfertigung des Lebens, selbst in seinem Furchtbarsten,
Zweideutigsten und Lügenhaftesten dafür hatte ich
die Formel »dionysisch«, in den Händen.«
(Ebd., S. 660).
|
Später heißt es dann:
»Die Täuschung Apollos:
die Ewigkeit der schönen Form; die aristokratische Gesetzgebung
so soll es immer sein!. Dionysos: Sinnlichkeit
und Grausamkeit. Die Vergänglichkeit könnte ausgelegt
werden als Genuß der zeugenden und zerstörenden
Kraft, als beständige Schöpfung.« (Ebd.,
S. 682-683).
|
Es folgt ein Absatz, in dem Nietzsche nun wohl in der schönsten und
entscheidenden Form diesen Gegensatz auslegt und ihn mit der Quelle in
Zusammenhang bringt:
»Mit dem Wort dionysisch
ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen
über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, über
den Abgrund des Vergehens: das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen
in dunklere, vollere, schwebendere Zustände; ein verzücktes
Jasagen zum Gesamt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel
Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große
pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die
furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt
und heiligt; der ewige Wille zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur
Wiederkehr; das Einheitsgefühl der Notwendigkeit des Schaffens
und Vernichtens. Mit dem Wort apollinisch ist
ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein,
zum typischen »Individuum«, zu allem was vereinfacht,
heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht: die Freiheit
unter dem Gesetz. An den Antagonismus dieser beiden Natur-Kunstgewalten
ist die Fortentwicklung der Kunst ebenso notwendig geknüpft,
als die Fortentwicklung der Menschheit an den Antagonismus der Geschlechter.
Die Fülle der Macht und die Mäßigung, die höchste
Form der Selbstbejahung in einer kühlen, vornehmen, spröden
Schönheit: der Apollinismus des hellenischen Willens.«
(Ebd., S. 683).
|
Nun folgt seine Kennzeichnung des Ursprungs dieser Deutung und die tiefste
Ausdeutung des Griechentums durch ihn:
»Diese
Gegensätzlichkeit des Dionysischen und Apollinischen innerhalb
der griechischen Seele ist eines der großen Rätsel, von
dem ich mich angesichts des griechischen Wesens angezogen fühlte.
Ich bemühte mich im Grunde um nichts als um zu erraten, warum
gerade der griechische Apollinismus aus einem dionysischen Untergrund
herauswachsen mußte, der dionysische Grieche nötig hatte,
apollinisch zu werden: das heißt, seinen Willen zum Ungeheuren,
Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu brechen an einem Willen
zum Maß, zur Einfachheit, zur Einordnung in Regel und Begriff.
Das Maßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde:
die Tapferkeit des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus:
die Schönheit ist ihm nicht geschenkt, so wenig als die Logik,
als die Natürlichkeit der Sitte sie ist erobert, gewollt,
erkämpft sie ist sein Sieg.« (Ebd., S.
683-684).
|
Nun noch ein Letztes, um anzudeuten, wie dieser Gegensatz sich entscheidend
gewandelt hat in:
»Die
zwei Typen: Dionysos und der Gekreuzigte. [...] Hierher stelle
ich den Dionysos der Griechen: die religiöse Bejahung
des Lebens, des ganzen, nicht verleugneten und halbierten Lebens;
(typisch daß der Geschlechtsakt Tiefe, Geheimnis, Ehrfurcht
erweckt). Dionysos gegen den »Gekreuzigten«: da habt
ihr den Gegensatz. [...] Der Gott am Kreuz ist ein Fluch auf das
Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen; der
in Stücke geschnittne Dionysos ist eine Verheißung
des Lebens: es wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung
heimkommen.« (Ebd., S. 687-688).
|
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 108-110 |
Es bedarf nicht vieler Worte, um zu sehen, daß hier in Nietzsche
ein Gegensatz lebendig war, wie er in keiner Weise in den charakterisierten
vier Deutungen unserer Lage aufdämmerte, sondern nur als übernommenes
Gut, als literarische Form weitergewirkt hat.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 110-111 |
Welche von den vier Deutungen die im Sinne Nietzsches richtigere
ist, soll hier nicht entschieden werden. Noch weniger können wir
hier zeigen, daß keine die richtige ist, weil keine richtig sein
kann, sofern sie das Wesen der Philosophie Nietzsches verfehlen, die ihrerseits
freilich auf merkwürdigen Fundamenten ruht, von denen sich zeigt,
daß ihnen in der Tat eine recht vulgäre und metaphysisch höchst
fragwürdige »Psychologie« zugrunde liegt. Aber Nietzsche
kann sich das leisten. Und doch ist das kein Freibrief.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 111 |
Wir wissen nur, daß Nietzsche die Quelle für
die genannten Deutungen ist. Das wird von uns nicht gesagt, um den Deutungen
eine Abhängigkeit vorzurechnen und etwas von ihrer Originalität
abzustreichen, sondern um die Richtung zu nennen, aus der her das Verständnis
zu gewinnen ist, und zu zeigen, wo die Stelle der eigentlichen Auseinandersetzung
liegt (vgl. George-Kreis, Psychoanalyse).
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 111 |
C) Die tiefe Langeweile als die verborgene Grundstimmung der kulturphilosophischen
Deutungen unserer Lage.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 111 |
Alle diese Fragen sind für uns sekundär. Wir fragen
nicht einmal, ob all diese Deutungen unserer Lage richtig sind oder nicht.
In solchen Fällen ist immer das meiste richtig. Und doch ist der
Hinweis auf sie wesentlich. Denn was geht in diesen Deutungen vor sich?
Wir sagen: eine Diagnose der Kultur, bei der an Hand der genannten
Kategorien Leben-Geist in einem Zug durch die Weltgeschichte hindurch
und über sie weg gefahren wird. Zwar soll dadurch das Heutige seine
Stelle angewiesen bekommen, seine Lage soll bestimmt werden.
Wir selbst aber sind durch diese weltgeschichtliche Ortsbestimmung, durm
die Aus- und Abrechnung, wie es mit unserer Kultur steht, gar nicht berührt,
geschweige denn angegriffen. Im Gegenteil, das Ganze ist eine Sensation,
und das heißt immer eine uneingestandene und doch wieder scheinbare
Beruhigung, wenn auch nur literarischer Art und von charakteristischer
Kurzlebigkeit. Diese ganze Haltung der unverbindlichen und deshalb gerade
interessanten Kulturdiagnostik wird nun noch aufregender dadurch, daß
sie sich, ausdrücklich oder nicht, zur Prognose aus- und umbildet.
Wer von den Menschen wüßte nicht gern, was kommt, damit man
sich darauf einrichten kann, um für die Gegenwart noch weniger belastet
und in Anspruch und Angriff genommen zu sein! Diese weltgeschichtlichen
Diagnosen und Prognosen der Kultur treffen nicht uns, sie sind kein
Angriff auf uns. Im Gegenteil, sie entbinden uns von uns selbst und
führen uns uns selbst in einer weltgeschichtlichen Lage und Rolle
vor. Diese Kulturdiagnosen und -prognosen sind die typismen Ausprägungen
dessen, was man »Kulturphilosophie« nennt und was sim nun
in mancherlei schwächlicheren oder phantastischeren Abarten geltend
macht. Diese Kulturphilosophie faßt nicht uns in unserer heutigen
Lage, sondern sie sieht allenfalls nur das Heutige, aber ganz ohne uns,
das Heutige, was nichts ist als das Ewig-Gestrige. Diese Deutungen unserer
Lage haben wir absichtlich durch Fremdworte: Diagnose, Prognose gekennzeichnet,
weil sie ihr Wesen nicht in einem ursprünglichen Wachstum haben,
sondern eine - wenngleich ganz und gar nicht zufällige - literarische
Existenz führen.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 111-112 |
Wenn aber so die Kulturphilosophie in der Deutung unserer heutigen
Lage gerade uns nicht greift oder gar ergreift, dann
war es eine Irrmeinung, wenn wir in den vorigen Überlegungen meinten,
wir müßten, um unsere Grundstimmung zu fassen, zuvor unserer
Lage in dieser Weise gewiß werden.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 112 |
Aber - könnte man sagen - vielleicht ist nur diese besondere
Art der Deutung unserer Lage nicht zureimend - was zudem erst noch des
Beweises bedürfte, was wir doch bisher nicht eigens gezeigt haben.
In jedem Falle werden wir doch irgendwelche Anzeichen brauchen, daran
wir sehen, wo wir jetzt stehen. Die Kultur ist doch gerade der
Ausdruck unserer Seele - ja, es ist eine heute verbreitete Meinung, daß
gerade am Leitfaden der Idee des Ausdrucks, Symbols sowohl die Kultur
als der Mensch in ihr eigentlich und einzig philosophisch begriffen werden
können. Wir haben heute eine Kulturphilosophie des Ausdrucks, des
Symbols, der symbolischen Formen. Der Mensch als Seele und Geist, was
sich ausdrückt, niederschlägt in Gestalten, die in sich eine
Bedeutung tragen und aufgrund dieser Bedeutung dem sich ausdrückenden
Dasein einen Sinn geben. Das ist, roh gesprochen, das Schema für
die heutige Kulturphilosophie. Auch hier ist wiederum nahezu alles richtig
bis auf das Wesentliche. Nur müssen wir wieder fragen: Ist diese
Betrachtung des Menschen eine wesentliche? Was geschieht, ganz abgesehen
von der kulturphilosophischen Einordnung des Menschen in die Kultur, in
diesen Deutungen? Der Mensch und vielleicht auch der heutige wird so vom
Ausdruck seiner Leistungen her dargestellt. Und doch bleibt die Frage,
ob diese Darstellimg des Menschen sein Da-sein trifft und ergreift,
ja zum Sein bringt, ob diese Dar-stellung, die am Ausdruck orientiert
ist, das Wesen des Menschen nicht nur faktisch verfehlt, sondern es notwendig
verfehlen muß, ganz abgesehen von der Ästhetik. Mit anderen
Worten: Diese Philosophie gelangt nur zur Dar-stellung des Menschen,
aber nie zu seinem Da-sein. Sie gelangt nicht nur faktisch nicht
dazu, sondern kann notwendig nicht dahin gelangen, weil sie sich selbst
den Weg dazu verbaut.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 112-113 |
Vielleicht müssen wir zwar - gerade wenn und weil wir die
Weckung einer Grundstimmung erstreben - von einem »Ausdruck«
ausgehen, worin wir nur dar-gestellt sind. Vielleicht sieht diese Weckung
der Grundstimmung in der Tat so aus wie eine Fest-stellung und ist doch
etwas anderes als Dar-stellung und Fest-stellung. Wenn wir demnach nicht
davon loskommen, daß alles, was wir sagen, so aussieht wie eine
Dar-stellung unserer Lage und sich ausnimmt wie die Fest-stellung einer
dieser Lage zugrundeliegenden Stimmung, die sich in der Lage aus-drückt,
wenn wir diesen Schein nicht ableugnen und noch weniger abwerfen können,
dann sagt das nur: Die Zweideutigkeit stellt sich gerade jetzt
erst ein. Ist das zu verwundern? Wenn unsere einleitende Charakteristik
der wesenhaften Zweideutigkeit des Philosophierens, unseres Philosophierens,
keine Phrase war, die lediglich etwas Absonderliches über die Philosophie
sagen sollte, dann muß jetzt am Beginn die Zweideutigkeit
zur Macht kommen. Wir werden nicht glauben wollen, sie sei dadurch im
mindesten zu beheben, daß wir zuvor erklären und behaupten:
Es besteht ein theoretischer Unterschied zwischen der Darstellung der
geistigen Lage und der Weckung einer Grundstimmung. Dadurch ist uns gar
nichts abgenommen. Je eigentlicher wir beginnen, um so mehr lassen wir
die Zweideutigkeit spielen, um so härter wird für jeden Einzelnen
die Aufgabe, vor sich zu entscheiden, ob er wirklich versteht oder nicht.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 113-114 |
Wenn die kulturphilsophische Art der Deutung unserer Lage ein
Irrweg ist, dann dürfen wir nicht fragen: wo stehen wir?,
sondern müssen fragen: wie steht es mit uns? Aber wenn es
mit uns irgendwie - so oder so - steht, dann doch nicht im Leeren, wir
stehen dabei doch auch irgendwo. Wir werden gut tun, aus dem, wo
wir stehen, zu entnehmen, wie es mit uns steht. Also müssen
wir doch zuvor unsere eigene Lage darstellen, nur daß wir sie vielleicht
anders charakterisieren müssen, als es in den genannten Deutungen
geschah. Aber das ist gar nicht notwendig. Wir wissen über unsere
Lage schon genug, ohne daß wir auf jene Deutungen näher eingehen
oder eine andere dazusetzen. Wir haben sie auch nicht als unrichtig abzuweisen.
Wir wissen schon genug über unsere Lage einzig durch das Feststellen,
daß es diese Deutungen - die Herrschaft der Philosophie der
Kultur - gibt, daß sie vielfältig - wenngleich nicht
nachprüfbar - das Dasein bestimmen.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 114 |
Jetzt fragen wir erneut: Was geschieht dabei und darin, daß
diese Kulturdiagnosen, wenn auch in ganz verschiedener Weise, bei uns
Gehör finden? Was geschieht darin, daß diese höhere Journalistik
unseren »geistigen« Raum ausfüllt oder gar überhaupt
umgrenzt? Ist das nur eine Mode? Ist etwas überwunden, wenn man es
als »Modephilosophie« zu kennzeichnen und damit zu verkleinern
sucht? Wir dürfen und wollen nicht zu so billigen Mitteln greifen.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 115 |
Wir sagten: Diese Kulturphilosophie stellt allenfalls das Heutige
unserer Lage dar, aber greift uns nicht. Mehr noch, sie bekommt
uns nicht nur nicht zu fassen, sondern entbindet uns von uns selbst, indem
sie uns eine Rolle in der Weltgeschichte zuerteilt. Sie entbindet uns
von uns selbst und ist doch gerade zugleich Anthropologie. Die Flucht
und die Verkehrung und der Schein und die Verlorenheit werden noch verschärft.
Nun ist die entscheidende Frage: Was liegt darin, daß wir
uns diese Rolle geben und gar geben müssen? Sind wir uns selbst
zu unbedeutend geworden, daß wir einer Rolle bedürfen?
Warum finden wir für uns keine Bedeutung, d. h. keine wesentliche
Möglichkeit des Seins mehr? Weil uns gar aus allen Dingen eine Gleichgültigkeit
angähnt, deren Grund wir nicht wissen? Aber wer will so sprechen,
wo der Weltverkehr, die Technik, die Wirtschaft den Menschen an sich reißen
und in Bewegung halten? Und trotzdem suchen wir für uns nach
einer Rolle. Was geschieht darin?, so fragen wir erneut. Müssen
wir uns uns selbst erst wieder interessant machen? Warum müssen
wir das? Etwa weil wir selbst uns, uns selbst, langweilig geworden
sind? Der Mensch selbst sollte sich selbst langweilig geworden sein? Warum
das? Ist es am Ende so mit uns, daß eine tiefe Langeweile in
den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herzieht?
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 115 |
So bedarf es am Ende gar nicht der Kulturdiagnosen und -prognosen,
um uns unserer Lage zu versichern, weil sie uns nur eine Rolle geben und
uns von uns selbst entbinden, statt uns dazu zu verhelfen, daß wir
uns selbst finden wollen. Aber wie sollen wir uns selbst finden - in einer
eitlen Selbstbespiegelung, in jener widerwärtigen Beschnüffelung
des Seelischen, die heute alles Maß überstiegen hat? Oder sollen
wir uns so finden, daß wir uns dabei selbst zurückgegeben
werden, und zwar uns zurückgegeben, so daß wir uns selbst
aufgegeben werden, aufgegeben, das zu werden, was wir sind?
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 115-116 |
Somit dürfen wir nicht in einem weitläufigen Kulturgerede
von uns fortlaufen, aber ebensowenig in einer neugierigen Psychologie
uns selbst nachlaufen, sondern wir müssen uns finden, so, daß
wir uns an unser Dasein binden und dieses, das Da-sein, für uns das
einzig Verbindliche wird.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 116 |
Aber werden wir uns finden durch den Hinweis auf jene tiefe
Langeweile, die vielleicht zunächst niemand von uns kennt? Soll
gar diese fragwürdige tiefe Langeweile die gesuchte Grundstimmung
sein, die es zu wecken gilt?
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 116 |
Entwurf ist Weltentwurf.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 527 |
Das Entwerfen als ... Entbergen der Ermöglichung
ist das eigentliche Geschehen jenes Unterschiedes von Sein und Seiendem.
Der Entwurf ist der Einbruch dieses »Zwischen« des Unterschiedes.
Er ermöglicht erst die Unterschiedenen in ihrer Unterscheidbarkeit.
Der Entwurf enthüllt das Sein des Seienden. Darum ist er,
wie wir im Anschluß an ein Wort Schellings sagen können, der
Lichtblick (vgl. Schelling, Philosophische Untersuchungen über
das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängendemn
Gegenstände, 1809, in: Sämtliche Werke, Band 7, S. 361)
ins Mögliche-Ermöglichende überhaupt. Der Blick ins Licht
reißt die Finsternis als solche herbei, gibt die Möglichkeit
jener Dämmerung des Alltags, darin wir zunächst und zumeist
das Seiende erblicken, es bewältigen, daran leiden, uns daran freuen.
Der Lichtblick ins Mögliche macht das Entwerfende offen für
die Dimension des »entweder-oder«, des »sowohl-als-auch«,
des »so« und des »anders«, des »Was«,
des »ist« und »ist nicht«. Erst sofern dieser
Einbruch geschehen ist, werden das »ja« und »nein«
und das Fragen möglich. Der Entwurf enthebt in und enthüllt
so die Dimension des Möglichen überhaupt, das in sich schon
gegliedert ist in das Mögliche des »So-und-Andersseins«,
des »Ob- und Ob-nicht-seins«.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 529-530 |
Was wir vordem als einzelne Charaktere aufgezeigt haben, enthüllt
sich jetzt als einheitlich ursprünglich verwoben in die Einheit der
Urstruktur des Entwurfs. In ihm geschieht das Waltenlassen des Seins
des Seienden im Ganzen seiner jeweils möglichen Verbindlichkeit.
Im Entwurf waltet die Welt.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 530 |
Im Geschehen des Entwurfs bildet sich Welt, d.h. im Entwerfen
bricht etwas aus und bricht auf zu Möglichkeiten und bricht so in
Wirkliches als solches, um sich selbst als Eingebrochenen zu erfahren
als wirklich Seiendes inmitten von solchem, was jetzt als Seiendes offenbar
sein kann. Es ist das Seiende ureigener Art, das aufgebrochen ist zu dem
Sein, das wir Da-sein nennen, zu dem Seienden, von dem wir sagen,
daß es existiert, d.h. ex-sistiert, im Wesen seines Seins
ein Heraustreten aus sich selbst ist, ohne sich doch zu verlassen.
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 531 |
Der Mensch ist jenes Nicht-bleiben-können un d doch nicht
von der Stelle Können. Entwerfend wirft das Da-sein in ihm
ihn ständig in die Möglichkeiten und hält ihn so dem Wirklichen
unterworfen. So geworfen im Wurf ist der Mensch ein Übergang,
Übergang als Grundwesen des Geschehens. Der Mensch ist Geschichte,
oder besser, die Geschichte ist der Mensch. Der Mensch ist im Übergang
entrückt und daher wesenhaft »abwesend«.
Abwesend im grundsätzlichen Sinne - nicht und nie vorhanden, sondern
abwesend indem er wegwest in die Gewesenheit und in die
Zukunft, ab-wesend und nie vorhanden, aber in der Ab-wesenheit
existent. Versetzt ins Mögliche, muß er ständig
versehensein des Wirklichen. Und nur weil so versehen und versetzt,
kann er sich entsetzen. Und nur, wo die Gefährlichkeit des
Entsetzens, da die Seligkeit des Staunens - jene wache Hingerissenheit,
die der Odem alles Philosophierens ist, und was die Größten
der Philosophen den enqusiasmuV, nannten, den
der Letzte der Großen - Friedrich Nietzsche - in jenem Lied
Zarathustras gekündet hat, das er das »trunkne Lied«
nennt, und darin wir zuglech erfahrenb, was die Welt sei:
»Gegen 1876 hatte ich
den Schrecken, mein ganzes bisheriges Wollen kompromittiert
zu sehen, als ich begriff, wohin es jetzt mit Wagner hinauswollte:
und ich war sehr fest an ihn gebunden, durch alle Bande der tiefen
Einheit der Bedürfnisse, durch Dankbarkeit, durch die Ersatzlosigkeit
und absolute Entbehrung, die ich vor mir sah. Um dieselbe Zeit schien
ich mir wie unauflösbar eingekerkert in meine Philologie
und Lehrtätigkeit in einen Zufall und Notbehelf meines
Lebens : ich wußte nicht mehr, wie herauskommen, und
war müde, verbraucht, vernutzt. Um dieselbe Zeit begriff ich,
daß mein Instinkt auf das Gegenteil hinauswollte als der Schopenhauers:
auf eine Rechtfertigung des Lebens, selbst in seinem Furchtbarsten,
Zweideutigsten und Lügenhaftesten dafür hatte ich
die Formel »dionysisch«, in den Händen.«
(Ebd., S. 660).
|
Martin
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit
- Einsamkeit, 1929/30, S. 531-532 |
Wirklich bleibende Philosophie
kann nur die werden, die wahrhaft Philosophie ihrer Zeit, d. h. aber ihrer
Zeit mächtig ist.
Martin
Heidegger, Brief, 10. Mai 1930 |
Wahrheit ist nicht ursprünglich im Satz
beheimatet.
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 185 |
Das Wesen derWahrheit, als Richtigkeit der Aussage verstanden,
ist die Freiheit.
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 186 |
Die Freiheit zum Offenbaren eines Offenen läßt das
jeweilige Seiende das Seiende sein, das es ist. Freiheit enthüllt
sich jetzt als das Seinlassen von Seiendem.
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 188 |
Das Sein-lassen, d.h. die Freiheit ist in sich aus-setzend, ek-sistent.
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 189 |
Freiheit als das Sein-lassen des Seienden erfüllt und vollzieht
das Wesen der Wahrheit im Sinne der Entbergung von Seiendem.
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 190 |
Weil ... die Wahrheit im Wesen der Freiheit ist, deshalb kann
der geschichtliche Mensch im Seinlassen des Seienden das Seiende auch
nicht das Seiende sein lassen, das es ist und wie es ist. DasSeienden
wird dann verdeckt und verstellt. Der Schein kommt zur Macht. In ihr gelangt
das Unwesen der Wahrheit zum Vorschein. Weil aber die ek-sistente Freiheit
als Wesen der Wahrheit nicht eine Eigenschaft des Menschen ist, sondern
der Mensch nur als Eigentum dieser Freiheit ek-sistiert und so geschichtsfähig
wird, deshalb kann auch das Unwesen der Wahrheit nicht erst nachträglich
dem bloßen Unvermögen und der Nachlässigkeit des Menschen
entspringen. Die Unwahrheit muß vielmehr aus dem Wesen der Wahrheit
kommen. Nur weil Wahrheit und Unwahrheit im Wesen sich nicht
gleichgültig sind, sondern zusammemngehören, kann überhaupt
ein wahrer Satz in die Schärfe des Gegenteils zum entsprechend unwahren
Satz treten.
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 191 |
Das Wesen der Wahrheit enthüllt sich als Freiheit. Dies ist
das ek-sistente, entbergende Seinlassen des Seienden. Jedes offenständige
Verhalten schwingt im Seinlassen von Seiendem und verhält sich jeweils
zu diesem oder jenem Seienden.
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 192 |
Insistent ist der Mensch der je nächsten Gangbarkeit des
Seienden zugewendet. Aber er insistiert nur als der schon ek-sistente,
indem er doch das Seiende als ein solches Richtmaß nimmt. In seinem
Maßnehmen aber ist das Menschentum weggewendet vom Geheimnis. Jene
insistente Zuwendung zum Gangbaren und diese ek-sistente Wegwendung vom
Geheimnis gehören zusammen. Sie sind eines und dasselbe. Jenes Zu-
und Wegwenden folgt jedoch einer eigentümlichen Wende des Hin und
Her im Dasein. Die Umgetriebenheit des Menschen weg vom Geheimnis hin
zum Gangbaren, fort von einem Gängigen, fort zum nächsten und
vorbei am Geheimnis, ist das Irren.
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 196 |
Der Mensch irrt. Der Mensch geht nicht erst in die Irre. Er geht
nur immer in der Irre, weil er ek-sistent in-sistiert und so schon in
der Irre steht. Die Irre, durch die der Mensch geht, ist nichts, was nur
gleichsam neben dem Menschen herzieht wie eine Grube, in die er zuweilen
fällt, sondern die Irre gehört zur inneren Verfassung des Da-seins,
in das der geschichtliche Mensch eingelassen ist. Die Irre ist der Spielraum
jener Wende, in der die in-sistente Ek-sistenz wendig sich stets neu vergißt
und vermißt. Die Verbergung des verborgenen Seienden im Ganzen waltet
in der Entbergung des jeweiligen Seienden, die als Vergessenheit der Verbergung
zur Irre wird.
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 196-197 |
Die Irre ist das wesentliche Gegenwesen zum anfänglichen
Wesen der Wahrheit.
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 197 |
Im Zugleich der Entbergung und Verbergung waltet die Irre.
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 198 |
In der milden Strenge und strengen Milde ihres Seinlassens des
Seienden als solchen im Ganzen wird die Philosophie zu einem Fragen, das
sich nicht einzig an das Seiende halten, aber auch keinen Machtspruch
von außen zulassen kann. Diese innerste Not des Denkens hat Kant
geahnt; denn er sagt von der Philosophie: »Hier sehen wir nun die
Philosophie in der Tat auf einen mißlichen Standpunkt gestellt,
der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel noch auf der Erde an
etwas gehängt oder woran gestützt wird. Hier soll sie ihre Lauterkeit
beweisen als Selbsthalterin ihrer Gesetze, nicht als Herold derjenigen,
welche ihr ein eingepflanzter Sinn oder wer weiß welche vormundschaftliche
Natur einflüstert ....« (Kant, Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten, in: Werke, IV, 425).
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 199 |
Bei dieser Wesensdeutung der Philosophie blickt Kant, dessen Werk
die letzte Wendung der abendländischen Metaphysik einleitet, in einen
Bereich hinaus, den er gemäß seiner metaphysischen Grundstellung
in der Subjektivität zwar nur aus dieser begreifen konnte und als
Selbsthalten eigener Gesetze begreifen mußte. Dieser Wesensblick
in die Bestimmung der Philosophie ist dennoch weit genug, um jede Verknechtung
ihres Denkens zu verwerfen, deren hilfloseste Art in der Ausflucht sich
versteckt, die Philosophie als eine »Ausdruck« der »Kultur«
(Spengler) und als Zierde eines schaffenden Menschentums gerade noch gelten
lassen.
Martin
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, in: Wegmarken,
S. 200 |
Das »Höhlengleichnis«
veranschaulicht nach Platons eindeutiger Aussage das Wesen der »Bildung«.
Dagegen soll die jetzt versuchte Auslegung des »Gleichnisses«
auf die platonische »Lehre« von der Wahrheit hinzeigen.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32,
S. 20 |
Paideia meint die Umwandlung
des ganzen Menschen im Sinne der eingewöhnenden Versetzung aus dem
Bezirk des zunächst Begegnenden in einen anderen Bereich, darin das
Seiende erscheint. Diese Versetzung ist nur dadurch möglich, daß
alles dem Menschen bisher Offenkundige und die Art, wie es offenkundig
war, anders werden. Das dem Menschen jeweils Unverborgene und die Art
der Unverborgenheit muß sich wandeln. Unverborgenheit heiß
griechisch alhqeia, welches Wort man
mit »Wahrheit« übersetzt. Und »Wahrheit«
bedeutet für das abendländische Denken seit langer Zeit die
Übereinstimmung des denkenen Vorstellens mit der Sache: adaequatio
intellctus et rei.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 20 |
Und im Zeitalter der anhebenden Vollendung der Neuzeit sagt Nietzsche
in einer nochmaligen Verschärfung ...: »Wahrheit ist die
Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen
nicht leben könnte.« (Aufzeichnung aus dem Jahre 1885, Der
Wille zur Macht, n. 493). Wenn die Wahrheit nach Nietzsche eine Art von
Irrtum ist, dann liegt ihr Wesen in einer Weise des Denkens, die das Wirkliche
jedesmal, und zwar notwendig, verfälscht, insofern nämlich jedes
Vorstellen das unausgesetzte »Werden« still steht und mit
dem so Festgestellten gegenüber dem fließenden »Werden«
ein Nichtentsprechendes, d.h. Unrichtiges und somit ein Irriges als das
angeblich Wirkliche aufstellt.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 35 |
In Nietzsches Bestimmung der Wahrheit als der Unrichigkeit des
Denkens liegt die Zustimmung zum überlieferten Wesen der Wahrheit
als der Richtigkeit des Aussagens (logoV).
Nietzsches Begriff zeigt den letzten Widerschein der äußersten
Folge jenes Wandels der Wahrheit aus der Unverborgenheit des Seienden
zur Richtigkeit des Blickens. Der Wandel selbst vollzieht sich in der
Bestimmung des Seins des Seienden (d.h. griechisch der Anwesung des Anwesenden)
als idea.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 35 |
Dieser Auslegung des Seienden zufolge ist die Anwesung nicht mehr
wie im Anfang des abendländischen Denkens der Aufgang des Verborgenen
in die Unverborgenheit, wobei diese selbst als die Entbergung den Grundzug
der Anwesung ausmacht. Platon begreift die Anwesung (ousia)
als idea. Diese untersteht jedoch nicht
der Unverborgenheit, indem sie das Unverborgene, ihm dienend, zum Erscheinen
bringt. Vielmehr bestimmt umgekehrt das Scheinen (Sichzeigen), was innerhalb
seines Wesens und im einzigen Rückbezug auf es selbst dann noch Unverborgenheit
heißen darf. Die idea ist nicht
ein darstellender Vordergrund der alhqeia,
sondern der sie ermöglichende Grund. Aber auch so nimmt die idea
noch etwas vom anfänglichen, aber unbekannten Wesen der alhqeia
in Anspruch.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 35-36 |
Die Wahrheit ist nicht mehr als Unverborgenheit der Grundzug des
Seins selbst, sondern sie ist, zufolge der Unterjochung unter die Idee
zur Richtigkeit geworden, fortan die Auszeichnung des Erkennens des Seienden.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 36 |
Seitdem gibt es im Streben nach der »Wahrheit« im
Sinne der Richtigkeit des Blickens und der Blickstellung. Seitdem wird
in allen Grundstellungen zum Seienden die Gewinnung des rechten Ideenblickes
entscheidend. Die Besinnung auf die paidea
und der Wandel des Wesens der alhqeia
gehören zusammen und in dieselbe durch das Höhlengleichnis darsgestellte
Geschichte des Übergangs von Aufenthalt zu Aufenthalt.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 36 |
Die Verschiedenheit der beiden Aufenthalte innerhalb und außerhalb
der Höhle ist ein Unterschied der sofia.
Dies Wort bedeutet im allgemeinen das Sichauskennen in etwas, das Sichverstehehn
auf etwas. Eigentlicher meint sofia
das Sichauskennen in dem, was als das Unverborgene anwest und als das
Anwesende das Beständige ist (vgl. Heraklit, Fragment 112). Das Sichauskennen
deckt sich nicht mit dem bloßen Besitz von Kenntnissen. Es meint
das Innehalten eines Aufenthalts, der überall zuvor den Anhalt im
Beständigen hat.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 36 |
Das Sichauskennen, das dort unten in der Höhle maßgebend
ist, h ekei sofia (516c, 5), wird überragt
vo einer anderen sofia ist, im Unterschied
zu jener dort in der Höhle, ausgezeichnet durch das, Verlangen, über
das nächste Anwesende hinaus den Anhalt in dem sich selbst zeigenden
Beständigen zu erlangen. Diese sofia
ist in sich eine Vorliebe und Freundschaft (filia)
für die »Ideen«, die das Unverborgene gewähren.
Sie sofia außerhalb der Höhle
ist filosofia . Dieses Wort kennt die
Sprache der Griechen bereits vor Platons Zeit und gebraucht es allgemein
zur Benennung der Vorliebe für ein rechtes Sichauskennen. Durch Platon
erst wird dieses Wort in Anspruch genommen als Name für jenes Sichauskennen
im Seienden, das zugleich das Sein des Seienden als Idee bestimmt.Seit
Platon wird das denken über das Sein des Seienden - »Philosophie«,
weil es ein Aufblicken zu den »Ideen« ist. Die erst mit Platon
beginnende »Philosophie« aberhat fortan den Charakter dessen,
was später »Metaphysik« heißt. Die Grundgestalt
der Metaphysik macht Platon selbst in der Geschichte anschaulich, die
das Höhlengleichnis erzählt. Ja sogar das Wort »Metaphysik«
ist in Platons Darstellung schon vorgeprägt. Dort, wo er (516) die
Eingewöhnung des Blcikens auf die Ideen veranschaulicht, sagt Platon
(516c, 3): Das Denken geht met eceina
»über« jenes, was nur schattenhaft und abbildmäßig
erfahren wird, hinaus eiV tauta, »hin
zu« diesen, nämlich den »Ideen«. Sie sind das im
nichtsinnlichen Blicken erblickte Übersinnliche, das mit den Werkzeugen
des Leibes unbegreifliche Sein des Seienden. Und das Höchste im Bereich
des Übersinnlichen ist jene Idee, die als Idee aller Ideen die Ursache
für den Bestand und das Erscheinen alles Seienden bleibt. Wewil diese
»Idee« in solcher Weise für alles die Ursache ist, deshalb
ist sie auch »die Idee«, die »das Gute« heißt.
Dies höchste und erste Ursache wird von Platon und entsprechend con
Aristoteles to qeion, das Göttliche
genannt. Seit derAuslegung desSeins als idea
ist das Denken auf das Sein des Seienden metaphysich,und die Metaphysik
ist theologisch. Theologie bedeutet hier die Auslegung der »Ursache«
des Seienden als Gott und die Verlegung des Seins in diese Ursache,die
das Seiendste des Seienden ist.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 37-38 |
Dieselbe Auslegung des Seins als idea,
die ihren Vorrang einem Wandel des Wesens der alhqeia
verdankt, fordert eine Auszeichnung des Blickens auf die Ideen. DieserAufzeihnung
entspricht die Rolle der paidea, der
»Bildung« des Menschen. Die Bemühung um das Menschsein
und um die Stellung des Menschen inmitten des Seienden durchherrscht die
Metaphysik.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 38 |
Der Beginn der Metaphysik im Denken Platons ist zugleich der Beginn
des »Humanismus«.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 38 |
Platons Denken folgt dem Wandel des Wesens der Wahrheit, welcher
Wandel zur Geschichte der Metaphysik wird, die in Nietzsches Denken ihre
unbedingte Vollendung begonnen hat. Platons Lehre von der »Wahrheit«
ist daher nichts Vergangenes. Sie ist geschichtliche »Gegenwart«,
dies aber nicht nur als historisch nachgerechnete »Nachwirkung«
eines Lehrstückes, auch nicht als Wiedererweckung, auch nicht als
Nachahmung des Altertums, auch nicht als bloße Bewahrung des Überkommenen.
Jener Wandel des Wesens der Wahrheit ist gegenwärtig als die längst
gefestigte und daher noch unverrückte, alles durchherrschende Grundwirklichkeit
der in ihre neueste Neuzeit anrollenden Weltgeschichte des Edballs.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 39 |
Die im Höhlengleichnis erzählte Geschichte gibt den
Anblick dessen, was jetzt und künftig noch in der Geschichte des
abendländisch geprägten Menschentums das eigentlich Geschehende
ist: Der Mensch denkt im Sinne des Wesens der Wahrheit als der Richtigkeit
des Vorstellens alles Seiende nach »Ideen« und schätzt
alles Wirkliche nach »Werten«. Nicht welche Ideen und welche
Werte gesetzt sind, ist das allein und Erstlich Entscheidende, sondern
daß überhaupt nach »Ideen« das Wirkliche ausgelegt,
daß überhaupt nach »Werten« die Welt gewogen wird.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 39 |
Inzwischen ist das anfängliche Wesen der Wahrheit erinnert
worden. Die Unverborgenheit enthüllt sich dieser Erinnerung als der
Grundzug des Seins selbst. Die Erinnerung an das anfängliche Wesen
der Wahrheit muß jedoch dieses Wesen anfänglicher denken. Sie
kann daher die Unverborgenheit niemals nur im Sinne Platons, d.h. in der
Unterjochung unter die idea, übernehmen.
Die platonisch begriffene Unverborgenheit bleibt eingespannt in den Bezug
zum Erblicken, Vernehmen, Denken und Aussagen. Diesem Bezug folgen, heißt
das Wesen der Unverborgenheit preisgeben. Kein Versuch, das Wesen der
Unverborgenheit in der »Vernunft«, im »Geist«,
im »Denken«, im »Logos«, in irgendeiner Art von
»Subjektivität« zu begründen, kann je das Wesen
der Unverborgenheit retten. Denn das zu Begründende, das Wesen der
Unverborgenheit selbst, ist hierbei noch gar nicht hinreichend erfragt.
Stets wird nur eine Wesensfolge des unbegriffenen Wesens der Unverborgenheit
»erklärt«.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 39-40 |
Zuvor bedarf es der Würdigung des »Positiven«
im »privativen« Wesen der alhqeia.
Zuvor ist dieses Positive als derGrundzug des Seins selbst zu erfahren.
Erst muß die Not einbrechen, in der nicht immer nur das Seiende
in seinem Sein, sondern das Sein selbst (d.h. der Unterschied) fragwürdig
wird. Weil damit diese Not bevorsteht, deshalb ruht das anfängliche
Wesen der Wahrheit noch in seinem verborgenen Anfang.
Martin
Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, Vorlesung, 1931/'32, S. 40 |
Heute war die ganze Nebelschlange über der Rütte und schlich sich
bis an die Enge -; jetzt ist es ganz zu, und durch den Nebel läuten die
Glocken der Herde. Ich bin schön in die Arbeit gekommen und lebe mit den
Wäldern und Bergen, Matten und Bächen - die mirs geben. Ganz
weg von allem Zufälligen - in einer tiefen Gleichgültigkeit gegen
das Nichtnotwendige.
Martin
Heidegger, Brief an die Ehefrau Elfride, 14. September 1932 |
Gestern fiel der erste und sogleich zusetzende Reif. In der Früh waren
Matten, Weide und Wald weiß. Die Luft ist hart, die Sonne ist da, aber
der rauchige, dünne Nebel legt sich vor ihre Strahlen. Der Geruch der Kartoffelfeuer
geht durch die Luft - es ist ernsthaft Herbst. In den Alpen muß Neuschnee
liegen. Nachts ist Sturm. Das Hüttendasein hat seine rechte Prägung
bekommen. Ich bin nach vorne umgezogen - da der »hintere Wind« die
Arbeitsstube nicht warm werden läßt. Mit dem Holz komme ich auch
vorwärts und denke dabei an den Goetheschen Vers: »Schleppt ihr Holz
herbei, so tuts mit Wonne, denn ihr tragt den Samen irdscher Sonne.«
Professoren und alles, was dazu gehört, sind mir so
ganz fern gerückt, und ich habe so gar kein Bedürfnis nach deren Sorgen
und Machenschaften. Heute traf ich auf dem Weg vom Dorf den
alten Bender beim Hüten im Hasenloch und lud ihn zu der noch restlichen
Flasche ein. der schwarze Pius geisterte mit seinen zwei Lühen ständig
um die Hütte, und schließlich hab ich ihm bei dem kalten Wind
einen Kirsch verabreicht. Er erzählte dann - offenbar im Jägerlatein
- wie viele Urhähne er früher geschossen. Bei der Unterhaltung über
das Holz fiel der Spruch: »Buchiholz ist zweimal Holz«.
Martin
Heidegger, Brief an die Ehefrau Elfride, 6. Oktober 1932 |
In den letzten Tagen war ein tolles Wetter hier oben. Gestern nachmittags
steigerte sich der Sturm von Stunde zu Stunde. Um 10 Uhr war es am tollsten
- die Hütte krachte in allen Fugen -, ich saß in der Arbeitsstube
und arbeitete - an Schlaf war nicht zu denken - schon in den voriegn Nächten
nicht. Plötzlich, ½11 Uhr war es totenstill,
und dann kam der Schnee. Es ist schön, so bei der Natur zu sein. Heute
früh war alles verschneit. Im Dorf ist er jetzt weggetaut, aber von der
Rütte aufwärts liegt er fest. .... Ich fühle mich ausgezeichnet
und abgehärtet. Das Holz ist - so weit ich es allein schaffen kann - gehackt
und auch z.T. schon oben. Mit meiner Arbeit bin ich diese
Woche unter der Begleitmusik des Sturms sehr gut vorangekommen.
Martin
Heidegger, Brief an die Ehefrau Elfride, 15. Oktober 1932 |
Daseinsmächte .... Natur, Geschichte, Sprache; Volk, Sitte, Staat;
Dichten, Denken, Glauben; Krankheit, Wahnsinn, Tod; Recht, Wirtschaft, Technik
....
Martin Heidegger,
Die Selbstbehauptung der Deutschen Universität, Rektoratsrede,
27. Mai 1933 |
Arbeitsdienst - Wehrdienst - Wissensdienst.
Martin Heidegger,
Die Selbstbehauptung der Deutschen Universität, Rektoratsrede,
27. Mai 1933 |
Die Urforderung alles Daseins, daß es (das Deutsche Volk; HB) sein eigenes Wesen behalte und rette.
Martin
Heidegger, Rede während einer Kundgebung der deutschen Wissenschaft für Adolf Hitler, Leipzig, 11. November 1933 |
Urforderung des Daseins ....
Martin
Heidegger, Rede während einer Kundgebung der deutschen Wissenschaft für Adolf Hitler, Leipzig, 11. November 1933 |
Das Selbst ist keine zureichende Bestimmung des Ich (nicht
das Selbst als das Ich, sondern das Selbst als das Wir ist fundierend; HB).
Martin Heidegger,
Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, Vorlesung, Sommersemester
1934 |
Der Einzelne steht in der Verlorenheit des Selbst, weil er das Selbst
am falschen Ort, nämlich im losgelösten Ich sucht. Zu finden ist es
nur im Wir, allerdings ist nicht jede Ansammlung von Menschen - ein Kegelklub,
eine Räuberbande - schon ein solches Wir.
Martin Heidegger,
Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, Vorlesung, Sommersemester
1934 |
Ein Volksganzes ist also ein Mensch im Großen.
Martin Heidegger,
Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, Vorlesung, Sommersemester
1934 |
Ich bin jetzt ins Schreiben gekommen und möchte dabei - ohne Rücksicht
auf Kolleg und dgl. Vorbereitungen - durchhalten, solange der Sturm weht. In
den Monaten nach dem Rektorat (das Rektorat dauerte vom
21.04.1933 bis zum 23.04.1934; HB) war ich wie ausgetrocknet und fürchtete
schon eine lange Dürre. Aber jetzt ist es wieder da und noch ganz anders,
wie ich fühle ganz frei, einfach und wesentlich, aber schwer doch festzuhalten,
weil wir eine neue, aber ungekünstelte Sprache brauchen und das Vernutzte
nichts mehr taugt und nur irreleitet. Aber es wird seine Zeit brauchen, bis
dieses einmal zu einer Wirkung kommt; ich bin froh, daß sich niemand um
mich kümmert und daß ich aus dem literarischen Geschwätz heraus
bin und dort andere die Rollen spielen. Es ist schwer, mit
Hölderlin allein zu sein - aber es ist die Schwere alles Großen.
Ob die Deutschen einmal begreifen werden, daß hier nicht ein lebensuntüchtiger
Schwächling in Verse sich rettete, sondern ein Held den kommenden Göttern
standhielt - ohne jede Gefolgschaft »taglang festgewurzelt auf den Bergen«.
Aber wie ich Dir schon sagte, dieses Mal werde ich ihm noch
nicht gewachsen sein im Denken, denn er ist auch über seine Freunde Hegel
und Schelling philosophisch weit hinaus und an einem ganz anderen Ort, der für
uns noch unausgesprochen ist und den zu sagen - nicht zu bereden - unser Auftrag
bleiben wird. .... Ich möchte bis zum 20. Oktober bleiben;
mit dem Proviant reiche ich gut ....
Martin
Heidegger, Brief an die Ehefrau Elfride, 11. Oktober 1934 |
Die Grundstimmung, und das heiß die Wahrheit des Daseins eines
Volkes, wird ursprünglich gestiftet durch den Dichter. Das so enthüllte
Seyn des Seienden aber wird als Seyn begriffen ... durch den Denker, und das
so begriffene Seyn wird ... in die bestimmte geschichtliche Wahrheit
gestellt dadurch, daß das Volk zu sich selbst als Volk gebracht wird.
Das geschieht durch die Schaffung ... des Staates durch den Staatsschöpfer
Martin Heidegger,
Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«,
Vorlesung, Wintersemester 1934/35, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 39, S. 144 |
Die Philosophie
ist wesenhaft unzeitgemäß, weil sie zu jenen wenigen Dingen
gehört, deren Schicksal es bleibt, nie einen unmittelbaren Wiederklang
in ihrem jeweiligen Heute finden zu können und auch nie finden zu
dürfen.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 10 |
Wir haben zu Beginn eine Frage genannt:
»Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«
Wir behaupten: Das Fragen dieser Frage ist das Philosophieren.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 10 |
Philosophieren ist Fragen nach dem Außer-ordentlichen.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 10 |
Im Zeitalter der ersten und maßgebenden Entfaltung der abendländischen
Philosophie bei den Griechen, durch die das Fragen nach dem Seienden als
solchem im ganzen seinen wahrhaften Anfang nahm, nannte man das Seiende
fusiV.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 10 |
In »Sein und Zeit« ist von einem »transzendentalen
Horizont« die Rede. Aber das dort genannte »Transzendentale«
ist nicht dasjenige des subjektiven Bewußtseins, sondern es bestimmt
sich aus der existezialen-ekstatischen Zeitlichkeit des Da-seins. Indessen
drängt sich die Umdeutung der Frage nach dem Sein als solchem in
die Gleichförmigkeit mit der Frage nach dem Seienden als solchem
vor allem deshalb auf, weil die Wesensherkunft der Frage nach dem Seienden
als solchem und mit ihr das Wesen der Metaphysik im Dunkeln bleiben. Dieses
zieht alles Fragen, das in irgendeiner Weise das Sein angeht, in Unbestimmte.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 14 |
»Seinsfrage« meint nach der geläufigen Deutung:
Fragen nach dem Seienden als solchem (Metaphysik). »Seinsfrage«
heißt jedoch von »Sein und Zeit« her gedacht: Fragen
nach dem Sein als solchem. .... Dieses bleibt vergessen.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 14 |
Dieses Europa Verblendung immer auf dem Sprunge, sich selbst zu
erdolchen, liegt heute in der großen Zange zwischen Rußland
auf der einen und Amerika auf der anderen Seite. Rußland und Amerika
sind beide, metaphysisch gesehen, dasselbe; dieselbe trostlose Raserei
der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen.
Wenn die hinterste Ecke des Erdballs technisch erobert und wirtschaftlich
ausbeutbar geworden ist, wenn jedes beliebige Vorkommnis an jedem , beliebigen
Ort zu jeder beliebigen Zeit beliebig schnell zugänglich geworden
ist, ...wenn Zeit nur noch Schnelligkeit, Augenblicklichkeit und Gleichzeitigkeit
ist und die Zeit als Geschichte aus allem Dasein aller Völker geschwunden
ist, wenn der Boxer als der große Mann eines Volkes gilt, wenn die
Millionenzahl von Massenversammlungen ein Triumph sind- dann, ja dann
greift immer noch wie ein Gespenst über all diesen Spuk hinweg die
Frage: wozu? -wohin? -und was dann?
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 28-29 |
Im Dichten des Dichter und im Denken des Denkers wird immer soviel Wachstum ausgespart,
daß darin ein jeglich Ding, ein Baum, ein Berg, ein Haus, ein Vogelruf
die Gleichgültigkeit und Gewöhnlichkeit ganz verliert.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 20 |
Daß die Ausbildung der abendländischen Grammatik aus
der griechischen Besinnung auf die griechische Sprache entsprang,
gibt diesem Vorgang seine ganze Bedeutung. Denn diese Sprache ist (auf
die Möglichkeit des Denkens gesehen) neben der deutschen die mächtigste
und geistigste zugleich.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 43 |
Heraklit sagt: PolemoV
pantwn men pater esti, pantwn de basileuV, kai touV men qeouV edeixe touV
de anqropouV, touV men qoulouV epoihse touV de eleuderouV.
Der hier genannte polemos ist ein vor allem
Göttlichen und Menschlichen waltender Streit, kein Krieg nach menschlicher
Weise. Der von Heraklit gedachte Kampf läßt im Gegensatz das
Wesende allererst auseinandertreten, läßt Stellung und Stand
und Rang im Anwesen erst beziehen. In solchem Auseinandertreten eröffnen
sich Klüfte, Abstände, Weiten und Fugen. In der Aus-einandersetzung
wird Welt. (Die Auseinandersetzung trennt weder, noch zerstört sie gar die Einheit. Sie bildet diese, ist Sammlung [logoV].
PolemoV und logoV
sind dasselbe.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 47 |
Der hier gemeinte Kamapf ist ursprünglicher Kampf; denn er läßt die Kämpfenden allererst
als solche entspringen; er ist nicht ein bloßes Berennen von Vorhandenem. Der Kampf entwirft und entwickelt erst das Un-erhörte
und Un-gedachte. Dieser Kampf wird dann von den Schaffenden, den Dichtern, Denkern, Staatsmännern getragen. Sie werfen dem überwältigenden
Walten den Block des Werkes entgegen und bannen in dieses die damit eröffnete
Welt.
Martin
Heidegger, Kants These über das Sein, 1961, S. 47 |
Gelegentliche Fragen, die mir zu der Vorlesung vorgelegt werden,
verraten immer wieder, daß man meist nach der verkehrten Richtung
hört und an Einzelheiten haften bleibt. Zwar kommt es auch in den
Vorlesungen der einzelnen Wissenschaften auf den Zusmmenhang an. Aber
für die Wissenschaften bestimmt sich dieser unmittelbar aus dem Gegenstand,
der für die Wissenschaften immer irgendwie vorliegt. Für die
Philosophie dagegen liegt der Gegenstand nicht nur nicht vor, sie hat
überhaupt keinen Gegenstand. Sie ist ein Geschehnis, das sich jederzeit
neu das Sein (in seiner ihm zugehörigen Offenbarkeit) erwirken muß.
Nur in diesem Geschehen eröffnet sich die philosophische Wahrheit.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 65 |
Weil Bedeutung und Begriff »Sein« die höchste
Allgemeinheit haben, kann die Meta-physik als »Physik« zu
einer näheren Bestimmung nicht mehr höher steigen. So bleibt
ihr nur der Weg: vom Allgemeinen weg zum besonderen Seienden, Dadurch
wird auch die Leere des Seinsbegriffes aufgefüllt, nämlich vom
Seienden her. Nun zeigt aber die Anweisung: weg vom Sein und hin
zum besonderen Seienden«, daß sie ihrer selbst spottet un
d nicht weiß wie. - Denn das viel berufene besondere Seiende kann
nicht als ein solches uns nur eröffnen, wenn wir und
je nach dem wir schon schon im vorhinein das Sein in seinem Wesen
verstehen. - Dieses Wesen hat sich schon gelichtet. Aber noch verbleibt
es im Fraglosen.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 65 |
Gehen wir sogleich auf das Entscheidende zu
und fragen: Was heißt logoV und legein,
wenn es nicht denken heißt? LogoV bedeutet
das Wort, die Rede und legein heißt reden.
Dia-log ist Wechselrede, Mono-log ist Einzelgespräch. Aber logoV
heißt ursprünglich nicht Rede, Sagen. Das Wort hat in dem,
was es meint, keinen unmittelbaren Bezug zur Sprache. Legw,
legein, lateinisch legere, ist dasselbe Wort wie unser »lesen«:
Ähren lesen, Holz lesen, die Weinlese, die Auslese; »ein Buch
lesen« ist nur eine Abart des »Lesens« im eigentlichen
Sinne. Dies besagt: das eine zum anderen legen, in eines zusammenbringen,
kurz: sammeln; dabie wird zugleich das eine gegen das andere abgehoben.
So gebrauchen die griechischen Mathematiker das Wort. Eine Münzsammlung
ist kein bloßes irgendwie zusammengeschobenes Gemenge. In dem Ausdruck
»Analogie« (Entsprechung) finden wir sogar beide Bedeutungen
beieinander: die ursprüngliche von »Verhältnis«,
»Beziehnung« und die von »Sprache«, »Rede«,
wobei wir im Wort »Entsprechung« kaum mehr an »Sprechen«
denken, »entsprechend« wie umgekehrt die Griechen bei logoV
noch nicht und nicht notwendig an »Rede« und »sagen«
dachten.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 95 |
Als Beispiel für die ursprüngliche
Bedeutung von legein als »sammeln«
diene eine Stelle aus Homer, Odyssee, XXIV, 106. Hier handelt es sich
um die Begegnung der erschlagenen Freier mit Agamemnon in der Unterwelt;
dieser erkennt sie und spricht sie also an: »Amphimedon, nach welcher
Fährnis seid ihr hinab getaucht in das Dunkel der Erde, alle ausgezeichnet
und gleichaltrig; und kaum anders könnte einer auf der Suche durch
eine Polis hin so edle Männer zusammenbringen (lexaito)«.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 95 |
Aristoteles sagt (in: Physik, Q,
I, 252, a 13): TaxiV de pasa logoV, jede Ordnung
aber hat den Charakter des Zusammenbringens.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 95 |
Wir erinnern hier nur daran, daß der
Name logoV auch dann noch, als er längst
Rede und Aussage bedeutete, seine ursprüngliche Bedeutung behalten
hat, indem er das »Verhältnis des einen zum anderen«
bedeutet.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 95 |
Wenn wir die Grundbedeutung von logoV,
Sammlung, sammeln bedenken, dann haben wir damit noch wenig für die
Aufhellung der Frage gewonnen: Inwiefern sind für die Griechen Sein
und Logos ursprünglich einig dasselbe, sodaß sie in der Folge
auseinander treten können und nach bestimmten Gründen dies tun
müssen?
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 95 |
Der Hinweis auf die Grundbedeutung von logoV
kann uns nur dann einen Fingerzeig geben, wenn wir schon verstehen, was
den Griechen »Sein« besagt: fusiV.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 95-96 |
Unter der Voraussetzung, daß wir uns
das Gesagte immer wieder unmittelbar im inneren Blick erhalten, sagen
wir: Sein ist als fusiV das aufgehende Walten.
In der Gegenstellung zum Werden zeigt es sich als die Ständigkeit,
die ständige Anwesenheit. Diese bekundet sich in der Gegenstellung
zum Schein als das Erscheinen, als die offenbare Anwesenheit.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 96 |
Was hat der Logos mit dem so ausgelegten Sein
zu tun? Aber zunächst bleibt zu fragen: ist überhaupt im Anfang
der griechischen Philosophie ein solcher Zusammenhang zwischen Sein und
Logos belegt? Allerdings. Wir halten uns wieder an die beiden maßgebenden
Denker Parmenides und Heraklit ....
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 96 |
LogoV ist die ständige
Sammlung, die in sich stehende Gesammeltheit des Seienden, d.h. das Sein.
Deshalb bedeutet in Frg. 1 kata ton logon dasselbe
wie kata fusin. fusiV
und logoV sind dasselbe. LogoV
kennzeichnet das Sein in einer neuen und doch alten Hinsicht: Was seiend
ist, in sich gerade und ausgeprägt steht, das ist in sich von sich
her gesammelt und hält sich so in solcher Sammlung.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 100 |
Das Sagen und Hören ist nur ein rechtes,
wenn es in sich zuvor schon auf das Sein, den Logos gerichtet ist.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 101 |
Weil das Sein als Logos ursprünglich Sammlung
ist, kein Geschiebe und Gemenge, wo jegliches gleichviel und gleichwenig
gilt, gehört zum Sein der Rang, die Herrschaft. Wenn das Sein sich
eröffnen soll, muß es selbst Rang haben und innehalten. Daß
Heraklit von den Vielen als den Hunden und Eseln spricht, kennzeichnet
diese Haltung. Sie gehört wesentlich zum griechischen Dasein. Wenn
man schon bisweilen heute allzu eifrig die Polis der Griechen bemüht,
sollte man diese Seite nicht unterschlagen, sonst wird der Begriff der
Polis leicht harmlos und sentimental. Das Rangmäßige ist das
Stärkere. Deshalb ist das Sein, der Logos, als der gesammelte Einklang,
nicht leicht und in gleicher Münze für jedermann zugänglich,
sondern entgegen jenem Einklang, der jeweils nur Ausgleich, Vernichtung
der Spannung, Einebnung ist, verborgen: armonih afanhV
fanerhV kreittwn, »der nicht (unmittelbar und ohne weiteres)
sich zeigende Einklang ist mächtiger denn der (allemal) offenkundige«
(Frg. 54).
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 101-102 |
Weil das Sein logoV, armonia,
alhqeia, fusiV, fainesqai ist, deshalb zeigt es sich gerade nicht
beliebig. Das Wahre ist nicht für jedermann, sondern nur für
die Starken.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 102 |
Der Anfang ist das
Unheimlichste und Gewaltigste. Was nachkommt, ist nicht Entwicklung, sondern
Verflachung als bloße Verbreiterung, ist Nichtinnehaltenkönnen
des Anfangs, ist Verharmlosung und Übertreibung des Anfangs zur Mißgestalt
des Großen im Sinne der rein zahlen- und mengenhaften Größe und Ausdehnung. Das Unheimliche ist, was es ist,
weil es einen solchen Anfang birgt, indem alles zumal aus einem Übermaß ind das Überwältigende, Zubewältigende
ausbricht.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 119 |
Das Menschsein bestimmt sich aus dem Bezug zum Seienden als solchem
im Ganzen. Das Menschenwesen zeigt sich hier als der Bezug, der
dem Menschen erst das Sein eröffnet. Das Menschsein ist als Not der
Vernehmung und Sammlung die Nötigung in die Freiheitder Übernahme
der tecne, des wissenden Ins-Werk-setzen des
Seins. So ist Geschichte.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 130 |
Das Menschsein ist nach seinem geschichtlichen, Geschichte eröffnenden
Wesen Logos, Sammlung und Vernehmung des Seins des Seienden: dasGeschehnis
jenes Unheimlichsten, in dem durch die Gewalt-tätigkeit das Überwältigende
zur Erscheinung kommt und zum Stand gebracht wird. .... Zugleich mit dem
Aufbruch in das Sein geschieht das Sich-finden in das Wort, die Sprache.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 131 |
Die Sprache ist als Geschehen sogleich immer auch Gerede, statt
Eröffnung des Seins dessen Verdeckung, statt Sammlung aufda Gefüge
und den Fug die Zerstreuung in den Unfug. Der Logos macht sich als Sprache
nicht von selbst.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 132 |
Logos im Sinne Heraklits als der waltende
Fug des Seienden im Ganzen. Dieses dichterische Wort spricht dem inngsten
Bezug des Daseins zum Sein und seiner Eröffnung aus, indem es die weiteste Ferne zum Sein, das Nichtdasein, nennt. Hier zeigt sich die unheimlichte Möglichkeit des Daseins: in der höchsten Gewalt-tat gegen sich selbst die Übergewalt des Seins zu brechen. Das Dasein hat diese Möglichkeit nicht als leeren Ausweg, sondern es ist diese Möglichkeit, sofern es ist; denn als Dasein muß es in aller Gewalt-tat am Sein doch
zerbrechen.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 135 |
Nicht-dasein ist der höchste Sieg über das Sein. Dasein
ist die ständige Not der Niederlage und des Wiederaufspringens der
Gewalt-tat gegen das Sein und zwar so, daß die Allgewalt des Seins das Dasein zur Stätte seines Erscheinens ver-gewaltigt (wörtlich genommen) und als dieses Stätte umwaltet und damit im Sein behält.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 136 |
Es ist notwendig, noch zu zeigen, wie es auf dem Grunde des anfänglichen
Auseinandertretens von logos und fusiV
kommt, das dann zum Ausgang für die Aufrichtung der Herrschaft der
vernunft wird.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 137 |
Diese Heraustreten des Logos und die Vor-bereitung desselben zum
Gerichtshof über das Sein gschieht noch innerhalb der griechischen
Philosophie. Esbestimmt sogar dasEnde derselben. Wir bewältigen die
griechsische Philosophie als den Anfang derabendländischen Philosophie
erst dann, wenn wir diesen Anfang zugleich in seinem anfänglichen
Ende begreifen; denn erst dieses und nur dieses wurde für die Folgezeit
zum »Anfang« und zwar derart, daß er den anfänglichen
Anfang zugleich verdeckte. Aber dieses anfängliche Ende des großen
Anfangs, die Philosophie Platons und die des Aristoteles,
bleibt groß, auch wenn wir die Größe ihrer abendländischen
Auswirkung noch ganz abrechnen.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 137 |
Dasein bringt schon die Sphäre möglicher Nachbarschaft
mit sich; es ist von Hause aus schon Nachbar zu ....
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 138 |
Die Auslegung des Seins als idea
durch Platon ist so wenig ein Abstabd und garAbfall vom Anfang,
daß sie diesen sogar entfalteter und schärfer begreift und
durch die »Ideenlehre« begründet. Platon ist die Vollendung
des Anfangs.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 139 |
In der Tat kann nicht geleugnet werden, daß sich die Auslegung
des Seins als idea
aus der Grunderfahrung des Seins als fusiV
ergibt. Sie ist, wie wir sagen, eine notwendige Folge aus dem Wesen des
Seins als des aufgehenden Scheinens. Darin liegt aber nichts von
einer Entfernung oder gar einem Abfall vom Anfang. gewiß nicht.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 139 |
Die alte Streitfrage, ob der Satz vom Widerspruch bei Aristoteles
eine »ontologische« oder eine »logische« Bedeutung
habe, ist falsch gestellt, weil es für Aristoteles weder »Ontologie«
noch »Logik« gibt. Beides entsteht erst auf dem Boden der
aristotelischen Philosophie. Der Satz vom Widerspruch hat vielmehr »ontologische«
Bedeutung, weil er ein Grundgesetz des Logos, ein »logischer«
Satz ist. Die Aufhebung des Satzes vom Widerspruch in der Dialektik Hegels
ist daher im Prinzip keine Überwindung der Herrschaft des Logos,
sondern nur die höchste Steigerung. (Daß Hegel die eigentliche
Metaphysik, d.h, »Physik« mit dem Namen »Logik«
betitelt, erinnert sowohl an den Logos im Sinne des Ortes der Kategorien,
als auch an den Logos im Sinne der anfänglichen fusiV.)
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 143 |
In der Gestalt der Aussage ist der Logos selbst zu etwas Vorfindlichem
geworden. Diese Vorhanden ist deshalb etwas Handliches, was gehandhabt
wird, um die Wahrheit als Richtigkeit zu gewinnen und sicherzustellen.
Daher leigt es nahe, diese Handhabe der Wahrheitsgewinnung als Werkzeug,
organon, zu fassen
un d das Werkzeug in der rechten Weise handlich zu machen. Das ist umso
nötiger, je entscheidender mit dem Wandel von fusiV
und eidoV und
des logoV zur
kathgoria die
ursprüngliche Eröffnung des Seins des Seienden ausgesetzt hat
und das Wahre als das Richtige auf dem Wege der Diskussion, der Lehre
und der Vorschriften nur noch verbreitet und verbreitert und so immer
ebener wird. Hierfür muß der Logos als Werkzeug zubereitet
werden. Die Geburtsstunde der Logik ist gekommen.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 143 |
Nicht zu Unrecht hat daher die antike Schulphilosophie die Abhandlungen
des Aristoteles, die sich auf den Logos beziehen, unter dem Titel
»Organon« zusammengefaßt. Die Logik ist damit in den
Grundzügen auch schon abgeschlossen. So darf Kant zwei Jahrtausende
später in der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft
sagen, daß die Logik »seit dem Aristoteles keinen Schritt
vorwärts hat tun können und also allem Ansehen nach geschlossen
und vollendet zu sein scheint«. Es scheint nicht nur so. Es ist
so. Denn die Logik hat trotz Kant und Hegel im Wesentlichen
und Anfänglichen keinen Schritt mehr getan. Der einzig mögliche
Schritt ist nur noch der, sie (nämlich als die maßgebliche
Blickbahn der Auslegung des Seins) von ihrem Grund her aus den
Angeln zu heben.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 143-144 |
Sehen wir jetzt das über fusiV
und logoV Gesagte
zusammen: die fusiV wird zur idea
(paradeigma),
Wahrheit und Richtigkeit. Der Logos wird zur Aussage, zum Ort der Wahrheit
als Richtigkeit, zum Ursprung der Kategorien, zum Grundsatz über
die Möglichkeiten des Seins. »Idee« und »Kategorie«
sind künftig die beiden Titel, unter denen das abendländische
Denken und Tun und Schätzen, das ganze Dasein steht. Die Wandlung
von fusiV und logoV
und damit die Wandlung ihres Bezugs zueinander ist ein Abfall vom anfänglichen
Anfang. Die Philosophie der Griechen gelangt zur abendländischen
Herrschaft nicht aus ihrem ursprünglichen Anfang, sondern aus dem
anfänglichen Ende, das in Hegel groß und endgültig
zur Vollendung gestaltet wird. Die Geschichte geht, wo sie echt ist, nicht
zugrunde, indem sie nur aufhört und ver-endet wie das Tier, Geschichte
geht nur geschichtlich zugrunde.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 144 |
Das Christentum deutet das Sein des Seienden zum Geschaffensein
um. Denken und Wissen gelangen in die Unterscheidung zum Glauben (fides).
Das Heraufkommen des Rationalismus und Irrationalismus wird dadurch nicht
gehemmt, sondern erst vorbereitet und verstärkt.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 147 |
Weil das sein ein von Gott Geschaffenes, d.h. rational Vorgedachtes
ist, muß, sobald der Bezug des Geschaffenen sich löst und andererseits
in eins damit die Vernunft des Menschen sich in die Vorherrschaft bringt,
sich sogar als abolut setzt, das Sein des Seienden im reinen Denken der
Mathematik denkbar werden. Das so berechenbare und in die Rechnung gestellte
Sein macht dasSeiende zum Beherrschbaren in der modernen mathematisch
gefügten Technik, die etwas wesentlich anderes ist als jeder
bisher bekannte Werkzeuggebrauch.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 147-148 |
Wie das Sein im Denken gegründet ist, so wird es durch das
Sollen überhöht. Das will sagen: Das Sein ist nicht mehr das
Maßgebende. Aber es ist doch Idee, Vorbild? Allein, die Ideen sind
gerade wegen ihres Vorbildcharakters nicht mehr das Maßgebende.
Denn als das, was Aussehen gibt und so selber in gewisser Weise seiend
(on ist, verlangt die Idee als solches Seiendes
ihrerseits die Bestimmung ihres Seins, d.h. wiederum ein
Aussehen. die Ideeder Ideen, die höchste Idee ist nach Platon die
idea tou agaqou, die Idee des Guten.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 150 |
Sein ist das Grundgeschehnis, auf dessen Grunde überhaupt
erst geschichtliches Dasein inmitten des eröffnenden Seienden im
Ganzen gewährt ist.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 153-154 |
Was heute vollends als Philosophie des Nationalsozialismus herumgeboten wird, aber mit der inneren Wahrheit und Größe dieser
Bewegung (nämlich mit der Bewegung der planetarisch bestimmten Technik und
des neuzetlichen Menschen [später von Heidegger eingeschobene
Anmerkung; HB]) nicht das Geringste zu tun hat, das macht seine Fischzüge
in diesen trüben Gewässern der »Werte« und der »Ganzheiten«.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 152 |
Weil ... die Aussage, der logoV
als kathgoria,
der Gerichtshof über das Sein geworden ist, deshalb bestimmt sie
aus dem ihr zugehörigen »ist« das Sein.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 154 |
In der Frage nach dem Sein ausdrücklich bis an die
Grenze des Nichts gehen und dieses in die Seinsfrage einbeziehen, ist
... der erste u nd einzig fruchtende Schritt zur wahrhaften Überwindung
des Nihilismus.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 155 |
Die ursprüngliche Scheidung, deren Innigkeit und ursprüngliches
Auseinandertreten die Geschichte trägt, ist die Unterscheidung von
sein und Seiendem.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 156 |
»Sein und Zeit« meint ... das Aufgegebene. Das eigentlich
Aufgegebene ist Jenes, was wir nicht wissen und das wir, sofern wir es
echt wissen, nämlich als Aufgegebenes, immer nur fragend
wissen.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 157 |
Fragen können heißt: warten können, sogar ein
Leben lang. Ein Zeitlater jedoch, in dem nur das wirklich ist, was schnell
geht und sich mit beiden Händen greifen läßt, hält
das Fragen für »wirklichkeitsfremd«, für solches,
was sich nicht bezahlt macht. Aber nicht die Zahl ist das Wsentliche,
sondern die rechte Zeit, d.h. derrechte Augenblick und das rechte Ausdauern.
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung, 1935, S. 157 |
»Denn es hasset /// Der sinnende Gott // Unzeiges Wachstum.«
- Hölderlin, Aus dem Motivkreis der »Titanen« (IV, 218).
Martin
Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Vorlesung,
1935, S. 157 |
Der Feinste ist Heisenberg - er hätte eigentlich auf die Hütte gehört:
er kommt aus der Jugendbewegung; kalr, einfach, bescheiden und zurückhaltend,
aber doch offen und freundlich. Heisenberg blieb von sich aus noch länger
als die Anderen, und ich habe mit ihm noch einige schöne Stunden gehabt.
Wenn ich von solchen Leuten und ihrem Arbeitskreis höre, dann kommt mir
erst die ganze Trostlosigkeit in Freiburg zum Bewußtsein. ....
Heisenberg ... wird in nächster Zeit nach Berlin oder München berufen
und von Leipzig weggehen. Aber vielleicht werden die Zusammenkünfte,
die wir fortsetzen und ausbauen, doch ein gewissere Ersatz. Im Grunde ist jeder
doch allein, wenn er etwas Wirkliches will. .... Das Wetter ist ja schlimm,
und ich will Euch nicht zumuten, Samstag/Sonntag heraufzukommen, wenn es so
weitergeht.
Martin
Heidegger, Brief an die Ehefrau Elfride, 3. Oktober 1935 |
Der Tempel gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst.
Martin
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Vortag vom 13. November 1935/36, in: Ders., Holzwege, S. 29 |
Das Tempelwerk fügt
erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um
sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren
und Verfall - dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschicks gewinnen.
Martin
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Vortag vom 13. November 1935/36, in: Ders., Holzwege, S. 27-28 |
Die Erde läßt so jedes Eindringen in sie an
ihr selbst zerschellen. Sie läßt jede nur rechnerische Zudringlichkeit
in eine Zerstörung umschlagen. Mag diese den Schein einer Herrschaft und des Fortschritts vor sich her tragen
in der Gestalt der technisch-wissenschaftlichen vergegenständlichung der
Natur, diese Herrschaft bleibt doch eine Ohnmacht des Wollens. Offen gelichtet
als sie selbst erscheint dei Erde nur, wo sie als die wesenhaft Unerschließbare
gewahrt und bewahrt wird, die vor jeder Erschließung zurückweicht
und d.h. ständig sich verschlossen hält.
Martin
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Vortag vom 13. November 1935/36, in: Ders., Holzwege, S. 33 |
Die Erde ist das wesenhaft Sich-verschließende.
Martin
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Vortag vom 13. November 1935/36, in: Ders., Holzwege, S. 33 |
Eine wesentliche Weise, wie die Wahrheit sich in dem durch sie selbst sich eröffneten
Seienden einrichtet, ist das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit. Eine andere Weise, wie die Wahrheit west, ist die staatsgründende Tat.
Martin
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Vortag vom 13. November 1935/36, in: Ders., Holzwege, S. 49 |
Die Einrichtung der Wahrheit
ins Werk ist das Hervorbringen eines solchen Seienden, das vordem noch
nicht war und nachmals nie mehr wird.
Martin
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Vortag vom 13. November 1935/36, in: Ders., Holzwege, S. 50 |
Wahrheit als die Lichtung und Verbergung des Seienden
geschieht, indem sie gedichtet wird. Alle Kunst ist als Geschehenlassen
der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung. Das Wesen der Kunst,
worin das Kunstwerk und der Künatler zumal beruhen, ist das Sich-ins-Werk-setzen
der Wahrheit. Aus dem dichtenden Wesen geschieht es, daß sie inmitten
des Seienden eine offene Stelle aufschlägt, in deren Offenheit alles
anders ist als sonst.
Martin
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Vortag vom 13. November 1935/36, in: Ders., Holzwege, S. 59 |
Das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit stoßt
das Un-geheure auf und stößt zuglezch das Geheure und das,
was man dafür hält, um. Die im Werk sich eröffnende Wahrheit
ist aus dem Bisherigen nie zu belegen und abzuleiten. Das Bisherige wird
in seiner ausschließlichen Wirklichkeit durch das Werk widerlegt.
Martin
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Vortag vom 13. November 1935/36, in: Ders., Holzwege, S. 63 |
In der umfassendsten, weil aus der Metaphysik
gedachten Besinnung auf das Wesen der Kunst, die das Abendland besitzt,
in Hegels »Vorlesungen über die Ästhetik« stehen
die Sätze: »Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste
Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft.« (WW, X,
1, S. 134). »Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr
steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das
höchste Bedürfnis des Geistes zu sein.« (Ebd, S. 135).
« (Ebd, S. 16). In all diesen Beziehungen ist und bleibt die
Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes.
Martin
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Vortag vom 13. November 1935/36, in: Ders., Holzwege, S. 68 |
Und bald sollte die tiefe Unwahrheit jenes Wortes an den Tag kommen,
das Napoleon in Erfurt zu Goethe gesprochen: Die Politik ist das Schicksal.
Nein, der Geist ist das Schicksal, und Schicksal ist Geist. Das Wesen des Geistes
aber ist die Freiheit.
Martin Heidegger,
Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), 1936, in: Ders.,
Gesamtausgabe, Band 42, S. 3 |
Vom Ereignis. - Der Anklang. Das Zuspiel.
Der Sprung. Die Gründung. Die Zukünftigen. Der letzte Gott.
Der Anklang des Seyns als der Verweigerung.
Das Zuspiel des Fragens nach dem Seyn. Das Zuspiel ist zuerst Zuspiel
des ersten Anfangs, damit dieser den anderen Anfang ins Spiel bringe und aus
diesem Wechselspiel die Vorbereitung des Sprunges erwachse.
Der Sprung in das Seyn. Der Sprung erspringt den Abgrund der Zerklüftung
und so erst die Notwendigkeit der Gründung des aus dem Seyn zugewiesenen
Da-seins.
Die Gründung der Wahrheit als der Wahrheit des Seyns (das Da-sein).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 9 |
Wird nach dem Seienden als Seiendem gefragt (on
h on) und in dieser Ansetzung und Richtung somit nach dem Sein
des Seienden (und nicht nach dem Sein als solchem, nach
dem Seyn; HB), dann steht der Fragende im Bereich der Frage,
von der der Anfang der abendländischen Philosophie und deren Geschichte
bis zum Ende in Nietzsche geleitet war. Wir nennen deshalb diese Frage
nach dem Sein (des Seienden) die Leitfrage (Hervorhebung
von mir; HB). Ihre allgemeinste Form hat
bei Aristoteles die Prägung erhalten ti to on;
was ist das Seiende?, d.h. für ihn, was ist ousia
als die Seiendheit der Seienden? Sein meint hier Seiendheit. Darin drückt
sich zugleich aus, daß trotz Ablehnung des Gattungscharakters das Sein
(als Seiendheit) immer und nur als das koinon, das
Gemeinsame und so Gemeine für jegliches Seiende, gemeint ist. - Wird dagegen
nach dem Seyn gefragt, so geht hier der Ansatz nicht aus vom Seienden, d.h.
je diesem und jenem, auch nicht vom Seienden als solchen im Ganzen, sondern
es vollzieht sich der Einsprung in die Wahrheit (Lichtung und Verbergung)
des Seyns selbst. Hier ist zugleich erfahren und erfragt dieses (auch in der
Leitfrage versteckt liegende) Voraus-wesende, die Offenheit für Wesung
als solche, d.h. die Wahrheit. Hier ist mitgefragt die Vor-frage nach
der Wahrheit. Und sofern das Seyn erfahren wird als der Grund des Seienden,
ist die so gestellte Frage nach der Wesung des Seyns die Grundfrage.
Von der Leitfrage zur Grundfrage gibt es nie einen unmittelbaren, gleichsinnigen,
die Leitfrage noch einmal (auf das Seyn) anwendenden Fortgang, sondern nur einen
Sprung (siehe: Der Sprung, S. 225-289; HB),
d.h. die Notwendigkeit eines anderen Anfangs. Wohl dagegen kann und muß
durch die entfaltende Überwindung der Leitfragenstellung und ihrer Antworten
als solcher ein Übergang geschaffen werden, der den anderen Anfang
vorbereitet und überhaupt sichtbar und ahnbar macht. Dieser Übergangsbereitung
dient »Sein und Zeit«, d.h. es steht eigentlich schon in der Grundfrage,
ohne diese rein aus sich anfänglich zu entfalten.
Für die Leitfrage ist das Sein des Seienden, die Bestimmungder
Seiendheit (d.h. die Angabe der »Kategorien« für die ousia)
die Antwort. Die verschiedenen Bereiche des Seienden werden in der späteren
nachgriechischen Geschichte verschiedenartig wichtig,Zahl und Art der Kategorien
und ihres »Systems« wechseln, aber es bleibt im wesentlichen in
diesem Ansatz,mag er unmittelbar im logoV als Ausage
Fuß fassen oder zufolge bestimmter Umwandlungen im Bewußtsein und
im absoluten Geist. Die Leitfrage bestimmt von den Griechen bis zu Nietzschs
dieselbe Weise der Frage nach dem »Sein«. Das deutlichste und größte
Beispiel für diese Einheitlichkeit der Überlieferung ist Hegel »Logik«.
Für die Grundfrage dagegen ist das Sein nicht Antwort und Antwortbereich,
sondern das Frag-würdigste. Ihm gilt die vorspringende und einzige Würdigung,
d.h. es selbst wird als Herrschaft eröffnet und so als das nicht
und nie zu Bewältigende ins Offene gehoben. Das Seyn als der Grund, in
dem alles Seiende erst als solches zu seiner Wahrheit (Bergung und Einrichtung
und Gegenständlichkeit) kommt; der Grund, in dem das Seiende versinkt (Abgrund),
der Grund, in dem es auch seine Gleichgültikeit und Selbstverständlichkeit
anmaßt (Ungrund). Daß das Seyn in seiner Wesung in dieser Weise
grundig west, zeigt seine Einzigkeit und Herrschaft an. Und diese wieder ist
nur der Wink in das Ereignis, worin wir die Wesung des Seins in seiner höchsten
Verborgenheit zu suchen haben. Das Seyn als das Frag-würdigste kennt selbst
in sich keine Frage.
Die Leitfrage, entfaltet in ihrem Gefüge, läßt jeweils eine
Grundstellung zum Seienden als solchen erkennen, d.h. eine Stellung des
fragenden (Menschen) auf einem Grunde, der nicht als solcher aus der Leitfrage
er-gründbar und überhaupt nicht wißbar ist. der aber durch die
Grundfrage ins Offene gebracht wird.
Wenngleich nie ein Fortgang von der Leitfrage zur Grundfrage möglich
ist, so gibt doch umgekehrt die Entfaltung der Grundfrage zugleich den Grund,
das Ganze der Leitfragengeschichte in einen ursprünglicheren Besitz zurückzunehmen
und nicht etwa als ein Vergangenes nur abzustoßen (vgl. Das Zuspiel, 92,
Die Auseinandersetzung des ersten und anderen Anfangs).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 75-77 |
Die »Entscheidungen« ob der Mensch
»Subjekt« bleiben will, oder ob er er das Da-sein gründet
ob mit dem Subjekt das »animal« als die »Substanz«
und das »rationale« als »Kultur« dauerfähig bleiben
soll, oder ob die Wahrheit des Seyns im Da-sein eine werdende Stätte
findet ob das Seiende das Sein als sein »Generellstes«
nimmt und damit der »Ontologie« ausliefert und verschüttet,
oder ob das Seyn in seiner Einzigkeit zum Wort kommt und das Seiende
als Einmaliges durchstimmt ob die Wahrheit als Richtigkeit
in die Gewißheit des Vorstellens und Sicherheit des Rechnens und Erlebens
entartet, oder ob das anfänglich ungegründete Wesen der alhqeia
als die Lichtung des Sichverbergens auf einen Grund kommt
ob das Seiende als das Selbstverständlichste alles Mittlere und Kleine
und Durchschnittliche zum Vernünftigen verfestigt, oder ob das Fragwürdigste
die Gediegenheit des Seyns ausmacht ob die Kunst eine Erlebnisveranstaltung
oder das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit ist ob die Geschichte
zur Rüstkammer der Bestätigungen und Vorläuferschaften herabgesetzt
wird oder als der Gebirgszug der befremdlichen unbesteigbaren Berge aufsteigt
ob die Natur zum Ausbeutungsgebiet des Rechnens und Einrichtens
und zur Gelegenheit des »Erlebens« erniedrigt wird, oder
ob sie als die sich verschließende Erde das Offene der bildlosen Welt
trägt ob die Entgötterung des Seienden in der Verchristlichung
der Kultur ihre Triumphe feiert, oder ob die Not der Unentschiedenheit
über die Nähe und Ferne der Götter einen Entscheidungsraum vorbereitet
ob der Mensch das Seyn wagt und damit den Untergang, oder
ob er sich mit dem Seienden begnügt ob der Mensch überhaupt
noch die Entscheidung wagt, oder ob er sich der Entscheidungslosigkeit
überläßt, die das Zeitalter als den Zustand »höchster«
»Aktivität« nahelegt. Alle diese Entscheidungen,
die dem Schein nach viele sind und verschiedene, ziehen sich auf die eine und
einzige zusammen: ob das Seyn sich endgültig entzieht, oder ob dieser
Entzug als die Verweigerung zur ersten Wahrheit und zum anderen Anfang der Geschichte
wird. Das Schwerste und Herrlichste für das Seyn
verschließt sich darin, daß sie unsichtbar bleibt und, falls sie
sich äußert, unweigerlich mißdeutet und so vor allem pöbelhaften
Betasten wohl geschützt wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 90-92 |
Die »Erkenntnistheorie« ... ist nur die Form der Ratlosigkeit
der neuzeitlichen Metaphysik sich selbst gegenüber. Die Entwicklung kommt
auf den Höhepunkt, wenn nun diese »Erkenntnistheorie« sich
noch einmal als »Metaphysik der Erkenntnis« ausgibt; das Rechnen
auf dem Rechenschieber der »Aporetik« und »aporetischen«
Erörterung »an sich« vorhandener »Richtungen« und
»Problemfronten« wird, und zwar mit vollem Recht, zu der
Methode der neuzeitlichen Philosophiegelehrsamkeit. Das sind nur letzte Ausläufer
des Vorgangs, durch den die Philosophie ihres Wesens verlustig geht und in die
gröbste Zweideutigkeit ausartet, weil, was Philosophie zu sein scheint,
endgültig für den Wissenden eine solche nicht mehr sein kann.
Und deshalb müssen auch alle Versuche, zu sagen, was die Wahrheit des Seyns
nicht ist, damit sich abgefunden haben, daß sie höchstens
dem unwissentlichen Eigensinn der weiteren Mißdeutung neue Nahrung zuführen,
falls solche Verdeutlichungen des Glaubens sind, die Unphilosophie können
durch Belehrung zur Philosophie umgewandelt werden. Wohl aber ist die
Besinnung darauf, was die Wahrheit des Senys nicht ist, wesentlich als
eine geschichtliche, sofern sie helfen kann, die Grundbewegungen in den
metaphysischen Grundstellungen des abendländischen Denkens durchsichtiger
und die Verborgenheit der Seinsgeschichte eindringlicher zu machen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 94 |
Die Wahrheit des Seyns ist das Seyn der Wahrheit.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 95 |
Die schon längst im Verborgenen und Verstellten angebrochene Entscheidung
ist die zur Geschichte oder zum Geschichtsverlust. Geschichte aber begriffen
als die Bestreitung des Streites von Erde und Welt, übernommen und vollzogen
aus der Zugehörigkeit zum Zuruf des Ereignisses als der Wesung der Wahrheit
des Seyns in der Gestalt des letzten Gottes.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 96 |
Wer um diese Not nicht weiß, ahnt nicht einen Schatten von den
bevorstehenden Entscheidungen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 97 |
Nur Da-sein, nie »Lehre« kann die Wandlung des Seienden
von Grund aus bringen. Solches Da-sein als Grund eines Volkes bedarf der längsten
Vorbereitung aus dem anfänglichen Denken; aber dieses bleibt je
nur ein Weg der gleichzeitig auf vielen Bahnen anhebenden Anerkenntnis
der Not.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 98 |
Erhaltung des Volkes ist nie ein mögliches Ziel, sondern nur Bedingung
einer Zielsetzung.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 99 |
Die Entscheidung (Vorgriff) Worüber?
Über Geschichte oder Geschichstverlust, d.h. über Zugehörigkeit
zum Seyn oder Verlassenheit im Unseienden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 100 |
Die Entscheidung fällt im Stillen, nicht als Beschluß, sondern
als Entschlossenheit, die schon die Wahrheit gründet und d.h. das
Seiende umschafft und so schaffende Entscheidung ist bzw. Betäubung.
Warum aber und wie Vorbereitung dieser Entscheidung? Der
Kampf gegen die Zerstörung und Entwurzelung ist nur der erste Schritt in
der Vorbereitung, der Schritt in die Nähe des eigentlichen Entscheidungsraumes.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 101 |
Weil das Seyn nichthaft, braucht es zum Beständnis seiner Wahrheit
das Bestehen des Nicht und damit zugleich das Gegen alles Nichtige,
das Unseiende. Aus der wesenhaften Nichtigkeit des Seins
(Kehre) ergibt sich, daß es jenes verlangt und braucht, was vom Da-sein
her als Entweder-Oder sich zeigt, das Eine oder das Andere, und nur sie.
Die wesentliche Wesung der Entscheidung ist Zusprung zur Entscheidung oder die
Gleichgültigkeit; also nicht der Entzug und nicht die Zerstörung.
Die Gleichgültigkeit als das Nichtentscheiden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 101-102 |
Das Zeit-raum-hafte der Entscheidung als aufbrechende Klüftung
des Seyns selbst, seinsgeschichtlich zu fassen, nicht moralisch-anthropologisch.
Verbleibende Einräumung, dann eben auch nicht nachträgliche Refelxion,
sondern umgekehrt. Überhaupt: das ganze Menschenwesen,
sobald es ins Da-sein gegründet wird, seinsgeschichtlich (aber nicht »ontologisch«)
umdenken.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 103 |
Die höschte Not: die Not der Notlosigkeit.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 107 |
Die Zeit als entrückende-eröffnende ist in sich ... zugleich
einräumend, sie schafft »Raum«. Dieser ist nicht gleichen Wesenes
mit ihr, aber ihr zugehörig, wie sie ihm. - Raum muß ... ursprünglich
als Räumung begriffen sein (wie sich diese in der Räumlichkeit des
Da-Seins anzeigen, aber nicht vollursprünglich begreifen läßt).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 192 |
Was Nietzsche erstmals und zwar in der Ausrichtung auf Platonismus als
Nihilismus erkennt, ist in Wahrheit von der ihm fremden Grudnfrage (vgl.
S. 76; HB) aus gesehen nur der Vordergrund des eit tieferen Geschehens
der Seinsvergessenheit, die gerade im Verfolg der Antwortfindung für die
Leitfrage (vgl. S. 75; HB) mehr und mehr heraufkommt.
Aber selbst die Seinsvergessenheit (je nach der Bestimmung) ist nicht das ursprüngliche
Geschick des ersten Anfangs, sondern die Seinsverlassenheit, die vielleicht
am meisten verhüllt und verneint wurde durch das Christentum und seine
weltlichen Nachfahren.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 115 |
Was ist wovon verlassen? Das Seiende von dem und nur ihm zugehörigen
Seyn. Das Seiende erscheint dann so, es erscheint sich als Gegenstand
und Vor-handenes, als ob Seyn nicht weste. Das Seiende ist das Gleichgültige
und AUfdringliche zugleich, in der gleichen Unentschiedenheit und Beliebigkeit.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 115 |
Seynsverlassenheit ist im Grunde eine Ver-wesung des Seyns.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 115 |
Das Zeitalter der völligen Fraglosigkeit und Verzauberung.
Man pflegt das Zeitalter der »Zivilisation« dasjenige
der Ent-zauberung zu nennen, und diese scheint eher, ja allein mit der
völligen Fraglosigkeit zusammen zu gehen. Gleichwohl ist es umgekehrt.
Nur muß gewußt werden, woher die Bezauberung kommt. Antwort: aus
der schrankenlosen Herrschaft der Machenschaft. Wenn diese in die Endherrschaft
kommt, wenn sie alles durchsetzt, dann sind keine Bedingungen mehr, um die Verzauberung
noch eigens zu spüren und gegen sie sich zu sperren. Die Behexung durch
die Technik und ihre sich ständig überholenden Fortschritte ist nur
ein Zeichen dieser Verzauberung, der zufolge alles auf Berechnung, Nutzung,
Züchtung, Handlichkeit und regelung drängt. Sogar der »Geschmack«
wird jetzt Sache dieser Regelung, und Alles kommt auf ein »gutes Niveau«.
Der Durchschnitt wird immer besser, und kraft dieseer Besserung sichert er immer
unwiderstehlicher und unauffälliger seine Herrschaft.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 124 |
Die Not-losigkeit wird am höchsten,wo die Selbstgewißheit
unübertreffbar geworden ist, wo alles für errechenbar gehalten wird
und wo vor allem entschieden ist, ohne vorherige Frage, wer wir sind und was
wir sollen; wo das Wissen verloren gegangen und nie eigentlich begründet
wurde, daß das eigentliche Selbst-sein geschieht im Über-sich-hinaus-gründen,
was verlangt: die Gründung des Gründungsraumes und seiner Zeit, was
fordert: das Wissen vom Wesen der Wahrheit als des unumgänglich zu Wissenden.
- Wo aber »Wahrheit« längst keine Frage mehr ist und schon
der Versuch zu einer solchen Frage abgewiesen wird als Störung und abseitiges
Grübeln, da hat die Not der Seinsverlassenheit gar keinen Zeit-Raum. -
Wo der Besitz des Wahren als des Richtigen außer Frage steht und alles
Tun und Lassen lenkt, was soll da noch die Frage nach dem Wesen der Wahrheit?
- Aus der Verschüttung des Wesens der Wahrheit als des grundes des
Da-seins und der Geschichtsgründung kommt die Notlosigkeit.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 125 |
In der Zeit des ersten Anfangs, da es zur Entmachtung der fusin
kommt, tritt noch nicht die Machenschaft in ihrem vollen Wesen an den
Tag. Sie bleibt verhüllt in der beständigen Anwesenheit, deren Bestimmung
in der enteleceia die höchste Zuspitzung erreicht
innerhalb des anfänglichen griechischen Denkens. Der mittelalterliche actus-Begriff
verdeckt bereits das anfänglich griechische Wesen der Auslegung der Seiendheit.
Damit hängt es zusammen, daß nun das Machenschaftliche sich deutlicher
vordrängt und durch das Hereinspielen des biblischen Schöpfungsgedankens
und dere ntsprechenden Gottesvorstellung das ens zum ens creatum wird. Auch
wenn man ein grobes Ausdeuten der Schöpfungsidee sich versagt, so bleibt
doch wesentlich das Verursachtsein des Seienden. der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang
wird zum Allbeherrschenden (Gott als causa sui). das ist eine wesentliche Entfernung
von der fusin und zugleich der Übergang zum
Hervorkommen der Machenschaft als Wesen der Seiendheit im neuzeitlichen
Denken. Die mechanistische und die biologistische Denkweise sind immer
nur Folgen der verborgenen machenschaftlichen Auslegung des Seienden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 126-127 |
Es scheint ein Gesetz der Machenschaft zu sein, dessen grund noch nicht
ergründet ist, daß sie, je maßgebender sie sich entfaltet -
so im Mittelalter und in der Neuzeit -, um so hartnäckiger und machenschaftlicher
sich als solche verbirgt, im Mittelalter hinter dem ordo und der analogia
entis (diese Seinsanalogie, zutreffender Seinverhältnismäßigkeit
zu nennen, 1215 auf dem 4. Laterankonzil formuliert mit dem Ergebnis, weil nur
ein vom weltlichen Sein auf Gott als seine Ursache zu schließender Gottesbeweis
anerkannt wird, das Sein Gottes ewig und das Sein der Schöpfung
vergänglich ist: daß Gott über der Schöpfung
stehe, ja Ursache des weltlichen Seins sei; HB), in der Neuzeit
hinter der Gegenständlichkeit und Objektivität als den Grundformen
der Wirklichkeit und damit der Seiendheit. - Und in dieses erste Gesetz der
Machenschaft ist ein zweites geknüpft: je entschiedener dergestalt die
Machenschaft sich verbrigt, um so mehr drängt sie auf die Vorherrschaft
dessen, was ihrem Wesen ganz entgegen zu sein scheint und doch oihres Wesens
ist, auf das Erlebnis (vgl. in: »Der Anklang« alles zum Erlebnis).
- So fügt sich ein drittes Gesetz ein: Je unbedingter das Erleben als Maßstab
der Richtigkeit und Wahrheit (und damit »Wirklichkeit« und Beständigkeit),
um so ausichtsloser wird es, daß von hier aus eine Erkenntnis der Machenschaft
sich vollzieht. - Je aussichtsloser diese Entschleierung, um so fragloser das
Seiende, um so entschiedener der Widerwille gegen jede Fragwürdigkeit des
Seyns. - Die Machenschaft selbst und, da sie die Wesung des Seyns ist, das Seyn
selbst entzieht sich. - Wie aber, wenn aus all diesem scheinbar nur Abträglichen
und Versagenden ein ganz anderer Einblick in das Wesen des Seyns entspränge
und das Seyn selbst sich als die Verweigerung enthüllte oder doch in den
Anklang brächte?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 127-128 |
Wenn Machenschaft und Erlebnis zusammengenannt werden, deutet dies auf
eine wesentliche Zugehörigkeit beider zueinander, verhüllt aber zugleich
eine gleichwesentliche Ungleichzeitigkeit innerhalb der »Zeit«
der Geschichte des Seyns. Die Machenschaft ist das frühe, aber noch langehin
verborgene Unwesen der Seiendheit de Seienden. Aber auch dann, wenn sie in bestimmten
Gestalten, wie in der Neuzeit, herauskommt in die Öffentlichkeit der Auslegung
des Seienden, wird sie nicht als solche erkannt oder gar begriffen. Im Gegenteil,
die Ausbreitung und Verfestigung ihres Unwesens vollzieht sich darin, daß
sie sich eigens zurückzieht hinter jenes, was ihr äußerstes
Gegenstück zu sein scheint und doch ganz und nur ihr Gemächte bleibt.
Und dies ist das Erlebnis. - Die Zusammengehörigkeit beider wird nur begriffen
aus dem Rückgang in ihre weiteste Ungleichzeitigkeit und aus der Auflösung
des Scheins ihrer äußersten Gegensätzlichkeit. Wenn die denkerische
Besinnung (als Fragen nach derWahrheit des Seyns und nur als dieses) zum Wissen
von dieser Zusammengehörigkeit gelangt, dann ist zugleich der Grundzug
der Geschichte des ersten Anfangs (die Geschichte der Abendländischen Metaphysik)
bereits aus dem Wissen des anderen Anfangs her begriffen.Machenschaft und Erlebnis
ist formelhaft die ursprünglichere Fassung der Formel für die Leitfrage
(vgl. S. 76) des abendländischen Denkens:
Seiendheit (Sein) und Denken (als vor-stellendes Be-greifen).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 128 |
Machenschaft und Erlebnis. Im Wesen beider
liegt es, keine Grenzen zu kennen und vor allem keine Verlegenheit und keine
Scheu. Am fernsten ist ihnen die Kraft der Verwahrung.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 131
|
Können die Nichtigkeit des Seienden und die Seinsverlassenheit
besser und größer verwahrt werden in der Maske der »wahren
Wirklichkeit« als durch die Machenschaft und das Erlebnis?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 131 |
Da, in dieser lärmenden »Erlebnis«-Trunkenboldigkeit,
ist der größte Nihilismus, das organisierte Augenschließen
vor der Ziel-losigkeit des Menschen, das »einatzbereite« Ausweichen
vor jeder zielsetzenden Entscheidung, die Angst vor jedem Entscheidungsbereich
und seiner Eröffnung. Die Angst vor dem Seyn war noch nie so große
wie heute. Beweis: die riesenhafte Veranstaltung zur Überschreitung dieser
Angst. Nicht das ist das wesentliche Kennzeichen des »Nihilismus«,
ob Kirchen und Klöster zerstört und Mneschen hingemordet werden, oder
ob dieses unterbleibt und das »Christentum« seine Wege gehen kann,
sondern dieses ist entscheidend: ob man weiß und wissen will, daß
gerade diese Duldung des Christentums und dieses selbst, daß das allgemeine
Reden von der »Vorsehung« und dem »Heregott«, so ehrlich
es dem Einzelnen damit sein mag, nur Auswege und Verlegenheiten in dem
Bereich sind, den man als den Entscheidungsbereich über Seyn oder
Nichtseyn nicht anerkennen und zur Geltung kommen lassen will. Der verhängnisvollste
Nihilismus besteht darin, daß man sich als Beschützer des Christentums
ausgibt und sogar auf Grund der sozialen Leistungen für sich die allerchristlichste
Christlichkeit in Anspruch nimmt. Dieser Nihilismus hat seine Gefährlichkeit
darin, daß er sich versteckt und gegen das, was man den groben Nihilismus
nennen könnte (z.B. den Bolschewismus) scharf und mit Recht absetzt. Allein,
das Wesen des Nihilismus ist eben so abgründig (weil er in die Wahrhetit
des Seyns und die Entscheidung darüber hinabreicht), daß gerade diese
gegensätzlichsten Formen zu ihm gehören können und müssen.
Und deshalb will es auch scheinen, als sei der Nihilismus ins Ganze und Gründliche
gerechnet unüberwindbar. Wenn die zwei äußersten Gegenformen
des Nihilismus sich und zwar notwendig am schärfsten bekämpfen, dann
führt dieser Kampf so oder so zum Sieg des Nihilismus, d.h. zu siner
erneuten Verfestigung und vermutlich in der Gestalt, daß man sich
selbst verbietet, je noch zu meinen, der Nihilismus sei noch am Werk. - Das
Seyn hat so gründlich das Seiende verlassen und dieses der Machenschaft
und dem »Erleben« anheimgestellt, daß notwendigerweise jene
scheinbaren Rettungsversuche der abendländischen Kultur, daß alle
»Kulturpolitik« zur verfänglichsten und damit zur Höchstgestalt
des Nihilismus werden müssen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 139-140 |
Wahrheitslosigkeit aller Wissenschaft.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 143 |
»Die Wissenschaft« selbst kein Wissen im Sinne der Gründung
und Bewahrung einer wesentlichen Wahrheit. Die Wissenschaft ist eine abgeleitete
Einrichtung eines Wissens, d.h. die machenschaftliche Aufmachung eines
Umkreises von Richtigkeiten innerhalb eines sonst verborgenen und für die
Wissenschaft gar nicht fragenswürdigen Bezirkes einer Wahrheit (über
die »Natur«, die »Geschichte«, das »Recht«
z.B.).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 145 |
Das »wissenschaftlich« Erkennbare ist der »Wissenschaft«
jeweils vorgegeben in einer durch die Wissenschaft selbst nie faßbaren
»Wahrheit« über das erkennbare Gebiet des Seienden. Das Seiende
liegt als Gebiet für die Wissenschaft vor; es ist ein positum, und
jede Wissenschaft ist in sich »positive« Wissenschaft (auch
die Mathematik).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 145 |
»Die« Wissenschaft gibt es daher gar nie und nirgends, etwa
so, wie »die Kunst« und »die Philosophie«, die je in
sich, was sie sind, wesentlich und voll sind, wenn sie geschichtlich sind.
»Die Wissenschaft« ist nur ein formaler Titel, der zu seinem wesentlichen
Verständnis fordert, daß die zur Wissenschaft gehörige einrichtungsmäßige
Zerfällung in einzelne, d.h. sich vereinzelnde Wissenschaften mitgedacht
wird. So, wie jede Wissenschaft, »positiv« ist, mußsie auch
»Einzel«-wissenschaft sein.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 145 |
Die »Spezialistik« ist nicht etwa eine Vefallserscheinung
und Ausartung der« Wissenschaft und nicht etwa nur ein unvermeidliches
Übel als Folge des Fortschritts und der Unübersehbarkeit, Arbeitsteilung,
sonden eine notwendige innere Folge ihres Charakters als Einzelwissenschaft
und unveräußerliche Bedingung ihres Bestandes und d.h. immer ihres
Fortschritts. Wo liegt der eigentliche Grund der Zerfällung? In der Seiendheit
als Vorstellung.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 145-146 |
Jede Wissenschaft ist so, wie sie »positiv« sein und aus
jeweiliger Hinsicht auf ein jeweiliges Gebiet sich vereinzeln muß, in
sich streng.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 146 |
Die Entfaltung der Strenge einer Wissenschaft vollzieht sich in den
Weisen des Vorgehens (der Hinsichtnahme auf das Sachgebiet) und des Verfahrens
(der Ausführung des Untersuchens und der Darstellung), in der »Methode«.
Dieses Vorgehen bringt den gegenstandsbezirk jeweils in eine bestimmte Richtung
der Erklärbarkeit, die grundsätzlich schon die Unausbleibbarkeit eines
»Ergebnisses« sicherstellt. (Es kommt immer etwas heraus.)
Die Grundart des Vorgehens in allem Erklären ist der Verfolg und die vorgreifende
Anlage von eizelnen Reihen und Ketten fortlaufender Ursache-Wirkungs-Beziehungen.
Das machenschaftliche Wesen des Seienden, obzwar nicht als solches erkannt,
rechtfertigt nicht nur, sondern fordert in grenzenloser Steigerung dieses ergebnissichere
Denken in »Kausalitäten«, die streng genommen nur »wenn-so«-Beziehungen
sind in der Gestalt des Wann-dann (wohin daher auch die »Statistik«
der modernen Physik gehört, die keineswegs die »Kausalität«
überwindet, sondern sie lediglich in ihrem machenschaftlichen Wesen ans
Licht bringt). Zu meinen, mit dieser scheinbar »freien« Kausalität
das »Lebendige« eher fassen zu können, verrät lediglich
die geheime Grundüberzeugung, eines Tages auch das Lebendige unter die
Botmäßigkeit der Erklärung zu stellen. Dieser Schritt liegt
um so näher, als auf der Seite des Gegengebietes zur Natur, in der Geschichte,
die rein »historische« bzw. »prähistorische« Methode
vorherrscht, die völlig in Kausalitäten denkt und das »Leben«
und das »Erlebbare« der kausalen Nachrechnung zugänglich macht
und allein darin die Form des geschichtlichen »Wissens« sieht. Daß
man in der Geschichte den »Zufall« und das »Schicksal«
als mitbestimmend zugibt, belegt erst recht die Alleinherrschaft des kausalen
Denkens, sofern ja »Zufall« und »Schicksal« nur die
nicht genau und eindeutig errechenbaren Ursache-Wirkungs-Beziehungen darstellen.
Daß überhaupt das geschichtlich Seiende eine völlig andere (auf
das Da-sein gegründete) Seinsart haben könnte,kann der Historie niemals
wißbar gemacht werden, weil diese sich dann selbst aufgeben müßte.
Denn als Wissenschaft hat sie zu ihrem im voraus festgelegten Auslaufbereich
das Selbstverständliche, das einer durchschnittlichen Verständlichkeit
unbedingt Gemäße, welche Verständlichkeit gefordert wird aus
dem Wesen der Wissenschaft als der Einrichtung von Richtigkeiten innerhalb der
Beherrschung und Lenkung alles Gegenständlichen im Dienste der Nutzung
ud Züchtung.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 147-148 |
Die entscheidende Frage für die Wisenschaft als solche ist ...,
... ob mit diesem oder jenem Verfahren eine (bestimmte!
HB) »Erkenntnis«, d.h. ein (bestimmtes!
HB) Ergebnis für die Untersuchung zu erwarten steht. Leitend
ist der Blick auf die Einrichtung und Bereitstellung von »Ergebnissen«.
Die Ergebnisse und vollends gar ihre unmittelbare Nutzungseignung sichern die
Richtigkeit der Untersuchung, welche wissenschaftliche Richtigkeit als Wahrheit
eines Wissens gilt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 148 |
Die »völkische« Organisation »der« Wissenschaft
bewegt sich auf derselben Bahn wie die »amerikanistische«, die Frage
ist lediglich, auf welcher Seite die größeren Mittel und Kräfte
zur schnelleren und vollständigen Verfügung gestellt werden, um das
ungeänderte und aus sich auch unberänderbare Wesen der neuzeitlichen
Wissenschaft seinem äußersten Endzustand entgegen zu jagen, eine
»AUfgabe«, die noch Jahrhunderte in Anspruch nehmen kann und immer
endgültiger jede Möglichkeit einer »Krisis« der Wissenschaft,
d.h. eine wesentliche Verwandlung des Wissens und der Wahrheit ausschließt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 149 |
Jede Wiseenschaft ist streng, aber nicht jede Wissenschaft ist »exakte
Wissenschaft«.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 149 |
Keineswegs ist eine Wissenschaft deshalb exakt, weil sie experimentiert.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 150 |
Je weniger die Geschichte selbst, je mehr nur die Taten, werke, Erzeugnisse
und Meinungen als Begebenheiten in ihrer Abfolge und Verschiedenheit verzeichnet
und verrechnet und dargestellt werden, um so leichter kann die Historie der
ihr eigenen Strenge genügen. Daß sie sich immer in diesem Bezirk
bewegt, wird am deutlichsten erwiesen durch die Art des »Fortschritts«
der historischen Wissenschaften.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 151 |
Die Historie, immer verstanden im beanspruchten Charakter der neuzeitlichen
Wissenschaft, ist ein ständiges Ausweichen vor der Geschichte.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 153 |
Wird die Geschichte nicht historisch erklärt und auf ein bestimmtes
Bild zu bestimmten Zwecken der Stellungnahme und Gesinnungsbildung verrechnet,
wird vielmehr die Geschichte selbst und durch sie aller historische Umtrieb
und jedes von ihr entspringende Meinen und Glauben in Frage und zur ständigen
Entscheidung über sich selbst gestellt, dann vollzieht sich das, was das
Geschichtsdenken genannt werden kann. Der Geschichtsdenker ist ebenso wesentlich
verschieden vom Historiker wie vom Philosophen. Er darf am ellerwenigsten mit
jenem Scheingebilde zusammengebracht werden, das man »Geschichtsphilosophie«
zu nennen pflegt. .... Sofern das gegenwärtige und das künftige Zeitalter,
obzwar in ganz verschiedener Weise, als geschichtliche sich entfalten, das gegenwärtig-neuzeitliche,
sofern es hostorisch die Geschichte abdrängt, ohne ihr ausweichen zu können,
das künftige, sofern es in die Einfachheit und Schärfe geschichtlichen
Seins einschwenken muß, verwischen sich heute notwendig, von außen
gesehen, die Grenzen der Gestalten des Historikers und des Geschichtsdenkers;
dies um so mehr, als die Historie entsprechend der zunehmenden Ausprägung
ihres zeitungswissenschaftlichen Charakters auf Grund ihrer reportagemäßigen
Gesamtdarstellungen den verfänglichen Anschein einer überwissenschaftlichen
Geschichtsbetrachtung verbreitet und so die geschichtliche Bestimmung völlig
in Verwirrung bringt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 154 |
Noch ferner als die Geschichte ist die Natur gerückt, und die Abriegelung
gegen diese wird um so vollständiger, als die Erkenntnis der Natur zur
»organischen« Betrachtung sich entwickelt, ohne zu wissen, daß
der »Organismus« nur die Vollendung des »Mechanismus«
darstellt. Daher kommt es, daß ein Zeitalter des hemmungslosen »Technizismus«
zugleich seine Selbstdeutung in einer »organischen Weltdeutung«
finden kann.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 155 |
Mit der zunehmenden Verfestigung des machenschaftlich-technischen Wesens
aller Wissenschaften wird der gegenständlichen und verfahrungsmäßige
Unterschied der Natur- und Geisteswissenschaften immer mehr zurücktreten.
Jene werden zu einem Bestandsstück der Maschinentechnik und der Betriebe,
diese breiten sich aus zur umfassenden Zeitungswissenschaft riesenhaften Umfangs,
in der das gegenwärtige »Erleben« fortlaufend historisch gedeutet
und in dieser Deutung seiner möglichst raschen und möglichst eingängigen
Veröffentlichung für jedermann zugeführt wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 155 |
Kommt es, wie es kommen muß, zur Anerkennung des vorbestimmten
Wesens der neuzeitlichen Wisenschaft, ihres reinen und notwendig dienstbaren
Betriebcharakters und der hierzu benötigten Einrichtungen, dann muß
im Gesichtskreis dieser Anerkennung künftig ein riesiger Fortschritt
der Wissenschaften zu erwarten, ja sogar zu errechnen sein. Diese Fortschritte
werden die Ausbeutung und Nutzung der Erde, die Züchtung und Abrichtung
des Menschen in heute noch unvorstellbare Zustände bringen, deren Eintritt
durch keine romantische Erinnerung an Früheres und Anderes verhindert oder
auch nur aufgehalten werden kann. Aber diese Fortschritte werden auch immer
seltener noch als ein Überraschendes und Auffälliges, etwa als Kulturleistungen,
verzeichnet werden, sondern reihenweise und gleichsam als Geschäftsgeheimnisse
erfolgen und verbraucht und in ihren Ergebnissen vertrieben werden. Erst wenn
die Wissenschaft diese betriebsmäßige Unauffällugkeit des Abrollens
erreicht hat, ist sie dort, wo sie selbst hintreibt: sie löst sich dann
in die Auflösung alles Seienden selbst mit auf. Im Ausblick auf dieses
Ende, das ein sehr dauerhafter Endzustand sein wird, der immer wie ein Anfang
aussieht, steht die Wissenschaft heute in ihrem besten Beginn. Nur Blinde und
Narren werden heute vom »Ende« der Wissenschaft reden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 156-157 |
Die »Wissenschaft« betreibt so die Sicherstellung des Zustandes
einer völligen Bedürfnislosigkeit im Wissen und bleibt deshalb im
Zeitalter der völligen Fraglosigkeit stets das »Modernste«.
Alle Zwecke und Nutzen stehen fest, alle Mittel sind zur Hand, jede Nutznießung
ist ausführbar, es gilt nur noch, Gradunterschiede der Verfeinerung zu
überwinden und den Ergebnissen die größtmögliche Breite
der leichtsten Nutzung zu verschaffen. Das verborgene Ziel, dem all dieses und
anderes zueilt, ohne das Geringste davon zu ahnen und ahnen zu können,
ist der Zustand der völligen Langeweile (vgl. die Vorlesung im Wintersemester
1929/30: »Die Grundbegriffe der Metaphysik« [Gesamtausgabe,
Band 29/30]) im Umkreis der eigensten Errungenschaften, die eines Tages selbst
den Charakter der Langweiligkeit nicht mehr verbergen können, falls dann
noch ein Rest von Wissenschaft geblieben ist, um mindestens in diesem Zustand
zu erschrecken und ihn selbst und die darin gähnende Seinsverlassenheit
des Seienden zu enthüllen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 157 |
Allein, das große Entsetzen kommt nur aus dem wesentlichen,
schon im anderen Anfang stehenden Wissen, niemals aus der Ohnmacht
und bloßen Ratlosigkeit.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 158 |
Die historischen Geisteswissenschaften werden zur Zeitungswissenschaft.
Die Naturwissenschaften werden zur Maschinenwissenschaft.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 158 |
»Zeitung« und »Maschine« sind im wesentlichen
Sinne gemeint als die vordrängenden Weisen der endgültigen (für
die Neuzeit zur Vollendung treibenden) vergegenständlichung, die in sich
alle Sachhaltigkeit des Seienden aufsaugt und dieses selbst nur noch als Anlaß
des Erlebens.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 158 |
Durch diesen Vorrang des Vorgehens in der Einrichtung und Herrichtung
kommen beide Gruppen von Wissenschaften in die Übereinstimmung hinsichtlich
des Wesentlichen, d.h. ihres Betriebscharakters.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 158 |
Diese »Entwicklung« der neuzeitlichen Wissenschaft in ihr
Wesen ist heute erst wenigen sichtbar und wird von den meisten als nicht vorhanden
zurückgewisen werden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 158 |
Die Wissenschaft wird nicht nur nie sich daraus lösen können,
sondern sie wird die Löslösung auch und vor allem nie wollen und,
je mehr sie fortschreitet, um so weniher wollen können.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 159 |
Dieser Vorgang ist aber vor allem nicht etwa eine Erscheinung der jetzigen
deutschen Universität, sondern er trifft alles, was irgendwo und wann künftig
als »Wissenschaft« wird noch mitsprechen wollen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 159 |
Was ist »sicherer«: die unmittelbare naive Beschreibung
oder das exakte Experiment? Die erstere, weil sie »weniger« Theorie
voraussetzt!
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 166 |
Was bedeutet die Forderung der Wiederholbarkeit des Experimentes?
1. Beständigkeit der Umstände und Instrumente. 2. Mitteilung der zugehörigen
Theorie und Fragestellung. 3. Allgmeingültige Ausweisbarkeit (Allgmeingültigkeit
und »Objektivität«); Vorgestelltheit und Richtigkeit und Wahrheit
- Tatsächlichkeit.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 166 |
Das Da-sein ist die gründung der Wahrheit des Seyns.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 170 |
Je unseiender der Mensch, je weniger er sich auf das Seiende, als welches
er sich vorfindet, versteiftm um so näher kommt er dem Sein (Kein Buddhismus!
Das Gegenteil!)
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 170-171 |
Das Seiende. In seinem Aufgang zu ihm
selbst (Griechentum); verursacht durch ein Höchstes seines Wesens
(Mittelalter); das Vorhandene als Gegenstand (Neuzeit).
Immer zugehüllter wird die Wahrheit des Seyns, immer seltener die Möglichkeit,
daß diese Wahrheit als solche zur gründenden Macht werde und überhaupt
erst erkannt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 171 |
Die ursprüngliche Zueignung des ersten Anfangs (und d.h. seiner
Geschichte) bedeutet das Fußfassen im anderen Anfang. Diese vollzieht
sich im Übergang von der Leitfrage (vgl. S. 75; HB) (was ist das Seiende?, Frage
nach der Seiendheit, Sein) zur
Grundfrage (vgl. S. 76; HB): was ist die Wahrheit des Seyns? (Sein und Seyn sind dasselbe
und doch grundverschieden.)
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 171 |
Dieser Übergang ist geschichtlich begriffen die Überwindung
und zwar die erste und erstmögliche aller »Metaphysik«. Die
»Metaphysik« wird jetzt erst in ihrem Wesen erkennbar, und im übergänglichen
Denken kommt alle Rede von »Metaphysik« in die Zweideutigkeit. Die
Frage: Was ist Metaphysik?, im Bereich des Übergangs zum anderen Anfang
gestellt (vgl. den Vortrag im Zusammenhang mit »Sein und Zeit« und
»Vom Wesen der Grundes«), erfragt das Wesen der »Metaphysik«
bereits im Sinne einer ersten Gewinnung der Vorfeldstellung zum Übergang
in den anderen Anfang. Mit anderen Worten, sie fragt schon aus diesem her. Was
sie als Bestimmung der »Metaphysik« sichtbar macht, das ist schon
nicht mehr die Metaphysik, sondern ihre Überwindung. Was diese Frage erzielen
will, ist nicht die Aufklärung und d.h. Festerhaltung der bisherigen und
dazu notwendig verwirrten Vorstellung von der »Metaphysik«, sondern
ist der Stoff in den Übergang und damit in das Wissen, daß jede Art
von Metaphysik zu Ende ist und sein muß, wenn die Philosophie ihren anderen
Anfang gewinnen soll.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 171-172 |
Wenn die »Metaphysik« als zum Da-sein als solchem gehöriges
Geschehen sichtbar gemacht wird, dann will dies nicht als eine sehr billige
»anthropologische« Verankerung der Disziplin der Metaphysik im Menschen
gelten, sondern mit dem Da-sein ist jener Grund gewonnen, in dem die Wahrheit
des Seyns gründet, so daß jetzt das Seyn selbst ursprünglich
zur Herrschaft kommt und eine Stellung des Übersteigens des Seienden, d.h.
doch des Ausgehens vom Seienden und zwar als Vorhandenem und als Gegenstand
unmöglich geworden ist. Und so zeigt sich erst, was Metaphysik war, eben
diese Übersteigung des Seienden zur Seiendheit (Idee). Unvermeidlich zweideutig
aber bleibt diese Bestimmung der »Metaphysik«, insofern es so aussieht,
als sei sie nur eine heutige, an der Sache nichts antastende andere Fassung
des bisherigen Begriffes. Das ist sie, aber indem die Fassung des Wesens der
»Metaphysik« zuvor und durchaus eine Gründung des Da-seins
wird, verlegt sie der »Metaphysik« jeden Weg zu einer weiteren Möglichkeit.
Übergänglich denkerisch begreifen heißt: das Begriffene in seine
Unmöglichkeit versetzen. Ist es noch nötig, diese Abwehr der »Metaphysik«
eigens vor der Vermischung mit der »antimetaphysischen« Tendenz
des »Positivismus« (und seiner Spielarten) zu schützen? Doch
kaum, wenn wir bedenken, daß ja der »Positivismus« die Gröbste
aller »metaphysischen« Denkweisen darstellt, insofern er einmal
eine ganz bestimmte Entscheidung über die Seiendheit des Seienden (Sinnlichkeit)
enthält und zum anderen eben dieses Seiende ständig übersteigt
durch die grundsätzliche Ansetzung einer gleichartigen »Kausalität«.
Für das übergängliche Denken aber handelt es sich nicht um eine
»Gegnerschaft« gegen die »Metaphysik«, wodurch sie ja
gerade erneut in Stellung gebracht würde, sondern um eine überwindung
der Metaphysik aus ihrem Grunde. Die Metaphysik ist zu Ende, nicht weil sie
zu sehr, zu unkritisch, zu verstiegen nach der Seiendheit des Seienden fragte,
sondern weil sie zufolge des Abfalls vom ersten Anfang mit diesem Fragen das
im Grunde gesuchte Seyn niemals erfragen konnte und schließlich in der
Verlegenheit dieser Ohnmacht auf die »Erneuerung« der »Ontologie«
verfiel.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 172-173 |
Die Metaphysik als das Wissen vom »Sein« des Seienden mußte
zum Ende kommen (siehe Nietzsche), weil sie gar nicht und noch nie nach der
Wahrheit des Seyns selbst zu fragen wagte und daher auch in ihrer eigenen Geschichte
stets in der Verwirrung und der Ungesichertheit ihres Leitfadens (des Denkens)
bleiben mußte. Eben deshalb darf aber auch das übergängliche
Denken nicht der Versuchung verfallen, das, was es als Ende und im Ende begriffen
hat, nun einfach hinter sich zu lassen, statt dieses hinter sich zu bringen,
d. h. jetzt erst in seinem Wesen zu fassen und dieses gewandelt in die Wahrheit
des Seyns einspielen zu lassen. Die Rede vom Ende der Metaphysik darf nicht
zur Meinung verleiten, die Philosophie sei mit der »Metaphysik«
fertig, im Gegenfall: diese muß ihr jetzt erst in ihrer Wesensunmöglichkeit
zugespielt und die Philosophie selbst so in ihren anderen Anfang hinübergespielt
werden. Oberdenken wir diese Aufgabe des anderen Anfangs (die Frage nach dem
»Sinn« des Seyns in der Formel von »Sein und Zeit«),
dann wird auch deutlich, daß alle Versuche, die gegen die Metaphysik,
die überall - auch als Positivismus - idealistisch ist, reagieren, eben
re-aktiv und damit von der Metaphysik grundsätzlich abhängig und somit
selbst Metaphysik bleiben. Alle Biologismen und Naturalismen, die die »Natur«
und das Nichtrationale als das Tragende vorbringen, dem alles entsteigt, als
das Alleben, in dem alles brodelt, als das Nächtige gegen das Lichte u.
s. f., bleiben durchgängig auf dem Boden der Metaphysik und brauchen sie,
sei es nur, um an ihr sich zu reiben, damit noch ein Funke des Wiß- und
Sagbaren und für diese »Denker« Schreibbaren herausspringt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 173-174 |
Viele Zeichen, die beginnende Vorherrschaft der »Metaphysik«
Richard Wagners und Chamberlains z.B., deuten darauf hin, daß das schon
schöpferisch und einzig durch Nietzsche vollzogene Ende der abendländischen
Metaphysik noch einmal überdeckt wird und daß diese »Auferstehung«
der Metaphysik sich auch noch einmal die christlichen Kirchen für ihre
Zwecke zu einem Nutzen machen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 174 |
Was die Geschichte der Metaphysik als noch Ungehobenes und von ihr
selbst nicht Erkennbares bereitstellt und so: zuspielt.
1. die Seiendheit ist Anwesenheit - 2. das Seyn ist Sichverbergen
- 3. das Seiende steht im Vorrang - 4. die Seiendheit ist der Nachtrag
und deshalb das »Apriori«. Was in all dem beschlossen liegt,
vermögen wir nicht zu fassen, solange nicht die Wahrheit des Seyns und
zur notwendigen Frage geworden ist, solange wir nicht den Zeit-Spiel-Raum gegründet
haben, in dessen Erstreckungen erst zu ermessen ist, was sich in der Geschichte
der Metaphysik ereignet hat: das Vorspiel des Er-eignisses selbst als der Wesung
des Seyns. Erst wenn es glückt, die Geschichte der Metaphysik in jene Erstreckungen
(1.-4.) zu entwerfen, fassen wir sie in ihrem ungehobenen Grund. Solange wir
aber die Hinsichten aus dem schöpfen, was eigenes Wissen der Metaphysik
werden konnte und mußte (Ideen-lehre und ihre Abwandlung), werden wir
ins Historische gedrängt, es sei denn, daß wir die idea
schon begreifen aus 1.-4..
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 174 |
Aus dem ersten Anfang beginnt sich das Denken zuächst unausgesprochen
und dann eigens so gefaßt als Frage: was ist das Seiende) zu verfestigen
(die Leitfrage [vgl. S. 75 und 171; HB]
der damit beginnenden abendländischen »Metaphysik«). Aber irrig
wäre die Meinung, die diese Leitfrage im ersten Anfang und als Anfang antreffen
wollte. Nur zur groben und ersten Unterweisung kann der erste Anfang mit Hilfe
der »Leitfrage« in seinem Denken gekennzeichnet werden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 179-180 |
Andererseits geht aber auch das Anfängliche des Anfangs verloren,
d.h. es zieht sich in das Unergründete des Anfangs zurück, sobald
die Leitfrage vgl. S. 75 und 171; HB für das
Denken maßgebend wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 180 |
Suchen wir die Geschichte der Philosophie wirklich im Geschehen
des Denkens und seines ersten Anfangs und halten wir dieses Denken in seiner
Geschichtlichkeit offen durch die Entfaltung der durch diese ganze Geschichte
bis zu Nietzsche unentfalteten Leitfrage, dann kann die innere Bewegung dieses
Denkens, obzwar nur formelhaft, durch einzelne Schritte und Stufen festgehalten
werden:
Die Erfahrung und Vernehmung und Sammlung des Seienden in seiner Wahrheit verfestigt
sich in die Frage nach der Seiendheit des Seienden am Leitfaden und dem Vorgriff
des »Denkens« (vernehmendes Aussagen).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 180 |
Dieser nicht weiter gegründete Vorrang und Vorgriffscharakter des
Denkens (logoV - ratio - intellectus) wird jedoch
verfestigt in der aus der anfänglichen Erfahrung des Seienden als solchen
entspringenden Auffassung des Menschen als animal rationale. Die Möglichkeit
ist vorgezeichnet, daß jener Leitfadencharakter des Denkens mit Bezug
auf die Auslegung des Seienden sich erst recht zum einzigen Entscheidungsort
über das Seiende überhebt, zumal dann, wenn zuvor und langehin die
ratio und der intellectus in ein Dienstverhältnis gezwungen wurden (christlicher
Glaube), aus dem zwar keine neue Auslegung des Seienden entsprang, wohl aber
die Verstärkung der Wichtigkeit des Menschen als des einzelnen (Seelenheil).
Jetzt kam die Möglichkeit einer Lage, in der der ratio recht sein mußte,
was dem Glauben billig war, sofern alles auf diesen gestellt und alle Möglichkeiten
in ihm erschöpft wurden. - Warum soll nicht auch die ratio, zunächst
noch im Verein mit der fides, dasselbe für sich selbst beanspruchen, ihrer
selbst sich versichern und diese Sicherheit zum Maßstab aller Verfestigung
und Be-»gründung« (ratio als Grund) machen? Jetzt beginnt eine
Verlegung des Gewichtes des Denkens in die Selbstsicherheit des Denkens (veritas
wird zur certitudo), und in der Formel muß daher jetzt zuerst das Denken
und zwar in den gewandelten Leistungsanspruch gesetzt werden. Entsprechend wandelt
sich die Bestimmung der Seiendheit des Seienden zur Gegenständlichkeit:
Denken (Gewißheit} und Gegenständlichkeit (Seiendheit).
Zu zeigen wie von hier aus:
1. Das neuzeitliche Denken bis zu Kant bestimmt wird.
2. Wie hieraus die Ursprünglichkeit des Kantischen Denkens kommt.
3. Wie durch einen Rückschwung in die christliche Überlieferung zusammen
mit einem Verlassen der Kantischen Stellung das absolute Denken des deutschen
Idealismus entsteht.
4. Wie die Unkraft zum metaphysischen Denken in einem mit den Wirkungskräften
des 19. Jahrhunderts (Liberalismus Industrialisierung - Technik) den Positivismus
fordert.
5. Wie aber gleichzeitig die Überlieferung Kants und des deutschen Idealismus
bewahrt und eine Wiederaufnahme des platonischen Denkens gesucht wird (Lotze
und seine Wertmetaphysik).
6. Wie über all dieses hinweg und doch davon getragen und umschnürt
Nietzsche in der Auseinandersetzung mit dem fragwürdigsten Mischgebilde
(aus 3, 4 und 5) Schopenhauer seine Aufgabe in der Überwindung des Platonismus
erkennt, ohne doch in den Fragebereich und die Grundstellung vorzudringen,
aus denen dieser Aufgabe erst die Befreiung vom Bisherigen gesichert werden
kann.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 180-181 |
In dieser Geschichte bleibt mehr und mehr selbstverständlich und
deshalb unbedacht die Leitfragenhaltung im Sinne der Formel: Denken und Gegenständlichkeit.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 182 |
Auch da, wo Nietzsche gegen das »Sein« (Seiendheit)
das Werden ins Feld führt, geschieht es unter der Voraussetzung, daß
die »Logik« die Seiendheit bestimmt. Die Flucht in das »Werden«
(»Leben«) ist metaphysisch nur ein Ausweg, der letzte Ausweg
am Ende der Metaphysik, der überall die Zeichen dessen trägt, was
Nietzsche selbst früh als seine Aufgabe erkannte: der Umkehrung des Platonismus.
Aber alle Umkehrung ist erst recht Rückkehr und Verstrickung in den Gegensatz
(Sinnliches - Übersinnliches), so sicher Nietzsche spürt, daß
auclt dieser Gegensatz seinen Sinn verlieren muß.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 182 |
Für Nietzsche bleibt das »Seiende« (Wirkliche) das
Werden und das »Sein«, eben die Festmachung und Verbeständigung.
Nietzsche bleibt in der Metaphysik hängen: vom Seienden zum Sein; und Nietzsche
erschöpft alle Möglichkeiten dieser Grundstellung, die inzwischen,
wie er selbst erstmals am deutlichsten gesehen hat, in allen mögliclten
Formen zum Gemeinbesitz und »Gedankengut« der Massen-Weltanschauungen
geworden ist.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 182 |
Der erste Schritt zur schöpferischen Überwindung des Endes
der Metaphysik mußte in der Richtung vollzogen werden, daß die Denkhaltung
in einer Hinsicht festgehalten, aber dabei zugleich in anderer Hinsicht über
sich grundsätzlich hinaus gebracht wurde. - Das Festhalten besagt: Fragen
nach dem Sein des Seienden. Die Überwindung aber: Fragen zuvor nach der
Wahrheit des Seyns, nach dem, was in der Metaphysik nie Frage wurde und werden
konnte. - Dieser übergängliche Doppelcharakter, der die »Metaphysik«
zugleich ursprünglicher faßt und damit überwindet, ist durchgängig
das Kennzeichen der »Fundamentalontologie«, d.h. von »Sein
und Zeit«. - Dieser Titel ist aus einem klaren Wissen um die Aufgabe gesetzt:
nicht mehr Seiendes und Seiendheit, sondern Sein; nicht mehr das »Denken«,
sondern die »Zeit«; nicht mehr das Denken zuvor, sondern das Seyn.
»Zeit« als Nennung der »Wahrheit« des Seins, und all
dieses als Aufgabe, als »unterwegs«; nicht als »Lehre«
und Dogmatik. - Jetzt ist die leitende Grundstellung der abendländischen
Metaphysik Seiendheit und Denken, das »Denken« - ratio - Vernunft
als Leitfaden und Vorgriff der Auslegung der Seiendheit, in Frage gestellt,
aber keineswegs nur so, daß Denken durch »Zeit« ersetzt würde
und alles nur »zeitlicher« und existenzieller gemeint und sonst
beim alten bliebe, sondern jetzt ist jenes zur Frage geworden, was im ersten
Anfang nicht Frage werden konnte, die Wahrheit selbst. - Jetzt ist und
wird alles anDers. Die Metaphysik ist unmöglich geworden. Denn die Wahrheit
des Seyns und die Wesung des Seyns ist das Erste, nicht das Wohinaus
der Überstieg erfolgen soll. - Aber jetzt gilt auch nicht etwa nur die
Umkehrung der bisherigen Metaphysik, sondern mit der ursprünglicheren Wesung
der Wahrheit des Seyns als Ereignis ist der Bezug zum Seienden ein anderer (nicht
mehr der der upoqesiV; und der »Bedingung der
Möglichkeit« - des koinon und upokeimenon).
- Das Seyn west als Ereignis der Dagründung und bestimmt selbst
die Wahrheit des Wesens aus der Wesung der Wahrheit neu. - Der andere Anfang
ist der das Seyn verwandelnde Einsprung in seine ursprünglichere Wahrheit.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 182-183 |
Das abendländische Denken in der Leitfrage (vgl.
S. 75 und 171; HB) setzt gemäß seinem Anfang den Vorrang des
Seienden vor dem Sein; das »Apriori« ist nur die Verschleierung
der Nachträglichkeit des Seyns, die walten muß, sofern im unmittelbar
ersten, vernehmend-sammelnden Zugehen auf das Seiende das Seyn eröffnet
wird (vgl. in »Der Sprung«: das Sein und das Apriori). - So darf
es nicht verwundern, muß aber als Folge eigens begriffen werden, wie dann
das Seiende selbst in bestimmter Auslegung maßstäblich wird für
die Seiendheit. Trotz, ja aufgrund des Vorrangs der fusiV
und des fusei ov wird doch gerade das qesei
on und poioumenon zu demjenigen, was jetzt
für das vernehmende Auslegen das Verständliche abgibt und die
Verständlichkeit der Seiendheit selbst bestimmt (als ulh,
vgl. Frankfurter Vorträge 1936; Der Ursprung des Kunstwerkes (Holzwege
(Gesamtausgabe Band 5)) (vgl. Das Zuspiel, 97. Die fusiV
(tecnh)). - Daher steht im Hintergrund und alsbald
bei Plato besonders sich vordrängend die tecnh
als Grundcharakter der Erkenntnis, d.h. des Grundbezugs zum Seienden als solchem.
- Deutet dies alles nicht darauf hin, daß doch auch die fusiV
nach Entsprechung zum poioumenon der poihsiV
(vgl. Aristoteles schließlich) ausgelegt werden muß, daß die
fusiV nicht mächtig genug ist, über die
parousia und aleqeia hinaus
selbst ihre Wahrheit zu fordern und deren Entfaltung zu tragen? - Dieses aber
ist es, was der andere Anfang leisten will und leisten muß: den Einsprung
in die Wahrheit des Seyns, dergestalt, daß dieses selbst das Menschsein
gründet und zwar nicht einmal unmittelbar, sondern das Menschsein erst
als eine Folge der und als die Angewiesenheit auf das Da-sein. - Der
erste Anfang wird nicht bewältigt, die Wahrheit des Seyns trotz ihres wesentlichen
Aufleuchtens nicht eigens gegründet, und dieses bedeutet: ein menschlicher
Vorgriff ( des Aussagens, der tecnh, der Gewißheit)
wird maßstäblich für die Auslegung der Seiendheit des Seyns.
- Jetzt aber ist not die große Umkehrung, die jenseits ist aller
»Umwertung aller Werte«, jene Umkehrung, in der nicht das Seiende
vom Menschen her, sondern das Menschsein aus dem Seyn gegründet wird. Dieses
aber bedarf einer höheren Kraft des Schaffens und Fragens, zugleich aber
der tieferen Bereitschaft zum Leiden und Austragen im Ganzen eines völligen
Wandels der Bezüge zum Seienden und zum Seyn.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 183-184 |
Die Wahrheit des Seyns ist nichts geringeres als das Wesen
der Wahrheit, begriffen und gegründet als lichtende Verbergung, das
Geschehnis des Da-seins, des Wendungspunktes in der Kehre als sich öffnende
Mitte.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 189 |
Die Zeit ... schafft »Raum«.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 192 |
Anwesenheit ist Gegenwart im Sinne der Gesammeltheit der
Ausdauer gemäß ihrem Rückzug aus den Entrückungen, die
daher verstellt und somit vergessen werden. So entsteht der Schein der Zeit-losigkeit
des eigentlichen »Seienden«.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 192 |
Anfänglich ist das Seiende immer auch als en
bestimmt, und bei Aristoteles sind dann en umnd on,
Seiendes und Eines, veratuschbar. Einheit macht Seiendes aus. Und Einheit
besagt hier: Einigung, ursprüngliche Sammlung auf die Selbigkeit des Zusammen-mitanwesenden
und Beständigen. Entsprechend wird dann die auszeichnende Bestimmung für
das Denken der Seiendheit (Einheit) die Einheit des »Ich-denke«,
die Einheit der transzendentalen Apperzeption, die Selbigkeit des Ich;
in einem tieferen und reicheren Sinne beides verkoppelt in der Monadfe bei Leibniz.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 197 |
Wir müssen gerade das Denken des deutschen Idealismus wissen, weil
es die machenschaftliche Macht der Seiendheit in die äußerste, unbedingte
Entfaltung bringt (die Bedingtheit des ego cogito in das Unbedingte erhebt)
und das Ende vorbereitet. - Das Selbstverständnis des Seins ist jetzt,
statt in die Plattheit einer unmittelbaren Evidenz gelegt, in den Reichtum der
Geschichtlichkeit des Geistes und seiner Gestalten systematisch ausgebreitet.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 203-204 |
Hölderlin - Kierkegaard - Nietzsche.
Keiner sei so vermessen und nehme es als bloßen Zufall,
daß diese drei, die je in ihrer Weise zuletzt die Entwurzelung am tiefsten
durchlitten haben, der die abendländische Geschichte zugetrieben wird,
und die zugleich ihre Götter am innigsten erahnt haben, frühzeitig
aus der Helle ihres Tages hinweg mußten. - Was bereite sich vor? -
Was liegt in dem, daß der Früheste dieser drei, Hölderlin,
zugleich der am weitesten Voraus-dichtende wurde in dem Zeitalter, da
das denken noch einmal die ganze bisherige Geschichte absolut zu wissen trachtet?
(Vgl. Überlegungen IV, S. 115 ff..) - Welche verborgene Geschichte ...
geschah hier? Welches Bewegungsgesetz des Künftigen bereitet sich da vor?
- Müssen wir da nicht in ganz andere Bezirke und Maßstäbe und
Weisen zu sein umdenken, um noch Zugehörige der hier anbrechenden Notwendigkeiten
zu werden? Oder bleibt uns diese Geschichte unzugänglich als Grund des
Daseins, nicht weil sie vergangen, sondern noch zu zukünftig für uns
ist?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 204 |
Die Entscheidung über alle »Ontologie« im Vollzug
der Auseinandersetzung zwischen dem ersten und dem anderen Anfang.
Im Übergang zu diesem von jenem her ist die Besinnung auf die »Ontologie«
notwendig, so sehr, daß der Gedanke der »Fundamentalontologie«
durchdacht werden muß. Denn in ihr wird die Leitfrage (vgl.
S. 75 und 171; HB) als Frage erst begriffen und entfaltet und auf ihren
Grund zu und in ihrem Gefüge sichtbar gemacht. Eine bloße Zurückweisung
der »Ontologie« ohne Überwindung aus ihrem Ursprung leistet
gar nichts, gefährdet höchstens jeden Willen zum Denken. Denn jede
Zurückweisung (z.B. bei Jaspers) nimmt einen sehr fragwürdigen Begriff
des Denkens zum Maßstab - und findet dann, daß durch dieses Denken
das »Sein« - gemeint ist in großer Verwirrung das Seiende
als solches - nicht getroffen, sondern nur in Rahmen und Gestänge des Begriffes
eingezwängt werde. Hinter dieser merkwürdig flachen »Kritik«
der »Ontologie« (die im größten Durcheinander von Sein
und Seiendem daherredet) ist nichts anderes wirksam als die selbst auf ihren
Ursprung gar nicht befragte Unterscheidung von Inhalt und Form, noch »kritisch«
übertragen auf das »Bewußtsein« und das Subjekt und seine
»irrationalen« »Erlebnisse«,also der Ricker-Lasksche
Kantianismus, den Jaspers trotz allem nie abgestoßen hat.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 205 |
Im Gegnsatz zu solcher »Kritik« als einfacher Zurückweisung
der »Ontologie« muß gezeigt werden, warum sie innerhalb der
Geschichte der Leitfrage (vgl. S. 75 und 171; HB)
notwendig wurde (Herrschaft des Platonismus). Eine Überwindung der Ontologie
verlangt deshalb umgekehrt gerade erst die Entfaltung derselben aus ihrem Anfang,
im Unterschied zu der äußerlichen Übernahme ihre Lehrgehaltes,
der Verrechnung ihrer Richtigkeiten und Fehler (Nicolai Hartmann), was alles
äußerlich bleibt und daher auch gar nichts ahnt von dem denkerischen
Willen, der in »Sein und Zeit« einen Weg des Übergangs von
der Leitfrage zur Grundfrage (vgl. S. 76 und 171; HB)
sucht.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 205 |
Weil alle Ontologie, ob als solche ausgebildet oder als Vorbereitung
dazu, wie die Geschichte des ersten Anfangs, nach dem Seienden als Seindem
fragt und in dieser Hinsicht und nur in ihr auch nach dem Sein, rückt
sie in den bereich der Grundfrage (vgl. S. 76 und 171; HB): wie west das Sein? Welches ist die
Wahrheit des Seins? - ohne freilich diese Grundfrage als solche zu ahnen und
das Seyn in seiner höchsten Fragwürdigkeit, Einzigkeit und Endlichkeit
und Befremdung jemals zugeben zu können.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 206 |
Zu zeigen, wie durch Ausbildung der Ontologie zur Ontotheologie
(...) die endgültige Abdrängung von der Grundfrage (vgl.
S. 76 und 171; HB) und ihrer Notwendigkeit besiegelt wird, wie Nietzsche
in dieser Geschichte das schöpferische Ende vollbringt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 206 |
Idea - ist diejenigen Auslegung der
aleqeia, durch die jene spätere Bestimmung der
Seiendheit als Gegenständlichkeit vorbereitet und die Frage nach der aleqeia
als solcher für die ganze Geschichte der abendländischen Philosophie
notwendig unterbunden wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 208 |
Yuch .... Damit ist der Schritt getan zum
»Wert«, zum »Sinn«, zum »Ideal«. .... In
eins damit werden nun auch die Bezüge der idea
selbst zur yuch deutlich und maßgebend: a)
als eidoV zum idein und
noein - nouV; b) als koinon
und koinwmia zum dialegesqai
und logoV; c) als agaqon
- kalon zum eroV. Weil
so in der yuch das Wesen des Seienden versammelt
ist, ist die yuch selbst die arch
zwhV und zwh die Grundgestalt des Seienden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 210 |
yuch ist hier und auch bei Aristoteles nicht
Subjekt, und demnach ist mit diesem Bezug des on
als ousia Wesentliches gesetzt: a) das Seiende als
solches ist immer das Gegenüber, Gegen-stand; b) das Wem-gegenüber
selbst das ständig Anwesende und Vorhandene und Seindste und der Seinsbefragung
Unbedürftige.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 210 |
Das epekeina thV ousiaV als yuch
tou ontoV hat gemäß seiner Maßgabe für die eudaimonia
den Charakter des qeion und qeoV,
vgl. Aristoteles.
Die Frage nach dem Seienden als solchem (im Sinne der Leitfrage [vgl.
S. 75 und 171; HB]), die Ontologie ist somit notwendig Theo-logie.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 211 |
Mit dieser Entfaltung des ersten Endes des ersten Anfangs (mit
der platonisch-aristotelischen Philosophie) ist die Möglichkeit gegeben,
daß sie dann, und in ihrer Gestalt fortan die griechische
Philosophie überhaupt, den Rahmen und Begründungsbereich für
den jüdisch (Philo) christlichen (Augustinus) Glauben hergibt; ja von da
aus gesehen sogar als Vorläufer des Christentums ausgegeben bzw. als »Heidentum«
für überwunden gehalten werden kann.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 211 |
Aber nicht nur das Christentum und seine »Welt«deutung hat
hier seinen Rahmen und die Vorzeichnung der Verfassung gefunden, sondern alle
nachchristliche, gegenchristliche und unchristliche abendländische Auslegung
des Seienden und des Menschen innerhalb desselben. Die epekeina
thV ousiaV als agaqon (das heißt: die
grundsätzliche Verleugnung des Weiter- und ursprünglicher Fragens
nach dem Seienden als solchem, d.h. nach dem Sein) ist das Urbild für alle
Auslegung des Seienden und seiner Bestimmung und Gestaltung im Rahmen einer
»Kultur«; die Abschätzung nach Kultur-werten; die Deutung des
»Wirklichen« auf seinen »Sinn«, nach »Ideen«
und die Messung an Idealen, das Bilden einer idea,
Anschauung vom Seienden im Ganzen. »der Welt«, d.h. Weltanschauung.
Wo »Weltanschauung« herrscht und das Seiende bestimmt, ist Platonismus
ungeschwächt und unerkannt am Werk; um so hartnäckiger dort, wo der
Platonismus durch die neuzeitliche Umdeutung der idea
hindurchgegangen ist. Die erste spätere Fassung und
die angemessenere des Platonismus (die Lehre von den Ideen als Seiendheit des
Seienden) ist nicht der »Idealismus«, sondern der »Realismus«;
re: die sache, das Ding; die realitas als Sachheit, essentia, der echte
mittelalterliche »Realismus«; universale macht das ens qua
ens aus. Durch den Nominalismus aber wird als eigentliche
realitas Sachheit des Einzelnen, dieses, angesprochen und demgemäß
realitas für die Auszeichnung des Einzelnen, das nächste hier und
jetzt Vorhandensein, die existentia, in Anspruch genommen; das Merkwürdige:
»Realität« wird jetzt der Titel für »Existenz«,
»Wirklichkeit«, »Dasein«. Entsprechend
wird aufgrund verschiedener Beweggründe »Ich« als das Seiendste,
Realste erfahren und so erst das ego cogito - ergo sum möglich;
hier das »Sein« dem individuum zugesprochen; wobei zu beachten,
daß der Satz eigentlich meint: die Gewißheit des mathematischen
Bezugs von cogitare und esse; der Ursatz der Mathesis.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 211-212 |
Die idea meint jetzt nicht mehr das universale
als solches im griechischen Sinne des eidoV der Anwesung,
sondern das im percipere des ego gefaßte perceptum, »perceptio«
in der Zweideutigkeit unseres Wortes » Vor-stellung«; in dieser
Weite genommen ist gerade auch das Einzelne und Veränderliche ein perceptum,
idea als perceptum: die Idee in der Rückstrahlung;
idea als eidoV: die Idee
im Aufschein der Anwesung. Und erst in der Auslegung der idea
als perceptio wird der Platonismus zum »Idealismus«, d. h. die Seiendheit
des Seienden wird jetzt (esse = verum esse = certurn esse = ego percipio, cogito
me cogitare) zur Vorgestelltheit, das Seiende wird »idealistisch«
gedacht, und demzufolge bei Kant dann die »Ideen« gerettet, aber
als Vorstellungen und Prinzipien der » Vernunft« als der menschlichen
Vernunft. Von hier der Schritt zum absoluten Idealismus.
Der Begriff der »Ideen« bei Hegel (vgl. unten), das absolute sichselbsterscheinen
des Absoluten als absolutes Wissen. Damit die Möglichkeit, Plato neu zu
begreifen und die griechische Philosophie als die Stufe der Unmittelbarkeit
anzusetzen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 212 |
Hegels Begriff der Idee und die erste Möglichkeit einer philosophischen
Geschichte der Philosophie von ihrem ersten Ende her.
In diesem Begriff sind alle wesentlichen Bestimmungen ihrer Geschichte ursprünglich
vollendet enthalten:
1. Idee als Erscheinen.
2. Idee als die Bestimmung des Wißbaren als solchen (des Wirklichen).
3. Idee als die Allgemeinheit des »Begriffes«.
4. Idee vor-gestellt im Vor-stellen, Denken des »Absoluten«; Philo, Augustinus.
5. Idee das im cogito me cogitare (Selbstbewußtsein) Gewußte (Descartes).
6. Idee als perceptio, das stufenweise sich entfaltende Vorstellen, einig mit dem Willen, perceptio und appetitus (Leibniz).
7. Idee als das Unbedingte und »Prinzip« der Vernunft (Kant).
8. Alle diese Bestimmungen ursprünglich geeinigt im Wesen des sich vermittelnden absoluten Wissens, das sich als Vollendung nicht nur jeder Gestalt des Bewußtseins, sondern
selbst der bisherigen Philosophie weiß.
9. Was nach Hegel kommt, ist philosophisch gesehen überall
Rückfall und Abfall in Positivismus und Lebensphilosophie oder Schulontologie,
wissenschaftlich gesehen Verbreitung und Richtigstellung vieler Kenntnisse über
die Idee und ihrer Geschichte; aber auch in dieser gelehrten Betrachtung sind
noch immer, wenngleich oft kaum kenntlich, Hegelsche Gesichtspunkte leitend,
ohne daß sie ihre metaphysische Tragkraft zu entfalten vermöchten.
Aus diesen trüben Quellen schöpft dann die heutige »Philosophie«
ihre »Ideen«-»begriffe« (vgl. Die Gründung, 193.
Das Da-sein und der Mensch, besonders S. 314 f.).
10. Weil Hegel mit dieser Begründung der »Idee« als Wirklichkeit des Wirklichen die ganze bisherige, auch vorplatonische Geschichte der Philosophie in eine Zusammengehörigkeit versammelte und dieses Wissen sich als absolutes Sichselbstwissen in seinen Stufen und Stufenfolgen begriff, kam er in den Besitz einer aus dem Wesen der Seiendheit(Idee) entspringenden Notwendigkeit, dergemäß die Stufen
der Geschichte der Ideen sich aufstufen mußten.
Mit anderen Worten, seine aus seinem Fragen gesehene Geschichte der Philosophie
war die erste philosophische Geschichte der Philosophie, die erste angemessene
Geschichtsbefragung, aber auch die letzte und letztmögliche zugleich dieser
Art. Was hier im Ganzen nachkommt, ist wichtige Gelehrtenarbeit, aber im Grunde,
d. h. philosophisch, ein ratloses und : zerfahrenes Gestammel, das seine Einheit
nur bezieht aus der Aufeinanderfolge der Philosophen und ihrer Schriften oder
»Probleme«.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 214 |
Was zum Begriff des »Idealismus« gehört.
1. Idea als Anwesung des Was und ihre Beständigkeit
(dies aber gerät unbegriffen in Vergessenheit und wird mißdeutet
zum ens en tium als aeternum !).
2. Das noein (logoV),
aber noch nicht festgemacht im »Ich«, sondern yuch),
zwh..
3. Gleichwohl damit vorgezeichnet: das perceptum, das Vor-gestellte, Vor-sich-bringbare,
Anwesende, eines percipere, das ist ego percipio als cogito me cogitare; das
Sich-mitvorstellen als das, dem vor-gestellt wird, in dessen Sicht und Angesicht
das Aussehen er-scheint.
4. Vorgestelltheit als Gegen-ständlichkeit und »Selbst«-(lch)
gewißheit als Grund der Gegenständlichkeit, d. h. der Seiendheit
(Sein und Denken).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 214-215 |
Im Sinne des streng geschichtlichen Begriffes des »Idealismus«
war Plato niemals »Idealist«, sondern »Realist«, d.h.
aber nicht, daß er die Außenwelt an sich nicht leugnet, sondern
die idea als das Wesen des on,
als realitas der res lehrte. Aber der »Idealismus« freilich ist,
gerade als neuzeitlicher, Platonismus, insofern auch für ihn die
Seiendheit aus dem » Vorstellen« (noein),
d. h. in Verkoppelung mit Aristotelischen Anstößen aus dem logoV
als dianoeiqai begriffen werden muß, d. h.
aus dem Denken, das nach Kant ist das Vor-stellen von etwas im Allgemeinen (Kategorien
und Urteilstafel; Kategorien und das Sichselbstwissen der Vernunft bei Hegel).
Überhaupt: maßgebend für die ganze Geschichte der abendländischen
Philosophie, Nietzsche inbegriffen: Sein und Denken. Obzwar Nietzsche das Seiende
als Werden erfährt, bleibt er mit dieser Auslegung als Gegner innerhalb
des überlieferten Rahmens, das Seiende wird nur anders ausgelegt, aber
die Seinsfrage als solche nie gestellt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 215 |
Bedenken wir, daß die Herrschaft des Platonismus in den verschiedenen
Richtungen und Gestalten nun auch die Auffassung der vorplatonischen Philosophie
leitet (und zwar gerade bei Nietzsche), dann wird deutlich, welche Bedeutung
der entscheidenden Auslegung des on als idea
zukommt und damit der Frage: was hier eigentlich vor sich ging.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 215 |
Aus der platonischen Auslegung des Seienden erwächst eine Vorstellungsweise,
die künftig in verschiedenen Gestalten die Geschichte der Leitfrage (vgl.
S. 75 und 171; HB) und damit die abendländische Philosophie im ganzen
von Grund auf beherrscht.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 216 |
Die »fundamentalontologische« Transzendenz in »Sein
und Zeit«. hier wird dem Wort »Transzendenz« sein ursprünglicher
Sinn zurückgegeben: die Übersteigung als solche, und sie wird begriffen
als Auszeichnung des Da-seins, umd damit anzuzeigen, daß dieses je schon
im Offenen des Seienden steht. Damit verkoppelt sich und bestimmt sich zugleich
näher die »ontologische« »Transzendenz«, sofern
die daseinsmäßige eben ursprünglich begriffen ist als Seinsverständnis.
Aber da nun zugleich Verstehen als geworfener Entwurf gefaßt ist,
besagt Transzendenz: in der Wahrheit des Seyns stehen, freilich ohne dies zunächst
zu wissen und zu erfragen. - Da nun aber das Da-sein als Da-sein ursprünglich
das Offene der Verbergung besteht, kann streng genommen von einer Transzendenz
des Da-seins nicht gesprochen werden; im Umkreis dieses Ansatzes muß die
Vorstellung von »Transzendenz« in jedem Sinne verschwinden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 217 |
Eine häufige Verwendung findet diese Vorstellung dan noch in der
»erkenntnistheoretischen« Betrachtung, die anheben bei Descartes
dem »Subjekt« zunächst das Hinaus- und Hinübersteigen
zum »Objekt« verwehrt bzw. diesen Bezug zweifelhaft macht. Auch
diese Art von »Transzendenz« ist mit der Ansetzung des Da-seins
überwunden, indem sie im voraus übergangen wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 217-218 |
»Transzendenz« schließt überall in sich den Ausgang
von dem als bekannt und vertraut genommenen »Seienden« für
einen irgendwie gerichteten Hinausgang darüber. Von der Grundfrage (vgl.
S. 76 und 171; HB) nach der Wahrheit des Seyns her gesehen liegt darin
ein Steckenbleiben in der Frageweise der Leitfrage (vgl.
S. 75 und 171; HB), d.h. in der Metaphysik.
Mit dem Übergang zur Grundfrage ist aber alle Meta-physik überwunden.
Dieser Übergang muß sich aber deshalb um so klarer besinnen auf die
ihn nich umgebenden und unvermeidlichen, wenn auch nur in der Abwehr ihn noch
bestimmenden Formen des Platonismus.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 218 |
Nietzsches Philosophie, die gerade, weil sie sich als Umkehrung
des Platonismus begreift, in diesen, durch die Hintertür gleichsam, zurückfällt.
Auch da, wo Nietzsche als übergehender Denker zuletzt aus dem Platonismus
und seiner Umkehrung herausgedreht wird, kommt es nicht zu einer ursprünglich-überwindenden
Fragestellung nach der Wahrheit des Seyns und nach dem Wesen der Wahrheit.-Andererseits
ist Nietzsche derjenige, der erstmals die Schlüsselstellung Platons und
die Tragweite des Platonismus für die Geschichte des Abendlandes (Heraufkunft
des Nihilismus) erkannt hat. Genauer: Er hat die Schlüsselstellung Platons
geahnt; denn Platons Stellung zwischen der vor-platonischen und der nach-platonischen
Philosophie wird erst sichtbar, wenn die vorplatonische aus sich anfänglich
begriffen und nicht wie bei Nietzsche platonisch ausgelegt wird. Nietzsche blieb
in dieser Auslegung hängen,weil er nicht die Leitfrage (vgl.
S. 75 und 171; HB) als solche erkannte und den Übergang zur Grundfrage
(vgl. S. 76 und 171; HB) vollzog. Nietzsche hat
aber,und das wiegt zunächst mehr, den Platonismus in seinen verstecktesten
Gestalten aufgespürt: Christentum und seine Verweltlichungen sind überall
»Platonismus fürs Volk«.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 218-219 |
Um eine Bereitschaft zu schaffen für den Einsprung in das Da-sein,
ist es daher eine unumgängliche Aufgabe, die Überwindung des Platonismus
einzuleiten durch das ursprünglichers Wissen um sein Wesen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 219-220 |
Was in »Sein und Zeit« als »Destruktion« entfaltet
ist, meint nicht Abbau als Zerstörung, sondern Reinigung in der
Richtung des Freilegens der metaphysischen Grundstellungen. Aber dies alles
ist im Blick auf den Vollzug von Anklang und Zuspiel nur das Vorspiel.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 221 |
Das Apriori meint immer ... in der Metaphysik, entsprechend deren
Ansatz bei Plato, die Vorgängigkeit der Seiendheit vor dem Seienden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 222 |
Das Apriori wandelt sich mit der idea zur
perceptio, d.h. das Apriori wird dem ego perceptio und dami dem »Subjekt«
zugewiesen; es kommt zur Vorrgängigkeit der Vor-stellens.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 223 |
Was in »Sein und Zeit« als »Seinsverständnis«
angesetzt ist, schien nur die Erweiterung dieses vorgängigen Vorstellens
zu sein, und dennoch (Verstehen als Ent-wurf - Da-sein) ist es etwas ganz anderes;
als Übergang aber west es in die Metaphysik zurück. Die Wahrheit
des Seyns und die Wesung des Seyns ist weder das Früheres noch das Spätere.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 223 |
Das Da-sein ist die Gleichzeitigkeit des Zeit-Raumes mit dem Wahren
als dem Seienden, west als der gründende Grund, als das »Zwischen«
und die »Mitte« des seienden selbst.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 223 |
Zu Nietzsches metaphysischer Grundstellung.
Dazu die Frage der »Rangordnung« und zwarnicht der »Werte«
überhaupt und an sich, sondern des Menschseins: der Herr und der
Knecht. - Wie hängt diese Frage mit der Metaphysik und mit metaphysischen
Grundstellung zusammen? Vgl. dazu die entfaltung der Leitfrage (vgl.
S. 75 und 171; HB): Der Mensch und das menschsein als Frager, Gründer
der Wahrheit. - Wann, wie die eigentliche »Wahrheit«
und d.h. zugleich ihre Überwindung und Verklärung möglich und
übertragen ist dem »Vornehmen«. - Wahrheit als Festmachung
und, weilGleichmachung, immer notwendig für diejenigen, die von unten nach
oben blicken, nicht aber für die mit dem umgekehrten Blick. - Die Frage
der Rangordnung in diesem Sinne als übergängliche Frage, Notwendigkeit
der Auszeichnung und der Einzikeit, um die Eröffnung des Seins zu vollziehen.
- Ursprünglicher aber als diese Frage muß werden diejenige nach dem
Zeit-Raum, d.h. die Wahrheitsfrage als anfängliche Frage nach dem
Wesen des Wahren.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 224 |
Der Untergang ist die Sammlung aller Größe in den Augenblick
der Bereitschaft zur Wahrheit der Einzigkeit und Einmaligkeit des Seyns.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 228 |
Der Eintritt des Menschen in die Seinsgeschichte ist unberechenbar und
unabhängig von allem Fortschritt oder Niedergang der »Kultur«,
solange die »Kultur« selbst die Verfestigung der Seinsverlassenheit
des Seienden bedeutet und die zunehmende Verfilzung des Menschenwesens in seinem
»Anthropologismus« betreibt oder gar den Menschen noch einmal in
die christliche Verkennung aller Wahrheit des Seyns zurückdrückt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 228 |
Die »fundamentalontologische« Besinnung (Grundlegung der
Ontologie als ihre Überwindung) ist der Übergang aus
dem Ende des ersten Anfangs zum anderen Anfang. Dieser Übergang aber ist
zugleich der Anlauf für den Sprung, durch den alleibn ein Anfang und zumal
der andere, als ständig überholter vom ersten, anfangen kann.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 228-229 |
Hier im Übergang bereitet sich die ursprünglichste und deshalb
geschichtlichste Entscheidung vor, jenes Entweder-Oder, dem keine Verstecke
und Bezirke des Ausweichens bleiben: entweder dem Ende verhaftet bleiben
und seinem Auslauf und d.h. erneuten Abwandlungen der »Metaphysik«,
die immer grober und grund- und zielloser werden (der neue »Biologismus«
und dgl.), oder den anderen Anfang anfangen, d.h. zu seiner langen Vorbereitung
entschlossen sein.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 229 |
Das »Sein« als summum ens wird causa prima des Seienden
als ens creatum; das Sein als essentia, idea wird das a priori der gegenständlichkeit
der Gegenstände. - Das Sein wird das Gemeinste und Leerste und Bekannteste
und zugleich das Seiendste als jene Ursache, da »Absolute«. - In
allen Abwandlungen und Verweltlichungen der abendländischen Metaphysik
ist dieses wieder zu erkennen: das Sein im Dienste des Seienden, auch wenn es
als Ursache scheinbar doe Herrschaft hat.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 229 |
Im anderen Anfang aber ist das Seiende, damit es die Lichtung, in die
es hereinsteht, zugleich trage, welche Lichtung west als Lichtung des Sichverbergens,
d.h. des Seyns als Ereignis. - Im anderen Anfang wird alles Seiende dem Seyn
geopfert, und von da aus erhält erst das Seiende als solches seine Wahrheit.
- DasSeyn aber west als das Ereignis, die Augenblicksstätte der Entscheidung
über Nähe und Ferne des Letzten Gottes. - Hier ist in der unumgänglichsten
Gewöhnlichkeit des Seienden das Seyn das Ungewöhnlichste; und diese
Befremdung des Seyns ist nicht eine Erscheinungsweise desselben, sondern es
selbst. - Der Ungewöhnlichkeit des Seyns entspricht im Gründungsbereich
seiner Wahrheit, d.h. im Da-sein, die Einzigkeit des Todes. - Der furchtbarste
Jubel muß das Sterben eines Gottes sein. Nur der Mensch »hat«
die Auszeichnung, vor dem Tod zu stehen, weil der Mensch inständig ist
im Seyn: Der Tod das höchste Zeignis des Seyns. - Im anderen Anfang muß
die Wahrheit des Seyns gewagt werden als Gründung, Erdenkung des Da-seins.
Nur im Da-sein wird dem Seyn jene Wahrheit gegründet,in der alles Seiende
nur umwillen des Seyns ist, des Seyns, das als Wegspur des letzten Gottes aufleuchtet.
Durch die Gründung des Da-seins verwandelt sich der Mensch (Sucher,
Wahrer, Wächter). - Diese Verwandlung schafft den Raum der anderen
Notwendigkeiten der Entscheidung über Nähe und Ferne der Götter.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 230 |
Im anderen Anfang gilt es den Sprung in die erklüftende
Mitte der Kehre des Ereignisses, um so das Da hinsichtlich seiner Gründung
wissend - fagend - stilbereitend vorzubereiten. - Das Seiende können wir
nie begreifen durch Erklärung und Ableitung aus anderem Seienden. es ist
nur zu wissen aus seiner Gründung in der Wahrheit des Seyns.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 231 |
Aber wie selten rückt der Mensch vor in diese Wahrheit; wie leicht
und schnell kommt er aus mit dem Seienden und bleibt so des Seins enteignet.
Wie zwingend scheint die Entbehrlichkeit der Wahrheit des Seins.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 231 |
Der Sprung in der Vorbereitung durch das Fragen der Grundfrage
(vgl. S. 76 und 171; HB). Dazu
ist nötig das Wissen um die Leitfrage (vgl. S. 75
und 171; HB) und den Übergang. Die Leitfrage selbst wißbar
nur in ihrer bisher verborgenen Geschichte (...).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 232 |
Die Versetzung in das Wesen des Seyns und damit das Fragen der Vorfrage
(Wesen der Wahrheit) ist anders als alle Vergegenständlichung des Seienden
und aller unmittelbare Zugang auf dieses; hierbei wird entweder der Mensch überhaupt
vergessen, oder das Seiende wird als Gewisses dem »Ich« und Bewußtsein
zugewiesen. Dagegen: die Wahrheit des Seyns und damit das Wesen der Wahrheit
west nur in der Inständigkeit im Da-sein, in der Erfahrung der Geworfenheit
in das Da aus der Zugehörigkeit zum Zuruf des Ereignisses.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 233 |
»Sein und Zeit« ist der Übergang zum Sprung
(Fragen der Grundfrage [vgl. S. 76
und 171; HB]).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 234 |
Verzicht auf eine Geltung und Verwendung im Sinne
einer »Weltanschauung« und »Lehre« und Verkündigung.
Nicht Verkündiung neuer Lehren an einen festgefahrenen Menschenbetrieb,
sondern Verrückung des Menschen aus der Notlosigkeit in die Not
der Notlosigkeit als die äußerste.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 235 |
Sein west als die Wahrheit des Seienden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 235 |
Lichtung und Verbergung, die Wesung der Wahrheit ausmachend, dürfen
... nie als leerer Verlauf und als Gegenstand der »Erkenntnis«,
als eines Vorstellens, genommen werden. Lichtung und Verbergung sind entrückend-berückend
das Ereignos selbst.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 236 |
Der eigentlichste und weiteste Sprung ist der des Denkens.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 237 |
Der Sprung (der geworfene Entwurf) ist der Vollzug des Entwurfs der
Wahrheit des Seyns im Sinne der Entrückung in das Offene, dergestalt, daß
der Werfer des Entwurfs als geworfener sich erfährt, d.h. er-eignet durch
das Seyn. Die Eröffnung durch den Entwurf ist nur solche, wenn sie als
Erfahrung der Geworfenheit und damit der Zugehörigkeit zum Seyn geschieht.
Das ist der wesentliche Unterschied gegenüber aller nur transzendentalen
Erkenntnisart hinsichtlich der Bedingungen der Möglichkeit. - Die Geworfenheit
aber bezeugt sich und bezeugt sich nur in den Grundgeschehnissen der verborgenen
Geschichte des Seyns und zwar für uns zumal in der Not der Seinsverlassenheit
und in der Notwendigkeit der Entscheidung. - Indem der Werfer entwirft, »vom
Ereignis« denkerisch sagt, enthüllt sich, daß er selbst, je
entwerfender er wird, um so geworfener schon der Geworfene ist. - In der Eröffnung
der Wesung des Seyns wird offenbar, daß das Da-sein nichts leistet, es
sie denn den Gegenschwung der Er-eignung aufzufangen, d.h. in diesen einzurücken
und so erst selbst es selbst zu werden: der Wahrer des geworfenen Entwurfs,
der gegründete Gründer des Grundes.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 239 |
So wird durch die Wahrheit des Seyns (denn das ist diese zugewiesene
Lichtung) der Mensch ursprünglich und anders in Anspruch genommen. Der
Mensch wird durch diesen An-spruch des Seyns selbst ernannt zum Wächter
der Wahrheit des Seyns (Mensch-sein als »Sorge«, gegründet
im Da-sein).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 240 |
Seyn und Zeit. Die »Zeit« sollte
erfahrbar werden als der »ekstatische« Spielraum der Wahrheit des
Seyns. Die Ent-rückung in das Gelichtete sollte die Lichtung selbst gründen
als das Offene, in dem das Seyn sich in sein Wesen sammelt. Solches Wesen kann
nicht wie ein Vorhandenes nachgewisen werden, seine Wesung muß wie ein
Stoß erwartet werden. Das Erste und Lange bleibt: in dieser Lichtung warten
zu können, bis die Winke kommen. Denn das Denken hat nicht mehr die Gunst
des »Systems«, es ist geschichtlich in dem einzigen Sinne, daß
das Seyn selbst als Er-eignis jede Geschichte erst trägt und deshalb nie
errechnet werden kann. An die Stelle der Systematik und der Herleitung tritt
die geschichtliche Bereitschaft für die Wahrheit des Seyns. - Und dies
fordert zuvor, daß diese Wahrheit selbst aus ihrem kaum anklingenden Wesen
doch schon die Grund-züge ihrer Stätte schaffe (das Da-sein), in deren
Erbauer und Wächter da Subjekt des Menschen sich wandeln muß. - Um
den Vollzug dieses Vorbereitenden unserer Geschichte handelt es sich allein
in der Seinsfrage. Alle »Inhalte« und »Meinungen« und
»Wege« im besonderen des ersten Versuchs von »Sein und Zeit«
sind zufällig und können verschwinden. - Aber bleiben muß der
Ausgriff in den Zeit-Spiel-Raum des Seyns. Dieser Ausgriff ergreift jeden, der
stark genug geworden, die ersten Entscheidungen durchzudenken, in deren Bereich
mit dem Zeitalter, dem wir eingeeignet bleiben, ein wissender Ernst zusammentaugt,
der sich nicht mehr stößt an gut und schlecht, an Verfall und Rettung
der Überlieferung, an Gutmütigkeit und Gewalttat, der nur sieht und
faßt, was ist, um aus diesem Seienden, darin das Unwesen waltet
als ein Wesentliches, in das Seyn hinauszuhelfen und die Geschichte in ihren
eigenwüchsigen Grund zu bringen. - »Sein und Zeit« ist daher
kein »Ideal« und kein »Programm«, sondern der sich vorbereitende
Anfang der Wesung des Seyns selbst, nicht was wir erdenken, sondern was
uns, gesetzt, daß wir dafür reif geworden, in ein Denken zwingt,
das weder eine Lehre gibt noch ein »moralisches« Handeln veranlaßt,
noch die »Existenz« sichert, das vielmehr »nur« die
Wahrheit gründet als den Zeit-Spiel-Raum, in dem das Seiende wieder seiend,
d.h. zur Verwahrung des Seyns werden kann. - Weil es dieser Verwahrungen mancheiner
und auszeichnender bedarf, überhaupt das Seiende in sich erstehen zu
lassen, muß Kunst sein, die in ihr Werk die Wahrheit setzt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 242-243 |
Einst wurde die Seiendheit zum Seiendsten (ontwV
on), und dieser Meinung zufolge wurde das Seyn zum Wesen des Gottes selbst,
wobei der Gott begriffen wurde als die verfertigende Ursache alles Seienden
(die Quelle des »Seins« und daher notwendig selbst das höchste
»Seyn«, das Seindste). - Dies bringt den Anschein herauf, als sei
damit das Seyn (weil in dieses Seiendste verlegt) am höchsten geschätzt
und demnach auch in seinem Wesen getroffen. Und dennoch ist dieses die Verkennung
des Seyns und das Ausweichen vor der Frage nach ihm. - Das Seyn gelangt erst
in seine Größe, wenn es als jenes erkannt ist, was der Gott der Götter
und alle Götterung brauchen. Das »Gebrauchte« widersetzt
sich aller Nutzung. Denn es ist das Er-eignis der Er-eignung des Da-seins, worin
als der Wesung der Wahrheit die stille Stätte gegründet wird, der Zeit-spiel-raum
des Vorbeigangs, das ungeschützte Inmitten, das den Sturm der Er-eignung
entfesselt. - Das Seyn ist nicht und nie seiender als das Seiende, aber auch
nicht unseiender als die Götter, weil diese überhaupt nicht »sind«.
Das Seyn »ist« das Zwischen inmitten des Seienden und der Götter
und ganz und in jeder Hinsicht unvergleichlich, von diesen »gebraucht«
und jenem entzogen. - Deshalb nur er-reichbar im Sprung in die Seinsverlassenheit
als Götterung (Verweigerung).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 243-244 |
Kommt nur dem Menschen die Ahnung des Seyns? Woher wissen wir dieses
Ausschließliche? Und ist dieses Ahnen des Seyns die erste und wesentliche
Antwort auf die Frage, was der Mensch sei? Denn die erste Antwort auf
die Frage ist die Wandlung dieser Frage in die Form: wer der Mensch sei.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 245 |
Der Mensch ahnt das Seyn, ist der Ahnende des Seyns, weil das Seyn ihn
sich er-eignet, und zwar so, daß die Er-eignung erst ein Sich-eigenes
braucht, ein Selbst, welche Selbstheit der Mensch zu bestehen hat in
der Inständigkeit, die innestehend im Da-sein den Menschen zu jenem
Seienden werden läßt, das nur erst in der Wer-frage getroffen wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 245 |
Das Seyn »ist«, vom Seienden aus gesehen, nicht das
Seiende: das Nichtseiende und so nach dem gewöhnlichen Begriff das Nichts.
Gegen diese Erkärung ist kein Bedenken vorzubringen, zumal wenn das Seiende
als das Gegenständliche und Vorhandene genommen wird und das Nichts eben
als die völlige Verneinung des so gemeinten Seienden. Wobei das Verneinen
selbst den Charakter der gegenständlichen Aussage hat. - Diese »negative«
Bestimmung des »Nichts«, bezogen auf den so allgemeinsten und leersten
Gegenstandsbegriff von »Sein«, ist allerdingd das »Nichtigste«,
dem jedermann sogleich und leicht abgünstig wird. Sollte unser Fragen nur
diese zugestandene (aber gleichwohl noch nicht begriffene) Nichtigkeit angehen,
dann dürfte es nicht beanspruchen, die Metaphysik in Frage zu stellen und
die Zusammengehörigkeit von Sein und Nichts ursprünglicher zu bestimmen.
- Wie aber, wenn das Seyn selbst das Sichentziehende wäre und als die Verweigerung
weste? Ist diese ein Nichtiges oder höchste Schenkung? Und ist gar erst
kraft dieser Nichthaftigkeit des Seyns selbst das »Nichts«
voll jener zuweisenden »Macht«, deren Beständnis alles
»Schaffen« (Seienderwerden des Seienden) entspringt? - Wenn nun
die Seinsverlassenheit zum »Seienden« der Machenschaft und des Erlebens
gehört, darf es da verwundern, wenn das »Nichts« als das nur
Nichtige mißdeutet wird? - Wenn das Ja des »Machens« und des
»Erlebens« so ausschließlich die Wirklichkeit des Wirklichen
bestimmt, wie verwerflich muß dann alles Nein und Nicht sich ausnehmen!
Denn immer hängt die Entscheidung über das Nicht und Nein in der Art,
wie man unmittelbar und unbesehen das geläufige Ja zu dem Ja schlechthin
aufsteigert, das jedem Nein das Maß leiht. - Doch das wesentliche, »schaffende«
Jasagen ist schwerer und seltener, als es die geläufige Zustimmung zum
Gängigen und Faßlichen und Befriedigenden wahrhaben möchte.
Deshalb müssen die Ängstlichen und die Verächter des Nein immer
erst befragt werden nach ihrem »Ja«. Und dann zeigt sich
oft, daß sie selbst ihres Ja nicht einmal sicher sind. Sollte dies der
Grund sein, der sie zu dem angeblichen tapferen Widersachern des »Nichts«
werden läßt? - Und zuletzt, das Ja und das Nein, welchen Ursprungs
sind sie beide samt ihrem Unterschied und Gegensatz? Und noch anders: Wer gründete
den Unterschied der Bejah- und Verneinbarkeit, das Und des Bejahbaren und Verneinbaren?
Hier versagt alle »Logik« und die Metaphysik erst recht, da sie
ja die Seiendheit nur aus dem Denken her begreift. - Das Gegenwendige
muß in der Wesung des Seyns selbst liegen, und der Grund ist die Er-eignung
als Verweigerung, die eine Zuweisung ist. Dann wäre sogar das Nicht und
Nein das Ur-sprünglichere im Seyn.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 246-247 |
Diese Unterscheidung ist seit »Sein und Zeit« als »ontologische
Differenz« gefaßt, und dieses in der Absicht, die Frage nach der
Wahrheit des Seyns gegen alle Vermischung sicherzusttellen. Aber sogleich ist
diese Unterscheidung auf die Bahn gedrängt, aus der sie herkommt. Denn
hier macht sich die Seiendheit geltend als die ousia,
idea, und in ihrem Gefolge die Gegenständlichkeit
als Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandes. Deshalb bedurfte
es im Versuch der Überwindung des ersten Ansatzes der Seinsfrage in »Sein
und Zeit« und seiner Ausstrahlungen (»Vom Wesen des Grundes«
und Kantbuch [Kant und das Problem der Metaphysik {Gesamtausgabe Band 3}]) der
wechselnden Versuche, der »ontologischen Differenz« Herr zu werden,
ihren Ursprung selbst und d.h. ihre echte Einheit zu fassen. Deshalb
bedurfte es der Bemühung, von der »Bedingung der Möglichkeit«
als eines nur »mathematischen« Rückganges freizukommen und
die Wahrheit des Seyns aus dessen eigenem Wesen zu fassen (Ereignis).
Daher das Quälende und Zwiespältige dieser Unterscheidung. Denn so
notwendig sie ist, aus dem Herkömmlichen gedacht, um überhaupt einen
ersten Gesichtskreis für die Seynsfrage zu schaffen, so verhängnisvoll
bleibt doch diese Unterscheidung. Denn diese Unterscheidung entspringt ja gerade
einem Fragen nach dem Seienden als solchem (nach der Seiendheit). Auf diesem
Wege aber ist niemals zur Seynsfrage unmittelbar zu gelangen. Mit anderen Worten,
diese Unterscheidung wird gerade zur eigentlichen Schranke, die ein Fragen der
Seynsfrage verlegt, sofern versucht wird, unter Voraussetzung des Untersd1iedes
von diesem weiter nach seiner Einheit zu fragen. Diese Einheit kann immer nur
der Widerschein des Unterschiedes bleiben und niemals in den Ursprung führen,
von dem aus diese Unterscheidung als nicht mehr ursprüngliche ersehen werden
kann.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 250 |
Deshalb gilt es, nicht das Seiende zu übersteigen (Transzendenz), sondern
diesen Unterschied und damit die Transzendenz zu überspringen und anfänglich
vom Seyn her und der Wahrheit zu fragen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 250-251 |
Im übergänglichen Denken jedoch müssen wir dieses Zwiespältige
aushalten: einmal mit dieser Unterscheidung zur ersten Klärung einzusetzen
und dann doch gerade diese Unterscheidung zu überspringen. Dieses
Überspringen aber geschieht mit durch den Sprung als die Er-gründung
des Grundes der Wahrheit des Seyns, durch den Einsprung in das Ereignis des
Da-seins.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 251 |
Das Seyn braucht den Menschen, damit es wese, und der Mensch gehört dem
Seyn, auf daß er seine äußerste Bestimmung als Da-sein vollbringe.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 251 |
Wird aber das Seyn nirot abhängig von einem Anderen, wenn dieses
Brauchen sogar sein Wesen ausmacht und nicht nur eine Wesensfolge ist?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 251 |
Wie dürfen wir aber da von Ab-hängigkeit reden, wo dieses Brauchen
gerade das Gebrauchte in seinen Grund umschafft und zu seinem Selbst erst überwältigt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 251 |
Und wie kann der Mensch umgekehrt das Seyn unter seine Botmäßigkeit
bringen, wenn er doch gerade seine Verlorenheit an das Seiende daran geben muß,
um der Er-eignete und Zugehörige zum Seyn zu werden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 251 |
Dieser Gegenschwung des Brauchens und Zugehörens macht das Seyn
als Ereignis aus, und die Schwingung dieses Gegenschwunges in die Einfachheit
des Wissens zu heben und in seiner Wahrheit zu gründen, ist das Erste,
was uns denkerisch obliegt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 251 |
Dabei aber müssen wir der Gewöhnung entsagen, diese Wesung des Seyns
als ein für jedermann jederzeit beliebig Vorstellbares sicherstellen zu
wollen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 251 |
Vielmehr erringen wir die Einzigkeit der Schwingung in ihrem reinen Sichverbergen
je nur im Einsprung, wissend, daß wir da nicht das »Letzte«
erlangen, sondern die Wesung der Stille, das Endlichste und Einzigste als Augenblicksstätte
der großen Entscheidung über den Ausbleib und die Ankunft der Götter
und darin erst die Stille der Wacht für den Vorbeigang des letzten
Gottes.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 252 |
Die Einzigkeit des Seyns (als Ereignis), die Unvorstellbarkeit
(kein Gegenstand), die höchste Befremdlichkeit und das wesentliche
Sichverbergen, das sind Weisungen, denen folgend wir uns zuerst bereit
machen müssen, um entgegen der Selbstverständlichkeit des Seyns das
Seltenste zu erahnen, in dessen Offenheit wir stehen, auch wenn unser Menschsein
zumeist das Weg-sein betreibt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 252 |
Jene Weisungen sprechen nur an, wenn wir zumal die Not der Seinsverlassenheit
ausstehen und uns der Entscheidung über den Ausbleib und die Ankunft
der Götter stellen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 252 |
Inwiefern jene Weisungen die Grundstimmung der Verhaltenheit erwirken
und inwiefern die Verhaltenheit zur Fügsamkeit gegen jene Weisungen stimmt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 252 |
In »Sein und Zeit« erstmals begriffen als »Seinsverständnis«,
wobei Verstehen als Entwurf zu fassen und die Entwerfung als geworfene
und das will sagen zugehörig der Er-eignung durch das Seyn selbst.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 252 |
Verkennen wir aber zuvor die Befremdlichkeit und Einzigkeit (Unvergleichbarkeit)
des Seyns und in eins damit das Wesen des Da-seins, dann verfallen wir allzu
leicht der Meinung, dieser »Bezug« entspräche oder sei gar
gleichzusetzen demjenigen zwischen Subjekt und Objekt. Doch Da-sein hat alle
Subjektivität überwunden, und Seyn ist niemals Objekt und Gegenstand,
Vor-stellbares; gegenstandsfähig ist immer nur Seiendes und auch hier nicht
jedes.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 252 |
Wie aber, wenn die »Subjektivität« wie bei Kant als
transzendentale begriffen wird und somit der Bezug auf die Gegenständlichkeit
des Gegenstandes, und wenn überdieses der Gegenstand, die »Natur«,
als das allein erfahrbare Seiende gilt, und somit die Gegenständlichkeit
mit der Seiendheit sich deckt, bietet sich da nicht eine Gelegenheit, ja eine
geschichtlich einzigartige Grundstellung, an der trotz aller wesentlichen
Unterschiede jener Bezug von Da-sein und Seyn den Heutigen aus dem Bisherigen
erstmals näher gebracht werden kann? Allerdings. Und das ist versucht im
»Kantbuch«; war aber nur dadurvh möglich, daß gegen Kant
Gewalt gebraucht wurde in der Richtung einer ursprünglicheren Fassung eben
des transzendentalen Entwurfs in seiner Einheitlichkeit, Herausstellung
der transzendentalen Einbildungskraft. Diese Kantauslegung ist »historisch«
unrichtig, gewiß, aber sie ist geschichtlich, d.h. auf die Vorbereitung
des künftigen Denkens und nur darauf bezogen, wesentlich, eine geschichtliche
Anweisung auf ein ganz Anderes. - Doch ebenso sicher, wie Kants Werk durch solche
Auslegung »historisch« mißdeutet wird, kommt nun auch wieder
dasjenige, was als das Andere, Künftige, nähergebravht werden soll,
in die Mißdeutung: es scheint nichts anderes zu sein als ein »existenziell«
oder sonstwie modernisierter »Kantianismus«. Doch indem man behauptet
und mit Recht behauptet, Kant sei hier historisch verzeichnet, muß man
auch darauf verzichten, die Grundstellung, aus der her und auf die zu die Verzeichnung
erfolgte, nun doch als Kantianismus auszugeben. Mit anderen Worten, solche historische
vergleichende Verrechnung trifft nicht das Wesentliche. Geschichtliche Auseinandersetzung
(vgl. Das Zuspiel) ist eben ein Vorgehen, das gleichsehr die frühere Geschichte
in ihre verborgene Größe zurückstellt und zugleich und nur so
das andere Fragen nicht zum Vergleich gegenüberstellt, sondern als
Fügsamkeit gegenüber jener Größe und ihren Notwendigkeiten
zum Vollzug bringt. - Und so ist das »Kantbuch« notwendig durch
und durch zweideutig und doch nicht eine zufällige Mitteilung, weil Kant
der Einzige bleibt, der die Auslegung der Seiendheit (ousia)
seit den Griechen in einen gewissen Bezug zur »Zeit« bringt und
damit zum Zeugen wird für das verborgene Walten des Zusammenhangs von Seiendheit
und Zeit. - Trotzdem behält für ihn, wie schon bei den Griechen, das
Denken (logoV - Urteilsformen - Kategorien - Vernunft)
die Vorhand in der Festlegung des Gesichtskreises der Auslegung des Seienden
als solchen. Außerdem kommt zufolge dem Vorgang Descartes' das Denken
als »Denken« zur Herrschaft, und das Seiende selbst wird, gemäß
demselben geschichtlichen Grund, zum perceptum (Vorgestellten), zum Gegenstand.
Deshalb kann es nicht zu einer Gründung des Da-seins kommen, d. h. die
Frage nach der Wahrheit des Seyns ist hier unfragbar.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 253-254 |
Die Wesung des Seyns als Ereignis (der Bezug von Da-sein und Seyn)
schließt in sich die Er-eignung des Da-seins. Demnach ist streng genommen
die Rede vom Bezug des Da-seins zum Seyn irreführend, sofern die Meinung
nahegelegt wird, als wese das Seyn »für sich« und das Da-sein
nehme die Beziehung zum Seyn auf.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 254 |
Der Bezug des Da-seins zum Seyn gehört in die Wesung des
Seyns selbst, was auch so gesagt werden kann: das Seyn braucht das Da-sein,
west gar nicht ohne diese Ereignung.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 254 |
So befremdlich ist das Er-eignis, daß es durch den Bezug
zum Anderen erst er-gänzt zu werden scheint, wo es doch von Grund aus nicht
anders west.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 254 |
Die Rede vom Bezug des Da-seins zum Seyn macht das Seyn zweideutig,
zum Gegenüber, was es nicht ist, sofern es je das, dem es als Gegenüber
wesen soll, selbst erst er-eignet. Daher ist auch dieser Bezug ganz unvergleichbar
mit der Subjekt-Objekt-Beziehung.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 254 |
Seyn - der merkwürdige Irrglaube, das Seyn müsse immer »sein«,
und je ständiger und länger es sei, umso »seiender« sei
es. - Aber einmal »ist« das Seyn überhaupt nicht, sondern west.
- Und dann ist Seyn das Seltenste weil Einzigste, und niemand erschätzt
die wenigen Augenblicke, in denen es eine Stätte sich gründet und
west. - Wie kommt es, daß der Mensch so sehr am Seyn sich verschätzt?
Weil er dem dem Seienden ausgesetzt sein muß, um die Wahrheit des Seyns
zu erfahren. In dieser Aussetzung ist das Seiende das Wahre, Offene und dieses,
weil das Seyn als das Sichverbergende west.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 255 |
Der Mensch wird als Da-sein vom Seyn als dem Ereignis er-eignet und
so zughehörig zum Ereignis selbst.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 256 |
Im anderen Anfang ... ist das Seiende nie das Wirkliche im Sinne des
»Gegenwärtigen«. Dieses ist, auch wo es in Beständigkeit
begegnet, für den ursprünglichen Entwurf der Wahrheit des Seyns das
flüchtigste.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 257 |
Die Wahrheit des Seyns, worin und als was seine Wesung sich öffnend
vebirgt, ist das Ereignis.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 258 |
Das Verstehen als Entwurf ein geworfener, das ins Offene (Wahrheit)
Kommen, das sich inmitten des eröffneten Seinenden schon findet, gewurzelt
in der Erde, aufragend in eine Welt. So ist das Ver-stehen des Seins als Gründungseiner
Wahrheit das Gegenteil der »Subjektivierung«, weil Überwindung
aller Subjektivität und der von hier bestzimmten Denkweisen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 259 |
Das Seyn west; das Seiende ist - Das Seyn west als das Ereignis.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 260 |
Das Seyn west; das Seiende ist.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 260 |
Das Seyn west als Ereignis.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 260 |
Nur weil das Seyn nichthaft west, hat es zu seinem Anderen das Nichtsein.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 267 |
Wie steht es mit der Machenschaft der Technik, und wie versammelt ich
in ihr alle Bergung bezw. zuvor, wie verfestigt sich in ihr der Ausgriff der
Seinsverlassenheit?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 274 |
Hier ist zu erinnern, daß Bergung immer ist die Bestreitung des
Steites von Welt und Erde, daß diese wechselweise sich überhöhend
unterlaufen, in ihrer Gegenläufigkeit zuvor und vor allem sich die Bergung
der Wahrheit abspielt. - Welt ist irdisch (erdhaft), Erde ist welthaft. Erde
ist in einer Hinsicht ursprünglicher als Natur, weil geschichtsbezogen.
Welt ist höher als das nur »Geschaffene«, weil geschichtebildend
und so dem Eriegnis am nächsten.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 275 |
Wo soll die Technik sein? .... Ist sie der geschichtliche Weg zum Ende,
zum Rückfall des letzten Menschen in das technisierte Tier, das damit sogar
auch die ursprüngliche Tierheit des eingefügten Tieres verliert, oder
kann sie, zuvor als Bergung übernommen, in die Da-seinsgründung eingefügt
werden?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 275 |
Man kann, da alles Lebendige organismisch und d.h. leiblich ist,
dieses Leibliche als Körper und den Körper mechanisch betrachten.
Ja, es gibt sogar gewisse Aufgaben, die eine solche Betrachtung fordern: Größen-
und Gewicht-Messungen (die freilich sogleich im Gesichtskreis einer Auslegung
auf das Lebendige stehen). - Aber die Frage bleibt, ob das, was man hier in
solcher Weise (mechanisch) kann, jemals dahin führt, was
man zuerst und vor allem muß, gesetzt, daß ein Grundverhältnis
zum Lebendigen notwendig ist. Inwiefern trifft da szu? Was sind uns Pflanze
und Tier noch, wenn wir den Nutzen und die Verschönerung und Unterhaltung
abziehen?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 275-276 |
Ist das Lebendige das Mühelose, am schwersten dann zu sehen, wenn
alles auf das Mühsame und dessen Überwindung abgestellt ist und in
der Machenschaft sich bewegt! - Kann es »Biologie« geben, solange
der Grundbezug zum Lebendigen fehlt, solange das Lebendige nicht zum anderen
Widerklang des Da-seins geworden?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 276 |
Aber muß denn »Biologie« sein, wo sie doch nur ihr
Recht und ihre Notwendigkeit aus der Herrschaft der Wissenschaft innerhalb der
neuzeitlichen Machenschaft herleitet? Wird nicht jede Biologie notwendig das
»Lebendige« zerstören und das Grundverhältnis zu ihm unterbinden?
Muß nicht der Bezug zum »Lebendigen« ganz außerhalb
der »Wissenschaft« gesucht werden, und in welchem Raum soll dieser
Bezug sich halten?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 276 |
Das »Lebendige« wird wie alles Gegenstandsfähige dem
Fortschritt der Wissenschaft endlose Möglichkeiten bieten und sich doch
zugleich mehr und mehr entziehen, je grundloser zugleich die Wissenschaft selbst
wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 276 |
Die Natur, herausgesondert aus dem Seienden durch die Naturwissenschaft,
was geschieht ihr durch die Technik? Die wachsende oder besser einfach zu ihrem
Ende abrollende Zerstörung der »Natur«. Was war sie einst?
Die Stätte des Augenblicks der Ankunft und des Aufenthalts der Götter,
als sie noch fusiV, in der Wesung des Seyns selbst
ruhte. - Seitdem wurde sie alsbald ein Seiendes und dann gar das Gegenspiel
zur »Gnade« und nach dieser Absetzung vollends herausgesetzt in
die Verzwingung der berechnenden Machenschaft und Wirtschaft. - Und schließlich
blieb doch noch »Landschaft« und Erholungsgelegenheit und dieses
jetzt auch noch ins Riesenhafte gerechnet und für die Massen zugerichtet.
Und dann? Ist dies das Ende?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 277 |
Warum schweigt die Erde bei dieser Zerstörung?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 277 |
Warum schweigt die Erde bei dieser Zerstörung? Weil ihr nicht der
Streit mit einer Welt, weilihr nicht die Wahrheit des Seyns verstattet ist.
Warum nicht? Weil das Riesending Mensch je riesiger um so kleiner wird?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 277-278 |
Die Zeklüftung hat ihre erste und weiteste Ausmesung im Bedürfen
des Gottes in der einen und in der Zugehörigkeit (zum Seyn) des menschen
nach der anderen Richtung. Hier wesen die Abstürze des Gottes und der Anstieg
des Menschen als des in das Dasein Gegründeten. Die Zerklüftung ist
die innere, unerrechenbare Ausfälligkeit der Er-eignung, der Wesung
des Seyns als der gebrauchten und Zugehör gewährenden Mitte, die bezogen
bleibt auf den Vorbeigang des Gottes und der Geschichte des Menschen zumal.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 279-280 |
Das Er-eignis übereignet den Gott an den Menschen, indem
er diesen dem Gott zueignet.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 280 |
Überall wo das Seiende aus dem Seyn verwandelt, d.h. begründet
werden soll, ist Herrschaft notwendig.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 281-282 |
Herrschaft ist die Notwendigkeit des Freien zum Freien. Sie beherrscht
und west als die Unbedingtheit im Bereich der Freiheit. Ihre Größe
besteht darin, daß sie keiner Macht und somit keiner Gewalt bedarf und
doch wirk-samer bleibt als diese, wenngleich in der ureigenen Art ihrer
Beständigkeit (der scheinbar auf lange hinaus unterbrochenen Stetigkeit
der zu sich bezogenen Augenblicke).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 282 |
Macht - das Vermögen der Sicherung eines Besitzes von Gewaltmöglichkeiten.
Als Sicherung steht sie immer zu einer Gegenmacht und ist deshalb nie ein Ur-sprung.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 282 |
Gewalt - ohn-mächtiger Einbruch eines Veränderungsvermögens
in das Seiende ohne Vorsprung und ohne Aus-sicht auf Möglichkeiten. Überall,
wo Seiendes durch Seiendes (nicht aus dem Seyn) geändert werden soll, ist
Gewalt nötig. Jede Tat ist Gewalt-tat, derart, daß hier die Gewalt
machtmäßig beherrscht ist.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 282 |
Sein zum Tode ..., entfaltet als Wesensbestimmung der Wahrheit des Da-seins,
birgt in sich zwei Grundbestimmungen der Zerklüftung und ist deren meist
unerkannter Widerschein im Da: Einmal verbirgt sich hier die wesenhafte
Zugehörigkeit des Nicht zum Sein als solchem, was hier, im ausgezeichneten
Da-sein als Gründung der Wahrheit des Seins, nur in einer einzigen Schärfe
zu Tage kommt. Dann verbirgt das Sein zum Tode die unergründliche Wesensfülle
der »Notwendigkeit«, wiederum als der einen Kluft des Seins selbst;
Sein zum Tode wieder daseinsmäßig.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 282 |
Der Zusammenstoß von Notwendigkeit und Möglichkeit. Nur in
solchen Bezirken läßt sich erahnen, was in Wahrheit zu dem gehört,
was die »Ontologie« als das blasse und leere Gemengsel der »Modalitäten«
behandelt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 283 |
Das Sein zum Tode. - Was damit im Zusammenhang von »Sein
und Zeit« und nur da, d.h. »fundamentalontologisch«,
niemals anthropologisch und »weltanschaulich« gedacht, vor-gedacht
ist, hat noch Keiner geahnt und nachzudenken gewagt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 283 |
Die Einzigkeit des Todes im Da-sein des Menschen gehört in die ursprünglichste Bestimmung des Da-seins, nämlich vom Seyn selbst er-eignet zu werden, um seine Wahrheit (Offenheit des Sichverbergens) zu gründen. In der Ungewöhnlichkeit und Einzigkeit des Todes eröffnet sich das Ungewöhnlichste in allem Seienden, das Seyn selbst, das als Befremdung west. Aber um von diesem ursprünglichsten Zusammenhang überhaupt etwas ahnen zu können aus dem gewöhnlichen und vernutzten Standort des gemeinen Meinens und Rechnens her, mußte zuvor in aller Schärfe und Einzigkeit der Bezug des Da-seins zum Tode selbst, der Zusammenhang zwischen Entschlossenheit (Eröffnung) und Tod, das Vor-laufen sichtbar gemacht werden. Aber dieses Vor-laufen zum Tode doch nicht, damit das bloße »Nichts« erreicht werde, sondern umgekehrt, damit sich die Offenheit für das Seyn ganz und aus dem Äußersten öffne.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 283 |
Es ist aber ganz in der Ordnung, daß, wenn hier nicht »fundamentalontologisch«
in Absicht auf die Gründung der Wahrheit des Seyns gedacht wird, die schlimmsten
und ungereimtesten Mißdeutungen sich einschleichen und breitmachen und
natürlich eine »Philosophie des Todes« zurechtgemacht wird.
Die Mißdeutungen gerade dieses Abschnittes in »Sein und Zeit«
sind das deutlichste Zeichen für das noch in voller Blüte stehende
Unvermögen, die dort vorbereitete Fragestellung nachzuvollziehen und d.h.
immer zugleich ursprünglicher zu denken und schaffend über sich hinauszubringen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 283-284 |
Daß der Tod in dem wesentlichen Zusammenhang der ursprünglichen
Zukünftigkeit des Daseins in seinem fundamentalontologischen Wesen
entworfen ist, heißt doch zunächst im Rahmen der Aufgabe von »Sein
und Zeit«: er steht im Zusammenhang mit der »Zeit«, die
als Entwurfsbereich der Wahrheit des Seyns selbst angesetzt ist. Schon dieses
ist ein Fingerzeig, deutlich genug für den, der mitfragen will, daß
hier die Frage nach dem Tod im wesentlichen Bezug steht zur Wahrheit
des Seyns und nur in diesem Bezug; daß daher hier nicht und niemals der
Tod als die Verneinung des Seyns oder gar der Tod als »Nichts« für
das Wesen des Seyns genommen wird, sondern im genauen Gegenteil: der Tod das
höchste und äußerste Zeugnis des Seyns. Aber dieses ist nur
zu wissen für den, der das Da-sein zu erfahren und mitzugründen vermag
in der Eigentlichkeit des Selbstseins, die nicht moralisch-persönlich,
sondern immer wieder und nur »fundamentalontologisch« gemeint ist.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 284 |
Das Seyn zum Tode als Bestimmung des Da-seins zu begreifen und
nur so. Hier vollzieht sich die äußerste Ausmessung der Zeitlichkeit
und damit das Beziehen des Raumes der Wahrheit des Seyns, die Anzeige
des Zeit-Raumes. Also nicht, um das »Seyn« zu verneinen,
sondern um den Grund seiner vollwesentlichen Bejahbarkeit zu stiften.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 284 |
Wie armselig und billig aber ist es, das Wort »Sein zum Tode«
herauszugreifen, sich daran eine grobe »Weltanschauung« zurecht-
und diese dann in »Sein und Zeit« hineinzulegen. Scheinbar geht
diese Rechnung besonders gut auf, da ja auch sonst noch in diesem »Buch«
vom »Nichts« die Rede ist. So ergibt sich der glatte Schluß:
Sein zum Tode, d.h. Sein zum Nichts und dies als Wesen des Daseins! Und das
soll kein Nihilismus sein.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 284-285 |
Aber es gilt ja nicht, das Menschsein in den Tod aufzulösen und
zur bloßen Nichtigkeit zu erklären, sondern umgekehrt: den Tod in
das Dasein hereinzuziehen, um das Dasein in seiner abgründigen Weite zu
bewältigen und so den Grund der Möglichkeit der Wahrheit des Seyns
voll auszumessen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 285 |
Aber nicht jeder braucht dieses Seyn zum Tode zu vollziehen und in dieser Eigentlichkeit das Selbst des Da-seins zu übernehmen, sondern dieser Vollzug ist nur notwendig im Umkreis der Aufgabe der Grund-legung der Frage nach dem Seyn, eine Aufgabe, die allerdings nicht auf die Philosophie beschränkt bleibt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 285 |
Der Vollzug des Seins zum Tode ist nur den Denkern des anderen Anfangs eine Pflicht, aber jeder wesentliche Mensch unter den künftig schaffenden kann davon wissen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 285 |
Das Sein zum Tode wäre nicht in seiner Wesentlichkeit getroffen, wenn es nicht den Philosophiegelehrten Gelegenheit zu faden Spötteleien und den Zeitungsschreibern nicht das Recht zum Besserwissen gäbe.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 285 |
Das Sein zum Tode und Sein müssen immer als Bestimmung des
Da-seins begriffen werden, das will sagen: das Da-sein selbst geht nicht darin
auf, sondern umgekehrt schließt das Sein zum Tode in sich, und mit diesem
Einschluß erst ist es volles, ab-gründiges Da-sein, d.h. jenes »Zwischen«,
das dem »Ereignis« Augenblick und Stätte bietet und so dem
Sein zugehörig werden kann.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 285 |
»Weltanschaulich« bleibt das Sein zum Tode unzugänglich,
und wenn es so mißdeutet wird, als sollte damit der Sinn des Seins überhaupt
und somit seine »Nichtigkeit« im gewöhnlichen Sinn gelehrt
werden, dann ist alles aus dem wesentlichen Zusammenhang herausgerissen. Das
Wesentliche wird nicht vollzogen, nämlich das inbegriffliche Denken
des Da-seins, in dessen Lichtung sich die Fülle der Wesung des Seyns verbergend
enthüllt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 285-286 |
Der Tod kommt hier in den Bereich der grund-legenden Besinnung
nicht, um »weltanschaulich« eine »Todesphilosophie«
zu lehren, sondern um die Seinsfrage erst auf ihren Grund zu bringen
und das Da-sein als den ab-gründigen Grund zu eröffnen, in den Entwurf
zu rücken, d.h. ver-stehen im Sinne von »Sein und Zeit«
(nicht etwa um den Tod »verständlich« zu machen für Zeitungsschreiber
und Spießbürger).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 286 |
Wenn das Seyende »ist«, kann das Sein nicht auch
sein, es müßte ja dann als Seiendes gesetzt werden und somit als
eine Eigenschaft und Zugabe zum Seienden, und die Frage nach diesem wäre
damit hinter den ersten Anfang zurückgesunken. Es wäre so überhaupt
noch nicht das Seyn in irgend einer Weise erfragt, sondern geleugnet, aber damit
auch das »Seiende« verhüllt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 286 |
Das Sein ist nicht, und gleichwohl können wir es nicht dem
Nichts gleichsetzen. Aber wir müssen uns andererseits dazu entschließen,
das Seyn als das Nichts zu setzen, wenn »Nichts« besagt das Nicht-Seiende.
Das Seyn aber »ist« über solches »Nichts« hinaus
nun nicht wieder »Etwas«, solches, wobei als einem Vorfindlichen
wir, es vorstellend, ausruhen könnten. Wir sagen: das Seyn west, und nehmen
dabei doch wieder eine Nennung in Anspruch und Gebrauch, die sprachlich dem
Seienden zugehört (vgl. Gewesen-An-wesen).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 286 |
Aber hier in diesem Äußersten muß das Wort Gewalt brauchen,
und Wesung soll nicht etwas nennen, was noch über das Seyn wieder
hinaus liegt, sondern was sein Innerstes zum Wort bringt, das Er-eignis,
jenen Gegenschwung von Seyn und Da-sein, in dem beide nicht vorhandene Pole
sind, sondern die reine Erschwingung selbst.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 286-287 |
Die Einzigkeit dieses Unvor-stellbare im Sinne eines nur
Anwesenden ist die schärfste Abwehr der Bestimmungen der Seiendheit als
idea und genoV, Bestimmungen,
die anfänglich notwendig sind, wenn vom »Seienden« als fusiV
her der Aufbruch zum Seyn erstmals geschieht.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 287 |
Auch in der Wahrheitsfrage drängt sich die Kehre auf: Wesen der
Wahrheit ist Wahrheit des Wesens.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 288 |
Die Verweigerung als Wesung des Seyns ist die höchste Wirklichkeit
des höchsten Möglichen als des Möglichen und ist damit
die erste Notwedigkeit. Da-sein ist Gründung der Wahrheit dieser
einfachsten Zerklüftung.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 294 |
Da-sein - der in der Gründung wesende Grund des künftigen
Menschseins.
DasDa-sein - die Sorge:
Der Mensch auf diesem Grunde des Da-seins.
1. Der Sucher des Seyns (Ereignis).
2. Der Wahrer der Wahrheit des Seins.
3. Der Waächter der Stille des Vorbeigangs des letzten Gottes.
Stille und Ursprung des Wortes.
Zunächst aber die Gründung des Daseins ihrerseits übergänglich.suchend,
Sorge, Zeitlichkeit; Zeitlichkeit auf Temporalität: als Wahrheit
des Seyns. Auf Wahrheit als Offenheit des Sichverbergens ist das Da-sein bezogen,
angesetzt durch Seinsverständnis. Entwerfend das Offene für
das Sein. Da-sein als Entwerfung der Wahrheit des Seyns (»Da«).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 294-295 |
Das Da-sein steht in »Sein und Zeit« noch im Anschein des
»Anthropologischen« und »Subjektivistischen« und »Individualistischen«
u.s.f., und doch ist von allem das Gegen-teil im Blick; freilich nicht als das
zuerst und nur Beabsichtigte, sondem dieses Gegenteilige überall nur als
die notwendige Folge der entscheidenden Wandlung der »Seinsfrage«
aus der Leitfrage (vgl. S. 75; HB) in die Grundfrage (vgl. S. 76; HB).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 295 |
»Seinsverständnis« und Ent-wurf und zwar als geworfener!
Das In-der-Welt-sein des Daseins. »Welt« aber nicht das christliche
saeculum und die Verleugnung des Gottes, Atheismus ! Welt aus Wesen
der Wahrheit und des Da! Welt und Erde (vgl. Vortrag über das Kunstwerk:
Vom Ursprung des Kunstwerkes, Freiburger Vortrag, 1935).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 295 |
Das Da-sein ist die Krisis zwischen dem ersten und dem anderen
Anfang. Das will sagen: Dem Namen und der Sache nach bedeutet Dasein in der
Geschichte des ersten Anfangs (d. h. in der gesamten Geschichte der Metaphysik)
etwas wesentlich anderes als im anderen Anfang.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 295 |
In der Metaphysik ist »Dasein« der Name für die Art
und Weise, wie Seiendes wirklich seiend ist, und meint soviel wie Vorhandensein,
um einen bestimmt gerichteten Schritt ursprünglicher ausgelegt: Anwesenheit.
Diese Kennzeichnung des Seienden darf sogar auf die erstanfängliche Nennung
zurückgedacht werden, auf die fusiV und die
sie bestimmende aleqeia. So bekommt der Name Dasein
vollends den echten erstanfänglichen Gehalt: von sidl. her aufgehend
unverborgen (da) wesen. Durch die ganze Geschichte der Metaphysik zieht
sich aber der nicht zufällige Brauch, den Namen für die Wirklichkeitsweise
des Seienden auf dieses selbst zu übertragen und mit »Dasein«
»das Dasein« zu meinen, das ganze wirklich vorhandene Seiende selbst.
Dasein ist so nur die gute deutsche Übertragung von existentia, das Aussichhervortreten
und -stehen des Seienden, von sich her anwesen (bei wachsendem Vergessen der
aleqeia).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 295-296 |
Durchgängig meint »Dasein« nichts anderes. Und man kann demgemäß vom dinglichen, tierischen, menschlichen, zeitlichen Dasein sprechen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 296 |
Völlig verschieden davon ist Bedeutung und Sache des Wortes Da-sein im Denken des anderen Anfangs, so verschieden, daß es von jenem ersten Gebrauch zu diesem anderen keinen vermittelnden Übergang gibt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 296 |
Das Da-sein ist nicht die Wirklichkeitsweise von jeglichem Seienden,
sondern ist selbst das Sein des Da. Das Da aber ist die Offenheit des Seienden
als solchen im Ganzen, der Grund der ursprünglicher gedachten aleqeia.
Das Da-sein ist eine Weise zu sein, die, indem sie das Da »ist«
(activ-transitiv gleichsam), gemäß diesem ausgezeichneten
Sein und als dieses Sein selbst ein einzigartiges Seiendes ist (das Wesende
der Wesung des Seyns).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 296 |
Das Da-sein ist der eigen sich gründende Grund der aleqeia
der fusiV, die Wesung jener Offenheit, die erst das
Sichverbergen (das Wesen des Seyns) eröffnet und die so die Wahrheit des
Seyns selbst ist.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 296 |
Das Da-sein im Sinne des anderen Anfangs, der nach der Wahrheit des Seyns fragt, ist niemals anzutreffen als Charakter des begegnenden und vorhandenen Seienden; aber auch nicht als Charakter des Seienden, das solches Seiendes zum Gegenstand werden läßt und in Beziehungen zu ihm steht; das Dasein ist
auch kein Charakter des Menschen, als werde jetzt gleichsam nur der sonst bis dahin auf alles Seiende sich erstrekkende Name eingeschränkt in die Bezeichnungsrolle für das Vorhandensein des Menschen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 296-297 |
Gleichwohl stehen Da-sein und Mensch in einem wesentlichen Bezug, sofern das Da-sein den Grund der Möglichkeit des künftigen Menschseins bedeutet und der Mensch künftig ist, indem er das Da zu sein übernimmt, gesetzt, daß er sich als den Wächter der Wahrheit des Seyns begreift, welche Wächterschaft angezeigt ist als die »Sorge«. »Grund der Möglichkeit« ist noch metaphysisch gesprodten, aber aus der abgründig-inständigen Zugehörigkeit gedacht.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 297 |
Das Da-sein im Sinne des anderen Anfangs ist das uns noch ganz Befremdliche, das wir nie vorfinden, das wir allein erspringen im Einsprung in die Gründung der Offenheit des Sichverbergenden, jener Lichtung des Seyns, in die der künftige Mensch sich stellen muß, um sie offen zu halten.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 297 |
Aus dem Da-sein in diesem Sinne wird das Dasein als Anwesenheit des
Vorhandenen erst »verständlich«, d. h. die Anwesenheit
erweist sich als eine bestimmte Aneignung der Wahrheit des Seyns, wobei
die Gegenwärtigkeit gegenüber der Gewesenheit und Künftigkeit
eine bestimmt ausgedeutete Bevorzugung erfahren hat (verfestigt in die Gegenständlichkeit,
Objektivität für das Subjekt).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 297 |
Das Da-sein als die Wesung der Lichtung des Sichverbergens gehört zu diesem Sichverbergen selbst, das als das Er-eignis west.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 297 |
Alle Bereiche und Hinsichten der Metaphysik versagen hier und müssen
versagen, wenn das Da-sein denkerisch gefaßt werden soll. Denn die »Metaphysik«
fragt vom Seienden her (in der anfänglichen und d.h. endgültigen Auslegung
der fusiV) nach der Seiendheit und läßt
die Wahrheit dieser und d. h. die Wahrheit des Seyns notwendig ungefragt. Aleqeia
selbst ist die erste Seiendheit des Seienden, und selbst diese bleibt
unbegriffen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 297 |
Das Da-sein die ständige Ertragsamkeit der Lichtung, d.i. des Freien,
Ungeschützten, Zugheörigen des Da, worin das Seyn sich vebirgt. -
Die inständige Ertragsamkeit der Lichtung des Sichverbergens wird übernommen
in der Sucherschaft, Wahrer- und Wächterschaft des Menschen, der
sich dem Sein ereignet, dem Ereignis als der Wesung des Seyns zugehörig
weiß.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 298 |
Schon die Besinnung auf das Da als die Lichtung für das
Sichverbergen (das Seyn) muß ahnen lassen, wie entscheidend der Bezug
des Da-seins zum Seienden im Ganzen ist, weil das Da die Wahrheit des Seyns
aushält. In dieser Richtung gedacht, rückt das da-sein, selbst nirgendwo
unterbringbar, weg vom Bezug zum Menschen und enthüllt sich als das »Zwischen«,
das vom Seyn selbst entfaltet wird als der offene Hereinragungsbereich für
das Seiende, in welchem Bereich dieses zumal sich auf sich selbst zurückstellt.
Das Da ist ereignet vom Seyn selbst, und der Mensch ist als Wächter der
Wahrheit des Seyns in der Folge ereignet und so zugehörig dem Da-sein in
einer ausgezeichneten einzigen Weise. Sobald daher ein erster Hinweis auf das
Da-sein gelungen ist, muß dem Wesentlichen Folge gegeben werden, was sich
in diesem Hinweis ankündigt: daß das Da-sein vom Seyn ereignet ist
und daß das Seyn als Ereignis selbst die Mitte alles Denkens bildet. -
Erst so kommt das Seyn als Ereignis voll ins Spiel un d ist dabei noch nicht
wie in der Metaphysik das »Höchste«, worauf nur unmittelbar
zurückgegangen wird. - Demgemäß muß nun auch vom Seienden her, gesetzt, daß
es schon anfängt, seiender zu werden, das Da- in seiner gefügten Lichtungsmacht
entfaltet werden. Das Da-sein selbst wird als er-eignetes sich eigener
und der sich öffnende Grund des Selbst; und durch dieses bekommt erst die
Wächterschaft des Menschen ihre Schärfe, Entschiedenheit und Innigkeit.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 299-300 |
Die Frage, wer der Mensch sei, hat jetzt erst das Aufgebrochene einer
Bahn, die gleichwohl im Ungecshützten verläuft und so den Sturm des
Seyns über sich kommen läßt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 300 |
Nur das, was wir, inständlich im Da-sein, gründen und schaffen
und schaffend uns als Ansturm entgegentreten lassen, nur das kann ein Wahres,
Offenbares sein und demzufolge errannt und gewußt werden. Unser Wissen
reicht nur so weit, bls die Inständlichkeit im Da-sein ausgreift und d.h.
die Kraft dr Bergung der Wahrheit in das gestaltete Seiende.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 315 |
Kants Kritik der reinen Vernunft, in der seit den Griechen wieder ein
wesentlicher Schritt vollzogen wird, muß diesen Zu;ammenhang voraussetzen,
ohne ihn als solchen fassen und gar auf einen Grund (den kehrigen Bezug von
Dasein und Sein) bringen zu können. Und weil dieser Grund nicht gegründet
wurde, blieb die Kritik grundlos und mußte dazu führen, faß
alsbald über sie und z.T. mit ihren eigenen Mitteln (der transzendentalen
Fragestellung) zum absoluten Wissen fortgegangen wurde (der deutsche Idealismus).
Weil hier der Geist absolut wurde, mußte er im Verborgenen die Zerstörung
des Seienden und die völlige Abdrängung der Einzigkeit und Befremdung
des Seyns enthalten und den Rückfall in den »Positivismus«
und Biologismus (Nietzsche) beschleunigen und bis zur Stunde mehr und mehr verfestigen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 315 |
Denn die jetzige »Auseinandersetzung« mit dem deutschen
Idealismus, wenn sie überhaupt so genannt zu werden verdient, ist nur »re-aktiv«.
Sie verabsolutiert »das Leben« in der ganzen Unbestimmtheit
und Wirrnis, die sich in diesem Namen verstecken kann. Die Ver-absolutierung
ist nicht nur das Zeichen für das Bestimmtwerden durch den Gegner, es ist
vor allem der Hinweis darauf, daß es noch weniger als bei diesem zu einer
Besinnung auf die Leitfrage der Metaphysik kommt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 315 |
Hier liegt auch der Grund dafür, daß die Wahrheitsfrage,
die Nietzsche scheinbar aus einer ursprünglichen Frage- und Entscheidungskraft
stellt, bei ihm gerade nicht gestellt, sondern ganz aus der Grundstellung im
»Leben« biologisch als Bestand-sicherung des Lebens und unter Zugrundelegung
der überlieferten Auslegung des Seienden (als Beständigkeit und Anwesenheit)
erklärt wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 315-316 |
Zur Beantwortung der zweiten Frage aber (vgl. oben) ist zu sagen: Wenn
das Da-sein ins Spiel kommt, und es muß dies überall, wo das Seiende
als solches und damit verhüllt die Wahrheit des Seyns in die Frage kommt,
dann müssen wir nachsehen, was entsprechend der anfänglichen Auslegung
des Seienden (als beständige Anwesenheit) durchgängig und im allgemeinsten
gefaßt als der Leitfaden sichtbar wird. Dieses ist das »Denken«
als Vor-stellen von etwas im Allgemeinen und hier im Allgemeinsten und
demnach das äußerste Vorstellen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 316 |
Im Vor-stellen zeigt sich die Spur des Da-seins, nämlich hinsichtlich
seiner Entrückung zu etwas. Das Vor-stellen ist, sich selbst verhüllt,
daseinsmäßig ein Hinausstehen ins Offene, wobei dieses Offene selbst
sowenig wie die Offenheit in ihrem Wesen und Grund befragt werden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 316 |
Das Vor-stellen ist zudem ein Hinausstehen, das zugleich doch wieder
zurückbleibt in der Seele als ein Vorgang und Akt dieser, die selbst
schließlich als »Ich« das Gegenüber zum Gegenstand bildet.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 316 |
Die Richtigkeit als Auslegung des Offenen wird der Grund der
Subjekt-Objekt-Beziehung.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 316 |
Sofern aber das Vor-stellende sich selbst vor-stellt, wird dieses Hinausstehen
nur wiederholt und zurückgenommen auf dieses selbst, und jenes bleibt verstellt,
was das Da-sein auszeichnet, eben das Da, die Lichtung für die Verbergung,
zu sein in der Inständlichkeit der Selbstheit als Gründung
der Wahrheit in das Seiende.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 316 |
Wird nun vollends das Vorstellen in »das Leben« einbezogen, dann gelingt die völlige Verhüllung des ursprünglichen
Da-seinscharakters des Vor-stellens. Dieses selbst wird nur noch
nach seinem Nutzen und Wert abgeschätzt, und in solcher
Schätzung wird ihm auch die Deutung zugewiesen, die es allein
als » Wissen« gegenüber der » Tat« beanspruchen
kann.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 316 |
Die Schwierigkeit, aus einem solchen Vor-stellen (Anscheinen) der Welt
her einen Ansatz zu finden, um das Da-sein erfahrbar und sichtbar zu machen,
scheint unübersteiglich, zumal die Voraussetzung für alles, die Kraft
zu fragen und der Wille zur Klarheit, entbehrt werden müssen. Wie aber
soll in dieser Öde die höchste Frage nach dem Sein eine Frage werden
können!
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 317 |
Warum das Da-sein als der Grund und Abgrund des geschichtlichen Menschen? Weshalb nicht eine unmittelbare Abänderung des Menschen, und weshalb soll er denn nicht bleiben, wie
er ist? Wie ist er denn? Läßt sich das fest-stellen? Von wo aus?
Welche Schätzung nach welchen Maßstäben?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 317 |
Das Dasein ist in der Geschichte der Wahrheit des Seins der wesentliche
Zwischenfall, d.h. der Ein-fall jenes Zwischen, in das der Mensch ver-rückt
werden muß, um erst wieder er selbst zu sein.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 317 |
Die Selbstheit, als Bahn und Reich der Zu-eignung und des Ursprungs
des »Zu« und »Sich«, der Grund für die Zugehörigkeit
zum Seyn, die in sich schließt die Über-eignung (inständliche).
Über-eignung nur, wo zuvor und ständig Zu-eignung; beides aber aus
der Er-eignung des Ereignisses.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 317 |
Die Zugehörigkeit zum Seyn aber west nur, weil das Sein in
seiner Einzigkeit das Da-sein braucht und darin gegründet und
es gründend den Menschen. Anders west keine Wahrheit.
Anders herrscht nur das Nichts in der verfänglichsten Gestalt der Nähe des » Wirklichen« und »Lebendigen«,
d. h. des
Unseienden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 317 |
Das Da-sein, als Sein des Menschen begriffen, ist bereits im Vorgriff.
Die Frage für dessen Wahrheit bleibt, wie der Mensch, seiender werdend,
in das Da-sein, so es gründend, sich zurückstellt, um sich damit in
die Wahrheit des Seyns hinauszustellen. Aber dieses Sich-stellen und dessen
Ständigkeit gründen in der Ereignung. Daher ist zu fragen:
In welcher Geschichte muß der Mensch stehen, um der Er-eignung zugehörig
zu werden? Muß er hierzu nicht voraus-gestoßen werden in das Da,
welches Geschehnis ihm als Geworfenheit offenbar wird? Die Geworfenheit wird
erst erfahren aus der Wahrheit des Seyns. In der ersten Vordeutung (»Sein
und Zeit«) bleibt sie noch mißdeutbar im Sinne eines zufälligen
Vorkommens des Menschen unter dem anderen Seienden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 317-318 |
Zu welcher Macht werden von hier aus Erde und Leib entfacht. Das Menschsein und das »Leben«.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 318 |
Wo anders ist der Anstoß, auf das Da-sein hinauszudenken,
als im Wesen des Seyns selbst.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 318 |
Wer ist der Mensch? Jener, der gebraucht wird vom Seyn zum Ausstehen
der Wesung der Wahrheit des Seyns. Als so gebrauchter »ist« aber
der Mensch nur Mensch, sofern er in das Da-sein gegründet ist, d.h. selbst
zum Gründer des Da-seins schaffend wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 318 |
Das Seyn aber ist zugleich hier begriffen als Er-eignis. Beides
gehört zusammen: die Rückgründung in das Da-sein und die Wahrheit
des Seyns als Ereignis.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 318 |
Wir begreifen nichts von der hier eröffneten Fragerichtung,
wenn wir beliebige Vorstellungen vom Menschen und vom
»Seienden als solchem« unversehens zugrundelegen, statt in
einem zumal den »Menschen« und das Seyn (nicht das Sein
des Menschen lediglich) in Frage zu stellen und in ihr zu
halten.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 318 |
Nur vom Da-sein her ist das Wesen des Volkes zu begreifen, und
d. h. zugleich jenes zu wissen, daß das Volk nie Ziel und Zweck sein kann
und daß solches Meinen nur eine »völkische« Ausweitung
des »liberalen« »Ich«-gedankens und der wirtschaftlichen
Vorstellung der Erhaltung des »Lebens« ist.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 319 |
Das Wesen des Volkes aber ist seine »Stimme«. Diese Stimme
spricht gerade nicht im sogenannten unmittelbaren Erguß des gemeinen,
natürlichen, unverbildeten und ungebildeten »Mannes«. Denn
dieser so angerufene Zeuge ist bereits sehr verbildet und bewegt sich
längst nicht mehr in den ursprünglichen Bezügen zum Seienden.
Die Stimme des Volkes spricht selten und nur in wenigen, und ob sie noch
zum Klingen zu bringen ist?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 319 |
Das Selbstsein ist Wesung des Da-seins, und das Selbstsein des Menschen
vollzieht sich erst aus der Inständigkeit im Da-sein. Das »Selbst«
pflegt man zu begreifen einmal in dem Bezug eines Ich auf »sich«.
Dieser Bezug wird als ein vorstellender genommen. Und schließlich wird
die Selbigkeit des Vorstellenden mit dem Vorgestellten als Wesen des »Selbst«
gefaßt. Auf diesem und entsprechend abgewandelten Wegen ist jedoch das
Wesen des Selbst nie zu erreichen. Denn zuvor ist es keine Eigenschaft des vorhandenen
Menschen und mit dem Ichbewußtsein nur scheinbar gegeben. Woher
dieser Schein kommt, kann nur aus dem Wesen des Selbst geklärt werden.
Selbstheit entspringt als Wesung des Da-seins aus dem Ursprung des Da-seins.
Und der Ursprung des Selbst ist das Eigen-tum. Diese Wort hier genommem
wie Fürsten-tum. Die Herrschaft der Eignung im Ereignis. Die Eignung ist
zuma Zueignung und Übereignung. Sofern das Da-sein sich zugeeignet
wird als zugehörig zum Ereignis, kommt es zu sich selbst, aber nie so,
als wäre das Selbst schon ein vorhandener, nur bisher nicht erreichter
Bestand. Vielmehr zu sich selbst kommt das Da-sein erst, indem die Zu-eignung
indie Zugehörigkeit zugleich Übereignung wird in das Ereignis. Da-sein
- Beständnis des Da. Das Eigentum als Herrschaft der Eignung ist Geschehnis
der in sich gefügten Zu- und Übereignung.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 319-320 |
Die Selbstheit ist ursprünglicher als jedes Ich und Du und
Wir. Diese sammeln sich als solche erst im Selbst und werden so sie »selbst«.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 320 |
Das Letzte ist jenes, was die längste Vorläuferschaft
nicht nuir braucht, sondern selbst ist, nicht das Aufhören, sondern
der tiefste Anfang, der am weitesten ausgreifend am schwersten sich einholt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 405 |
Das Letzte entzieht sich deshalb aller Rechnung und muß deshalb
die Last der lautesten und häufigsten Mißdeutung ertragen können.
Wie könnte es anders das Überholende bleiben?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 405 |
Wenn wir schon den »Tod« in seinem Äußersten
so wenig begreifen, wie wollen wir dann schon dem seltenen Wink des letzten
Gottes gewachsen sein?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 405 |
Die Verweigerung ist der höchste Adel der Schenkung und der grundzug
des Sichverbergens, dessen Offenbarkeit das ursprüngliche Wesen
derwahrheit ausmacht. So allein wird das Seyn die Befremdung selbst, die Stille
des Vorbeigangs des letzten Gottes.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 406 |
Die Machenschaft nimmt das Unseiende unter den Schein des Seienden
in seinen Schutz, und die unumgänglich damit erzwungene Verödung des
Menschen wird wettgemacht durch das »Erlebnis«.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 406 |
Dies alles muß als Unwesen notwendiger werden denn zuvor, weil
das Befremdliche auch dieses Gängiste braucht und die Zerklüftung
des Seyns nicht verschüttet werden darf durch den erdachten Schein der
Ausgleiche, des »Glückes« und der falschen Vollendung; denn
all dieses hasset der letzte Gott zuerst.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 406 |
Das Ereignis hat sein innerstes Geschehen und seinen weitesten Ausgriff in
der Kehre. Die im Ereignis wesende Kehre ist der verborgene Grund aller anderen,
nachgeordneten, in ihrer Herkunft dunkel, ungefragt bleibenden, gern an sich
als »Letztes« genommenen Kehren, Zirkel und Kreise (vgl. z.B. die
Kehre der Leitfragengefüge; den Zirkel im Ver-stehen).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 407 |
Er (der Mensch: HB) mag noch Jahrhunderte
lang mit seinen Machenschaften den Planeten ausrauben und veröden, das
Riesenhafte dieses Treibens mag in das Unvorstellbare sich »entwickeln«
und die Form einer scheinbaren Strenge, die Maßregelung des Oden als solchen,
annehmen, die Größe des Seyns bleibt verschlossen, weil keine Entscheidungen
mehr fallen über Wahrheit und Unwahrheit und deren Wesen. Nur noch Verrechnung
des Gelingens und Mißlingens der Machenschaften werden verrechnet. Dieses
Rechnen erstreckt sich in eine angemaßte »Ewigkeit«, die keine
Ewigkeit ist, sondem nur das endlose Undsoweiter des ödesten Flüchtigsten.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 408-409 |
Wo die Wahrheit des Seins nicht gewollt, nicht in den Willen des Wissens
und Erfahrens, das Fragen, gerückt wird, ist dem Augenblick als
dem Erblitzen des Seyns aus dem Beständnis des einfachen und nie errechenbaren
Ereignisses aller Zeit-Raum entzogen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 409 |
Oder aber, der Augenblick gehört nur noch den einsamsten
Einsamkeiten, denen aber das gründende Einverständnis der
Stiftung einer Geschichte versagt bleibt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 409 |
Aber diese Augenblicke, und sie allein, können die Bereitschaften werden, in denen die Kehre des Ereignisses zur Wahrheit sich entfaltet und fügt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 409 |
Doch nur die reine Stetigkeit im unbezwinglich Einfachen
und Wesentlichen ist reif für die Bereitung solcher Bereitschaft,
niemals die Flüchtigkeit der forteilend sich überholenden Machenschaften.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 409 |
Der letzte Gott. Seine Wesung hat er
im Wink, dem Anfall und Ausbleib der Ankunft sowohl als auch der Flucht der
gewesenden Götter und ihrer verborgenen Verwandlung. Der letzte Gott ist
nicht das Ereignis selbst, wohl aber seiner bedürftig als jenes, dem der
Dagründer zugehört.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 409 |
Dieser Wink als Ereignis stellt das Seiende in die äußerste
Seinsverlassenheit und durchstrahlt zugleich die Wahrheit des
Seins als ihr innigstes Leuchten.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 410 |
Im Herrschaftsbereich des Winkes treffen sich neu zum einfachsten Streit
Erde und Welt: reinste Verschlossenheit und höchste Verklärung, holdeste
Berückung und furchtbarste Entrückung. Und dieses je wieder nur geschichtlich
in den Stufen und Bereichen und Graden der Bergung der Wahrheit im Seienden,
wodurch allein dieses wieder seiender wird in all dem maßlosen, aber verstellten
Verlöschen ins Unseiende.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 410 |
In solcher Wesung des Winkes kommt das Seyn selbst zu seiner Reife.
Reife ist Bereitschaft, eine Frucht zu werden und eine Verschenkung. Hierin
west das Letzte, das wesentliche, aus dem Anfang geforderte, nicht ihm zugetragene
Ende. Hier enthüllt sich die innerste Endlichkeit des Seyns: im Wink des
letzten Gottes.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 410 |
In der Reife, der Mächtigkeit zur Frucht und der Größe
der Verschenkung, liegt zugleich das verborgenste Wesen des Nicht, als
Noch-nicht und Nicht-mehr.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 410 |
Von hier aus ist die Innigkeit der Einwesung des Nichthaften im Seyn
zu erahnen. Gemäß der Wesung des Seyns aber, im Spiel des Anfalls
und Ausbleibs, hat das Nicht selbst verschiedene Gestalten seiner Wahrheit
und demgemäß auch das Nichts. Wird dieses nur »logisch«
durch Vemeinung des Seienden im Sinne des Vorhandenen errechnet (vgl. die Anmerkungen
im Handexemplar von: »Was ist Metaphysik?«) und äußerlich
wortmäßig erklärt, mit anderen Worten, kommt das Fragen überhaupt
nicht in den Bereich der Frage nach dem Seyn, dann ist alle Widerrede gegen
die Frage nam dem Nichts ein eitles Gerede, dem jede Möglichkeit benommen
bleibt, jemals in den Entscheidungsbereich der Frage nach der wesentlichsten
Endlichkeit des Seyns einzudringen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 410 |
Aber dieser Bereich wird nur betretbar kraft der Vorbereitung einer
langen Ahnung des letzten Gottes. Und die Zukünftigen des letzten Gottes
werden nur und erst vorbereitet durch jene, die den Rückweg
aus der erfahrenen Seinsverlassenheit finden, ausmessen und bauen. Ohne das
Opfer dieser Rückwegigen kommt es nicht einmal zu einer Dämmerung
der Möglichkeit des Winkens des letzten Gottes. Diese Rück-wegigen
sind die wahren Vor-läufer der Zukünftigen. (Aber diese Rückwegigen
sind auch ganz andere als die vielen nur »Re-aktiven«, deren »Aktion«
nur aufgeht in der blinden Anklammerung an ihr kurzgesehenes Bisheriges. Ihnen
ist nie das Gewesene in seinem Übergriff ins Künftige und niemals
das Künftige in seinem Zuruf an das Gewesende offenbar geworden.)
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 410-411 |
Der letzte Gott hat seine einzigste Einzigkeit und steht außerhalb
jener verrechnenden Bestimmung, was die Titel »Mono-theismus«, »Pan-theismus«
und »A-theismus« meinen. »Monotheismus«, und alle Arten
des »Theismus« gibt es erst seit der jüdisch-christlichen »Apologetik«,
die die »Metaphysik« zur denkerischen Voraussetzung hat. Mit dem
Tod dieses Gottes fallen alle Theismen dahin. Die Vielheit der Götter ist
keiner Zahl unterstellt, sondern dem inneren Reichtum der Gründe und Abgründe
in der Augenblicksstätte des Aufleuchtens und der Verbergung des Winkes
des letzten Gottes. Der letzte Gott ist nicht das Ende, sondern der andere Anfang
unermeßlicher Möglichkeiten unserer Geschichte. Um seinetwillen darf
die bisherige Geschichte nicht verenden, sondern muß zu ihrem Ende gebracht
werden. Wir müssen die Verklärung ihrer wesentlichen Grundstellungen
in den Übergang und die Bereitschaft hineinschaffen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 411 |
Die Vorbereitung des Erscheinens des letzten Gottes ist das äußerste
Wagnis der Wahrheit des Seyns, kraft deren allein die Wiederbringung des Seienden
dem Menschen glückt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 411 |
Die größte Nähe des letzten Gottes ereignet sich dann,
wenn das Ereignis als das zögernde Sichversagen zur Steigerung in die Verweigerung
kommt. Dies ist etwas wesentlich anderes als die bloße Abwesenheit. Verweigerung
als zugehörig zum Ereignis läßt sich nur erfahren aus dem ursprünglicheren
Wesen des Seyns, wie es im Denken des anderen Anfangs aufleuchtet.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 411 |
Die Verweigerung als die Nähe des Unab-wendbaren macht das
Da-sein zum überwundenen, das will sagen: schlägt es nicht nieder,
sondern reißt es hinauf in die Gründung seiner Freiheit.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 412 |
Ob aber ein Mensch beides bewältigen kann, das Ausstehen des Anklangs
des Ereignisses als Verweigerung und den Vollzug des Übergangs zur Gründung
der Freiheit des Seienden als solchen, zur Erneuerung der Welt aus der Rettung
der Erde, wer möchte das entscheiden und wissen? Und so bleiben wohl die,
die an solcher Geschichte und ihrer Gründung sich verzehren, immer von
einander getrennt, die Gipfel der getrenntesten Berge.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 412 |
Die äußerste Ferne des letzten Gottes in der Verweigerung
ist eine einzigartige Nähe, ein Bezug, der durch keine »Dialektik« verunstaltet und beseitigt werden darf.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 412 |
Die Nähe aber klingt an im Anklang des Seyns aus der Erfahrung der Not der Seinsverlassenheit. Diese Erfahrung jedoch ist der erste Aufbruch zum Sturm in das Da-sein. Denn
nur wenn der Mensch aus dieser Not herkommt, bringt er die
Notwendigkeiten zum Leuchten und mit diesen erst die Freiheit der Zugehörigkeit zum Jubel des Seyns.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 412 |
Nur wer zu kurz, d.h. nie eigentlich denkt, bleibt dort, wo eine
Versagung und Verneinung andrängt, haften, um daraus den Anlaß zur
Verzweiflung zu nehmen. Dies aber ist immer ein Zeugnis, daß wir noch
nicht die volle Kehre des Seyns ermessen haben, um darin das Maß des Da-seins
zu finden. Die Verweigerung nötigt das Da-sein zu ihm selbst als Gründung
der Stätte des ersten Vorbeigangs des Gottes als des sichverweigemden.
Erst aus diesem Augenblick kann ermessen werden, wie das Seyn als Ereignisbereich
jener Nötigung das Seiende wiederbringen muß, in welcher Bewältigung
des Seienden die Würdigung des Gottes sich vollziehen muß.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 412 |
Wir stehen in diesem Kampf um den letzten Gott und d.h.
um die Gründung der Wahrheit des Seyns als des Zeitraumes
der Stille seines Vorbeigangs (nicht um den Gott selbst vermögen wir zu
kämpfen) notwendig im Machtbereich des Seyns als
Ereignung und damit in der äußersten Weite des schärfsten
Wirbels der Kehre.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 412-413 |
Wir müssen die Gründung der Wahrheit vorbereiten, und das
sieht so aus, als werde damit schon die Würdigung und damit die Bewahrung
des letzten Gottes vorbestimmt. Wir müssen zugleich wissen und uns daran
halten, daß die Bergung der Wahrheit in das Seiende und damit die Geschichte
der Bewahrung des Gottes erst durch ihn selbst und die Weise, wie er uns als
da-seinsgründende braucht, gefordert wird; gefordert nicht nur eine Gebotstafel,
sondern ursprünglicher und wesentlich so, daß sein Vorbeigang eine
Beständigung des Seienden und damit des Menschen inmitten seiner fordert;
eine Beständigung, in der erst das Seiende je in der Einfachheit seines
zurückgewonnenen Wesens (als Werk, Zeug, Ding, Tat, Blick und Wort) dem
Vorbeigang standhält, ihn so nicht stilllegt, sondern als Gang walten läßt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 413 |
Hier geschieht keine Er-lösung, d. h. im Grunde Niederwerfung des
Menschen, sondern die Einsetzung des ursprünglicheren Wesens (Da-seinsgründung)
in das Seyn selbst: die Anerkennung der Zugehörigkeit des Menschen in das
Seyn durch den Gott, das sich und seiner Größe nichts vergebende
Eingeständnis des Gottes, des Seyns zu bedürfen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 413 |
Jene Zugehörigkeit zum Seyn und dieses Bedürfen des Seyns
enthüllt erst das Seyn in seinem Sichverbergen als jene kehrige Mitte,
in der die Zugehörigkeit das Bedürfen übertrifft und das Bedürfen
die Zugehörigkeit überragt: das Seyn als Er-eignis, das aus diesem
kehrigen Übermaß seiner selbst geschieht und so zum Ursprung wird
des Streites zwischen dem Gott und dem Menschen, zwischen dem Vorbeigang des
Gottes und der Geschichte des Menschen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 413 |
Alles Seiende, so aufdringlich und einzig und selbst- und
erst-ständig es dem gott-losen und unmenschlichen Rechnen
und Betreiben erscheinen mag, ist nur der Hereinstand in das
Ereignis, in dem (dem Hereinstand) die Stätte des Vorbeigangs des letzten
Gottes und die Wächterschaft des Menschen eine
Beständigung suchen, um zur Ereignung bereit zu bleiben und
dem Seyn nicht zu wehren, was doch das bisherige Seiende,
dieses in der bisherigen Wahrheit, ausschließlich betreiben
mußte.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 413-414 |
Das Erdenken der Wahrheit des Seyns glückt erst, wenn im Vorbeigang
des Gottes die Ermächtigung des Menschen zu seiner Notwendigkeit offenbar
wird und so die Er-eignung im Übermaß der Kehre zwischen menschlicher
Zugehörigkeit und göttlichem Bedürfen ins Offene kommt, um ihr
Sichverbergen als Mitte, um sich als Mitte des Sichverbergens zu erweisen und
die Erschwingung zu erzwingen und damit die Freiheit zum Grunde des Seyns als
Da-gründung zum Sprung zu bringen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 414 |
Der letzte Gott ist der Anfang der längsten Geschichte in ihrer
kürzesten Bahn. Langer Vorbereitung bedarf es für den großen
Augenblick seines Vorbeigangs. Und zu seiner Bereitung sind Völker und
Staaten zu klein, d.h. zu sehr schon allem Wachstum entrissen und nur noch der
Machenschaft ausgeliefert.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 414 |
Nur die großen und verborgenen Einzelnen werden dem
Vorbeigang des Gottes die Stille schaffen und unter sich den
verschwiegenen Einklang der Bereiten.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 414 |
Das Seyn als das Einzigste und Seltenste gegen das Nichts wird sich
aus der Massenhaftigkeit des Seienden zurückgezogen haben, und alle Geschichte
wird dort, wo sie in ihr eigenes Wesen hinabreicht, nur diesem Entzug des Seins
in seine volle Wahrheit dienen. Alles Öffentliche aber wird in seinen Erfolgen
und Niederbrüchen schwärmen und sich jagen, um seiner Art gemäß
nichts zu ahnen von dem, was geschieht. Nur zwischen diesem Massenwesen und
den eigentlich Geopferten werden sich die Wenigen und ihre Bünde suchen
und finden, um zu ahnen, daß ihnen etwas Verborgenes geschieht, jener
Vorbeigang, bei aller Herauszerrung alles »Geschehens« in das Schnelle,
sogleich vollständig Griffige und restlos zu Verzehrende. Die Verkehrung
und Verwechslung der Ansprüche und Anspruchsbereiche wird nicht mehr möglich
sein, weil die Wahrheit des Seyns selbst in der schärfsten Ausfälligkeit
seiner Zerklüftung die wesentlichen Möglichkeiten zur Entscheidung
gebracht hat.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 414-415 |
Dieser geschichtliche Augenblick ist kein »Idealzustand«,
weil dieser jedesmal dem Wesen der Geschichte zuwidergeht, sondern dieser Augenblick
ist die Ereignung jener Kehre, in der die Wahrheit des Seyns zum Seyn der Wahrheit
kommt, da der Gott das Seyn braucht und der Mensch als Da-sein die Zugehörigkeit
zum Seyn gegründet haben muß. Dann ist, für diesen Augenblick,
das Seyn als das innigste Zwischen gleich dem Nichts, der Gott übermächtigt
den Menschen und der Mensch übertrifft den Gott, unmittelbar gleichsam
und doch beides nur im Ereignis, als welches die Wahrheit des Seyns selbst ist.
Aber eine lange und viel rückfällige und viel verborgene Geschichte
wird sein bis zu diesem unerrechenbaren Augenblick, der auch nie ein so Vordergründliches
wie ein »Ziel« sein kann. Nur stündlich schon müssen die
Schaffenden in der Verhaltenheit der Sorge sich selbst zur Wächterschaft
im Zeit-Raum jenes Vorbeigangs bereit machen. Und die denkerische Besinnung
auf dies Einzige: die Wahrheit des Seyns kann nur ein Pfad sein, auf dem das
Unvordenkliche dennoch gedacht, d. h. die Verwandlung des Bezugs des Menschen
zur Wahrheit des Seyns angefangen wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 415 |
Mit der Seynsfrage, die die Frage nach dem Seienden und somit alle »Metaphysik«
überwunden hat, ist die Fackel entzündet und der erste Anlauf zum
weiten Lauf gewagt. Wo ist der Läufer, der die Fackel aufnimmt und seinem
Vor-gänger zuträgt? Die Läufer müssen alle, und je spätere
sie sind, um so stärkere Vor-läufer sein, keine Nachläufer,
die das Erstversuchte, wenn es hoch kommt, nur »verbessern« und
widerlegen. Die Vor-läufer müssen je und je ursprünglicher als
die » Vor«- (d. h. hinter ihnen)-laufenden anfängliche
sein, das Eine und Selbe des zu Fragenden noch einfacher, reimer und unbedingt
einzig denken. Was sie übernehmen, indem sie die Fackel ergreifen, kann
nicht das Gesagte als »Lehre« und »System« und dgl.
sein, sondern das Gemußte, das sich nur jenen eröffnet, die selbst,
abgründiger Herkunft, zu den Gezwungenen gehören.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 415-416 |
Das Zwingende aber ist allein das Unberechen- und Unmachbare des Ereignisses, die Wahrheit des Seyns. Selig, wer
der Unseligkeit seiner Zerklüftung zugehören darf, um ein
Höriger zu sein in der immer anfänglichen Zwiesprache der
Einsamen, in die der letzte Gott hereinwinkt, weil er durch sie
in seinem Vorbeigang erwunken wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 416 |
Der letzte Gott ist kein Ende, sondern das Insicheinschwingen
des Anfangs und somit die höchste Gestalt der Verweigerung, da Anfängliches
allem Festhalten sich entzieht und nur west im überragen alles dessen,
was schon als Künftiges in ihn eingefangen und seiner bestimmenden Kraft
überantwortet ist.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 416 |
Das Ende ist nur dort, wo sich das Seiende aus der Wahrheit des
Seyns losgerissen, jede Frag-würdigkeit und d. h. jede Unterscheidung verleugnet
hat, um sich in endlosen Möglichkeiten des so Losgelassenen in endloser
Zeit zu gebärden. Das Ende ist das unaufhörliche Und-so-weiter, dem
sich das Letzte als das Anfänglichste von Anfang an und längst
entzogen hat. Das Ende sieht sich selbst niemals, sondern hält sich für
die Vollendung und wird deshalb am wenigsten bereit und bereitet sein, das Letzte
weder zu erwarten noch zu erfahren.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 416 |
Herkünftig aus einer durch die »Metaphysik« bestimmten
Stellung zum Seienden werden wir nur schwer und langsam
das Andere wissen können, daß weder im »persönlichen«
noch
im »massenweisen« »Erlebnis« der Gott noch erscheint,
sondern
einzig in dem abgründigen »Raum« des Seyns selbst. Alle bisherigen »Kulte« und »Kirchen« und solches überhaupt
kann
nicht die wesentliche Bereitung des Zusammenstoßes des Gottes und des Menschen in der Mitte des Seyns werden. Denn
zuerst muß die Wahrheit des Seyns selbst gegründet werden
und für dieses Aufgegebene alles Schaffen einen anderen Anfang nehmen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 416 |
Wie wenige wissen davon, daß der Gott wartet auf die Gründung der Wahrheit des Seyns und somit auf den Einsprung des
Menschen in das Da-sein. Statt dessen scheint es so, als müßte
und würde der Mensch auf den Gott warten. Und vielleicht
ist dieses die verfänglichste Form der tiefsten Gottlosigkeit und
die Betäubung der Ohnmacht zur Er-leidung der Ereignung
jener Da-zwischenkunft des Seyns, das erst dem Hereinstand
des Seienden in die Wahrheit eine Stätte bietet und ihm die
Gerechtsame zuteilt, in der weitesten Feme zum Vorbeigang
des Gottes zu stehen, Gerechtsame, deren Zuteilung nur geschieht als Geschichte: in der Umschaffung des Seienden in die
Wesentlichkeit seiner Bestimmung und in die Befreiung aus
dem Mißbrauch der Machenschaften, die, alles verkehrend,
das Seiende in der Nutznießung erschöpfen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 417 |
Hier liegen die Blöcke eines Steinbruchs, in dem Urgestein
gebrochen wird.
Das Denken.
Das Meinen des Seins.
Das Sein und die Unterscheidung zum Seienden.
Der Entwurf des Seyns.
Das Er-denken des Seyns.
Die Wesung des Seyns.
Die Geschichte.
Das Da-sein.
Die Sprache und die Sage.
Das »Seiende«.
Die Übergangsfrage (Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr
Nichts ?).
Die Seynsgeschichte.
Der seynsgeschichtliche Standort.
Das Unberechenbare.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 421 |
Die jetzt und künftig wesentliche Fassung des Begriffes der Philosophie
(und damit auch die Vorbestimmung der Begrifflichkeit ihres Begriffes und aller
ihrer Begriffe) ist die geschichtliche (nicht eine historische). »Geschichtlich«
meint hier: zugehörig der Wesung des Seyns selbst, eingefügt in die
Not der Wahrheit des Seyns und so gebunden in die Notwendigkeit jener Entscheidung,
die überhaupt über das Wesen der Geschichte und ihre Wesung verfügt.
Danach ist die Philosophie jetzt zuerst Vorbereitung der Philosophie in der
Weise der Erbauung der nächsten Vorhöfe, in deren Raumgefüge
Hölderlins Wort hörbar wird, durch das Da-sein beantwortet und in
solcher Antwort zur Sprache des künftigen Menschen gegründet. So erst
betritt der Mensch den nächsten langsamen Steg zum Seyn. Die seynsgeschichtliche
Einzigkeit Hölderlins muB zuvor gegründet werden und alles »literar«-
und dichtungshistorische Vergleichen, alles »ästhetische« Urteilen
und Genießen, alles »politische« Auswerten muß überwunden
sein, damit die Augenblicke der »Schaffenden« ihre »Zeit«
erhalten (vgl. Überlegungen VI, VII, VIII).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 421-422 |
Die geschichtliche Bestimmung der Philosophie gipfelt in der Erkenntnis
der Notwendigkeit, Hölderlins Wort das Gehör zu schaffen. Das Hören-können
entspricht einem Sagen-können, das aus der Fragwürdigkeit des Seyns
spricht. Denn diese ist das Geringste, was zur Bereitung des Wortraumes geleistet
werden muB. (Wenn nicht alles ins »Wissenschaftliche« und »Literarhistorische«
verkehrt würde, wäre zu sagen: eine Vorbereitung des Denkens für
die Hölderlinauslegung muß geschaffen werden. »Auslegung«
meint hier allerdings nicht: »verständlich« machen, sondern
den Entwurf der Wahrheit seiner Dichtung in die Besinnung und Stimmung gründen,
in denen das künftige Da-sein schwingt.) (vgl. Überlegungen VI und
VII Hölderlin)
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 422 |
Diese geschichtliche Wesenskennzeichnung der Philosophie begreift sie
als Denken des Seyns. Dieses Denken darf nie in eine Gestalt des Seienden
flüchten und in ihr alles Lichte des Einfachen aus dem gesammelten Reichtum
seines gefügten Dunkels erfahren. Dieses Denken kann auch nie der Auflösung
in das Gestaltlose folgen. Dieses Denken muß diesseits von Gestalt und
Gestaltlosem (was ja nur im Seienden ist) im Abgrund des Gestaltgrundes den
Wurfschwung seiner Geworfenheit auffangen und in das Offene des Entwurfs tragen.
Das Denken des Seyns muß ganz anders als jede Anmessung an Gegenständliches
dem Zu-Denkenden selbst gehören, weil das Seyn die eigene Wahrheit nicht
als Zugabe und Angetragenes duldet, sondern selbst das Wesen der Wahrheit »ist«.
Die Wahrheit, jene Lichtung des Sichverbergenden, in deren Offenem die Götter
und der Mensch zu ihrer Ent-gegnung ereignet werden, eröffnet selbst das
Seyn als Geschichte, die wir vielleicht denken müssen, wenn wir den Raum
bereitstellen sollen, der zu seiner Zeit das Wort Hölderlins, das wieder
die Götter nennt und den Menschen, im Widerklang bewahren muß, damit
dieser jene Grundstimmungen anstimme, die den künftigen Menschen in die
Wähterschaft der Notschaft der Götter bestimmen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 422-423 |
Diese seinsgeschichtliche Kennzeichnung der Philosophie bedarf einer Erläuterung, die eine Erinnerung an das bisherige
Denken (die Metaphysik) zu Hilfe nimmt, aber zugleich dieses
und das Künftige in die geschichtliche Zusammengehörigkeit
zurückverlegt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 423 |
Der Name »Metaphysik« wird hier unbedenklich zur Kennzeichnung
der ganzen bisherigen Geschichte der Philosophie gebraucht. Er gilt nicht als
Titel einer »Disziplin« der Schulphilosophie; auch seine späte
und nur z. T. künstliche Entstehung bleibt unbeachtet. Der Name soll sagen,
daß das Denken des Seins das Seiende im Sinne des Anwesend-Vorhandenen
zum Ausgang und Ziel nimmt für den Überstieg zum Sein, der zugleich
und sogleich wieder zum Rückstieg in das Seiende wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 423 |
Die Meta-physik ist die Rechtfertigung der »Physik« des
Seienden durch die ständige Flucht vor dem Seyn. Die »Metaphysik«
ist die uneingestandene Verlegenheit zum Seyn und der Grund der schließlichen
Seinsverlassenheit des Seienden. Die Unterscheidung des Seienden und des Seins
wird in die Harmlosigkeit eines nur vorgestellten Unterschiedes (eines »logischen«)
abgeschoben, wenn überhaupt innerhalb der Metaphysik dieser Unterschied
selbst als ein solcher ins Wissen kommt, was strenggenommen ausbleibt
und ausbleiben muß, da ja das metaphysische Denken nur im Unterschied
sich hält, aber so, daß in gewisser Weise das Sein selbst eine Art
des Seienden ist. Erst der Übergang in den anderen Anfang, die erste Überwindung
der Metaphysik, unter übergänglichnotwendiger Beibehaltung ihres Namens,
hebt diesen Unterschied ins Wissen und stellt ihn damit zum ersten Mal in die
Frage; nicht in eine beliebige, sondern in die Frage nach dem Fragwürdigsten.
So äußerlich zunächst, und vorerst ganz im Sinne des vorstellenden
Denkens, der Unterschied als die »ontologische Differenz« eingeführt
wird, so notwendig ist die Ansetzung der Besinnung bei diesem Unterschied. Denn
an dieser scheinbar dürftigen und harmlosen »ontologischen«,
d. h. Ontologie tragenden Unterscheidung muß der ursprüngliche Reichtum
und die Gefahr aller Gefahren des Menschseins, seiner Wesensgründung und
Wesenszerstörung, sichtbar werden. Diese Unterscheidung ist die vordergründliche
Verhüllung des Raumes des höchsten denkerischen Wagnisses, das dem
Menschen zugewiesen bleibt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 423-424 |
Die Unterscheidung nimmt das Wesen der Metaphysik auf
das in ihr entscheidende, aber von ihr nie entschiedene und
durch sie auch nicht entscheidbare Geschehnis zusammen, trägt
die verborgene Geschichte der Metaphysik (nicht die Historie
der metaphysischen Lehrmeinungen) in die Geschichte des
Seyns hinüber und rückt diese in den Wirkraum des ersten Anfangs des abendländischen Denkens des Seins, das den Namen
»Philosophie« trägt, deren Begriff sich wandelt je nach der
Weise und dem Weg des Fragens nach dem Sein.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 424 |
Die Philosophie ist das Fragen nach dem Sein. Diese Kennzeichnung läßt
sich zwiefach deuten. Beide Deutungen enthalten in ihrer Einheit das Wesen der
bisherigen und der künftigen Philosophie und somit den Hinweis auf den
Übergang von der einen zur anderen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 424 |
Das Fragen nach dem Sein ist zuerst und die lange Geschichte zwischen
Anaximander und Nietzsche hindurch nur die Frage nach dem Sein des Seienden.
Die Frage zielt auf das Seiende als das Befragte und erfragt, was es sei. Das
Erfragte wird bestimmt als das allem Seienden Gemeinsame. Das Sein hat den Charakter
der Seiendheit. Die Seiendheit ergibt sich innerhalb des Fragens, das vom Seienden
aus und auf dieses zurückfragt als der Nachtrag zum Seienden. Innerhalb
des Befragten und Erfragten aber ist die Seiendheit als das ständigste
Anwesende in allem Seienden das Seiendste und deshalb das jeweils Frühere
gegenüber jedem bestimmten einzelnen Seienden. Sobald die Seiendheit als
Gegenstand des Vorstellens begriffen und das Vor-stellen zum Vor-sich-stellen
in Rücksicht auf das Subjektum wird, erhält das Frühersein eine
andere Ordnung zugewiesen und wird zum Apriori in der Ordnung des Vor-stellens.
Aber weil auch dieses Vor-stellen auf die Gegenwärtigung des Vorhandenen
als solmen geht, meint auch hier das Frühersein einen zwar nicht gemein-»zeitlichen«,
wohl aber zeithaften Vorrang hinsichtlich der Anwesung. Allein, dieses Apriori
ist für die Griechen nicht etwa »noch« »objektiv«
und seit Descartes »subjektiv«, sondern weder das eine noch das
andere. Vielmehr »ist« das proteron th fusei
eben im Sinne der fusiV, d. h. im Sinne des Seins
(als des an-wesenden Aufgehens), selbst seiend, so, wie die Seiendheit das Seiendste
bleibt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 424-425 |
Seit Descartes aber ist das Apriori nicht »subjektiv«, sondern
gerade »objektiv«, die Objektivität des Objekts, die Gegenständlichkeit
des Gegenstandes im Vor-stellen und für das Vor-stellende tragend. Erst
wenn das Subjektum zum vereinzelten vorhandenen Ichding mißdeutet und
das Vor-stellen, statt sein Wesen zu bleiben, in eine vorkommende Eigenschaft
herabgesetzt wird, kann das »Apriorische« (die Seiendheit im Sinne
der Gegenständlimkeit) als das »bloß« Subjektive subjektivistisch
mißverstanden werden. So groß auch der Schritt Kants sein mag, so
groß noch einmal der Unterschied des absoluten Idealismus der nachkantischen
Philosophie zu Kant bleiben mag, so wirr dann alles ins Halbe und Bodenlose
der »logischen« und »biologischen« Deutung des Apriori
herabsinkt und in dieser Gestalt bei Nietzsche noch einmal hervorkommt, alle
diese Unterschiede können nicht die einfache Einheitlichkeit der ganzen
Geschichte dieses Fragens nach dem Sein (nach der Seiendheit, in der Gestalt
der Frage, was das Seiende sei) verhüllen. Die Geschichte dieser
Frage nach dem Sein ist die Geschichte der Metaphysik, des Denkens, das das
Sein als Sein des Seienden von diesem her und auf dieses zu denkt.
Daß dieses Fragen nach dem Sein nicht nur in seinem Anfang vom Seienden
übermachtet wird (was der Grund ist der Entmachtung der fusiV
und der aleqeia), daß dieser Vorrang des Seienden
durch die Geschichte der Metaphysik, als für diese wesentlich, sich hinzieht,
zeigt sich am eindrucksvollsten dort, wo seit den Griechen die Seinsfrage am
reinsten vollzogen wurde: bei Kant. In eins mit der Entdeckung des Transzendentalen
geht die Ansetzung der Erfahrung als des allein maßgebenden Bereiches
des Seienden. Die Seiendheit als »Bedingung der Möglichkeit«
des Gegenstandes der Erfahrung und diese selbst ist ihrerseits bedingt durch
den Vorrang des Seienden in der Maßgabe für das, was als Sein gelten
soll. Das Seiende in Kants transzendentalem Fragen, die »Natur«,
ist zwar im Lichte der Newtonschen Physik gesehen, aber metaphysisch (metaphysikgeschichtlich)
im Sinne des fusei on und schließlich der fusiV
gemeint. Doch scheint der absolute Idealismus den Vorrang des Seienden zu überwinden.
Denn die ausschließliche Bestimmung des Gegenstandes aus der Gegenständlichkeit
(d. h. die Beseitigung des »Dinges an sich«) sagt doch nichts anderes
als die Errichtung des Vorrangs der Seiendheit vor dem Seienden. Deshalb ist
es ja doch z. B. unmöglich, Hegels »Phänomenologie des Geistes«
gerade in ihrem Beginn (»die sinnlime Gewißheit«) mitzudenken,
wenn nicht zuvor schon absolut der Einbezug des sinnlichen Gegenstandes
in die Wirklichkeit des absoluten Geistes gedacht ist. Was heißt dies
anderes als: das Seiende hat seinen Vorrang verloren vor dem Sein? Und dennoch
läge in dieser Auslegung die eigentliche Mißdeutung des Idealismus.
Auch er hält am Vorrang des Seienden vor der Seiendheit fest, nur verdeckt
er dieses Verhältnis und erweckt den Anschein des Umgekehrten. Jede Gegenständlichkeit,
jede Stufe derselben ist zwar aus der absoluten bestimmt. Allein, die Gegenständlichkeit
als solche ist schon ihrem Wesen nach, von ihrer seinsgeschichtlichen Herkunft
ganz zu schweigen, nicht nur auf den Gegenstand bezogen, sondem vom Gegenstand
her als einer bestimmten Auslegung des Seienden auf Grund des Ausgehens
von diesem auch bestimmt. Durch die Aufhebung in das absolute Wissen scheint
die Gegenständlichkeit zu verschwinden, sie wird aber nur ausgebreitet
in die des Selbstbewußtseins und der Vernunft. Und gerade dieses, daß
sich die Seiendheit in die absolute Subjektivität gründet, sagt ja,
daß dieses Seiende, das Subjektum, als Bezugsmitte alles Vor-sich-stellens
über die Seiendheit und was zu ihr gehören kann, über die Wesensformen
und Stufen der Vorgestelltheit, entscheidet. So zeigt sich im absoluten Idealismus
sogar eine gesteigerte Vorrangstellung des Seienden gegenüber der Seiendheit,
im Unterschied zu den Griechen, sofern vom Subjekt her und d. h. zugleich vom
Objekt das Seyn sich bestimmt. Seinsgeschichtlich ist diese Bestimmung nur eine
Abwandlung der beständigen Anwesenheit in die Vor-sich-Gestelltheit des
Subjektums. Deshalb vollzieht sich im absoluten Idealismus, der alles auf das
Sein zurückzulösen scheint, die völlige Entmachtung des
Seins zugunsten der unbestrittenen und grenzenlosen Vormacht des Seienden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 425-427 |
Nur durch die philosophische Naivität der »Erkenntnistheorie«
und die »erkenntnistheoretische« Auslegung des Idealismus konnte
die Irrmeinung entstehen, der »Idealismus« sei wirklichkeitsfern
und ein Umschlag zum »Realismus« müsse dem abhelfen. Aber der
»Realismus« des 19. Jahrhunderts lebt durch und durch vom absoluten
Idealismus. Kein Umschlag vollzieht sich, sondern nur das Herabsinken in die
unphilosophische Deutung des Idealismus, wodurch dann allerdings die in ihm
verborgene Entmachtung des Seins gerechtfertigt erscheint aus der Betreibung
des Seienden, die sich dort in den Wertgedanken retten muß, wo ihr noch
so viel an Besonnenheit geblieben, daß sie erkennt, wie auch das bedingungslose
Bejahen des Wirklichen und des »Lebens« (des Seienden also) noch
einer Spur des Nicht-Seienden bedarf, das man freilich nicht mehr als
Sein zu wissen vermag. Verharrt die »Betrachtung« der Geschichte
der Metaphysik in den Blickhinsichten des »Idealismus« und »Realismus«,
dann erscheint der »Idealismus« jederzeit als die philosophisch
echtere Haltung, sofern in ihr das Sein noch gegenüber dem Seienden zu
Wort kommt. Trotzdem bleibt bestehen, daß im »Idealismus«
die philosophische (im Realismus aber die philosophielose) Entmachtung des Seins
sich vollzieht. Dies zu wissen ist nötig, um den Übergang aus der
Metaphysik in die andere Weise des Fragens nach dem Sein nicht sogleich zu mißdeuten.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 427-428 |
Die Frage nach dem Sein wird jetzt zur Frage nach der Wahrheit des Seyns.
Das Wesen der Wahrheit wird jetzt aus der Wesung des Seyns erfragt, als die
Lichtung des Sichverbergenden begriffen und damit als zugehörig zum Wesen
des Seyns selbst. Die Frage nach der Wahrheit »des« Seyns enthüllt
sich zur Frage nach dem Seyn »der« Wahrheit. (Der Genitiv ist hier
ein ureigener und durch die bisherigen »grammatischen« Genitive
niemals zu fassen.) Jetzt denkt das Fragen nach dem Seyn nicht mehr vom Seienden
her, sondern ist als Er-denken des Seyns (vgl. Das Seyn, 265. Das Er-denken
des Seyns) durch das Seyn selbst ernötigt. Das Er-denken des Seyns erspringt
dieses als das Zwischen, in dessen sich lichtender Wesung die Götter und
der Mensch sich er-kennen, d. h. über ihre Zugehörigkeit sich entscheiden.
Als dieses Zwischen »ist« das Seyn kein Nachtrag zum Seienden, sondem
jenes Wesende, in dessen Wahrheit erst das (Seiende) in die Verwahrung eines
Seienden gelangen kann. Aber dieser Vorrang des Zwischen darf nicht idealistisch
im Sinne des »Apriori« mißdeutet werden. Das Fragen nach dem
Sein in der Weise des Fragens nach der Wahrheit des Seyns kommt überhaupt
nicht mehr auf eine Ebene, in der eine Unterscheidung wie die zwischen Idealismus
und Realismus einen möglichen Grund gewinnen könnte. Das Bedenken
bleibt allerdings zurück, ob denn solches möglich sei, das Seyn selbst
in seiner Wesung zu denken, ohne vom Seienden auszugehen; ob denn nicht jede
Frage nach dem Sein unweigerlich ein Zurückfragen vom Seienden her bleiben
müsse. Hier steht in der Tat die lange Überlieferung der Metaphysik
und die hieraus erwachsene Gewöhnung des Denkens im Wege, zumal wenn noch
die »Logik«, selbst ein Abkömmling der anfänglichen Entmachtung
des Seins und der Wahrheit, als ein absoluter, vom Himmel gefallener Gerichtshof
über das Denken im Ansehen bleibt. Dann ist es »logisch« und
d. h. endgültig ausgemacht, daß das Sein als das Allgemeine vom Seienden
her gewonnen ist, auch dann, wenn man versucht, das Sein auch wie ein Seiendes
in seinem Bestand zu sichern. Aber das Seyn, das in seiner Wahrheit erdacht
werden muß, »ist« nicht jenes Allgemeine und Leere, sondern
west als jenes Einzige und Abgründige, in dem sich ein Einmaliges der Geschichte
entscheidet (vgl. Das Seyn, 270. Das Wesen des Seyns (die Wesung)). Man kann
hier freilich nicht auf dem Boden der metaphysischen Seinsfrage stehen bleiben
und von diesem Standort aus ein Wissen fordern, das seinem Wesen nach das Verlassen
dieses Standortes in sich schließt, d. h. die Einräumung eines Raumes
und die Zeitigung einer Zeit, die in der Geschichte der Metaphysik nicht etwa
nur vergessen oder nicht genügend bedacht wurden, die vielmehr für
diese Geschichte unzugänglich, aber auch nicht notwendig sind.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 428-429 |
Den Standort der Metaphysik verlassen, das sagt nichts anderes als einer Nötigung unterstehen, die aus einer ganz anderen Not entspringt, einer Not allerdings, die durch die Geschichte der Metaphysik erwirkt wurde, dergestalt, daß sie sich
als die Not, die sie ist, entzieht und die Notlosigkeit (hinsichtlich des Seins und der Seinsfrage) zum herrschenden Zustand
werden läßt. In Wahrheit ist aber die Notlosigkeit das äußerste
dieser Not, die zuerst als die Verlassenheit des Seienden vom
Sein erkennbar wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 429 |
Im Übergang von der metaphysischen Seinsfrage zu der künftigen
muß immer übergänglich gedacht und gefragt werden. Damit ist
die Möglichkeit einer nur metaphysischen Beurteilung des anderen Fragens
ausgeschlossen. Das andere Fragen aber ist hierdurch auch nicht als »absolute«
Wahrheit erwiesen, schon deshalb nicht, weil ein solcher Beweis einer solchen
» Wahrheit« dem Wesen dieses Fragens zuwiderläuft. Denn dieses
Fragen ist geschichtlich, weil in ihm die Geschichte des Seyns selbst als des
abgründigsten einzigen Geschichtsgrundes zum Ereignis wird. Überdies
leistet das übergängliche Denken immer erst die Vorbereitung des anderen
Fragens und d. h. die Vorbereitung jenes Menschseins, das in seiner Gründer-
und Wächterschaft zuvor stark genug und wissend genug werden soll, den
lang angezeigten, aber noch länger verweigerten Stoß des Seyns zu
empfangen und die Ermächtigung des Seyns zu seiner Wesung in einen einzigen
Augenblick der Geschichte zu sammeln. Das übergängliche Denken kann
daher auch nicht durch einen Gewaltstreich die metaphysische Gewöhnung
abschütteln. Ja es muß der Mitteilung wegen oft noch in der Bahn
des metaphysischen Denkens gehen und dennoch stets das Andere wissen. Wie sollte
auch das eigentlich geschichtliche Denken übersehen können, daß,
wenn der Übergang geschichtsgründend werden soll, ihm die Plötzlichkeit
des Ungeahnten ebenso aufbehalten ist wie die Unauffälligkeit des langsamen
über sich Hinauskommens. Und wie sollte das übergängliche Denken
nicht auch wissen, daß vieles, ja das meiste, was ihm an Anstrengung zugewiesen
bleibt, einstmals ein Überflüssiges sein und in das Beiläufige
zurückfallen wird, um dem Strom der Geschichte des Einzigen seinen einmaligen
Lauf zu lassen. Trotzdem darf das übergängliche Denken die Dürftigkeit
vorbereitender Unterscheidungen und Klärungen nicht scheuen, wenn sie nur
angeweht sind vom Wind einer weither fallenden Entscheidung. Nur die Kälte
der Kühnheit des Denkens und die Nacht der Irre des Fragens leihen dem
Feuer des Seyns Glut und Licht.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 430 |
Der Unterschied in der Seinsfrage, der ein geschichtlicher ist und die
Geschichte der Metaphysik gegen das künftige Denken scheidet, bezeichnet
in seinem ersten Vollzug den Übergang. Allein, der Unterschied verbindet
nicht in der Weise der Abhebung ein Vergangenes und Kommendes, eine verflossene
und eine bevorstehende Geschichte, sondern er scheidet zwei grundverschiedene
Tiefgänge der abendländischen Geschichte. Daß die Geschichte
der Metaphysik (mit Nietzsche) zu Ende ist, sagt keineswegs, daß von nun
an das metaphysische (und d. h. zugleich vernunftgemäße, logische)
Denken ausgerottet sei, im Gegenteil: Dieses Denken verlegt jetzt seine feste
Gewöhnung in die Bezirke der Weltanschauungen und der zunehmenden Verwissenschaftlichung
des alltäglichen Treibens, so, wie es sich bereits in die Ausgestaltung
des Christentums festgesetzt hat und mit diesem in die Formen seiner »Verweltlichung«
übergeht, in denen es sich selbst wieder begegnet in der Gestalt, die es
durch seine Verchristlichung (schon bei Plato beginnend) angenommen hat. Die
Geschichte der Metaphysik hört nicht auf, weil sie jetzt in das Geschichtslose
übergeht, ja dieses erst eröffnet. Umgekehrt tritt das seinsgeschichtliche
Denken des anderen Fragens nun nicht etwa in die Helle des Tages. Es bleibt
in der eigenen Tiefe verborgen, aber jetzt nicht mehr, wie seit dem ersten Anfang
des abendländischen Denkens während der Geschichte der Metaphysik,
in der Verhüllung seiner Verschlossenheit im unerbrochenen Ursprung, sondern
in der Klarheit eines schweren Dunkels der sich selbst wissenden, in der Besinfiung
erstandenen Tiefe.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 431 |
Die Geschichte des metaphysischen und des seinsgeschichtlichen Denkefis
ereignet sich zumal in ihren verschiedenen Zeitaltern nach verschiedenen Mächtigkeiten
des Vorrangs des Seins vor dem Seienden, des Seienden vor dem Sein, der Verwirrung
beider, des Verlöschens jedes Vorrangs im Zeitalter der errechenbaren Verständlichkeit
von allem. Wir wissen die Zukunft der Seinsgeschichte, daß, wenn sie Geschichte
bleiben will, das Seyn selbst sich das Denken ereignen muß. Aber niemand
kennt die Gestalt des kommenden Seienden. Nur dies eine mag gewiß sein:
daß jedes Er-denken des Seyns und alles Schaffen aus der Wahrheit des
Seyns, ohne den schon behütenden Zuspruch des Seienden, andere Kräfte
des Fragens und des Sagens, des Werfens und des Tragens braucht, als sie die
Geschichte der Metaphysik jemals hervorbringen konnte. Denn diese Anderen müssen
noch zu ihrem Eigensten das fragende Gespräch mit dem in heller Tiefe aufgegangenen
ersten Anfang und seiner Geschichte in das Denken einbeziehen und gerüstet
sein, mit den Einsamsten des ersten Denkens noch Einsamere des Abgrundes
werden, der im anderen Anfang alle Gründe nicht nur trägt, sondern
auch durchweht. Was den bloß Nachgekommenen Gegenstand historischer Gelehrsamkeit
und Forschung und schließlich bloß noch schulender Unterrichtung
bleibt, die Geschichte des metaphysischen Denkens in seinen » Werken«,
muß erst Geschichte werden, in der jegliches auf seine Einzigkeit sich
zusammenzieht und als ein Lichtblick des Denkens eine Wahrheit des Seyns in
dessen eigenen undurchmessenen Raum verstrahlt. Weil da eine Größe
denkerischen Daseins ernötigt ist durch das Seyn selbst, deren Gestalt
wir kaum erahnen aus dem dichterischen Dasein Hölderlins und aus der schauerlichen
Wanderung Nietzsches, weil im Raum des seinsgeschichtlichen Denkens nur noch
dieses Große ist, weshalb auch die Rede von Größe zu klein
bleibt, darum muß die Vorbereitung solcher Denker alle Unerbittlichkeit
zusammennehmen und in den klarsten Unterscheidungen sich bewegen. Denn nur solche
gewähren den Mut zur Inständigkeit im Stoßbereich des Fragwürdigsten,
das von den Göttern gebraucht und vom Menschen vergessen, und das wir das
Seyn nennen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 431-432 |
Der Unterschied in der Frage nach dem Sein kann formelhaft durch zwei
Titel festgehalten werden; der eine lautet: Sein und Denken, der andere: Sein
und Zeit. Im ersten ist das Sein verstanden als die Seiendheit des Seienden;
im anderen als das Sein, dessen Wahrheit erfragt wird. Im ersten meint »Denken«
den Leitfaden, an dem entlang das Seiende auf seine Seiendheit abgefragt wird:
das vorstellende Aussagen. Im anderen meint »Zeit« die erste Anzeige
des Wesens der Wahrheit im Sinne der entrückungsmäßig offenen
Lichtung des Spielraums, in dem das Seyn sich verbirgt und verbergend sich erstmals
eigens in seine Wahrheit verschenkt. Beide Titel sind in ihrem Verhältnis
demnach keinesfalls so zu deuten, daß im zweiten nur das »Denken«
im ersten durch die »Zeit« ersetzt wäre, als sollte dieselbe
Frage nach der Seiendheit des Seienden nunmehr statt am Leitfaden des aussagenden
Vorstellens an dem der Zeit vollzogen werden, wobei dann noch die »Zeit«
sogleich nach ihrem gewöhnlichen Begriff gedacht wird. Vielmehr ist die
»Rolle« des Denkens und diejenige der »Zeit« jedesmal
eine grundverschiedene; ihre Bestimmung gibt dem »und« in beiden
Titeln eine je eigene Eindeutigkeit. Zugleich aber ist durch das Fragen nach
dem Sein im Sinne des Titels »Sein und Zeit« eine Möglichkeit
geschaffen, die Geschichte der Seinsfrage im Sinne des Titels »Sein und
Denken« ursprünglicher, d. h. seinsgeschichtlich zu begreifen und
die in der Geschichte der Metaphysik notwendig unerfragte Wahrheit des Seins
zuerst im Zeitcharakter des Seins sichtbar zu machen durch den Hinweis auf das
Walten der Anwesung und Beständigkeit im Wesen der fusiV,
der idea und der ousia.
Dieser Hinweis ist seinsgeschichtlich um so entscheidender, als in der weiteren
Geschichte der Seinsfrage der Zeitcharakter der Seiendheit mehr und mehr verhüllt
wird, so daß der Versuch, das Sein (und die Zeitlosigkeit der Kategorien
und Werte) mit der »Zeit«, gleichviel wie immer, zu koppeln, sogleich
auf eine Abwehr stößt, die ihre Kraft freilich nur in der Blindheit
des Nichtfragenwollens hat. Da der »Zeit«charakter des Seins selbst
aufgrund des Nichtbegreifens der Frage nach der Wahrheit (dem »Sinn«)
des Seyns ganz befremdlich bleibt, rettet man sich durch die Gleichsetzung des
Seins mit dem Dasein, das ja nun, weil es irgendwie das Menschsein bezeichnet,
in seiner »Zeitlichkeit« verständlich wird. So aber ist denn
alles aus der Bahn der Seinsfrage herausgefallen und zugleich erwiesen, daß
ein Titel für sich nichts vermag, wenn die Anstrengung und das Wissen fehlen,
ihn zum mindesten in seiner Absicht zu deuten. Doch dieses Wissen kann nie mitgeteilt
und verbreitet werden wie die Kenntnisse vom Vorhandenen. Schon im Übergang
müssen jene gehen, die es einander zubringen, indem sie, Entscheidungen
ahnend, aufeinander zukommen und sich doch nicht treffen. Denn der Zerstreuten
Einzelnen bedarf es, um die Entscheidung reifen zu lassen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 432-434 |
Denken wir das Menschenwesen auch nur in der seit Jahrhunderten gewohnten
Bestimmung als animal rationale nur entschieden genung, dann können wir
an dem längst fad und leer gewordenen Bezug zum Sein nicht vorbeidenken,
der noch in der »Vernünftigkeit« dieses Lebewesens gemeint
ist. Man mag bei der rasch ansteigenden Ratlosigkeit gegenüber dem »metaphysischen«
Wesen der Vernunft sich nach dem letzten, maßgebenden Vorgang Nietzsches
dahin retten, die »Vernunft« (und alles, was sich unter anderen
Titeln im Umkreis dieser »Eigenschaft« des Lebewesens bewegt) auf
»das« Leben »zurückzuführen«. Man kann mit
dem Geist des selbstverständlichen und leicht Beweisbaren bestätigt
sich dahin vorwagen, die Vernunft als bloße Ausstrahlung »des Lebens«
und damit als Nachträgliches auszugeben, man kann dieser Denkweise so ausnahmslos
zu einer Geläufigkeit im all-gemeinen Vorstellen verhelfen, trotzdem ändert
sich nichts an der Wesensmäßigkeit der » Vernunft« im
Sinne des Vernehmens des Seins des Seienden. Alle jene Vorrangstellung »des
Lebens« fällt ja selbst in das Nichts zusammen, wenn nicht dasjenige,
was, wie die Vernunft, von ihm »abhängig« ist, in sich selbst
erst dennoch das Wesen des Menschen trüge und durchhemchte: daß es
inmitten des Seienden, zu diesem als einem solchen sich verhaltend, ein Seiendes,
ja »der« Seiende ist, wie ihn die neuzeitliche Bestimmung im Sinne
des »Subjektum« begreift. So sehr sich diese in der Folgezeit auf
»das Leben« berufen mag, sie ist dennoch die stärkste, nur
entsprechend immer blinder werdende Bezeugung des metaphysischen Wesens des
Menschen, das zu vergessen und in der Vergessenheit zu halten, alle Veranstaltung
»des Lebens« und jede Einrichtung der » Welt« betreibt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 439-40 |
Wenn nun aber das Sein, obzwar unerkannt, dem Wesen der Vernunft den
Grund leiht, nichts Beliebiges ist, sondern selbst in seiner Wesung den Menschen
von Grund aus be-anspruchen könnte, und wenn der Mensch noch einmal sein
eigenes, durch und durch vernutztes und zerfahrenes Wesen in einer anderen Ursprünglichkeit
zurückgewinnen sollte, und wenn gar diese Wesensgewinnung darin bestehen
müßte, von der Wesung des Seyns in den Anspruch genommen zu sein,
und wenn das Seyn selbst die Wahrheit seines Wesens nur in solcher Verwandlung
des Menschen gründen dürfte, die ein ursprüngliches Denken »des«
Seyns zu wagen vermag, dann kündigt sich vom Menschen her ein gewandeltes
Denken des Seins an. Aber jetzt wird auch sogleich deutlich, daß dieses
Bestimmen der Philosophie vom Menschen her niemals »den« Menschen
an sich meint, sondern der geschichtlichen Menschen, dessen Geschichte und zwar
verborgen, aber doch in der historischen Vor-stellung geläufih und dringend
ist.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 440-441 |
Das Riesenhafte wurde als dasjenige bestimmt, wodurch das »Quantitative«
zu einer eigenen »Qualität«, einer Art von Größe
verwandelt wird. .... Zu den Fromen des Riesenhaften zählen:
1. Das Riesenhafte der Verlangsamung der Geschichte (des Ausbleibens
wesentlicher Entscheidungen bis zur Geschichtslosigkeit) im Schein der Schnelligkeit
und Lenkbarkeit der »historischen« Entwicklung und ihrer Vorwegnahmen.
2. Das Riesenhafte der Öffentlichkeit als Zusamenfassung alles Zusammengehörigen
unter Verhüllung der Zerstörung und Untergrabung jeder Leidenschaft
zur wesentlichen Sammlung.
3. Das Riesenhafte des Anspruchs der Natürlichkeit im Schein des
Selbstverständlichen und »Logischen«; die Fragwürdigkeit
des Seins wird völlig außer Frage gestellt.
4. Das Riesenhafte der Verkleinerung des Seienden im Ganzen unter dem
Schein der grenzenlosen Ausweitung desselben kraft der unbedingten Beherrschbarkeit.
Das einzig Unmögliche ist das Wort und die Vorstellung »unmöglich«.
In allen diesen aufeinander bezogenen Formen des Riesenhaften west die Seinsverlassenheit
des Seienden; und zwar nicht mehr bloß in der Weise des Ausbleibens der
Fragwürdigkeit des Seienden, sondern in der Gestalt der eingerichteten
Austreibung jeder Besinnung auf Grund des unbedingten Vorrangs der »Tat«
(d.h. des berechneten, immer »großangelegten« Betriebs) und
der »Tatsachen«.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 441-442 |
Das Riesenhafte entfaltet sich im Rechenhaften und bringt so immer »Quantitatives«
zum Vorschein, ist aber selbst als unbedingte Herrschaft des Vor- und Herstellens
eine ihrer selbst nicht mächtige und in der höchsten Selbstgewißheit
gerade sich niemals wissende Verleugnung der Wahrheit des Seyns zugunsten des
»Vernünftigen« und »Gegebenen«. Das Riesenhafte
vollbringt die Vollendung der metaphysischen Grundstellung des Menschen, die
in der Umkehrung ihrer Gestalt einrückt und alle »Ziele« und
»Werte« (»Ideale« und »Ideen«) als »Ausdruck«
und Ausgeburt des bloßen, »ewigen« »Lebens« an
sich deutet. Die vordergründlichen Erscheinungen des Riesigen sollen diesen
»Ursprung« im »Leben« möglichst eindringlich vorstellig
machen, d.h. historisch für das Zeitalter der Riesenhaftigkeit fest-stellen,
und dieses vor ihm selbst in seiner »Lebendigkeit« bestätigen.
Ob die »Werte« und »Ziele« durch die »Vernunft«
gesetzt werden oder aus dem »Instinkt« des »natürlichen«
und »gesunden« Lebens entspringen, überall entfaltet sich hier
das »Subjektum« (Mensch) zur Mitte des Seienden, so zwar, daß
alle kulturmäßigen und politischen Gestaltungsformen in gliecher
Weise und gleichnotwendig das Riesenhafte zur Macht bringen und das historische
Rechnen mit der Geschichte und Verrechnen der Geschichte als Verhüllung
der Ziellosigkeit betreiben und das Ausweichen vor wesentlichen Entscheidungen
überall unauffällig und unbewußt sicherstellen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 442-443 |
Am Riesenhaften wird erkenbar, daß jede Art von »Größe«
in der Geschichte der unausgesprochenen »metaphysischen« Deutung
des Geschehens entspringt (Ideale, Taten, Schöpfungen, Opfer) und deshalb
nicht eigentlich geschichtlichen, sondern historischen Wesens ist. Die verborgene
Geschichte des Seyns kennt nicht das Rechenhafte von »Groß«
und »Klein«, sondern »nur« das Seynsmäßige
des Entschieden, Unentschieden und Entscheidungslos.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 443 |
Die transzendentale Bedingung Kants. Und wir tun gut daran, an dieser
Auslegung der Seiendheit als Gegenständlichkeit das Denken des Seienden
als solchen einzuüben. Gleichwohl steht diese Kantische Auslegung auf dem
»Grunde« des Subjektum und im Umkreis des Vor-stellens. Die Kennzeichnung
des »Entwurfs« wird im besten Sinne »subjektiv«, d.h.
nicht »ichhaft«, »subjektivistisch«, erkenntnistheoretisch,
sondern metaphysisch als Subjektum, als das Ungefragte und Unfragwürdige
zugrundelegend. Die Auslegung des Kantischen Denkens kann von da eine wesentliche
Klärung erfragen und dahin führen, daß selbst in dieser Subjekt-stellung
das philosophische Denken nicht an den Abgründen vorbeikommt (Schematismus
und transzendentale Einbildungskraft). Allein, wir müssen schon für
andere Bereiche fragsam geworden sein, um eine solche Auffassung Kants nicht
lediglich als eine übertriebene Merkwürdigkeit zu verzeichnen, sondern
mit dem Hinweis auf das Abgründige ernst zu machen. - Das glückt überhaupt
nur, wenn wir im Grunde Kant schon nicht mehr »subjektiv« gelesen,sondern
auf das Da-sein umgelegt haben. - Dies ist, auf einem geschichtlichen Wege,
ein Schritt, um in die Nähe jenes Denkens zu gelangen, das den Entwurf
nicht mehr als Vorstellungsbedingung versteht,sondern als Da-sein und
als die Geworfenheit einer zum Stand gekommen Lichtung, deren erstes bleibt,
die Verbergung zu gewähren und so die Verweigerung zu offenbaren.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 447-448 |
Geschichtlich werden heißt: aus dem Wesen des Seyns entspringen
und deshalb und deshalb ihm zugehörig bleiben; meint nicht: in das Vergangene
und historisch Feststellbare überwiesen werden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 456 |
Die »psychologisch« Erklärung des Denkens ist ja nur
ein Anhang zur »logischen« und setzt diese voraus, auch dort, wo
sie meint, die logische ersetzen zu können ....
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 461 |
Das Seyn ist das Er-eignis.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 470 |
Das Seyn ist Not der Götter und als diese Nötigung des Da-seins
abgründiger denn jegliches, was seiend heißen darf und durch das
Seyn sich nicht mehr benennen läßt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 471 |
Die volle Wesung des Seyns in der Wahrheit des Ereignisses läßt
erkennen, daß das Seyn und nur das Seyn ist und daß das Seiende
nicht ist. Mit diesem Wissen vom Seyn erreicht das Denken erst die Spur
des anderen Anfangs im Übergang aus der Metaphysik.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 472 |
Das Seyn ist. Sagt nicht Parmenides dasselbe: estin
gar einai? Nein; denn eben hier schon steht das einai
für das eon, das Sein ist hier schon das seiendste
Seiende, ontwV on, das alsbald zum koinon,
zur idea, zum kaqolou
wird.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 473 |
Das Zwischen ist die einfache Sprengung, die das Seyn in dem bis dahin
seinem eigenen Wesen vorenthaltenen und noch nicht so zu nennenden Seienden
ereignet. Diese Sprengung ist die Lichtung zum Verborgenen. Die Sprengung zerstreut
aber nicht, und die Lichtung ist keine bloße Leere.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 485 |
Das Seyn ist die erstreitende Ereignung, die ihr Ereignetes (das Da-sein
des Menschen) und ihr Verweigertes (den Gott) ursprünglich versammelt in
den Abgrund ihres Zwischen, in dessen Lichtung Welt und Erde sich die Zugehörigkeit
ihres Wesens erstreiten zum Zeit-Spiel-Raum, in dem zur Verwahrung kommt das
Wahre, was in solcher Verwahrung als das »Seiende« zur Einfachheit
seines Wesens im Seyn (dem Ereignis) sich findet.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 485 |
Das Seyn, das Herdfeuer in der Mitte der Behausung der Götter ....
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 486 |
Das Da-sein ist das im EReignis Ereignete.Und erst aus solchem
Wesen hat es sein Eigenes der gründenden und ihr das Da bewhrenden Wävhterschaft
der Verweigerung.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 487 |
Er-eignet aber ist das Da-sein als die Verzichtung. Ver-zichtung läßt
die Verweigerung (d.h. die Ereignung) in das Offene ihrer Entscheidungen ragen.
Solches Ragenlassen der Verzichtung hebt sie wesentlich heraus aus jedem bloß
Verneinenden und Verneinten. Verzichtung ist ursprüngliches Stehen: ungestützt
im Ungeschützten (die Inständigkeit ddes Da-seins).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 487 |
Das Seyn aber er-eignet sich das Da-sein zur Gründung seiner Wahrheit,
d.h. seiner Lichtung, weil es ohne diese lichtende Ent-scheidung seiner selbst
in die Notschaft des Gottes und in die Wächterschaft des Da-seins im Feuer
der eigenen ungelösten Glut sich verzehren müßte.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 488 |
Überall ... bleibt hier kein Platz für die Deutung des Menschen
als »Subjekt«, weder im Sinne des ichhaften noch im Sinne des gemeinschaftlichen
Subjekts.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 488 |
Der Mensch hat sein Wesen (Wächterschaft des Seyns) zu seinem Eigen-tum,
sofern er in das Da-sein sich gründet. Das Wesen zum Eigen-tum haben bedeutet
aber: Aneignung und Verlust dessen, daß er und wie er der Ereignete (in
das Seyn Entrückte) ist, inständlich vollziehen müssen. Eigentlich,
des Wesens eigens Eigentümer, sein und diese Eigentlichkeit je nach der
Ab-gründigkeit der Ereignung inständlich bestehen und nicht bestehen,
das macht das Wesen der Selbstheit aus. Weder vom »Subjekt« noch
gar vom »Ich« oder der »Persönlichkeit« knn die
Selbstheit begriffen werden, sondern nur das Inständnis in der wächterschaftlichen
Zugehörigkeit zum Seyn, d.h. aber aus dem Zuwurf der Notschaft der Götter.
Selbstheit ist die Entfaltung der Eigentumschaft des Wesens. Daß der Mensch
sein Wesen zum Eigentum hat; sagt: es steht in der steten Gefahr des Verlustes.
Und dieses ist der Widerklank der Er-eignung, die Übernatwortung an das
Seyn.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 489 |
Wenn in »Sein und Zeit« gesagt wird, daß durch die
»existenziale Analytik« hindurch erst das Sein des nichtmenschlichen
Seienden bestimmbar werde, dann heißt das nicht, der Mensch sei das zuerst
und zunächst Gegebene, nach dessen Maßgabe das übrige Seiende
die Prägung seines Seins erhalte. Eine solche »Auselgung« unterstellt,
daß der Mensch immer noch in der Weise des Descartes und aller
seiner Nachfolger und bloßen Gegner (auch Nietzsche gehört zu ihnen)
als Subjekt gedacht werde.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 489 |
Wer die Geschichte des Menschen als die Geschichte des Wesens
des Menschen begriffen hat, fü den kann die Frage, wer der Mensch sei,
nur die Notwendigkeit bedeuten, den Menschen aus seinem bisherigen metaphysischen
Aufenthaltsbezirk Heraus zu fragen, fragend in ein anderes Wesen zu weisen und
damit diese Frage selbst zu überwinden. Unvermeidbar steht dieses Fragen
noch unter dem Schein der »Anthropologie« und in der Gefahr der
anthropologischen Mißdeutung.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 491 |
Die Geschichte ist überall vom Historischen her bestimmt,
auch dort, wo man meint, die geschichtliche Wirklichkeit selbst zu fassen und
im Wesen zu umgrenzen; das geschieht z.T. »ontologisch«; die geschichtliche
Wirklichkeit als Werde-Wirklichkeit, z.T. »erkenntnistheoretisch«:
die Geschichte als das feststellbar Vergangene. Beide Auslegungen sind abhängig
von dem, was »Ontologie« und »Erkenntnistheorie« möglich
machte , d.h. von der Metaphysik. Hier sind auch die Voraussetzunegn
für die Historie zu suchen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 492 |
Die »Neuzeit« bringt nicht zufällig die Historie zur
eigentlichen Herrschaft. Diese erstreckt sich heute, im Beginn des entscheidenden
Abschnitts der Neuzeit, schon so weit, daß durch die von der Historie
bestimmte Geschichtsauffassung die Geschichte in das Geschichtslose abgedrängt
und daß dort ihr Wesen gesucht wird. ..., Die Art, wie der Mensch sich
selbst betreibt und berechnet, in Szene und in die Vergleichung setzt, die Art,
wie er das Vergangene sich als Hintergrund seiner Gegenwärtigkeit zurchtstellt,
die Weise, wie er diese Gegenwart zu einer Ewigkeit ausspreizt, all dieses zeigt
das Vorwalten der Historie. - Was ist aber hier mit Historie gemeint?
Das feststellende Erklären des Vergangenen aus dem Gesichtskreis der berechnenden
Betreibungen der Gegenwart. Das Seiende ist hierbei vorausgesetzt als das Bestell-,
Herstell- und Feststellbare (idea).
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 493 |
Das Seyn als Er-eignis ist die Geschichte; von hier aus muß
deren Wesen,unabhängig von der Werdens- und Entwicklungsvorstellung, unabhängig
von der hsitorischen Betrachtung und Erklärung, bestimmt werden. Daher
läßt sich das Wesen der Geschichte auch dann nichtfassen, wenn man,
statt vom historischen (erkundenden) »Subjekt« auszugehen, sich
auf das historische »Objekt« und den Gegenstand richtet. Was soll
den Gegenstand der Historie sein? Ist »objektive Historie« ein un-erreichbares
Ziel? Sie ist überhaupt kein mögliches Ziel. Dann gibt es auch keine
»subjektive« Historie. Im Wesen der Historie liegt, daß sie
sich auf das Subjekt-Objekt-Verhältnis gründet; sie ist objektiv,
weil sie subjektiv ist, und insofern sie dieses ist, muß sie auch jenes
sein; daher hat ein »Gegensatz« zwischen »subjektiver«
und »objektiver« Historie gar keinen Sinn.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 494 |
In Wahrheit vollzieht sich mit dem zunehmenden Ausgriff der Forschung
(der Historie im weitesten Sinn) eine Verlagerung des Riesigen von dem der Planung
Unterworfenen in die Planung selbst. Und in dem Augenblick, da die Planung und
Berechnung riesenhaft geworden, beginnt das Seiende im Ganzen zu schrumpfen.
Die »Welt« wird immer kleiner, nicht etwa nur im quantitativen Sinne,
sondern in der metaphysischen Bedeutung, das Seiende als Seiendes, d.i. als
Gegenständliches wird schließlich soweit in die Beherrschbarkeit
aufgelöst, daß derSeinscharakter des Seienden gleichsam verschwindet
und die Seinsverlassenheit des Seienden sich vollendet.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 495 |
Die metaphysische Verkleinerung der »Welt« erzeugt eine
Aushöhlung des Menschen. Der Bezug zum Seienden als solchem verliert in
diesem und mit diesem jedes Ziel, der Bezug als das Verhalten des Menschen bezieht
sich nur noch auf sich selbst und die Planmäßigkeit seines Vollzugs.
Das Fühlen des Gefühls fühlt nur noch das Fühlen, das Gefühl
selbst wird der Gegenstand des Genusses. Das »Erleben« erreicht
das Äußerste seines Wesens, die Erlebnisse werden erlebt. Die Verlorenheit
in das Seiende in das Seiende erlebt sich als Fähigkeit, das »Leben«
in den berechenbaren Wirbel des leeren Kreisens um sich selbst zu verwandeln
und dieses Vermögen als die »Lebensmühe« glaubhaft zu
machen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 495 |
Das Seiende »im Ganzen«? Hat jetzt noch das »Ganze«
eine Notwendigkeit? Zerfällt es nicht als der letzte Rest des »systematischen«
Denkens?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 495 |
Als ob die »Natur« als Gegenstand der Naturwissenschaft
und als Ausbeutung der technik noch irgend das Seiende träfe oder auch
nur so, daß zu ihrer Ergänzung die »Philosophie« herbeigeholt
werden könnte, die ja längst nur in der Gegenständlichkeit
dieser Gegenstände (erkenntnistheoretisch, ontologisch,d.h. vorstellungsmäßig)
sich heimisch gemacht hat.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 496 |
Die Romantik ist noch nicht zu Ende. Sie versucht noch einmal eine Verklärung
des Seienden, die aber nur noch als Re-aktion gegen die durchgängige Erklärung
und Berechnung über diese sich zu bauen oder neben ihr sich anzubauen bemüht
ist. Zu dieser Verklärung wird die historische Erneuerung der »Kultur«
»aufgerufen« und ihre Verwurzelung im »Volk« betrieben
und die Mitteilung an alle angestrebt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 496 |
Innerhalb der Geschichte der Metaphysik (und somit in der bisherigen
Philosophie überhaupt) ist die Bestimmung der Sprache vom logoV
her geleitet, wobei der logoV als Aussage genommen
wird und diese als Verbindung von Vorstellungen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 497 |
Ob dann nicht mit der geschichtlich sogar anfänglich notwendigen
Deutung der Sprache vom logoV her und mit der so
vorgezeichneten Einfügung in den metaphysischen Bezugskreis die Möglichkeit
der Wesensbestimmung der Sprache auf den Besinnungsraum der Metaphysik eingeschränkt
wurde?
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 498-499 |
Das Seyn und nichts Geringeres als dessen eigenste Wesung könnte
gar jenen Grund der Sprache ausmachen, aus dem her sie die Eignung schöpfte,
dasjenige, in bezug worauf sie metaphysisch erklärt wird, selbst erst von
sich aus zu bestimmen. ... Mit der Sprache erst ist der Mensch gegeben. Sprache
und Mensch bestimmen sich wechselweise. Wodurch wird das möglich? Sind
beide in gewisser Weise dasselbe, und in welcher Hinsicht sind sie das? Kraft
ihrer Zugehörigkeit zum Seyn. Was bedeutet dies: zum Seyn gehören?
Der Mensch gehört als ein Seiendes zum Seienden und untersteht so der allgemeinen
Bestimmung, daß er ist und so und so ist. Allein, das zeichnet
den Menschen nicht als Menschen aus, sondern setzt ihn nur als Seiendes mit
allem Seienden gleich. Der Mensch aber kann zum Seyn (nicht nur unter das Seienden)
gehören,sofern er aus dieser Zugehörigkeit und gerade aus ihr sein
ursprünglichstes Wesen schöpft: Der Mensch versteht das Seyn (vgl.
»Sein und Zeit«), er ist der Statthalter des Entwurfs des Seyns,
die Wächterschaft der Wahrheit des Seyns macht das aus dem Seyn und »nur«
aus diesem begriffene Wesen des Menschen aus. Der Mensch gehört zum Seyn
als der vom Seyn selbst zu dessen Wahrheitsgründung Ereignete. So geeignet
ist er dem Seyn überantwortet, und solche Überantwortung verweist
die Bewahrung und Gründung dieses Menschenwesens in jenes, was der Mensch
selbst erst sich zum Eigentum machen muß, mit Bezug worauf er eigentlicher
und uneigentlicher sein muß: in das Da-sein, was die Wahrheitsgründung
selbst ist, der vom Seyn (Ereignis) ausgeworfene und getragene Ab-grund.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 499-500 |
»Die« Sprache ist »unsere« Sprache; »unsere«
nicht nur als die Muttersprache, sondern als die unserer Gecshichte.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 501 |
Das leiblich-seelisch-gesitigeWesen des Menschen wird in der Sprache
wiedergefunden: der Sprach-(Wort-)Leib, die Sprach-Seele (Stimmung und Gefühlston)
und der Sprach-Geist (das Gedachte-Vorgestellte) sind geläufige Bestimmungen
aller Sprachphilosophie. Diese Auslegung der Sprache, man könnte sie die
anthropologische nennen, gipfelt darin, in der Sprache selbst ein Symbol des
Menschenwesens zu sehen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 502 |
Die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerks ... steht im innersten Zusammenhang
mit derAufgabe der Überwindung der Ästhetik und d.h. zugleich einer
bestimmten Auffassung des Seienden als des gegenständlichen Vorstellbaren.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 503 |
Die Überwindung der Metaphysik bedeutet die Freigabe des Vorrangs
der Frage nach der Wahrheit des Seins vor jeder »idealen«, »kausalen«
und »transzendentalen« und »dialektischen« Erklärung
des Seienden. Die Überwindung der Metaphysikist jedoch kein Abstoßen
der bisherigen Philosophie, sondern der Einsprung in ihren ersten Anfang, ohne
diesen erneuern zu wollen, was historisch unwirklich und geschichtlich unmöglich
bleibt. Trotzdem führt die Besinnung auf den ersten Anfang (aus der Nötigung
zur Vorbereitung des anderen Anfangs) zu einer Auszeichnung des anfänglichen
(griechischen) Denkens, die das Mißverständnis begünstigt, mit
diesem Rückgang solle eine Art »Klassizismus« in der Philosophie
angestrebt werden. In Wahrheit aber öffnet sich durch das »wiederholende«,
d.h. ursprünglicher ansetzende Fragen die einsame Ferne des ersten Anfangs
zu allem, was ihm geschichtlich folgt.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 504 |
Überall handelt es sich hier darum, geschichtlich zu denken und
d.h. zu sein, statt historisch zu rechnen. Die Frage des »Klassizismus«
und die Überwindung der »klassizistischen« Mißdeutung
und Herabsetzung des »Klassischen« und ebenso die Kennzeichnung
einer Geschichte als »klassisch« ist keine Frage der Stellung zur
Kunst, sondern eine Entscheidung für oder gegen Geschichte.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 505 |
Zeitalter, die durch den Historismus vieles und alsbald alles kennen,
werden nicht begreifen, daß ein Augenblick einer kunst-losen Geschichte
geschichtlicher und schöpferischer sein kann als Zeiten eines ausgedehnten
Kunstbetriebs.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 505 |
Daß ein Betrieb mit »der Kunst« als Betriebsmittel
sich schon außerhalb des Wesens der Kunst gestellt hat und daher gerade
zu blind und zu schwach bleibt, die Kunst-losigkeit in ihrer Geschichte vorbereitenden
und dem Seyn zugewiesenen Macht zu erfahren oder auch nur »gelten«
zu lassen. Die Kunsttlosigkeit gründet in dem Wissen, daß die Bestäigung
und Zustimmung jener, die »Kunst« genießen und erleben, gar
nicht darüber entscheiden können, ob der Genußgegenstand überhaupt
aus dem Wesensumkreis der Kunst stammt oder nur ein Scheingebilde historischer
Geschichtlichkeit ist, getragen von herrschenden Zwecksetzungen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 505-506 |
DasWissen aber, dadurch die Kunst-losigkeit geschichtlich bereits ist,
ohne öffentlich bekannt zu sein und zugestanden zu werden innerhalb einer
ständig zunehmenden »Kunsttätigkeit«, dieses Wissen gehört
selbst in das Wesen einer ursprünglichen Ereignung, die wir das Da-sein
nennen, aus dessen Inständigkeit sich die Zertrümmerung des Vorrangs
des Seienden vorbereitet und damit das Un-gewöhnliche und Un-natürliche
eines anderen Ursprungs der »Kunst«: der Anfang einer verhüllten
Gecshichte der Verschweigung einer abgründigen Entgegnung der Götter
und des Menschen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 506 |
Ursprungsfrage: »der« Ursprung immer geschichtlich
in dem Sinn, daß das Wesen selbst geschichtlich ereignishaft ist. - Das
aei der Griechen nicht die historisch gedachte Dauer
des fortschrittlichen endlosen Fortdauerns,sondern die Beständigkeit der
Anwesung des unerschöpflichen Wesens. - Die Griechen waren unhistorisch,
das istorein ging auf das Gegenwärtige-Vorhandene
und nicht auf das Vergangene als solches. - Die Griechen waren aber geschichtlich,
so ursprünglich, daß ihnen die Geschichte selbst noch verborgen blieb,
d.h. nicht zum Wesensgrund der Gestaltung ihres »Daseins« wurde.
- Das aei nicht die Anwesung des Fortlaufenden, sondern
die in die Gegenwart sammelnde Vereinfachung des je Wesentlichen (das en
als on)
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 507-508 |
Warum die Wahrheit des Seyns? Sie gehört zu seinem Wesen.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 509 |
Sprache, ob gesprochen oder geschwiegen, die erste und
weiteste Vermenschung des Seienden. So scheint es. Aber sie gerade die
ursprünglichste Entmenschung des Menschen als vorhandenes Lebewesen
und »Subjekt« und alles Bisherigen. Und damit Gründung des
Da-seins und der Möglichkeit der Entmenschung des Seienden.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 510 |
Und sofern die Sprache Grund des Da-seins,leigt in diesem die Mäßigung
und zwar als der Grund des Streites von Welt und Erde.
Martin Heidegger,
Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 1936-1938, S. 510 |
»Der Wille zur Macht« - dieser
Ausdruck spielt in Nietzsches Denken eine zweifache Rolle:
1. Der Ausdruck dient als Titel des von Nietzsche Jahre hindurch geplanten
und vorbereiteten, aber nicht ausgeführten philosophischen Hauptwerkes.
2. Der Ausdruck ist die Benennung dessen, was der Grundcharakter alles
Seienden ausmacht. »Der Wille zur Macht ist das letzte Faktum, zu
dem wir hinunterkommen« (XVI, 415).
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 2 |
Es lassen sich in der Abfolge der Entwürfe drei Grundstellungen
unterscheiden: die erste reicht zeitlich von 1882 bis 1883 (»Also
sprach Zarathustra«); die zweite von 1885 bis 1887 (»Jenseits
von Gut und Böse«, »Genealogoe der Moral«); die
dritte umfaßt die Jahre 1887 und 1888 (»Götzen-Dämmerung«,
»Ecce homo«, »Antichrist«).
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 13 |
Die erste Grundstellung hat ihren Charakter durch den Haupttitel:
»Philosophie der ewigen Wiederkunft« mit dem Untertitel: »Ein
Versuch der Umwertung aller Werte« (XVI, 415). Ein hierher gehöriger
Plan (S. 414) enthält als krönendes Schlußkapitel (5.)
»Die Lehre der ewigen Wiederkunft als Hammer in der Hand
des mächtigsten Menschen«. Daraus ist zugleich ersichtlich,daß
der Gedanke der Macht, d.h. immer des Willens zur Macht, das Ganze vom
Grund bis zur Spitze durchragt.
Die zweite Grundstellung ist geprägt durch den Titel: »Der
Wille zur Macht« mit dem Untertitel: »Versuch der Umwertung
aller Werte«. Ein hierher gehöriger Plan (S. 424, Nr. 7) enthält
als vierten Teildes Werkes: »Die weige Wiederkunft«.
Die dritte Grundstellung macht den Titel, der in den beiden vorigen nur
Untertitel war, zum Haupttitel (S. 435): »Umwertung aller Werte«.
Die hierher gehörigen Pläne enthalten als vierten Teil die »Philosophie
der ewigen Wiederkunft« und als einen anderen, in seiner Stellung
wechselnden Teil den über die »Jasagenden«.
Ewige Wiederkehr, Wille zur Macht, Umwertung, das sind die drei Leitworte,
unter denen dasGanze des geplanten Hauptwerkes mit je verschiedener Lagerung
steht.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 14 |
Wenn wir nun nicht denkerisch eine Fragestellung entwickeln, die
imstande ist, die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, die Lehre
vom Willen zur Macht und diese beiden Lehren in ihrem innersten Zusammenhang
einheitlich als Umwertung zu begreifen, und wenn wir nicht dazu übergehen,
diese Grundfragestellung zugleich als eine im Gang der abendländischen
Metaphysik notwendig zu fassen, dann werden wir die Philosophie Nietzsches
niemals fassen, und wir begreifen nichts vom 20. Jahrhundert und dem künftigen
jahrhunderten, wir begreifen nichts von dem, was unsere metaphysische
Aufgabe ist.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 14-15 |
Die Überschrift des dritten Buches »Prinzip der neuen
Wertsetzung« muß daher ... im folgenden Sinne gelesen werden:
Der Grund, aus dem die Weise und Art des Wertsetzens künftig entspringt,
auf dem sie ruht. Wie ist dieser Grund zu fassen? - Wenn es sich in dem
Werk, wie der titel sagt, um den Willen zur Macht handelt und wenn das
dritte Buch das grundlegende und Aufbauende bringen soll, dann kann dieses
Prinzip der neuen Wertsetzung nur der Wille zur Macht sein.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 28-29 |
Dann bestimmt nicht ein Sollen das Sein, sondern das Sein ein
Sollen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 29 |
Es genügt nicht, Nietzsches Willensbegriff nur als die Umkehrung
des Schopenhauerschen zu fassen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 31 |
Schopenhauers Hauptwerk erschien im Jahre 1818. Es ist den um
diese Zeit bereits erschienenen Hauptwerken Schellings und Hegels auf
das tiefste verpflichtet. Der beste Beweis dafür liegt in dem maßlosen
und geschmacklosen Geschimpfe, mit dem Schopenahuer zeit seines lebens
Hegel und Schelling bedacht hat. Schopenhauer nennt Schelling einen »Windbeutel«
und Hegel einen »plumpen Scharlatan«. Dieses in derFolgezweit
Schoepnahuer öfters nachgemachte Geschimpfe auf die Philosophie hat
nicht einmal den zweifelhaften Vorzug, sonderlich »neu« zu
sein.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 32 |
Schelling hat in einem seiner tiefsten Werke, in der Abhandlung
»Über das Wesen der menschlichen Freiheit«, die 1809
erschienen ist, dargelegt: »Es gibt in der letzten und höchsten
Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen ist Ursein.« (I,
VII, 350). Und Hegel begriff in seiner »Phänomenologie des
Geistes« (1807) das Wesen des Seins als Wissen, das Wissen jedoch
als wesensgleich mit dem Wollen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 32 |
Schelling und Hegel waren dessen gewiß, daß sie mit
der Auslegung des Seins als Wille nur den wesentlichen Gedanken eines
anderen großen deutschen Denkers dachten, den Seinsbegriff von Leibniz,
der das Wesen des Seins als die ursprüngliche Einheit von perceptio
und appetitus bestimmte, als Vorstellung und Wille. Nietzsche selbst nennt
im »Willen zur Macht« nicht zufällig Leibniz zweimal
an entscheidender Stelle: »Die deutsche Philosophie als Ganzes
Leibniz, Kant, Hegel, Schopenhauer, um die Großen zu nennen
ist die gründlichste Art Romantik und Heimweh, die es bisher
gab: das Verlangen nach dem Besten, was jemals war.« (N. 419). Und:
»Händel, Leibniz, Goethe, Bismarck für die deutsche
starke Art charakteristisch.« (N. 884).
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 32 |
Allerdings darf man nun nicht sagen, Nietzsches Lehre vom Willen
zur Macht sein von Leibniz oder Hegel oder Schelling abhängig, um
mit dieser Feststellung das weitere Nachdenken einzustellen. »Abhängigkeit«
ist kein möglicher Begriff, um das verhältnis der großen
untereinander zu fassen. Abhängig ist immer nur das Kleine vom Großen.
Es ist gerade deshalb »klein«, weil es meint, es sei unabhängig.
Der große Denker ist dadurch groß, daß er aus dem Werk
der anderen »Großen« ihr Größtes herauszuhören
und diese ursprünglich zu verwandeln vermag.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 32-33 |
Der Hinweis auf die Ahnenschaft Nietzsches bezüglich der
Lehre vom Willenscharakter des Seins soll nicht eine Abhängigkeit
herausrechnen, sondern nru andeuten, daß eine solche Lehre innerhalb
der abendländischen Metaphysik nicht willkürlich, sondern vielleicht
sogar notwendig ist.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 33 |
Was versteht Nietzsche selbst unter dem Wort »Wille zur
Macht«? Was heißt Wille? Was heißt Wille zur Macht?
Diese zwei Fragen sind für Nietzsche nur eine; denn Wille ist für
ihn nichts anderes als Wille zur Macht, und Macht ist nichts anderes als
das Wesen des Willens. Wille zur Macht ist dann Wille zum Willen, d.h.
Wollen ist: sich selbst wollen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 33 |
Wenn nun für Nietzsche der Wille das Sein eines jeglichen
Seienden bestimmt, dann ist der Wille nicht etwas Seelisches, sondern
die Seele etwas Willentliches. Aber auch der Leib und der Geist sind Wille,
sofern dergleichen »ist«.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 34 |
Der Wille ist kein Wirken. Was man gemeinhin als das Bewirkende
nimmt, jenes verursachende Vermögen, gründet selbst im Willen
(vgl. VIII, 80).
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 35 |
Das Wollen will den Wollenden als einen solchen, und das Wollen
setzt das Gewollte als ein solches. Wollen ist Entschlossenheit zu sich,
aber zu sich als dem, was das Wollen als Gewolltes Gesetzte will. Der
Wille bringt jeweils von sich her eine durchgängige Bestimmtheit
in sein Wollen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 37-38 |
Wille ... ist Entschlossenheit zu sich - ist immer Über-sich-hinaus-wollen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 38 |
Wenn Nietzsche mehrfach den Befehlscharakter des Willens betont,
so meint er nicht eine Vorschrift und Weisung zur Durchführung einer
Handlung; er meint auch nicht den Willensakt im Sinne eines Entschlusses,
sondern die Entschlossenheit, jenes, wodurch das Wollen den setzenden
Ausgriff hat auf den Wollenden und das Gewollte und diesen Ausgriff als
gestiftete, bleibende Entschiedenheit. Wahrhaft befehlen -was nicht gleichzusetzen
sit mit Herumkommandieren - kann nur der, der nicht nur imstande, sondern
ständig bereit ist, sich selber unter den Befehl zu stellen. Durch
diese Bereitschaft hat er sich selbstin den Befehlskreis gestellt als
der erste, der maßgebend gehorcht. in diese über sich hinausgreifende
Entschiedenheit des Wollens liegt das Herrsein über ..., das Mächtigsein
über das, was im Wollen aufgeschlossen und in ihm, in der Entschlossenheit
als Ergriffenes festgehalten wird.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 38 |
Wollen selbst ist das über sich hinausgreifende Herrsein
über ...; Wille ist in sich selbst Macht. Und Macht ist das in-sich-ständige
Wollen. Wille ist Macht,und Macht ist Wille, Dann hat der Ausdruck »Wille
zur Macht« keinen Sinn? Er hat in der Tat keinen, sobald man Wille
im Sinnen des Nietzscheschen Wilensbegriffes denkt. Aber Nietzsche gebraucht
diesen Ausdruck dennoch, in der ausdrücklichen Abkehr vom landläufigen
Willensbegriff und der betonten Abwehr zumal des Schopenhauerschen....
ist Entschlossenheit ....
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 38 |
Mehr-sein-wollen. Macht selbst ist nur, sofern sie und solange
sie ein Mehr-Macht-sein-wollen bleibt. Sobald dieser Wille aussetzt, ist
Macht schon nicht mehr Macht, wenngleich sie das Beherrschte noch in der
Gewalt hat. Im Willen als Mehr-sein-wollen, im Willen als Wille zur Macht
liegt wesentlich die Steigerung, die Erhöhung; denn nur in der ständigen
Erhöhung kann sich das Hohe hoch und oben halten. Dem Sinken kann
nur durch ein mächtigeres Erhöhen begegnet werden und nicht
durch ein bloßes Festhalten der bisherigen Höhenlage, weil
solches am Ende die bloße Erschöpfung zur Folge hat. Nietzsche
sagt in »Der Wille zur Macht« (N. 702):
»Was der Mensch will, was jeder
kleinste Teil eines lebenden Organismus will, das ist ein Plus
von Macht. ....
Nehmen wir den einfachsten Fall, den der primitiven Ernährung:
das Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach etwas zu
suchen, das ihm widersteht nicht aus Hunger, sondern aus
Willen zur Macht. Darauf macht es den Versuch, dasselbe zu überwinden,
sich anzueignen, sich einzuverleiben: das, was man »Ernährung«
nennt, ist bloß eine Folge-Erscheinung, eine Nutzanwendung
jenes ursprünglichen Willens, stärker zu werden.« |
Wollen ist Stärker-werden-wollen. Auch hier spricht Nietzsche zugleich
in der Umkehrung und aus der Abwehr gegen Zeitgenössisches, nämlich
gegen den Darwinismus. Dies sei kurz verdeutlicht: Leben hat nicht nur,
wie Darwin meint, den Drang zur Selbsterhaltung, sondern ist Selbstbehauptung.
Das Erhaltenwollen haftet nur an schon Vorhandenem, versteift sich darauf,
verliert sich in ihm und wird so blind gegen das eigene Wesen. Selbstbehauptung,
d. h. im Haupt, d. h. oben bleiben wollen, ist ständig ein Zurückgehen
in das Wesen, in den Ursprung. Selbstbehauptung ist ursprüngliche
Wesensbehauptung.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 57 |
Wille zur Macht ist nie Wollen eines Einzelnen, Wirklichen. Er
betrifft das Sein und Wesen des Seienden, ist dieses selbst. Daher können
wir sagen: Wille zur Macht ist immer Wesenswille. Obwohl Nietzsche es
nicht ausdrücklich so faßt, meint er im Grunde dieses; denn
anders wäre nicht zu verstehen, was er im Zusammenhang der Betonung
des Steigerungscharakters des Willens - des »Plus an Macht«
- immer erwähnt: daß der Wille zur Macht etwas Schaffendes
ist. Auch diese Kennzeichnung bleibt mißverständlich, sofern
es oft so aussieht, als sei gemeint, im Willen zur Macht und durch ihn
solle etwas hervorgebracht werden. Nicht das Hervorbringen im Sinne des
Verfertigens ist entscheidend, sondern das Hinaufbringen und Verwandeln,
dieses Anders als ..., und zwar im Wesentlichen anDers. Deshalb gehört
zum Schaffen wesentlich das Zerstörenmüssen. In der Zerstörung
wird das Widrige und Häßliche und Böse gesetzt; es gehört
notwendig zum Schaffen, d. h. zum Willen zur Macht, also zum Sein selbst.
Zum Wesen des Seins gehört das Nichtige, nicht als bloßes Nichts
der Leere, sondern als das machtende Nein.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 57-58 |
Wir wissen: Der deutsche Idealismus hat das Sein als Willen gedacht.
Diese Philosophie wagt es auch, das Negative als zum Sein gehörig
zu denken. Es genüge der Hinweis auf ein Wort Hegels in der Vorrede
zur »Phänomenologie des Geistes«. Hegel sagt hier von
der »ungeheuren Macht des Negativen«:
»Es ist die Energie des Denkens,
des reinen Ichs. Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen
wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten, das, was
die größte Kraft erfordert. Die kraftlose Schönheit
haßt den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht
vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von
der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und
in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine
Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst
findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem
Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts
oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem
übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen
ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.« |
So wagt auch der deutsche Idealismus das Böse als zum Wesen des Seins
gehörig zu denken. Den größten Versuch in dieser Richtung
besitzen wir in Schellings Abhandlung Ȇber das Wesen rler
menschlichen Freiheit«. Nietzsche hatte ein viel zu ursprüngliches
und reifes Verhältnis zur Geschichte der deutschen Metaphysik, als
daß er die Gewalt des denkerischen Willens im deutschen Idealismus
übersehen hätte. So schreibt er einmal (»Der Wille zur
Macht«, N. 416):
»Die Bedeutung der deutschen Philosophie
(Hegel): einen Pantheismus auszudenken, bei dem das
Böse, der Irrtum und das Leid nicht als Argumente gegen
Göttlichkeit empfunden werden. Diese grandiose Initiative
ist mißbraucht worden von den vorhandenen Mächten (Staat
usw.), als sei damit die Vernünftigkeit des gerade Herrschenden
sanktioniert.
Schopenhauer
erscheint dagegen als hartnäckiger Moral-Mensch, welcher endlich,
um mit seiner moralischen Schätzung recht zu behalten, zum Welt-Verneiner
wird. Endlich zum »Mystiker«. |
Diese Stelle zeigt außerdem klar, daß Nietzsche nicht und niemals
gewillt war, in die durch Schopenhauer und andere um die Mitte des 19.
Jahrhunderts in Umlauf gekommene Herabsetzung und Herabwürdigung
und Beschimpfung des deutschen Idealismus einzustimmen. Schopenhauers
Philosophie, die seit 1818 abgeschlossen vorlag, begann um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts in breiter Öffentlichkeit zu wirken. Auch Richard
Wagner und der junge Nietzsche wurden von dieser Bewegung erfaßt.
Ein lebendiges Bild von der Schopenhauerbegeisterung, die zu der genannten
Zeit die jungen Menschen bewegte, können wir jetzt aus den Briefen
des jungen Frh. Carl v. Gersdorff an Nietzsche gewinnen. Beide waren seit
ihrer Gymnasiastenzeit in Schulpforta befreundet. Besonders wichtig sind
die Briefe Gersdorffs, die er 1870/71 aus dem Feld an Nietzsche schrieb.
(Vgl. »Die Briefe des Freiherrn Carl von Gersdorff an Friedrich
Nietzsche« [hrsg. v. K. Schlechta] I. Teil: 1864-71).
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 58-60 |
Schopenhauer hat die Tatsache, daß er nun eifrig von den
Gebildeten gelesen wurde, als einen philosophischen Sieg über den
deutschen Idealismus angesehen. Aber Schopenhauer kam in der Philosophie
um diese Zeit nicht deshalb obenauf, weil seine Philosophie den deutschen
Idealismus philosophisch besiegte, sondern weil die Deutschen vor dem
deutschen Idealismus erlagen, seiner Höhe nicht mehr gewachsen waren.
(Spengler zum Erfolg Schopenhauers: »Nicht
umsonst war Schopenhauer ... zu den englischen Sensualisten in die Lehre
gegangen. Dort lernte er Kant im Geiste der großstädtischen,
aufs Zweckmäßige gerichteten Modernität mißverstehen.
Der Intellekt als Werkzeug des Willens zum Leben [auch der moderne Gedanke,
daß die unbewußten, triebhaften Lebensakte Vollkommenes bewirken,
während es der Intellekt nur zu stümperhaften Leistungen bringt,
findet sich bei ihm {in: Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818,
Band II, Kap. 30}], als Waffe im Kampf ums Dasein, das, was Shaw in eine
groteske dramatische Formel gebracht hat (in »Mensch und Übermensch«,
1903), dieser Weltaspekt Schopenhauers war es, der ihn beim Erscheinen
von Darwins Hauptwerk [1859] mit einem Schlage zum Modephilosophen machte.
Er war im Gegensatz zu Schelling, Hegel und Fichte der einzige, dessen
metaphysische Formeln dem geistigen Mittelstand ohne Schwierigkeit eingingen.
Seine Klarheit, auf die er stolz war, ist in jedem Augenblick in Gefahr,
sich als Trivialität zu enthüllen. Hier konnte man, ohne auf
Formeln zu verzichten, die eine Atmosphäre von Tiefsinn und Exklusivität
um sich breiteten, die gesamte zivilisierte Weltanschauung sich zu eigen
machen. Sein System ist antizipierter Darwinismus, dem die Sprache
Kants und die Begriffe der Inder nur zur Verkleidung dienten. In seinem
Buche »Über den Willen in der Natur« (1835) finden wir
schon den Kampf um die Selbstbehauptung in der Natur, den menschlichen
Intellekt als die wirksamste Waffe in ihm, die Geschlechtsliebe als die
unbewußte Wahl aus biologischem Interesse. [Im Kapitel »Zur
Metaphysik der Geschlechtsliebe« {in: Die Welt als Wille und
Vorstellung, 1818, Band II, Kapitel 44} ist der Gedanke der Zuchtwahl
als des Mittels zur Erhaltung der Gattung in vollem Umfang vorweggenommen.]
Es ist die Ansicht, welche Darwin auf dem Umweg über Malthus mit
unwiderstehlichem Erfolg in das Bild der Tierwelt hineingedeutet hat.«
[Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1918, S. 473-474.])
Dieser Verfall machte Schopenhauer zum großen Mann, was zur Folge
hatte, daß die Philosophie des deutschen Idealismus, von den Gemeinplätzen
Schopenhauers aus gesehen, etwas Befremdliches und Absonderliches wurde
und in Vergessenheit geriet. Nur auf Um- und Abwegen finden wir in dieses
Zeitalter des deutschen Geistes zurück. Aber wir sind weit entfernt
von einem wahrhaft geschichtlichen Bezug zu unserer Geschichte. Nietzsche
spürte, daß hier eine »grandiose Initiative« des
metaphysischen Denkens am Werk war. Doch bei solcher Ahnung ist es für
ihn geblieben, mußte es bleiben; denn das eine Jahrzehnt des Schaffens
am Hauptwerk ließ ihm nicht die Ruhe des Verweilens in den weiträumigen
Bauten der Werke Hegels und Schellings.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 60 |
Der Wille ist in sich schaffend und zerstörend zugleich.
Das Über-sich-hinaus-Herrsein ist immer auch Vernichtung. All die
angeführten Momente des Willens - das Über-sich-hinaus, die
Steigerung, der Befehlscharakter, das Schaffen, das Sichbehaupten - sprechen
deutlich genug, um erkennen zu lassen, daß Wille in sich schon Wille
zur Macht ist; Macht besagt nichts anderes als die Wirklichkeit des Willens.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 60 |
Vor der allgemeinen Kennzeichnung von Nietzsches Willensbegriff
wurde ein kurzer Hinweis auf die Überlieferung der Metaphysik gegeben,
um anzudeuten, daß die Auffassung des Seins als Wille nichts Absonderliches
an sich hat. Dasselbe gilt aber auch von der Kennzeichnung des Seins als
Macht. So entschieden die Auslegung des Seins als Wille zur Macht Nietzsche
zu eigen bleibt und so wenig er ausdrücklich darum wußte, in
welchem geschichtlichen Zusammenhang auch der Machtbegriff als Bestimmung
des Seins steht, so gewiß tritt Nietzsche mit dieser Auslegung des
Seins des Seienden in den innersten und weitesten Kreis des abendländischen
Denkens.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 60-61 |
Das Wesen der Macht ist, abgesehen davon, daß Macht für
Nietzsche dasselbe bedeutet wie Wille, ebenso verwickelt wie das Wesen
des Willens. Wir könnten zur Verdeutlichung dieser Tatsache ähnlich
verfahren wie bei der Anführung der einzelnen Bestimmungen des Willens,
die Nietzsche gibt. Es seien aber jetzt nur zwei Momente aus dem Wesen
der Macht herausgehoben.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 61 |
Macht wird von Nietzsche oft mit Kraft gleichgesetzt, ohne daß
diese näher bestimmt wäre. Kraft, das in sich gesammelte und
wirkungsbereite Vermögen, das Imstandesein zu ..., ist das, was die
Griechen, vor allem Aristoteles, als dunamiV
bezeichnen. Macht ist aber ebenso das Mächtigsein im Sinne des Herrschaftsvollzugs,
das Am-Werk-sein der Kraft, griechisch: energeia.
Macht ist Wille als Über-sich-hinaus-wollen, aber so gerade das Zu-sich-selbst-kommen,
sich in der geschlossenen Einfachheit des Wesens Finden und Behaupten,
griechisch: enteleceia. Macht heißt für
Nietzsche dieses alles zugleich: dunamiV, energeia,
enteleceia.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 61 |
In der Sammlung von Abhandlungen, die wir unter dem Namen der
»Metaphysik« des Aristoteles kennen, findet sich eine, es
ist das Buch Q (IX) der Metaphysik, die von
dunamiV, energeia,
enteleceia als obersten Bestimmungen des Seins
handelt.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 61 |
Was Aristoteles hier, noch in der Bahn einer ursprünglichen
Philosophie, aber auch schon am Ende dieser Bahn, über das Sein denkt,
d. h. fragt, das ist später als Lehre von potentia und actus in die
Schulphilosophie übergegangen. Seit dem Beginn der Neuzeit verfestigt
die Philosophie sich im Bestreben, das Sein aus dem Denken zu begreifen.
So rücken dann die Bestimmungen des Seins - potentia und actus -
in die Nähe der Grundfonnen des Denkens, des Urteils. Möglichkeit,
Wirklichkeit und dazu Notwendigkeit werden Modalitäten des Seins
und des Denkens. Seitdem gehört die Lehre von den Modalitäten
zum Bestand jeder Kategorienlehre.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 61-62 |
Was die heutige Schulphilosophie darunter versteht, ist eine Sache
der Gelehrsamkeit und der Übung des Scharfsinns. Was bei Aristoteles
als Wissen von dunamiV, energeia,
enteleceia vorliegt, ist noch Philosophie, d.
h. jenes genannte Buch der »Metaphysik« des Aristoteles ist
das frag-würdigste der ganzen Aristotelischen Philosophie. Obgleich
Nietzsche den verborgenen und lebendigen Zusammenhang seines Machtbegriffes
all eines Seinsbegriffes mit Aristoteles' Lehre nicht kennt und dieser
Zusammenhang scheinbar sehr lose und unbestimmt bleibt, darf gesagt werden,
daß jene Aristotelische Lehre zu Nietzsches Lehre vom Willen zur
Macht mehr Beziehung hat als zu irgendeiner Kategorien- und Modalitätenlehre
der Schulphilosophie. Die Aristotelische Lehre selbst aber ist nur ein
bestimmt gerichteter Auslauf, ein Zum-ersten-Ende-kommen des ersten Anfangs
der abendländischen Philosophie bei Anaximander, Heraklit und Parmenides.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 62 |
Den Hinweis auf die innere Beziehung von Nietzsches Willen zur
Macht zu dunamiV, energeia
und enteleceia des Aristoteles dürfen wir
indes nicht so verstehen, als ließe sich Nietzsches Lehre vom Sein
unmittelbar mit Hilfe der Aristotelischen Lehre auslegen. Beide müssen
in einen ursprünglicheren Fragezusammenhang zurückgenommen werden.
Das gilt vor allem von der Lehre des Aristoteles. Es ist keine Übertreibung,
zu sagen, daß wir von dieser Lehre des Aristoteles heute schlechterdings
nichts mehr verstehen und ahnen. Der Grund ist einfach: man legt sich
diese Lehre zuerst mit Hilfe der entsprechenden Lehren des Mittelalters
und der Neuzeit aus, die ihrerseits nur eine Abwandlung und ein Abfall
von der Aristotelischen sind und daher nicht geeignet, den Boden für
ein Begreifen abzugeben.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 62 |
So wird sich aus dem Wesen des Willens zur Macht als der Mächtigkeit
des Willens von verschiedenen Seiten her erweisen, wie diese Auslegung
des Seienden in der Grundbewegung des abendländischen Denkens steht
und wie sie deshalb und nur deshalb imstande ist, in die denkerische Aufgabe
des 20. Jahrhunderts einen wesentlichen Stoß zu bringen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 62-63 |
In dem geschichtlichen Augenblick, da die Ästhetik ihre größtmögliche
Höhe, Weite und Strenge derAusbildung gewinnt, ist die große
Kunst zu Ende. Die Vollendung der Ästhetik hat darin ihre Größe,
daß sie dieses Ende der großen Kunst als solches erkennt und
ausspricht. Diese letzte und größte Ästhetik des Abendlandes
ist diejenige Hegels. Sie ist niedergelgt in seinen »Vorlesungen
über Ästhetik« ... (vgl. WW, X, 1, 2, 3). Hier stehen
die Sätze:
»So ist doch wenigstens kein absolutes
Bedürfnis vorhanden, daß er [der Stoff] von der Kunst
zur Darstellung gebracht werde.« (X, 2, S. 233)
»In all diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der
Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes«
»Die schönen Tage der griechischen Kunst wie die goldene
Zeit des späten Mittelalters sind vorüber.« (X, 1,
S. 15f.) |
.... Die Möglichkeit, daß auch späterhin noch einzelne Kunstwerke
entstehen und geschätzt werden, hat Hegel nie leugnen wollen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 83 |
Das 19. Jahrhundert wagt - im Hinblick auf den Abfall der Kunst
von ihrem Wesen - noch einmal den Versuch des »Gesamtwerkes«.
Diese Bemühung ist an den Namen Richard Wagner geknüpft. Esist
kein Zufall, daß diese Bemühung sich nicht auf das Schaffen
der Werke beschränkt, die solchem Ziel dienen sollen. Sie wird begleitet
durch grundsätzliche Besinnungen und entsprechende Schriften. Die
wichtigsten seien angeführt: »Die Kunst und die Revolution«,
1849; »Das Kunstwerk der Zukunft«, 1850; »Oper und Drama«,
1851;»Die deutsche Kunst und die deutsche Politik«, 1865.
Es ist hier nicht möglich, die verwickelte und verworrene geschichtliche
geistige Länge um die Mitte des 19. jahrhunderts auch nur ungefähr
deutlich zu machen. In dem Jahrzehnt von 1850-1860 schieben sich mit einer
merkwürdigen Durchdringung noch einmal ineinander: echte und gut
bewahrte Überlieferung der großen Zeit der deutschen Bewegung
und die schleichende Öde und Entwurzelung des Daseins, wie sie in
den Gründerjahren dann voll ans Licht kommen. Man kann dieses zweideutigste
Jahrhundert nie auf dem Wege einer Beschreibung des Nacheinander seiner
Abschnitte verstehen. Es muß von zwei Seiten her gegenläufig
eingegrenzt werden, vom letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und vom ersten
Drittel des 20. Jahrhunderts.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 84 |
Mit bezug auf die geschichtliche Stellung der Kunst bleibt die
Bemühung um das »Gesamtkunstwerk« wesentlich.Schon der
Name ist bezeichnend. Er meint einmal: die Künste sollen nicht mehr
nebeneinander verwirklicht, sondern in einem Werk zusammengeschlossen
werden. Aber über diese mehr zahlen- als mengenmäßige
Vereinigung hinaus soll das Kunstwerk eine Feier der Volksgemeinschaft
sein: »die« Religion. Die maßgebenden Künste sind
dabei die Dichtung und die Musik. Der Absicht nach sollte die Musik ein
Mittel sein, das Drama zur Geltung zu bringen; in Wirklichkeit aber wird
die Musik in der Gestalt der Oper zur eigentlichen Kunst. Das Drama hat
sein Gewicht und Wesen nicht in der dichterischen Ursprünglichkeit,d.h.
der gestalteten Wahrheit des Sprachwerkes, sondern im Bühnenhaften
des Vorgeführten und der großen Aufmachung. Architektur gilt
nur als Theaterbau, Malerei als Kulisse, Plastik als Darstellung der Gebärde
des Schauspielers. Dichtung und Sprache bleiben ohne die wesentliche und
entscheidende gestalterische Kraft des eigentlichen Wissens. Die Herrschaft
der Kunst als Musik ist gewollt und damit die Herrschaft des reinen Gefühlszustandes:
die Raserei und Brunst der Sinne, der große Krampf, das selige Grauen
des Hinschmelzens im Genuß, das Aufgehen im »bodenlosen Meer
der Harmonien«, das Untertauchen im Rausch, die Auflösung im
reinen Gefühl als Erlösung; »das Erlebnis« als solches
wird entscheidend. Das Werk ist nur noch Erlebniserreger. Alles Darzustellende
soll nun wirken als Vordergrund und Vorderfläche, abzielend auf den
Eindruck, den Effekt, das Wirken- und Aufwühlenwollen: »Theater«.
Theater und Orchester bestimmen die Kunst.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 84-85 |
Die Kunst soll wieder und noch einmal ein absolutes Bedürfnis
werden. Aber das Absolute wird jetzt nur noch als das reine Bestimmunglose,
als die völlige Auflösung in das reine Gefühl, das sinkende
Verschweben in das Nichts erfahren. Kein Wunder, daß Wagner in Schopenhauers
Hauptwerk, das er viermal eingehend durcharbeitete, die metaphysische
Bestätigung und Erklärung seiner Kunst fand.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 86 |
So unaufhaltsam Wagners Wille zum »Gesamtkunstwerk«
in seinem Vollzug und in der Auswirkung das Gegenteil der großen
Kunst wurde, so bleibt doch dieser Wille einzig in seiner Zeit und hebt
Wagner trotz des vielen Schauspielerhaften und Abenteuerlichen aus den
sonstigen Bemühungen um die Kunst und ihre Wesentlichkeit im Dasein
heraus.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 86 |
Andererseits konnte diese Erregung des Gefühlsrausches, die
Entfesselung der »Affekte«, als eine Rettung des »Lebens«
gelten, zumal angesichts der wachsenden Ernüchterung und Verödung
des Daseins durch Industrie, Technik und Wirtschaft im Zusammenhang einer
Schwächung und Aushöhlung der bildenden Kraft des Wissens und
der Überlieferung, von dem Fehlen jeder großen Zielsetzung
des Daseins ganz zu schweigen. Die Aufsteigerung in das Wogen der gefühle
mußte den fehlenden Raum für eine gegründete und gefügte
Stellung inmitten des Seienden bieten, wie sie nur das große Dichten
und Denken zu schaffen vermag.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 87 |
Dieser aus dem Rausch kommende Fortriß ins Ganze war es,
wodurch der Mensch Richard Wagner und sein Werk den jungen Nietzsche in
den Bann zogen; doch dieses war nur möglich, weil dem in Nietzsche
selbst etwas entgegen kam, jenes, was Nietzsche dann das Dionysische nannte.
Aber weil Wagner die bloße AUfsteigerung des Dionysischen und die
Verströmung in ihm suchte, Nietzsche aber seine Bändigung und
Gestaltung, deshalb war auch der Riß zwischen beiden vorbestimmt.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 87 |
Wagner gehörte nicht zu den Menschen, denen ihre eigenen
Anhänger die größten Greuel sind. Wagner brauchte Wagnerianer
und Wagnerianerinnen. Nietzsche dagegen hat Wagner zeitlebens geliebt
und verehrt; sein Streit mit ihm war ein sachlicher und wesentlicher.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 88 |
Was Hegel hinsichtlich der Kunst aussprach - daß sie die
Macht als maßgebende Gestaltung und Verwahrung des Absoluen eingebüßt
habe -, erkannte Nietzsche hinsichtlich der »obersten Werte«,
Religion, Moral, Philosophie: das Ausbleiben und Fehlen der schöpferischen
Kraft und Bindung in der Gründung des menschlich.geschichtlichen
Daseins auf das Seiende im Ganzen. - Aber während für Hegel
im Unterschied zur Religion, Moral und Philosophie die Kunst dem Nihilismus
anheimfiel, ein Vergangenes und Unwirklihes wurde, suchte Nietzsche in
der Kunst die Gegenbewegung. darin zeigt sich, trotz der wesentlichen
Abkehr von Wagner, eine Auswirkung des Wagnerschen Willens zu »Gesamtkunstwerk«.
Während für Hegel die Kunst als ein Vergangenes zum Gegenstand
des höchsten spekulativen Wissens wurde,, während Hegels Ästhetik
zur Metaphysik des Geistes sich ausgestaltete, wurde Nietzsches Besinnung
auf die Kunst zu einer »Physiologie der Kunst«.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 90 |
Was die Entdeckung dieses ... mit den Namen »apollinisch«
und »dionysisch« belegten Gegensatzes ... angeht ..., das
ist die Tatsache, daß Hölderlin diesen Gegensatz bereits in
einer noch tieferen und edleren Weise gesehen und begriffen hatte.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 104 |
Kants Lehre vom Schönen. Ihre Mißdeutung durch Schopenhauer
und Nietzsche.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 106 |
Das Mißverständnis gegenüber Kants Ästhetik
betrifft eine Aussage Kants über das Schöne. Diese Bestimmung
ist in den §§ 2-5 der »Kritik der Urteilskraft«
entwickelt. Schön« ist, was rein gefällt. Das Schöne
ist der Gegenstand des »bloßen« Wohlgefallens. Dieses
Gefallen, worin uns das Schöne als Schönes sich öffnet,
ist nach Kants Worten »ohne alles Interesse«. Er sagt:
»Geschmack ist das Beurteilungsvermögen
eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen,
oder Mißfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand
eines solchen Wohlgefallens heißt schön.« |
Das ästhetische Verhalten, d.h. das Verhalten zum Schönen, ist
das »Wohlgefallen ohne alles Interesse«. Interesselosigkeit
ist nach dem gemeinen Begriff die Gleichgültigkeit gegenüber
einer Sache oder einem Menschen: wir legen in den Bezug zur Sache und
zum Menschen nichts von unserem Willen. Wird das Verhältnis zum Schönen,
das Wohlgefallen, als »interesseloses« bestimmt, dann ist
der ästhetische Zustand nach Schopenhauer ein Aushängen des
Willens, ein Zuruhekommen alles Strebens, das reine Ausruhen, das reine
Nichts-mehr-wollen, das reine Verschweben in der Teilnahmslosigkeit. -
Und Nietzsche? Er sagt: Der ästhetische Zustand ist der Rausch. Das
ist offenkundig das Gegenteil von allem »interesselosen Wohlgefallen«,
damit zugleich die schärfste Gegnerschaft zu Kant in der Bestimmung
des Verhaltens zum Schönen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 107-108 |
Das Leben der wirklichen Sprache besteht in der Vieldeutigkeit.
Die Umschaltung des lebendigen, schwingenden Wortes in die Starrheit einer
eindeutig, mechanisch festgelegten Zeichenfolge wäre der Tod der
Sprache und die Vereisung und Verödung des Daseins.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 145 |
Wäre die Sprache nur eine Ansammlung von Verständigungszeichen,
dann bliebe die Sprache etwas ebenso Beliebiges und Gleichgültiges
wie die Bloße Zeichenwahl und ihre Verwendung.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 146 |
Die Aussage: »Zu Goethes Leistungen im Feld der Wissenschaft
gehört auch die Farbenlehre«, ist wahr. Mit diesem Satz verfügen
wir über etwas Wahres. Wir sind im Besitz einer »Wahrheit«.
Die Aussage 2 mal 2 = 4 ist wahr. Wir haben mit diesem Satz wieder eine
»Wahrheit«. So gibt es viele und vielerlei Wahrheiten: Feststellungen
im alltäglichen Dasein, naturwissenschaftliche und geschichtswissnschaftliche
Wahrheiten. Inwiefern sind diese Wahrheiten das, was ihr Name sagt? Weil
sie überhaupt und im vorhinein dem genügen, was zu einer »Wahrheit«
gehört. Dies ist jenes, was eine wahre Aussage zu einer wahren
macht. So wie wir das Wesen des Gerechten die Gerechtigkeit und das Wesen
des Feigen die Feigheit und das Wesen des Schönen die Schönheit
nennen, so muß das Wesen des Wahren die Wahrheit heißen. Die
Wahrheit, als das Wesen des Wahren begriffen, ist aber nur eine; denn
das Wesen von etwas ist jenes,worin alles, was solchen Wesens ist - in
unserem Falle alles Wahre -, übereinkommt. Besgat Wahrheit das Wesen
des Wahren, dann ist die Wahrheit nur eine; von »Wahrheit«
zu reden wird unmöglich.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 147 |
Daß Nietzsche die eigentliche Wahrheitsfrage, die Frage
nach dem Wesen des Wahren und nach der Wahrheit des Wesens und damit die
Frage nach der notwendigen Möglichkeit ihres Wesenswandels nicht
stellt und den Bereich dieser Frage daher auch niemals entfaltet, dies
zu wissen, ist von entscheidender Bedeutung; und zwar nicht nur für
die Beurteilung der Frage des Verhältnisses von Kunst und Wahrheit,
sondern vor allem für die Abschätzung und Ausmessung der Stufe
der Ursprünglichkeit des Fragens, die Nietzsches Philosophie im Ganzen
einnimmt. Daß in Nietzsches Denken die Frage nach dem Wesen der
Wahrheit ausbleibt, ist ein Versäumnis eigener Art, das, wenn je,
nicht ihm allein und nicht erst ihm zur Last gelegt werden könnte.
Dieses »Versäumnis« geht seit Platon und Aristoteles
überall durch die ganze Geschichte der abendländischen Philosophie.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 151 |
Es gilt eingehender zu fragen, was Nietzsche unter Wahrheit versteht.
Wir antworteten: das Wahre. Doch was ist das Wahre? Was ist hier dasjenige,
was dem Wesen der Wahrheit genügt, und worin ist dieses Wesen selbst
bestimmt? Das Wahre ist das wahrhaft Seiende, das in Wahrheit Wirkliche.
Was meint hier »in Wahrheit«? Antwort: das in Wahrheit Erkannte;
denn das Erkennen ist jenes, was von Hause aus wahr oder falsch sein kann.
Die Wahrheit ist Wahrheit der Erkenntnis. Das Erkennen ist so eigens die
Heimat der Wahrheit, daß ein unwahres Erkennen nicht als Erkennen
gelten kann. Erkennen aber ist die Zugangsweise zum Seienden; das Wahre
ist das wahrhaft Erkannte, das Wirkliche. In der Erkenntnis und durch
sie und für sie wird allein das Wahre als Wahres festgemacht. Die
Wahrheit gehört in den Bereich der Erkenntnis; hier wird über
das Wahre und Unwahre entschieden. Und je nachdem, wie das Wesen der Erkenntnis
umgrenzt wird, bestimmt sich der Wesensbegriff der Wahrheit.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 152 |
Nietzsches Auffassung vom Wesen der Wahrheit hält sich im
Bereich der großen Überlieferung des abendländischen Denkens
...
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 154 |
Nietzsche sagt einaml in einer kurzen Bemerkung,die sich in den
Vorarbeite (1870/71) zu seiner ersten Schrift findet:
»Meine Philosophie umgedrehter
Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner
schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.« |
Das ist ein erstaunlicher Vorausblick des Denkers in seine gesamte spätere
philosophische Grundstellung, denn seine letzten Schaffensjahre mühten
sich um nichts anderes als um diese Umdrehung des Platonismus. Freilich
dürfen wir nicht übersehen, daß der »umgedrehte
Platonismus« seiner Frühzeit weitgehend verschieden ist von
dem schließlich in der Götzen-Dämmerung« erreichten
Standort. Gleichwohl läßt sich nach diesem eigenen Wort Nietzsches
jetzt seine Auffassung der Wahrheit, d.h. des Wahren (weil
Nietzsche unter Wahrheit nur das Wahre verstand; HB), schärfer
bestimmen. - Für den Platonismus ist das Wahre, das wahrhaft Seiende
das Übersinnliche, die Idee. ... Den Platonismus umdrehen, heißt
...: das Maßstabsverhältnis umkehren; was im Platonismus gleichsam
unten steht und am Übersinnlichen gemessen werden will, muß
nach oben rücken und umgekehrt das Übersinnliche in seinen Dienst
stellen. Im Vollzug der Umdrehung wird das Sinnliche zum eigentlich Seienden,
d.h. zum Wahren, zur Wahrheit. Das Wahre ist das Sinnliche. Dies lehrt
der »Positivismus«. Dennoch wäre es voreilig, Nietzsches
Auffassung der Erkenntnis und damit der ihr zugehörigen Wahrheit,
wie es meist geschieht, als »positivistisch« auszugeben.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 156 |
Aber auch hier schon sieht man wieder deutlich den philosophischen
Einfluß Schopenhauers. Schopenhauer selbst gründet ja bewußt
und ausdrücklich seine ganze Philosophie auf Platon und Kant. So
schreibt er in der Vorrede zu seinem Hauptwerk »Die Welt als Wille
und Vorstellung« (1818):
»Kants Philosophie also
ist die einzige, mit welcher eine gründliche Bekanntschaft
bei dem hier Vorzutragenden geradezu vorausgesetzt wird.
Wenn aber überdies noch der Leser in der Schule des göttlichen
Plato geweilt hat; so wird er um so besser vorbereitet und empfänglicher
sein, mich zu hören.« |
Als drittes nennt Schopenhauer dann noch die indischen Vedas. Wir wissen,
wie sehr Schopenhauer die Kantische Philosophie mißdeutet und vergröbert
hat. Dasselbe geschah mit der Philosophie Platons. Gegenüber der
Schopenhauerischen Vergröberung der Platonischen Philosophie war
Nietzsche als klassischer Philologe und großer Sachkenner von vornherein
nicht so wehrlos wie in bezug auf die Auslegung Kants durch Schopenhauer.
Nietzsche kommt schon in junegn Jahren (durch die Basler Vorlesungen)
zu einer bemerkenswerten Selbständigkeit und damit höheren Wahrheit
in seiner Platonauslegung als Schopenhauer. Vor allem weist er Schopenhauers
Deutung der Erfassung der Ideen als einfacher »Intuition«
zurück und betont: die Erfassung der Ideen ist »dialektisch«.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 157-158 |
Im Hinblick auf diese Grundverfassung des Lebendigen sagt Nietzsche
(XIII, 63):
»Das Wesentliche der organischen
Wesen ist eine neue Auslegung des Geschehens: die perspektivische
innere Vielheit, welche selber ein Geschehen ist.« |
Das Lebendige hat diesen Charakter des durchblickenden Vorblickes, der
um das Leben eine »Horizontlinie« legt, innerhalb derer ihm
überhaupt etwas zum Vorschein kommen kann. Im »Organischen«
gibt es nun eine Vielheit von Triebenund Krägten, deren jede ihre
Perspektive hat. Die Vielheit der Perspektiven unterscheidet das Organische
vom An-organischen; doch auch dieses hat seine Perspektive; nur sind in
ihr - in der Anziehung und Abstoßung - die »Machtverhältnis«
eindeutig festgesetzt (XIII, 62). Die mechanistische Vorstellung von der
»leblosen« Natur ist nur eine Hypothese zu Zwecken der Berechnung;
sie übersieht, daß auch ihre Kraftverhältnisse und damit
Beziehungen von Perspektiven walten. Jeder Kraftpunkt ist in sich perspektivisch.
Hieraus wird deutlich, »daß es keine anoragnuische Welt gibt«
(XIII, 81). Alles Realeist lebendig, es ist in sich »perspektivisch«
und behauptet sich in seiner Perspektive gegen andere. Von hier aus verstehen
wir die die Aufzeichnung Nietzsches aus den Jahren 1886/87:
»Grundfrage, ob das Perspektivische
zum Wesen gehört? und nicht nur eine Betrachtung, eine
Realtion zwischen verschiedenen Wesen ist? Stehen die verschiedenen
Kräfte in Relation, so daß diese Relation gebunden ist
an Wahrnehmungs-Optik? Dies wäre möglich, wenn alles
Sein essentiell etwas Wahrnehmendes wäre.« (XIII,
227 f.). |
Es bedürfte keiner weitläufigen Beweise, um zu zeigen, daß
diese Auffassung des Seienden genau diejenig von Leibniz ist, nur daß
Nietzsche dessen theologische Metaphysik, d.h. den Platonismus ausschaltet.
Alles Seiende ist in sich perspektivisch-wahrnehmend, d.h. in der jetzt
umgrenzten Bedeutung »sinnlich«.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 215 |
Das Sinnliche ist nicht mehr das »Scheinbare«, nicht
mehr das verdunkelte, es ist das allein Reale, also das »Wahre«.
Und was wird aus dem Schein? Er gehört selbst zum Wesen des Realen.
Dies läßt sich am perspektivischen Charakter des Wirklichen
leicht ersehen. Der folgende Satz gibt uns über den Schein innerhalb
des perspektivisch gebauten Wirklichen Aufschluß:
»Mit der organischen Welt beginnt
die Unbestimmtheit und der Schein.« (XIII, 228,
vgl. auch 229). |
In der Einheit eines organischen Wesens ist eine Mehrheit von Trieben
und Vermögen, deren jedes seine Perspektive hat, die miteinander
im Kampf liegen. Mit solcher Vielheit geht die Eindeutigkeit der einzigen
Perspektive, in der das jeweilige Wirkliche steht, verloren. Die Mehrdeutigkeit
dessen, was sich in den mehreren Perspektiven zeigt, ist gegeben und damit
das Unbestimmte, jenes, was bald so, bald anders scheint und sich demnach
bald diesen, bald jenen Anschein gibt. Dieser Anschein aber ist erst dann
ein Schein im Sinne des bloßen Scheins, wenn das, was in der Perspektive
sich zeigt, sich verfestigt und als allein maßgebend festgestellt
wird zu ungunsten von anderen, sich wechselnd andrängenden Perspektiven.
- Auf diese Weise ergeben sich für das Lebewesen im Begenenden feste
Dinge und »Gegenstände«, Beständiges mit bleibenden
Eigenschaften, nach denen es sich richtet. Der ganze Umkreis des so Festgemachten
und Beständigen ist nach dem alten Platonischen Begriff der Bezirk
des »Seins«, des »Wahren«. Dieses Sein ist, perspektivisch
gesehen, nur der einseitig als allein maßgebend festgemachte Anschein,also
erst recht ein bloßer Schein; das Sein, das Wahre, ist bloßer
Schein, Irrtum.
»In der organischen Welt beginnt
der Irrtum. Dinge, »Substanzen«, Eigenschaften,
Tätig»keiten« - das alles soll man nicht in die
organische Welt hineintragen! Es sind die spezifischen Irrtümer,
vermöde deren die Organismen leben.« (XIII, 69). |
In der organischen Welt, in der des lebenden
Lebens,wohin auch der Mensch gehört, beginn der »Irrtum«.
Das soll nicht heißen, das Lebewesen, im Unterschied zum Anorganischen,
sich irren können, sondern: das, was jeweils im maßgebenden
perspektivischen Horizont eines Lebewesens als seine festgemachte, seiende
Welt erscheint, dieses Seiende ist in seinem Sein nur Anschein, bloßer
Schein. Die menschliche Logik dient dem Gleichmachen und Beständig-
und Übersehbarmachen des Begegnenden. Das Sein, das Wahre, was sie
»feststellt« (Befestigt), ist nur Schein; aber ein Schein,
eine Scheinbarkeit, die wesensnotwendig zum Lebewesen als solchem, d.h.
zum Sich-durch- und Fest-setzen im ständigen Wechsel gehören.
Weil das Reale in sich perspektivisch ist, gehört die Scheinbarkeit
selbst zur Realität. Wahrheit, d.h. wahrhaft Seiendes, d.h. Beständiges,
Festgemachtes ist als Verfestigung von je einer Persepektive immer nur
eine zur Herrschaft gekommene Scheinbarkeit, d.h. Irrtum. Deshalb sagt
Nietzsche (»Der Wille zur Macht, N. 493):
»Wahrheit ist die Art von
Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen
nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet
zuletzt.« |
Die Wahrheit, d.h. das Wahre als das Beständige, ist eine Art von
Schein, der sich als notwendige Bedingung der Lebensbehauptung rechtfertigt.
Aus tieferer Besinnung wird aber klar, daß aller Anschein und alle
Scheinbarkeit nur möglich ist, wenn überhaupt sich etwas zeigt
und zum Vorschein kommt. Was ein solches Erscheinen im voraus ermöglicht,
ist das Perspetivische selbst. Dieses ist das eigentliche Scheinen, zum
sich-zeigen-Bringen. Wenn Nietzsche das Wort »Schein« gebraucht,
ist es meistens vieldeutig. Nietzsche weiß dies auch:
»Es gibt verhängnisvolle
Worte, welche eine Erkenntnis auszudrücken scheinen und in
Wahrheit eine Erkenntnis verhindern, zu ihnen gehört
das Wort Schein, Erscheinung.« (XIII,
69). |
Nietzsche ist des Verhängnisses, das in diesem Wort, d.h. in der
Sache liegt, nicht Herr geworden. Er sagt:
»Schein,
wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität
der Dinge.« (XIII, 69). |
Das soll nicht heißen: die Realität ist etwas Scheinbares, sondern:
das Realsein ist in sich perspektivisch, ist ein zu-Vorschein-Bringen,
ein sicheinlassen, in sich ein Scheinen; Realität ist Schein.
»Ich setze also nicht Schein
in Gegensatz zur Realität, sondern nehme umgekehrt
Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine
imaginigative Wahrheits-Welt widersetzt. Ein bestimmter
Name für diese Realität wäre der Wille zur Macht,
nämlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren
flüssigen Proteus-Natur aus.« (XIII, 69). |
Die Realität, das Sein, ist der Schein im Sinne des perspektivischen
Scheinenlassens. Aber zu dieser Realität gehört nun zugleich
die Mehrheit der Perspektiven und so die Möglichkeit des Anscheins
und dessen Festmachung, d.h. die Wahrheit als eine Art von Schein im Sinne
des »bloßen« Scheins. Wir die Wahrheit als Schein genommen,
d.h. als bloßer Schein, als Irrtum, dann besagt dieses: Wahrheit
ist der zum püerspektivischen Scheinen notwendig gehörige, fetsgemachte
Schein, der Anschein. Nietzsche setzt nun oft diesen Anschein gleich mit
der Lüge:
»Der Wahrhaftige endet damit,
zu begreifen, daß er immer lügt.« (XII,
293). |
Nietzsche bestimmt sogar jenes Scheinen, das Perspektivische, zuweilen
als Schein im Sinne der Illusion und der Täuschung und setzt diese
der Wahrheit, die im Grunde auch Irrttum ist, als dem »Sein«
gegenüber.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 215-218 |
Nun sahen wir bereits, daß das Schwaffen als Formen und
Gestalten, daß die ästhetischen Wohlgefühle mit Bezug
auf die Gestalten gleichfalls im Wesen des Lebens gegrüdet sind.
Also muß auch die Kunst und gerade sie mit dem perspektivischen
Scheinen und Scheinenlassen aufs inngiste zusammenhängen. Die Kunst
im eigentlichen Sinne ist die Kunst des großen Stils,sie will das
wachsende leben selbst zur Macht bringen, nicht stillstellen, sondern
zur Entfaltung befreien, verklären: 1. in die Klarheit des Seins
setzen; 2. die Klarheit als Erhöhung des Lebens selbst durchsetzen.
- Leben ist in sich perspektivisch. Es wächst und steigert sich mit
der Höhe und Erhöhung der perspektivisch zum Vorschein gebrachten
Welt, mit der Steiegrung des Scheinens, d.h. des zum-Aufscheinen-Bringens
dessen, worin sich das Leben verklärt.
»Die Kunst und nichts als die
Kunst!« (»Der Wille zur Macht, N. 822). |
Die Kunst bringt die Realität, die in sich ein Scheinen ist, am tiefsten
und höchsten zum Scheinen im Aufgschein der Verklärung. Wenn
das »Metaphysische« nichts anderes bedeutet als das Wesen
der Realität, diese aber im Scheinen liegt, dann verstehen wir jetzt
den Satz, mit dem der Abschnitt über die Kunst im »Willen zur
Macht« schließt (N. 853):
»Die Kunst als die eigentliche
Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit
....« |
Die Kunst ist der eigentlichste und tiefste Wille zum Schein, nämlich
zum Aufscheinen des verklärenden, worin die höchste Gesetzlichkeit
des Daseins sichtbar wird. Die Wahrheit dagegen ist der je festgemachte
Anschein, der das Leben aus einer bestimmten Perspektive festlegen und
sich erhalten läßt. Als solches Festmachen ist die »Wahrheit«
ein Stillstehen und somit Hemmung und Zerstörung des Lebens:
»Wir haben die Kunst, damit
wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehn.« (»Der
Wille zur Macht, N. 822). |
Es ist »nicht möglich«, »mit der Wahrheit
zu leben«, wenn Leben immer Lebenssteigerung ist. Der »Wille
zur Wahrheit«, d.h. zum festgemachten Anschein, ist »bereits
ein Symptom der Entartung« (XIV, 368). Nun wird klar, was der abschließende
der fünf Leitsätze über die Kunst besagt: Die Kunst
ist mehr wert als die Wahrheit.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 218-219 |
Kunst und Wahrheit sind Wesen des perspektivischen Scheinens.
Der Wert vom Realem aber bemißt sich darnach, wie es dem Wesen der
Realität genügt, wie es das Scheinen vollzieht und die Realität
steigert. Die Kunst ist als Verklärung lebenssteigernder denn die
Wahrheit als Festmachung eines Anscheins.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 219-220 |
Jetzt sehen wir auch, inwiefern das Verhältnis von Kunst
und Wahrheit für Nietzsche und sei ne Philosophie als umgedrehten
Platonismus ein Zwiespalt sein muß. Zwiespalt ist nur dort, wo die
sich Entzweienden aus der Einheit des Zusammengehörens und durch
diese auseinandergehen müssen. Die Einheit des Zusammengehörens
ist durch die eine Realität, das perspektivische Scheinen
gegeben. Zu ihm gehört Anschein und Aufscheinen als Verklärung.
Damit das Reale (Lebendige) real sein kann, muß es einerseits
sich in einen bestimmten Horizont festmachen, also im Anschein der Wahrheit
bleiben. Damit aber dieses Reale real bleiben kann, muß es
andererseits zugleich über sich hinaus sich verkären, im Aufscheinen
des in der Kunst Geschaffenen sich überhöhen, d.h. gegen die
Wahrheit angehen. Indem Wahrheit und Kunst gleichursprünglich zum
Wesen der Realität gehören, gehen sie auseinander und gegeneinander.
- Da nun aber für Nietzsche der Schein auch als perspektivischer
noch den Charakter des Unwirklichen, der Illusion, der Täuschung
behält, muß er sagen:
»Der Wille zum Schein,
zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer,
»metaphysischer« (d.h. dem Wesen des Seins entsprechender)
als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein.«
(XIV, 369). |
Noch entscheidender wird es in »Der Wille zur Macht, N. 853 f.,
wo der Schein mit der Lüge gleichgesetzt ist, ausgedrückt:
»Wir haben Lüge nötig,
um über diese Realität, diese »Wahrheit« zum
Sieg zu kommen, das heißt, um zu leben. .... Daß die
Lüge nötig ist, um zu leben, das gehört selbst noch
mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins.« |
Wahrheit und Kunst sind gleichnotwendig für die Realität. Als
die Gleichnotwendigen stehen sie in der Entzweiuung. Dieses Verhältnis
wird aber erst entsetzlich, wenn wir bedenken, daß das Schaffen,
d.h. die metaphysische Tätigkeit als Kunst, noch eine andere Notwendigkeit
erhält in dem Augenblick, wo die Tatsache des größten
Ereignisses, des Todes des moralischen Gottes, erkannt ist. Jetzt ist
das Dasein für Nietzsche nur noch im Schaffen zu überstehen.
Die Überführung der Realität in die Macht ihres Gesetzes
und ihrer höchsten Möglichkeiten gewährleistet allein noch
das Sein. Schaffen aber ist als Kunst Wille zum Schein, es steht in der
Entzweiung zur Wahrheit.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 220-221 |
Die Kunst als Wille zum Schein ist die höchste Gestalt des
Willens zur Macht. Dieser aber ist als der Grundcharakter des Seienden,
als das Wesen der Realität, in sich dasjenige Sein, das sich selbst
will, indem es das Werden sein will. So versucht Nietzsche im Willen zur
Macht die ursprüngliche Einheit des alten Gegensatzes von Sein und
Werden zusammenzudenken. Sein als die Beständigkeit solldas Werden
ein Werden sein lassen. der Ursprung des Gedankens der »ewigen
Wiederkehr« ist damit angewiesen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 221 |
In einem der frühesten Entwürfe zur Darstellung der Wiederkunftslehre
heißt es:
»Viertes Buch: Dithyrambisch-umassend:
Annulus aeternitas. Begierde, alles noch einmal und ewige
Male zu erleben.« »Sils Maria, 26. August 1881.«
(XII, 427). |
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 232 |
In Wahrheit bedeutet dieser Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen eine Erschütterung
des ganzen Seins. Der Blickbereich, in den der denker hineinblickt, ist nicht mehr der Horizont seiner
»persönlichen Erlebnisse«, es ist ein Anderes als er selbst, was unter und über ihm hinweggegangen und fortan
da ist,was nicht mehr ihm, dem denker, gehört, sondern jenes bleibt, dem er nur zugehört.
Diesem Ereignis widerspricht es nicht, daß der Denker zunächst und sogar auf langehin die Ereknntnis
als die seine bewahrt, weil er die Stätte ihrer Entfaltung werden muß. Daher kommt es, daß Nietzsche
anfänglich kaum und selbst zu seinen wenigen Freunden nur in Andeutungen von seiner Erkenntnis der »ewigen Wiederkunft des Gleichen«
spricht.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 233 |
»Man liebt seine Erkenntnis nicht genug mehr, sobald
man sie mitteilt.« (»Jenseits von Gut und Böse«, N. 160)
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 234 |
Bliebe unsere Kenntnis auf das von Nietzsche selbst
Veröffentlichte beschränkt, dann könnten wir niemals erfahren,
was Nietzsche schon wußte und vorbereitete und ständig durchdachte,
aber zurückbehielt. Erst der Einblick in den handschriftlichen Nachlaß
gibt ein deutliches Bild.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 235 |
Das Tragische gehört in das »Ästhetische«.
Um dies zu klären, müßten wir Nietzsches Auffassung der
Kunst darlegen. Die Kunst ist »die« »metaphysische
Tätigkeit« des »Lebens«; sie bestimmt, wie das
Seiende im Ganzen ist, sofern es ist: höchste Kunst ist die tragische,also
gehört das Tragische zum metaphysischen Wesen des Seienden.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 248 |
Warum ist der Wiederkunftsgedanke die höchste Bejahung? Weil
er noch das äußerste Nein, die Vernichtung und das Leid als
zum Seienden gehörig bejaht. Deshalb kommt mit diesem Gedanken allererst
der tragische Geist ursprünglich und ganz in das Seiende.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 249 |
Zarathustra beschreibt nun diesen Torweg. Mit dieser Beschreibung
bringt er im Bildes der Torweges das Rätsel zu gesicht. Im Torweg
treffen sich zwei lange Gassen, die eine läuft hinaus, und die andere
läuft zurück. Beide laufen entgegengesetzt. Sie stoßen
sich vor den Kopf. Beide laufen je endlos in ihre Ewigkeit. Über
dem Torweg steht geschrieben: »Augenblick«. Der Torweg »Augenblick«
mit seinen entgegengesetzten endlosen Gassen ist das Bild des vorwärts
und rückwärts in die Ewigkeit verlaufenden Zeit. Die Zeit selbst
wird vom »Augenblick« aus gesehen, vom »Jetzt«
her, von dem ein Weg in das noch-nicht-Jetzt, in die Zukunft weiter- und
der andere in das nicht-mehr-Jetzt, in die Vergangenheit zurückführt.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 260 |
Nietzsche faßt hier ... einen wesentlichen Gedanken seiner
Lehre so knapp zusammen, daß er für sich kaum verständlich
ist, zumal die tragenden Voraussetzungen nicht sichtbar werden, obwohl
sie ausgesprochen sind: 1. Die Unendlichkeit der Zeit nach der Zukunfts
und der Vergangenheitsrichtung. 2. Die Wirklichkeit der Zeit, die keine
»subjektive« Form der des Anschauens ist. 3. Die Endlichkeit
der Dinge und dinglichen Abläufe. AUf Grund dieser Voraussetzungen
muß alles, was überhaupt sein kann, schon als Seiendes gewesen
sein; denn in einer unendlichen Zeit ist der Lauf einer endlichen Welt
notwendig schon vollendet.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 263 |
Der Ring schließt sich nicht irgendwo im Unendlichen,sondern
der Ring hat seinen ungebrochenen Zusammenschluß im Augenblick als
der Mitte des Widerstreits; was wiederkehrt - wenn es wiederkehrt -, darüber
entscheiden der Augenblick und die Kraft der Bewältigung dessen,
was in ihm an Widerstrebendem sich stößt. Das ist das Schwerste
und Eigentliche an der Lehre von der ewigen Wiederkunft, daß die
Ewigkeit im Augenblick ist, daß der Augenblick nicht das
flüchtige Jetzt ist, nicht der für einen Zuschauer nur vorbeihuschende
Moment, sondern der Zusammenstoß von Zukunft und Vergangenheit.
In ihm kommt der Augenblick zu sich selbst. Er bestimmt, wie alles wiederkehrt.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 277-278 |
Nietzsche setzt einmal in einer späten Aufzeichnung (»Der
Wille zur Macht«, N. 577; 1887) seinen Begriff der Ewigkeit gegen
den äußerlichen, im Sinne des »Ewig-Gleichbleibenden«
gedachten ab:
»Gegen den Wert des Ewig-Gleichbleibenden
(v. Spinozas Naivität, Descartes ebenfalls) den Wert
des Kürzesten und Vergäglichsten, das verführerische
Goldaufblitzen am Bauch der Schlange vita -« |
Zarathustra hört schließlich, welche Ewigkeit ihm seine Tiere
verkünden, die Ewigkeit des Augenblicks, der alles in sich zumal
befaßt: den Untergang.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 280 |
Kann Gott und können Götter sterben? Bei den Voirstudien
zur »Geburt der Tragödie« um 1870 vermerkt sich Nietzsche
schon sehr früh:
»Ich glaube an das urgermanische
Wort: alle Götter müssen sterben.« |
Dann hat es mit Nietzsches Atheismus eine ganz andere Bewandtnis. Nietzsche
muß herausgehalten werden aus der fragwürdigen Gesellschaft
jener oberflächlichen Atheisten, die Gott leugnen, wenn sie ihn nicht
im Reagenzglas finden, und die an Stelle des so geleugneten Gottes ihren
»Fortschritt« zum »Gott« machen. Wir dürfen
Nietzsche nicht mit jenen »Gott-losen« verwechseln, die nicht
einmal Gott-lose sein können, weil sie niemals um einen Gott gerungen
haben und ringen können.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 287 |
Die wesentlichen Haltungen gegenüber der an sich für
unüberwindbar gehaltenen Vermenschung sind demnach die beiden folgenden:
Entweder findet man sich damit ab und bewegt sich in der scheinbaren Überlegenheit
des Zweiflers an allem, der sich auf nichts einläßt und seine
Ruhe haben will; oder man bringt sich dahin, daß man die Vermenschung
vergißt und sie damit für beseitigt hält und auf diese
Weise seine Ruhe hat. Überall demnach, wo das Bedenken der Vermenschung
als unüberwindliches vorgebracht wird, bleibt man jedesmal in einer
Oberflächlichkeit stecken, so leicht diese Überlegungen bezüglich
der Vermenschung sich auch den Anschein geben, als seien sie im höchsten
Grade tiefsinnig und vor allem »kritisch«. Welche Offenbarung
war es vor zwei Jahrzehnten (1918) für die Menge derer, die mit dem
wirklichen Denken und seiner reichen Geschichte unvertraut sind, als Spengler
erstmals entdeckt zu haben glaubte, daß jedes Zeitalter und jede
Kultur ihre eigene Weltanschauung haben! Gleichwohl war alles nur eine
sehr geschickte und geistreiche Popularisierung von Gedanken und Fragen,
die längst - und zuletzt von Nietzsche - tiefer gedacht, aber keineswegs
bewältigt wurden und bis zur Stunde nicht bewältigt sind. Der
Grund dafür ist ebenso einfach wie schwerwiegend und schwer zu durchdenken.
- Bei all diesem Für die Vermenschung und Wider die
Vermenschung glaubt man nämlich im voraus zu wissen, was der Mensch
sei, von dem diese handgreifliche Vermenschung herkommt. Man vergißt,
diejenige Frage zu stellen, die zuvor entschieden sein muß, wenn
das Bedenken der Vermenschung ein Recht und wenn die Widerlegung dieses
Bedenkens eine Sinn haben soll. Von Vermenschung zu reden, ohne entschieden,
d.h. gefragt zu haben, was der Mensch sei, ist in der Tat ein Gerede und
bleibt dieses auch dann, wenn es zur Veranschaulichung die ganze Weltgeschichte
und die ältesten Kulturen der Menschen vorführt, die niemand
nachzuprüfen vermag. Um also das Bedenken der Vermenschung, seine
Bejahung gleich wie seine Zurückweisung, nicht oberflächlich
und nur scheinbar zu erörtern, muß zuerst die Frage aufgenommen
werden: Wer ist der Mensch? Geschickte Literaten haben sich denn auch,
kaum das diese Frage deutlicher wurde, sogleich ihrer bemächtigt.
Aber die Frage steht für sie lediglich als Fragesatz auf dem Buchtitel;
gefragt wird nicht; man hat seine dogmatische Antwort längst im sicheren
Besitz. Dagegen ist nichts zu sagen; nur soll man nicht so tun, als würde
man fragen. Denn so harmlos und über Nacht zu erledigen ist
diese Frage, wer der Mensch sei, nicht; diese Frage ist, wenn die Daseinsmöglichkeiten
zum Fragen noch bestehen bleiben sollten, die künftige Aufgabe Europas
in diesem und im künftigen Jahrhundert. Sie kann nur durch vorbildliche
und maßgebliche Geschichtsgestaltung einzelner Völker im Wettkampf
mit anderen ihre Antwort finden. - Doch wer anders stellt und beantwortet
die Frage, wer der Mensch sei, als wieder nur der Mensch selbst? Gewiß;
aber folgt daraus, daß die Bestimmung des Wesens des Menschen auch
nur eine Vermenschung des Menschenwesens ist? Das mag sein; es ist sogar
notwendig eine Vermenschung, nämlich in dem Sinne, daß die
Wesensbestimmung des Menschen vom Menschen vollzogen wird. Aber die Frage
bleibt, ob die Wesensbestimmung des Menschen diesen vermenschlicht oder
entmenschlicht. Die Möglichkeit besteht, daß der Vollzug der
Bestimmung des Wesens des Menschen immer und notwendig Sache des Menschen
bleibt und insofern menschlich ist, daß aber die Bestimmung selbst,
ihre Wahrheit, den Menschen über sich hinaushebt und somit entmenschlicht
und damit auch dem menschlichen Vollzug der Wesensbestimmung des
Menschen ein anderes Wesen zuspricht. Die Frage, wer der Mensch sei, muß
erst als nötige Frage erfahren werden, und dazu muß die Not
dieser Frage über den Menschen mit aller Macht und in jeder Gestalt
hereinbrechen. Mit der Notwendigkeit dieser Frage ist es freilich nicht
getan, wenn nicht vor allem gefragt wird, was dieser Frage erst die Möglichkeit
verschafft: woher und von wo aus soll das Wesen des Menschen bestimmt
werden?
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 321-323 |
Die Frage, wer der Mensch sei, muß dort einsetzen, von wo
aus schon dem gröbsten Anschein nach die Vermenschung alles Seienden
anhebt, beim bloßen Ansprechen und Nennen des Seienden durch den
Menschen, bei der Sprache. Vielleicht ist es so, daß der
Mensch das Seiende durch die Sprache ganz und gar nicht vermenscht, sondern
daß umgekehrt bisher das Wesen der Sprache selbst und damit sein
eigenes Sein und dessen Wesensherkunft von Grund aus verkannt und mißdeutet
hat. Mit der Frage nach dem Wesen der Sprache ist aber schon die Frage
nach dem Seienden im Ganzen gestellt, wenn anders die Sprache nicht eine
Ansammlung von Wörtern zur Bezeichnung einzelner bekannter Dinge
ist, sondern das ursprüngliche Aufklingen der Wahrheit einer Welt.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 325 |
Aus dem allgemeinen Charakter der Kraft ergibt sich die Endlichkeit
(Geschlossenheit) der Welt und ihres Werdens. Gemäß dieser
Endlichkeit des Werdens ist ein Fort- und Weglaufen (vgl.
dazu: »Fortschritt«; HB) des Weltgeschehens ins Endlose
unmöglich. Also muß das Weltwerden in sich zurücklaufen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 330 |
Die Naturwissenschaft macht zwar notwendig
von einer bestimmten Vorstellung von Kraft und Bewegung und Raum und Zeit
Gebrauch, aber sie kann niemals sagen, was Kraft, Bewegung, Raum, Zeit
sind, weil sie solches nicht fragen kann, solnage sie Naturwissenschaft
bleibt und nicht unversehens den Übertritt in die Philosophie vollzieht.
Daß jeder Wissenschaft als solcher, d.h. als der Wissenschaft, die
sie ist, ihre Grundbegriffe und das, was diese begreifen, unzugänglich
bleiben, hängt damit zusammen, daß keine Wissenschaft je mit
ihren eigenen wissenschaftlichen Mitteln etwas über sich aussagen
kann. Was Mathematik sei, läßt sich niemals mathematisch ausmachen;
was Philologie sei, läßt sich niemals philologisch erörtern;
was Biologie sei, kann niemals biologisch gesagt werden. Was eine Wissenschaft
sei, ist schon als Frage keine wissenschaftliche Frage mehr.
In dem Augenblick, wo die Frage nach der Wissenschaft überhaupt,
d.h. immer zugleich nach den bestimmten möglichen Wissenschaften
gestellt wird, tritt der Fragende in einen neuen Bereich mit anderen Beweisansprüchen
und Beweisformen, als die sind, die in den Wissenschaften für geläufig
gelten. Es ist der Bereich der Philosophie. Sie ist den Wissenschaften
nicht angeklebt und aufgestockt, sie liegt im innersten Bereich der Wissenschaft
selbst verschlossen, so daß der Satz gilt: Eine bloße Wissenschaft
ist nur so weit wissenschaftlich,d.h. über eine bloße Technik
hinaus echtes Wissen, als sie philosophisch ist. Man kann von hier aus
das Ausmaß des Widersinns und Unsinns abschätzen,der in einem
Streben liegt, das die »Wissenschaften« angeblich erneuern
und gleichzeitig die Philosophie abschaffen will.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 332-333 |
Wir sahen von Anfang an bei der Darstellung seines Grundgedankens,
wie das zu Denkende - das Weltganze und das Denken des Denkers - sich
nicht voneinander ablsöen lassen. Jetzt fassen wir deutlicher, worauf
sich diese Unablösbarkeit bezieht und was sie besagt: es ist der
notwendige Bezug des Menschen als eines standörtlich Seienden inmitten
des Seienden im Ganzen auf dieses selbst.Wir denken dieses grundverhältnis
im entscheidenden Ansatz des Menschseins überhaupt so aus, daß
wir sagen: DasSein des Menschen - und soweit wir wissen nur des
Menschen -gründet im Dasein; das Da ist der mögliche Ort für
den je notwendigen Standort seines Seins. Wir entnehmen aber zugleich
aus diesem Wesenszusammenhang die Einsicht: Die Vermenschung wird als
Gefährdung derWahrheit um so wesenloser, je ursprünglicher der
Mensch den Standort einer wesentlichen Ecke bezieht, d.h. das Da-sein
als solches erkennt und gründet. Die Wesentlichkeit der Ecke aber
bestimmt sich aus der Ursprünglichkeitund Weite, in der das Seiende
im Ganzen nach der allein entscheidenden Hinsicht, nämlich der des
Seins, erfahren und begriffen ist.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 340 |
Wie aber, wenn der Wille zur Macht im eigensten und innersten
Sinne Nietzsches in sich nichts anderes wäre als das Zurückwollen
zu dem, was war, und das Hinauswollen in das, was ein muß? Wie,
wenn die ewige Wiederkehr des Gleichen als Geschehen nichts anderes wäre
als der Wille zur Macht, so nämlich, wie Nietzsche dieses Wort versteht
u nd nicht wie irgendeine Ansicht von »Politik« sich das gerade
zurechtlegt?
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 382 |
Die drei gegeneinander beweglichen Pole, um die alle Unruhe der
Gestaltfindung sich dreht, sind uns kenntlich durch die drei Titel, die
alle nacheinander zu Haupttiteln des geplanten Werkes ausersehen werden,
ohne dabei die jeweils ausgeschlossenen zu verdrängen: die ewige
Wiederkunft, der wille zur Macht, die Umwertung aller Werte. .... Alle
drei Titel meinen das Ganze dieser Philosophie, und keiner trifft es ganz,
weil sich die Gestalt dieser Philosophie nicht auf einen Strang zwingen
läßt.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 385 |
Wir werden Nietzsches Metaphysische grundstellung in ihrem Hauptzuge
bestimmen können, wenn wir die Antwort bedenken, die er auf die Frage
nach der Verfassung des Seienden und nach seiner Weise zu sein
gibt. Nun wissen wir: Nietzsche gibt im Blick auf das Seiende im Ganzen
zwei Antworten: das Seiende im Ganzen ist Wille zur Macht; und: das Seiende
im Ganze ist ewige Wiederkehr des Gleichen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 415-416 |
Nietzsches Philosophie ist das Ende der Metaphysik, indem sie
zum Anfang des griechischen Denkens zurückgeht, diesen auf ihre Weise
aufnimmt und so den Ring schließt, den der Gang des Fragens nach
dem Seienden als solchem im Ganzen bildet.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 417 |
Die metaphysische, d.h. die Leitfrage bewältigende Grundforderung
wird ... in einer längeren Aufzeichnung ausgesprochen,die überschrieben
ist »Rekapitulation«, d.h. Zusammennahme des Hauptsächlichsten
seiner Philosophie in wenige Sätze (»Der Wille zur Macht«,
N. 617; vermutlich Anfang 1886). Die »Rekapitulation« beginnt
mit dem Satz:
»Dem Werden den Charakter des
Seins aufzuprägen das ist der höchste Wille
zur Macht.« |
Dies heißt nicht: das Werden als Unbeständiges - denn dies
ist gemeint - durch das Seiende als da Beständige beseitigen und
ersetzen; es heißt: das Werden so zum Seienden gestalten, daß
es als Werdendes erhalten bleibt und Bestand hat, d.h. ist.
Die Aufprägung, d.h. Umprägung des Werdenden zum Seienden ist
der Höchste Wille zur Macht. In diesem Umprägen kommt der Wille
zur Macht in seinem Wesen am reinsten zur Geltung.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 418 |
Wille zur Macht ist im Wesen und seiner inneren Möglichkeit
nach ewige Wiederkehr des Gleichen. Daß diese Auslegung zutrifft,
zeigt sich unmißverständlich ebenfalls in dem Stück, das
als »Rekapitulation« überschreiben ist. Dem genannten
Satz, der lautet:
»Dem Werden den Charakter des
Seins aufzuprägen das ist der höchste Wille
zur Macht.« |
folgt alsbald der Satz:
»Daß Alles wiederkehrt,
ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die
des Seins Gipfel der Betrachtung.« |
Deutlicher kann nicht gesagt werden: 1. wie und auf welchem grund die
Aufprägung des Seins auf das Werden gemeint ist, 2. daß der
Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen auch und gerade in der Zeit
des scheinbareb Vorranges des Gedankens vom Willen zur Macht der
Gedanke der Gedanken bleibt, den Nietzsches Philosophie unablässig
denkt.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 419 |
Nietzsches metaphysische Grundstellung ist das Ende der abendländischen
Philosophie; denn das Entscheidende ist nicht, daß die Grundbestimmungen
des Anfangs zusammengeschlossen werden und daß das Denken
Nietzsches in den Anfang zurückschwingt - das metaphysisch Wesentliche
bleibt, wie das geschieht. Die Frage ist, ob Nietzsche an den anfänglichen
Anfang zurückkommt, an den Anfang als den anfangenden. Und hierauf
müssen wir antworten: nein!
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 420-421 |
Nietzsche ist der Übergang aus dem vorbreitenden Abschnitt
der Neuzeit - historisch gerechnet der Zeit zwischen 1600 und 1900 - in
den beginn ihrer Vollendung. Den Zeitraum dieser Vollendung kennen wir
nicht.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 429 |
Nietzsche denktim Gedanken des Willens zur Macht den metaphysischen
Grund der Vollendung der neuzeit voraus. Im Gedanken des Willens zur Macht
vollendet sich zuvor das metaphysische Denken selbst. Nietzsche, der Denker
des Gedankens vom Willen zur Macht, ist der letzte Metaphysiker
des Abendlandes. Das Zeitalter, dessen Vollendung in seinem Gedanken sich
entfaltet, die Neuzeit, ist eine Endzeit. Das will sagen: ein Zeitalter,
in dem sich irgendwann und irgendwie die geschichtliche Entscheidung erhebt,
ob diese Endzeit der Abschluß der abendländischen Geschichte
sei oder das Gegenspiel zu einem anderen Anfang. Nietzsches Gedanken-Gang
zum Willen zur Macht durchlaufen, das bedeutet: dieser geschichtlichen
Entscheidung unter die Augen kommen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 431 |
Wir nennen Nietzsches Gedanken vom Willen zur Macht seinen einzigen
Gedanken. Damit ist zugleich gesagt, daß Nietzsches anderer Gedanke,
der von dewr ewigen Wiederkehr des Gleichen, notwendig in den Gedanken
vom Willen zur Macht eingeschlossen ist. Beides - Wille zur Macht und
ewige Wiederkehr des Gleichen - sagt dasselbe und denkt denselben
Grundcharakter des Seienden im Ganzen. Der Gedanke von der eiwgen Wiederkehr
des Gleichen ist die innere - nicht nachträgliche - Vollendung des
Gedankens vom Willen zur Macht. Geradedeshalb wurde die ewige Wiederkehr
des Gleichen von Nietzsche zeitlich früher gedacht als der Gedanke
des Willens zur Macht. Denn jeder Denker denkt seinen einzigen Gedanken,
wenn er ihn erstmals denkt, zwar in seiner Vollendung, aber noch nicht
in seiner Entfaltung, d.h. in der ihn stets überwachsenden und erst
auszutragenden Tragweite und Gefährlichkeit. - Seit der Zeit, da
Nietzsches Gedanke vom Willen zur Macht für ihn ins Helle und Entschiedene
kam (um das Jahr 1884 bis in die letzte Wochen seines Denkens, Ende des
Jahres 1888), kämpfte Nietzsche um die denkerische Gestaltung dieses
einzigen Gedankens.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 432-433 |
Das Wesen des lebens sieht Nietzsche nicht wie die Biologie und
Lebenslehre seiner Zeit, die von Darwin bestimmt ist, in der »Selbsterhaltung«
(»Kampf ums Dasein«), sondern in der Steigerung über
sich hinaus. der Wert, als Bedingung des Lebens, muß daher als jenes
gedacht werden, was die Steigerung des Lebens trägt und fördert
und erweckt. Nur was das Leben, das Seiende im Ganzen, steigert, hat Wert
- genauer: ist ein Wert. Die Kennzeichnung des Wertes als »Bedingung«
für das Leben im Sinne der Lebens-Steigerung ist zunächst ganz
unbestimmt. Wenngleich das Bedingende (Wert) jeweils das Bedingte (Leben)
von sich abhängig macht, so ist andererseits und umgekehrt das Wesen
des Bedingenden (Wertesw) bestimmt durch das Wesen dessen, was es bedingen
soll (des Lebens). Welchen Wesenscharakter der Wert als bedingung des
Lebens hat, hängt vom Wesen des »Lebens« ab, von dem,
was dieses Wesen auszeichnet. Sagt Nietzsche, das Wesen des Lebens sie
Lebens-Steigerung, dann wird sich die Frage erheben, was zum Wesen einer
solchen Steigerung gehört. Steigerung, und zumal solche, die im
Gesteigerten und durch dieses selbst sich vollzieht, ist ein Über-sich-hinaus.
Darin liegt, daß in der Steigerung das Leben höhere Möglichkeiten
seiner selbst vor sich her wirft und sich selbst voraus- und hineinweist
in ein noch nicht Erreichtes, erst zu Erreichendes.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 441 |
Sofern das Wesen des Lebens in der Lebens-»Steigerung«
gesehen wird, sinken alle Bedingungen, die lediglich auf Lebenserhaltung
zielen,zu solchen herab, die im Grunde das Leben, d.h. seine perspektivische
Steigerung hemmen oder gar verneinen, die Möglichkeit anderer Perspektiven
nicht nur verbieten,sondern zuvor in ihren Wurzeln untergraben. Die Leben
hemmenden Bedingungen sind dann, streng gesprochen, keine Werte, sondern
Unwerte.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 441 |
Das Prinzip einer neuen Wertsetzung ist dasjenige, was das Leben,
wofür die Werte die perspektivischen Bedingungen sind, in seinem
Wesensgrunde bestimmt. Ist nun aber das Prinzip der neuen Wertsetzung
der Wille zur Macht, dann sagt dies: das Leben, d.h. (bei
Nietzsche; HB) das Seiende im Ganzen, ist in seinem Grundwesen
und Wessnesgrund selbst Wille zur Macht - und nichts außerdem.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 441-442 |
Die Frage nach der Erkenntnis ist eine metaphysische Frage.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 448 |
Parmenides: to gar auto noein estin te kai
einai - »Dasselbe aber ist Vernehmung sowohl als auch Sein«.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 475 |
Die Kategorien selbst können nun in den verschiedenen unter
ihnen möglichen Beziehungen durchdacht und durchgesprochen werden.
Dieses Durchdenken und Durchsprechen der genh tou
ontoV, der »Herkünfte des Seienden« (als solchen),
heißt bei Platon »Dialektik«. Der letzte und zugleich
gewaltigste Versuch dieses Durchdenkens der Kategorien, d.h. der Hinsichten,
nach denen die Vernunft das Seiende als solches denkt, ist die Dialektik
Hegels, die er in seinem Werk gestaltet hat, das den echten und gemäßen
Namen »Wissenschaft der Logik« trägt. Dies besagt: das
Sichwissen des Wesens der Vernunft als das Denken des »Seins«,
in welchem Denken sich die Einheit und die Zusammengehörigkeit der
Bestimmungen des Seins zum »absoluten Begriff« entfalten und
sich darin begründen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 476 |
Wie steht Nietzsche zu diesem Grundwesen der abendländischen
Metaphysik? Der folgende Satz unseres Stückes, der jetzt in seinem
ersten Teil schon aufgehellt ist, gibt die Antwort:
»Das Vertrauen zur Vernunft
und ihren Kategorien, zur Dialektik, also die Wertschätzung
der Logik, beweist nur die durch Erfahrung bewiesene Nützlichkeit
derselben für das Leben: nicht deren Wahrheit.«
(»Der Wille zur Macht«, N. 507.) |
Dieser Satz enthält ein Doppeltes: einmal den Hinweis auf den Grundvorgang
der abendländischen Geschichte, daß der Mensch dieser Geschichte
vom Vertrauen zur Vernunft getragen wird; zum anderen enthält er
eine Deutung des Wahrheitscharakters der Vernunft und der Logik. - DasVertrauen
zur Vernunft und die darin mächtige Herrschaft der ratio dürfen
wir nicht einseitig als Rationalismus fassen; denn in den Umkreis des
Vertrauens zur Vernunft gehört auch der Irrationalismus. Die größten
Rationalisten verfallen am ehesten dem Irrationlaismus, und umgekehrt:
wo der Irrationalismus das Weltbild bestimmt, feiert der rationalismus
seine Triumphe. Herrschaft der Technik und Empfänglichkeit für
den Aberglauben gehören zusammen. Nicht nu der Irrationalismus, sondern
erst recht der Rationalismus - dieser nur versteckter und geschickter
- »leben« und sichern sich aus der Angst vor dem Begriff.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 477-478 |
Nietzsche sagt: das »Vertrauen zur Vernunft« beweist
nicht die »Wahrheit« der Vernunfterkenntnis. Wahrheit ist
wieder in Anführungszeichen gesetzt, um anzuzeigen, daß sie
hier im Sinne der Richigkeit verstanden wird. Wenn die Physik z.B. in
bestimmten Kategorien - Materie, Ursache, Wechselwirkung, Energie, Potential,
Affinität - das Seiende denkt und bei solchem Denken im vorhinein
auf diese Kategorien »vertraut« und ruch eine so vertrauende
Forschung zu fortgesetzt neuen Ergebnissen gelangt, dann ist durch solches
Vertrauen zur Vernunft in der Gestalt einer Wissenschaft nicht erwiesen,
daß die »Natur« in dem ihr Wesen offenabre, was
durch die Kategorien der Physik gegenständlich geprägt und vorgestellt
wird. Vielmehr bezeugt solche Wissenschaftserkenntnis nur, daß ein
solches Denken über die Natur für das Leben »nützlich«
ist. Die »Wahrheit« der Erkenntnis besteht in der Nützlichkeit
der Erkenntnis für das Leben. Damit wird deutlich genung gesagt:
wahr ist, was einen praktischen Nutzen abwirft, und nur nach dem Grade
der Nutzbarkeit ist die Wahrheit des Wahren abzuschätzen. Die Wahrheit
ist überhaupt nicht etwas für sich, was dann noch abgeschätzt
wird, sondern besteht in nichts anderem als in der Abschätzbarkeit
auf einen erreichbaren Nutzen. - .... - Die praktische Ausnützung
wird erst möglich auf grund der theoretischen »Nützlichkeit«.
Was heißt hier dann »Nützlichkeit«? Dieses, daß
die wissenschaftliche Erkenntnis und das Denken der vernunft etwas, nämlich
die Natur, in einem Sinne als seiend setzen und gesetzt haben,
der zum voraus die neuzeitliche technische Bewältigung sicherstellt.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 478-480 |
Wertsetzung ist der Grundvorgang des Lebens selbst, ist die Weise,
wie es sein Wesen austrägt und erfüllt. - Das Leben aber und
hier im besondern das menschliche Leben wird die Ansetzung der eigentlichen
Bedingungen seiner selbst,allgemein also die Ansetzung der Bedingungen
einer Sicherung seiner Lebendigkeit, im voraus danach regeln, wie es selbst,
das Leben, sich sein Wesen bestimmt. Liegt dem Leben als solchem zuerst
und ständig und nur daran, sich zu erhalten und dauernd in seinem
Bestand gesichert zu sein, heißt Leben nichts anderes als Sicherung
des je gerade überkommenen und übernommenen bestandes, dann
wird das Leben solches zu seinen eigentlichsten Bedingungen machen, was
dieser Bestandsicherung genügt und dient. Das dergestalt Bedingendste
ist dann da Höchstwertige.Kommt es im Leben für das Leben darauf
an, dieses als solches in seinem Bestand ständig zu erhalten, dann
muß es nicht nur entsprechende einzelne Bedingungen gesichert haben.
Als Lebensbedingung, d.h. als ein Wert wird überhaupt nur solches
gelten können, was Erhaltungs- und Bestandsicherungscharakter hat.
Nur solches läßt sich als »seiend« ansprechen.
Ist aber das Wahre das für seiend Gehaltene, dann muß alles,
was als wahr gelten will, den Charakter des Beständigen und Festen
haben; die »wahre Welt« muß eine beständige sein,d.h.
hier: eine dem Wechsel und Wandel enthobene. Damit ist der nächst
faßbare Sinn der Sätze geklärt, durch die Nietzsche erläutert,
inwiefern er den Gegensatz »die wahre Welt - die scheinbare Welt«
auf Wertverhältnisse zurückführt. Nietzsche sagt:
»Wir haben unsere Erhaltungs-Bedingungen
projiziert als Prädikate des Seins überhaupt.«
(»Der Wille zur Macht«, N. 507.) |
»Unsere - das meint nicht die Lebensbedingungen der jetzt gerade
lebenden Menschen, auch nicht der Menschen überhaupt, sondern: der
Menschen der abendländischen, griechischen, römisch-christlichen,
germanisch-romanisch-neuzeitlichen »Welt«. Dieses Menschentum
hat, weil es ihm irgendwie zuerst und zuletzt auf Beständigkeit,
Fortdauer und Ewigkeit ankommt, dieses, worauf es in seinem Leben ankommt,
zugleich hinausversetzt in die Welt, in das »Ganze«. Die Art
und Weise, wie das Wesen des Seienden ausgelegt wird, nämlich als
Beständigkeit, entspringt aus der Art und Weise, wie das menschliche
Leben sich selbst in seinem Eigentlichen nimmt: als Bestandsicherung seiner
selbst. Nur diese Bestimmungen - Beständigkeit, Fortdauer und Festigkeit
- sagen daher, was ist und was als seiend angesprochen werden
darf, wovon die Bestimmung »seiend und »sein« ausgesagt
werden kann.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 489-491 |
Das Leben bedarf, um als Leben sein zu können, der beständigen
Festigkeit eines »Glaubens«; dieses Glauben« aber heißt:
etwas für beständig und gefestigt Halten, etwas als seiend Nehmen.
Sofern das Leben wertsetzend ist, ihm jedoch zugleich an der eigenen Bestandsicherung
liegt, muß zum Leben eine solche Wertsetzung gehören, in der
es etwa als beständig und fest, d.h. als seiend, d.h. als wahr nimmt.
- Keheren wir von hier aus an den Beginn des Stückes N. 507 zurück:
»Die Wertschätzung
ich glaube, daß das und das so ist, als Wesen
der Wahrheit«. In den Wertschätzungen drücken
sich Erhaltungs und Wachstums-Bedingungen aus.«
(»Der Wille zur Macht«, N. 507.) |
Jetzt können wir sagen: Wahrheit ist das Wesen des Wahren; das Wahre
sit das Seiende; seiend heißt das für beständig und fest
Genommene. DasWesen des Wahren liegt ursprünglich in solchem Für-fest-und-sicher-nehmen;
dieses dafürnehmen aber ist kein beliebiges Tun, sondern das für
die Bestandsicherung des Lebens selbst notwendige Verhalten. Dieses Verhalten
hat als Dafürhalten und Setzen einer Lebensbedingung den Charakter
einer Wertsetzung und Wertschätzung. Wahrheit ist im Wesen eine
Wertschätzung. Der Gegensatz von wahrhaft und scheinbar Seiendem
ist ein»Wertverhältnis«, das dieser Wertschätzung
entsprungen ist.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 491-492 |
Nietzsches Leitsatz sagt: Die Wahrheit ist im Wesen Wertschätzung.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 492 |
Nietzsches Auffassung der Wahrheit und der Erkenntnis ...: die
verborgenste und äußerste Folge des ersten Anfangs des abendländischen
Denkens.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 492 |
Daß Nietzsche selbst einer Auslegung des Wesens der Wahrheit
»die Zweiweltenlehre« der Metaphysik als Hintergrund gibt,
enthält für uns die Anweisung, gerade von hier aus das Befremdliche
dieser Wahrheitsauslegung noch zu steigern und das Fragwürdige auf
den innersten Fragepunkt zu sammeln.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 492 |
Wahrheit im Sinne des Wahren als des angeblich Seienden im Sinne
des Beständigen, Festen und Unwandelbaren ist dann Illusion,
wen die Welt nicht eine seiende, sondern eine »werdende« ist.
Eine Erkenntnis, die als wahre etwas für »seiend nimmt im Sinne
des Beständigen und Festen, hält sich« an Seiendes und
trifft gleichwohl nicht das Wirkliche: die Welt als werdende. - Ist
sie - in Wahrheit - eine werdende? Nietzsche bejaht in der tat die Frage
und sagt: Die Welt ist - »in Wahrheit«! - eine »werdende«.
Es gibt nichts »Seiendes«. Er bejaht aber nicht nur die Welt
als eine Welt des »Werdens«, er weiß auch, daß
diese bejahung als Auslegung der Welt gleichfalls eine Wertsetzung ist.
So notiert er sich einmal in der Zeit der Niederschrift der erörterten
Aufzeishnung (N. 507) den Hinweis:
»Gegen den Wert des Ewig-Gleichbleibenden
(v. Spinozas Naivität, Descartes ebenfalls) den Wert
des Kürzesten und Vergäglichsten, das verführerische
Goldaufblitzen am Bauch der Schlange vita -« (»Der Wille
zur Macht«, N. 577; Frühjahr bis Herbst 1887). |
Hier setzt Nietzsche eindeutig einen Wert gegen den anderen und der von
ihm gesetzte »Wert« ist als Wert, d.h. als Lebensbedingung
wiederum dem »Leben« abgenommen und abgelesen, aber in einem
anderen Blick auf das Wesen des Lebens: das Leben nicht als das sich Festigende
und Festgemachte, in seinem Bestand sich Sichernde und Gesicherte, sondern
das »Leben« als SChlange - als das sich Ringelnde und Schlingende
und in sich selbst als in den eigenen Wesensring Zurückwollende und
stets sich Einrollende und im Ring als Ring stets Fortrollende,
das ewig Werdende - das Leben als Schlange, deren Ruhe nur scheinbar und
nur das Ansichhalten eines Aufschnellens und Aufspringens ist. Daher wird
die Schlange eine Gefährtin der Einsamkeit Zarthustras. - Nietzsche
setzt gegen das Wahre, d.h. Sichergestellte, Aus- und Festgemachte und
in diesem Sinne Seiende, das Werdende. Nietzsche setzt gegenüber
dem »Sein« als höheren Wert das »Werden«
(vgl. N. 708). Wir entnehmen daraus zunächst nur dieses Eine: die
Wahrheit ist nicht der höchste Wert.
»Der Glaube so und so
ist es zu verwandeln in den Willen so und so
soll es werden.«, N. 593; 1885/86.) |
Die Wahrheit als Für-wahr-halten, das Sichfestlegen auf ein endgültig
fest- und ausgemachtes »So ist es« kann nicht das Höchste
des Lebens sein, weil es die Lebndigkeit des Lebens, sein Übersichhinauswollen
und Werden verleugnet. Dem Leben seine Lebendigkeit einräumen, daß
es ein Werdendes und als Werden werde und nicht bloß als Seiendes
sei, d.h als Festvorhandenes festliege, darauf geht offensichtlich die
Wertsetzung, an der gemessen die Wahrheit nur ein herabgesetzter Wert
sein kann.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 493-495 |
Damit wir dieses im Sinne Nietzsches begreifen und in seinem Sinne
abschätzen, warum die Wahrheit nicht der höchste Wert sein kann,
ist es nötig zuvor noch entschiedener zu fragen, inwiefern und in
welcher Weise sie gleichwohl ein notwendiger Wert ist, hat die denkerische
Anstrengung des Nachweises, daß sie nicht der höchste
Wert sein kann, eine Tragweite. Weil für Nietzsche das Wahre gleichbedeutend
ist mit dem Seienden, wrden wir durch die Beantwortung der gestellten
Fragen auch zu wissen bekommen, in welchem Sinne Nietzsche das Seiende
versteht, d.h. was er emint, wenn er sagt »seiend« und »sein«.
Noch mehr: wenn das Wahre nicht der höchste Wert sein kann, das Wahre
aber soviel besagt wie das Seiende, dann kann auch das Seiende nicht das
Wesen der Welt ausmachen, ihre Wirklichkleit kann nicht in einem Sein
bestehen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 495 |
Nun sind ... Wesen und Geschichte des abendländischen Menschen
dadruch ausgezeichnet, daß zu seinem Grundverhältnis zum Seienden
im Ganzen das Wissen und erkennen gehört und damit die Besonnenheit
in dem wesentlichen Sinne, wonach sich das Wesen des abendländischen
Menschen aus der Besinnung mitentscheidet und -gestaltet. Weil dem so
ist, deshalb kann auch nur dieser geschichtliche abendländische Mensch
von seiner Besinnungslosigkeit, einer Verstörung der Besonnenheit
überfallen werden, ein Geschick, vor dem ein Negerstamm durchaus
bewahrt bleibt. Umgekehrt kann Rettung und Gründung des abendländischen
geschichtlichen Menschen nur aus der höchsten Leidenschaft der Besinnung
erwachsen. Zu dieser Besinnung gehört vor allem das Erkennen des
Erkennens, die Besinnung auf das Wissen und den Wesensgrund, in dem sich
kraft seiner Wesensgeschichte seit zwei Jahrtausenden bewegt.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 497-498 |
Auch der einzelne Mensch ist als Einzelner immer schon und immer
nur dieser: der zum Mitmenschen sich Verhaltende, von den Dingen Umwaltete.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 520 |
Gleichwohl gelingt es selten, dieses volle Wesen des Menschen
allem zuvor in den Ansatz zu bringen. Immer besteht die Neigung,
vom »einzelnen« Menschen auszugehen und diesem dann erst die
Bezüge zum Anderen und zum Ding zufallen zu lassen. Es ist auch nichts
erreicht, wenn man versichert, der Mensch sei ein Gemeinschaftswesen und
Herdentier, denn auch so kann die Gemeinschaft immer noch als ein bloßes
Zusammensein von Einzelnen gefaßt werden. Wie denn überhaupt
zu sagen ist: Auch jener vollere Ansatz »des« Menschen als
des zum Anderen und zum Ding und so zu sich selbst sich Verhaltenden,
bleibt stets noch ein vordergründiger, wenn nicht all diesem zuvor
auf Jenes gewiesen ist, was in den Grund weist, worauf das einfach-mehrfältige
Verhältnis zum Anderen, zum Ding und zu sich selbst überhaupt
beruht. (Dieser Grund ist nach »Sein und Zeit« das Seinsverständnis.
Er ist nicht das Letzte, sondern nur das Erste, von dem die Ergründung
des Grundes ihren Ausgang nimmt für das Denken des Seins als des
Ab-Grundes.)
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 520 |
Nietzsche sieht wie jeder Denker vor ihm die Beziehung des Menschen
zum Mitmenschen und zum Ding; gleichwohl nimmt er wie jeder Denker vor
ihm den Ansatz beim geeinzelten Menschen und vollzieht von diesem aus
den Übergang in die genannten Verhältnisse. Der Mensch steht
im Verhältnis zum Menschen, und der Mensch steht im Verhältnis
zum Ding. Das erste Verhältnis ist das der wechselweisen Verständigung.
Das gegenseitige Einverständnis bezieht sich jedoch nicht nur auf
die Menschen unter sich, sondern zugleich und stets auch auf die Dinge,
zu denen sie sich verhalten.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 520 |
Sichverständigen über etwas, heißt: darüber
dasselbe meinen, bei einem Auseinandergehen der Meinungen die Hinsichten
festlegen, nach denen Übereinkunft sowohl wie Zwiespalt bestehen.
Jedesmal ist Verständigung das Übereinkommen über eines
als dasselbe. Verständigung in diesem wesentlichen Sinne ist
sogar die Vorbedingung für das Auseinandergehen der Meinungen, die
Zwietracht; denn nur wenn die Streitenden überhaupt dasselbe meinen,
können sie sich im Hinblick auf dieses Eine entzweien. Eintracht
und Zwietracht der Menschen gründen demnach auf der Festmachung von
Selbigem und Beständigem. Wären wir nur einem Vorbeifluten wechselnder
vorstellungen und Empfindungen preisgegeben und darin fortgerissen, so
wären wir selbst niemals wir selbst, so wenig wie die anderen Menschen
als sie selbst und als dieselben sich und uns entgegenkommen könnten.
In derselben Weise wäre auch das, worüber die selben
Menschen sich unter sich selbst als dasselbe verständigen
sollen, ein Bestandloses. Sofern Mißverständnis und Unverständnis
nur Abarten der Verständigung sind, muß durch Verständigung
-wesensmäßig gedacht -überall erst das Aufeinanderzukommen
derselben Menschen in ihrer Selbigkeit und Selbstheit gegründet werden.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 520-521 |
Verständigung im wesentlichen Sinne und Verständigung
als hloße Verabredung sind grundverschieden. Jene ist der Grund
eines geschichtlichen Menschseins, diese stets nur Folge und Mittel; jene
ist höchste Notwendigkeit und Entscheidung, diese nur Behelf und
Gelegenheit. Die landläufige Meinung meint allerdings, Verständigung
sei bereits Nachgeben, Schwäche, Verzicht auf Auseinandersetzung.
Sie weiß nichts davon, daß Verständigung im wesentlichen
Sinne der höchste und schwerste Kampf ist, schwerer als der Krieg
und unendlich fern allem Pazifismus. Verständigung ist der höchste
Kampf um die welentlichen Ziele, die ein geschichtliches Menschentum über
sich errichtet. Deshalb kann in der gegenwärtigen geschichtlichen
Lage Verständigung nur heißen: der Mut zu der einzigen Frage:
ob das Abendland sich noch zutraut, ein Ziel über sich Wld seiner
Geschichte zu schaffen, oder ob es vorzieht, in die Wahrung und Steigerung
von Handels- und Lebensinteressen abzusinken und sich mit der Berufung
auf das Bisherige, als sei dies das Absolute, zu begnügen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 521 |
Angenommen, wir treffen öfters darußen in einem Wiesen
einen vereinzelten Baum, diese Birke, so hat das Mannigfaltige der Farben,
der Farbtöne, der Beleuchtung, der Atmosphäre, jeweils nach
Tages- und Jahreszeit, aber auch nach unserem jeweils wechselnden Wahrnehmungsstandort,
unserer jeweiligen Blickweite und Stimmung einen je verschiedenen Charakter,
und doch ist es stets diese »gleiche« Birke. Sie ist
die »gleiche« nicht nachträglich, idem wir auf grund
hinterher angestellter Vergleichungen feststellen: es war doch der »gleiche«
Baum, sondern umgekehrt, unser Zukommen auf den Baum hat es immer schon
auf das je »Gleiche« abgesehen. Nicht als sollte uns das Wechseln
der Anblicke entgehen, im Gegenteil, nur wenn wir im voraus über
die jeweilige Verschiedenheit des Sichgebenden hinweg ein solches setzen,
was nicht im jeweils sich gebenden Gegebenen vorhanden ist, ein »Gleiches«,
d.h. Selbiges, können wir den Zauber des Wechsels der Anblicke erfahren.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 525 |
Setzen eines Gleichen ist daher ein Erdichten und Ausdichten.
Um den Baum in seiner jeweils gerade gegebenen Erscheinung zu bestimmen
und zu denken, muß zuvor seine Selbigkeit gedichtet werden. Dieses
freie Vorweg-setzen eines Selbigen, d. h. einer Selbigkeit, dieser dichtende
Charakter ist das Wesen der Vernunft und des Denkens. Deshalb muß,
bevor im gewöhnlichen Sinne gedacht wird, immer zuerst gedichtet
werden.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 525-526 |
Sofern wir das Begegnende als Ding kennen, als so und so beschaffen,
so und so auf anderes bezogen, so und so bewirkt, so und so groß,
haben wir dem Begegnenden schon Dingheit, Beschaffenheit, Beziehung, Wirkung,
Verursachung, Größe vorausgedichtet. Das in solchem Dichten
Gedichtete sind die Kategorien. Das, was uns eigentlich erscheint und
sich in seinem Anblick zeigt: dieses selbe Ding in seiner so beschaffenen
Dingheit - griechisch »Idee« - ist gedichteten Ursprungs;
somit eines höheren Ursprungs, der über dem liegt, was
unser nächstes Betreiben bereits als Handliches und Vorhandenes unrnittelbar
aufgreift und nur aufzugreifen meint. Dieses dichtende Wesen der Vernunft
ist nicht erstmals von Nietzsche entdeckt, sondern von ihm nur in gewissen
Hinsichten besonders schroff und nicht immer zureichend betont worden.
Den dichtenden Charakter der Vernunft hat Kant zum ersten Male in seiner
Lehre von der transzendentalen Einbildungskraft eigens gesehen und durchdacht.
Die Auffassung des Wesens der absoluten Vernunft in der Metaphysik des
deutschen Idealismus (bei Fichte, Schelling, Hegel) gründet durchaus
auf der Kantischen Einsicht in das Wesen der Vernunft als einer »bildenden«,
dichtenden »Kraft«.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 526 |
Kants Gedanke spricht jedoch nur das aus, was auf dem Boden der
neuzeitlichen Metaphysik über das Wesen der Vernunft gesagt werden
mußte. Vernunft wird, neuzeitlich erfahren, gleichbedeutend mit
der Subjektivität des menschlichen Subjektes und besagt: das seiner
selbst gewisse Vorstellen des Seienden in seiner Seiendheit, d. h. hier
Objektivität (Gegenständlichkeit). Seiner selbst gewiß
muß das Vorstellen sein, weil es jetzt zu dem rein auf sich gestellten,
d. h. subjekthaften Vor-stellen der Gegenstände wird. In der Selbstgewißheit
versichert sich die Vernunft dessen, daß sie mit ihrer Bestimmung
der Gegenständlichkeit das Begegnende sichert und damit sich selbst
in den Umkreis der überallhin berechenbaren Sicherheit stellt. Die
Vernunft wird so ausdrücklicher denn zuvor jenes Vermögen, das
Alles, was das Seiende ist, sich selbst zu- und einbildet. Sie
wird zur so verstandenen Einbildungskraft schlechthin. Wenn wir betonen,
daß Kant »nur« dieses Wesen der Vernunft erstmals im
Ganzen und aus wirklicher Durchmessung ihres Vermögensbereiches klarer
ahne und ausspreche, dann soll mit diesem »nur« keineswegs
die Kantische Lehre von der transzendentalen Einbildungskraft verkleinert
werden. Wir wollen und können immer nur darauf sehen, diesen Schritt
des Kantischen Denkens ins Unvergleichliche zu retten.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 526-527 |
Die Rede vom dichtenden Wesen der Vernunft meint freilich nicht
ein dichterisches Wesen. So wenig jegliches Denken denkerisch ist,
so wenig ist jedes Dichten und Ausdichten schon dichterisch. Indes verweist
das dichtende Wesen der Vernunft alles menschliche, d. h. vernünftige
Erkennen in einen höheren Ursprung; »höher« meint:
über das alltäglich gewohnte Aufgreifen und Abschreiben wesenhaft
hinausliegend. Was in der Vernunft vernommen wird, das Seiende als
das Seiende, läßt sich nicht geradehin durch ein bloßes
Vorfinden in den Besitz nehmen. Platonisch gedacht, ist das Seiende das
Anwesende, die »Idee«. Wenn Platon z. B. in seinem Dialog
»Phaidros« den Mythos erzählt von der Herabkunft der
»Idee« aus einem überhimmlischen Ort, uperouranioV
topoV, in die Seele des hiesigen Menschen, dann ist, metaphysisch
gedacht, dieser Mythos nichts anderes als die griechische Auslegung des
dichtenden Wesens der Vernunft, d. h. ihres höheren Ursprungs.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 527 |
Nietzsche denkt die Platonische Ideenlehre nur allzu äußerlich
und oberflächlich, Schopenhauerisch und der Überliefemng gemäß,
wenn er glaubt, er müsse seine Lehre von der »Entwicklung der
Vernunft« gegen die Platonische Lehre von einer »präexistenten
Idee« absetzen. Auch Nietzsches Auslegung der Vernunft ist Platonismus,
nur in das neuzeitliche Denken umgewendet. Das will sagen: auch Nietzsche
muß den dichtenden Charakter der Vernunft festhalten, den
»präexistenten«, d. h. vor-gebildeten und voraus-beständigen
Charakter der Seinsbestimmungen, der Schemata. Nur ist die Bestirnmung
der Herkunft dieses dichtenden, vor-bildenden Charak. ters bei
Platon und Nietzsche verschieden. Für Nietzsche ist dieser Charakter
der Vernunft mit dem Vollzug des Lebens der Praxis -gegeben (er nennt
ihn an dieser Stelle leicht mißdeutbar »die Nützlichkeit«);
das Leben aber nimmt er als das, dessen der Mensch selbst -auf sich gestellt
-mächtig ist. Auch für Platon entspringt das Wesen der Vernunft
und der Idee aus dem »Leben«, der zoh,
als dem Walten des Seienden im Ganzen; aber das menschliche Leben ist
nur ein Herabfall aus dem eigentlichen, ewigen Leben, eine Verunstaltung
desselben. Bedenken wir freilich, daß für Nietzsche das menschliche
Leben nur ein metaphysischer Punkt des Lebens im Sinne der » Welt«
ist, dann rückt seine Lehre von den Schemata der Platonischen Ideenlehre
so nahe, daß sie nur noch eine bestimmt geartete Umkehrung dieser,
d. h. mit ihr im Wesen identisch ist. Nietzsche schreibt:
»Hier hat nicht eine präexistente
Idee gearbeitet: sondern die Nützlichkeit, daß
nur, wenn wir grob und gleichgemacht die Dinge sehen, sie für
uns berechenbar und handlich werden.« (»Der Wille zur
Macht«, N. 515.) |
Damit stellt er die alltäglich geübte Berechenbarkeit der Dinge
unter ein »Wenn«, d. h. unter die höhere Bedingung der
Ausdichtung und Ausdichtbarkeit der Dinge. Diese Ausdichtung nennt er
in der eingeklammerten Bemerkung einen »Prozeß, den jeder
Sinneseindruck durchmacht«. Inwiefern trifft dies zu? Das Beispiel
der Wahrnehmung des Baumes zeigte (vgl. S. 525 f.;
HB), wie die Mannigfaltigkeit gegebener Farbeindrücke auf
ein Gleiches und Selbiges bezogen wird. Jetzt aber meint Nietzsche, daß
auch schon jeder einzelne Farbeindruck, z. B. eine Rotempdung, durch eine
Ausdichtung hindurch gegangen ist; dabei und dazu wird unterstellt, daß
die einzelnen Rotempfindungen jedesmal und notwendig verschieden sind
nach der Stärke des Eindrucks, nach der Helligkeit gemäß
der Nachbarschaft zu Ähnlichem, nach der Abwandlung dessen, was wir
soeben schon mit dem Wort rot zu einem Gleichen ausgedichtet haben,
bei dem wir von den feineren Unterschieden und Tönen absahen. Dagegen
sucht in bestimmten Arten der Malerei jeweils der Künstler den höchsten
Reichtum von Unterschieden innerhalb einer Farbe, um aus ihr dann doch
im Gesamteindruck des gegenständlichen Bildes ein scheinbar einfaches,
eindeutiges Rot erstehen zu lassen. Jeder Sinneseindrnck macht
aber diesen Prozeß der Ausdichtung auf ein Gleiches - Rot, Grün,
Sauer, Bitter, Hart, Rauh - durch, weil er als Eindruck in nichts
anderes eingeht als in den zuvor waltenden Bezirk der im Wesen dichtenden,
auf Gleiches und Selbiges abhebenden Vernunft. Das Sinnliche bedrängt
und befällt uns als vernünftige Lebewesen, als solche,
die es - ohne eine jeweils noch eigens vollzogene Absicht - immer schon
abgesehen haben auf Gleichmachung, weil nur das Gleiche die Gewähr
des Selbigen bietet und weil nur das Selbige Beständiges sicherstellt,
Beständigung aber der Vollzug der Bestandsicherung ist. Demnach sind
bereits die Empfindungen selbst, die das nächst andrängende
»Gewühle« ausmachen, eine gedichtete Mannigfaltigkeit.
Die Kategorien der Vernunft sind Horizonte der Ausdichtung, welche Ausdichtung
dem Begegnenden erst jene freie Stelle einräumt, von der aus und
auf die gestellt es als ein Beständiges, als Gegenstand zu
erscheinen vermag.
»Die Finalität in der Vernunft
ist eine Wirkung, keine Ursache.« (»Der Wille zur Macht«,
N. 515.) |
Dieser zunächst dunkle Satz steht plötzlich, wie aus der Pistole
geschossen, da; dies auch dann, wenn man weiß, daß »Finalität«
(Zweckhaftigkeit) eine unter anderen Kategorien der Vernunft ist und somit
als ein Schema neben anderen zu dem gehört, was unter dem
Titel der Schematisierung -Ausdichtung geklärt werden soll. Denn
man fragt sich, weshalb Nietzsche nun gerade diese Kategorie noch eigens
anführt. Wenn wir der bisherigen Auslegung des Wesens der Erkenntnis
gefolgt sind, haben wir schon die Antworten auf die Fragen, die hier gestellt
werden müssen:
1. Wie kommt Nietzsche dazu, eigens zu betonen, die Finalität sei
keine »Ursache«, sondern eine »Wirkung«?
2. Weshalb erwähnt er überhaupt in solcher Betonung die Finalität?
Zu 1. Hat denn je jemand behauptet, die »Finalität« (Zweckhaftigkeit)
sei eine Ursache? Allerdings. Seit Platon und Aristoteles ist dies eine
Grundlehre der Metaphysik. Der Zweck ist Ursache, griechisch: das ou
eneka ist aiton, aitia;
finis est causa - causa fmalis. Griechisch gedacht, meint aiton
jenes, woran es liegt, daß .... Dagegen besagt die geläufige
Bedeutung unseres Wortes Ursache« sogleich einseitig: das
einen Effekt Bewirkende, die causa efficiens. Das Weswegen ist
solches, was schuld daran wird, daß ein anderes seinetwegen geschieht
und getan wird, ist das, worauf etwas abzweckt - z. B. eine Hütte
auf Gewährung von Unterkunft. Der Zweck ist das, was im vorhinein
vorgestellt wird, also das Unterkommen und Geschütztsein gegen die
Witterung. Dieses im voraus Vorgestellte enthält die Anweisung dafür,
daB die Hütte z. B. überdeckt wird und ein Dach hat. Der Zweck,
das, worauf es im vorhinein abgesehen ist - Unterstandsgewähr -,
verursacht die Anfertigung und Anbringung eines Daches. Der Zweck ist
Ursache. Zweckhaftigkeit (Finalität) hat Ursachecharakter Nietzsche
sagt dagegen: Finalität ist Wirkung, »keine Ursache«.
Auch hier haben wir die bei Nietzsche oft beliebte Verkürzung einer
in sich reichen und wesentlichen Überlegung vor uns. Nietzsche denkt
nicht daran, das zu leugnen, was soeben erläutert wurde, daß
der Zweck, das im voraus Vorgestellte, als Vor-gestelltes, den Charakter
des Anweisenden und solcherrnaßen Verursachenden hat. Was er jedoch
dem zuvor betonen will, ist dies: das irn vorhinein vorgestellte Weswegen
und Deswegen ist als solches, will heißen, als das irn vorhinein
Festgemachte, dem dichtenden Charakter der Vernunft, dem Absehen auf Beständiges,
entsprungen, also von der Vernunft hervorgebracht und deshalb Wirkung.
Finalität ist als Kategorie ein Gedichtetes und somit Gewirktes
(Wirkung). Allein, dieses Gedichtete, diese Kategorie »Zweck«,
hat den Horizontcharakter, daß sie Anweisung gibt auf die Herstellung
von anderem; mithin verursacht sie die Erwirkung von anderem. Gerade
weil die Finalität als eine Art von Ursache Kategorie ist, deshalb
ist sie »Wirkung« im Sinne eines ausgedichteten Schemas.
Zu 2. Weshalb erwähnt Nietzsche die Finalität in betonter Weise?
Nicht aus der Absicht, in der genannten verkürzten und sehr mißverständlichen
Form das Gegenteil zur üblichen Meinung auszusprechen und so eine
»Paradoxie« anzubringen, sondern weil die »Finalität«,
d. h. das Absehen auf etwas, das Ausblicken auf solches, worauf es ankommt,
das Wesen der Vernunft von Grund aus kennzeichnet. Denn alles Absehen
auf Beständigkeit ist im Grunde ein ständiges Sichvorsetzen
von solchem, worauf gezielt wird, das ist der in die Mitte der
Scheibe eingetriebene Pflock: »die Zwecke«: der Zweck. Wollte
die Vernunft als vorstellendes Vernehmen des Wirklichen in das Zwecklose
ausbrechen und in das Ziellose und den Unbestand verschweifen, also die
Ausdichtung von Gleichem und Regelmäßigem aufgeben, dann würde
sie vorn Andrang des Chaos übermächtigt, das Leben würde
bei seinem Wesensvollzug, bei der Sicherung seines Bestandes, ins Wanken
und Gleiten geraten, das Wesen aufgeben und so mißraten:
»Bei jeder anderen Art Vernunft,
zu der es fortwährend Ansätze gibt, mißrät
das Leben, - es wird unübersichtlich -, zu ungleich.«
(»Der Wille zur Macht«, N. 515.) |
Die gesonderte Heraushebung der Kategorie der Finalität deutet darauf
hin, daß Nietzsche sie nicht nur als eine Kategorie unter
anderen begreift, sondern sie als die Grundkategorie der Vernunft
versteht. Auch diese Auszeichnung der Finalität, des ou
eneka (finis), bewegt sich in der Grundrichtung des abendländischen
metaphysischen Denkens. Daß Nietzsche der Finalität diese bevorzugte
Rolle zuweisen muß, ergibt sich aus der Art, wie er den Wesensursprung
der Vernunft ansetzt, indem er ihr Wesen mit dem Lebensvollzug als Bestandsicherung
gleichsetzt.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 527-532 |
Erkennen ist das der perspektivischen Bestandsicherung entspringende
und ihr zugehörige Schemabilden und Schematisieren des Chaos. Bestandsicherung
im Sinne der Beständigung des Ungegliederten, Fließenden ist
eine Bedingung des Lebens.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 532 |
Nietzsche stellt fest: die besondere Tierart Mensch ist nun einmal
vorhanden. Eine unbedingte Notwendigkeit dafür, daß es überhaupt
dergleichen Lebewesen gibt, läßt sich nicht einsehen und auch
nicht als begründet nachweisen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 533 |
Der Satz vom Widerspruch, die Regel des zu vermeidenden Widerspruches,
ist das Grundgesetz der Vernunft, in welchem Grundgesetz somit das Wesen
der Vernunft sich ausspricht. Der Satz des Widerspruche sagt jedoch nicht,
daß in »Wahrheit«, d.h. in Wirklichkeit, neimals etwas
sich Widersprechendes zugleich wirklich sein könne, er sagt nur,
daß der Mensch aus »biologischen« Gründen genötigt
ist, so zu denken; der Mensch muß, grob gesagt, den Widerspruch
vermeiden, um der Verwirrung und dem Chaos zu entgehen bzw. dieses zu
bewältigen, indem er ihm die Form des Widerspruchsfreien, d.h. Einheitlichen
und je Selben auferlegt. So wie bestimte Seetiere, z.B. die Medusen, ihre
Greif- und Fangwerkzeuge ausbilden und ausstrecken, so benützt das
Tier »Mensch« die Vernunft und deren Greifwerkzeug, den Satz
vom Widerspruch, um sich in seiner Umgebung zurechtzufinden und dabei
den eigenen Bestand zu sichern.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 534-535 |
Vernunft und Logik, Erkenntnis und Wahrheit sind biologisch bedingte
Erscheinungen an dem Tier, das wir Mensch nennen. Mit dieser biologischen
Feststellung wäre dann auch die Besinnung auf das Wesen der Wahrheit
zum Abschluß gebracht un der biologische Charakter dieser Besinnung
dargetan; es müßte sich ergeben haben, daß die Besinnung
in nichts anderem besteht als in der erklärenden Rückführung
aller Erscheinungen auf das Leben, eine Erklärungsweise, die
jeden voll überzeugt, der an das biologische, d.h. an das wissenschaftliche
Denken gewöhnt ist, der Tatsachen für das nimmt, was sie sind,
nämlich für Tatsachen, der alle metaphysischen Erörterungen
auch sein läßt, was sie sind, nämlich Hirngespinste, die
über ihre eigene und wahre Herkunft im Unklaren bleiben.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 535 |
Seit dieser Aristotelischen Erörterung des Satzes vom Widerspruch
(im IV. Buch der »Metaphysik« [Met.,
IV, 3-10] überliefert; HB) ist die eine Frage nicht mehr zur
Ruhe gekommen: ob dieser Satz ein logischer Grundsatz, eine oberste Regel
des Denkens, oder ob er ein metaphysischer Satz sei, d.h. ein Satz, der
über das Seinende als solches - über Sein - etwas ausmache.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 536 |
»Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt
uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine
»Notwendigkeit« aus, sondern nur ein Nichtvermögen.«
(»Der Wille zur Macht«, N. 516.)
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 537 |
Wenn je ein Satz nach dem Zeugnis der Erfahrung gilt, dann dieser,
daß die Menschen in ihrem Denken sich widersprechen, somit über
ein und dasselbe zugleich das Gegenteil behaupten.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 537 |
Was ... der Satz vom Widerspruch aussagt, das in ihm Gesetzte,
beruht nich auf Erfahrung, ebensowenig, ja noch weniger, als der Satz
»2 mal 2 = 4« auf Erfahrung beruht, d.h. auf einer Erkenntnis,
die immer nur so weit und so lange gilt, als unsere derzeitige Kenntnis
reicht. Wäre »2 mal 2 = 4« ein Erfahrungssatz, dann müßten
wir, wenn wir den Satz wesensgerecht denken wollten jedesmal midenken:
»2 mal 2 = 4, nämlich soweit wir bisher wissen, möglicherweise
könnte 2 mal 2 eines Tages = 5 oder 7 sein«. Aber warum denken
wir nicht so? Etwa weil dies zu umständlich wäre? nein, sondern
wil wir (2 mal 2 denkend) schon das denken, was wir mit 4 benennen.
Was wir vollends im Satz vom Widerspruch denken, der zuvor schon die Regel
für die Denkarbeit der genannten Gleichung ist, das wissen wir erst
recht nicht aus der Erfahrung, d.h. in der Weise u nd in dem Sinne, daß
das, was wir da denken, eines Tages anders sein könnte und so das
Gedachte je nur so weit gelte, als unser jeweiliger Stand der Kenntnisse
reicht.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 538 |
Nietzsche steht jedenfalls das Eine deutlich, daß in dem
Satz vom Widerspruch eine Unmöglichkeit das Entscheidende ist. Demnach
muß die Auslegung dieses Satzes zuerst über die Art und das
Wesen dieses adunaton Aufschluß geben.
Nietzsche faßt ... dieses »Unmöglich« im Sinne
eines »Nichtvermögens«. Er bemerkt ausdrücklich,
es handle sich hier nicht um eine »Notwendigkeit«. Das will
heißen: daß etwas nicht zugleich dieses und sein Gegenteil
sein kann, das hängt daran, daß wir nicht vemögen, »ein-
und dasselbe zu bejahen und zu verneinen« (»Der
Wille zur Macht«, N. 516; vgl. auch oben: S. 537; HB). Unser
Nichtvermögen zur Bejahung und Verneinung desselben hat zur Folge,
daß etwas nicht zugleich als dieses und sein Gegenteil vorgestellt,
festgemacht werden, d.h. »sein« kann. Keieneswegs
aber entspringt unser Nichtandersdenkenkönnen dem, daß das
Gedachte selbst von sich aus ein solches Denkenmüssen verlangt. Das
»Unmöglich« ist ein Nichtvermögen unseres Denkens,
also ein sibjektives Nichtkönnen und keineswegs ein objektives Nicht-Zulassen
von seiten des Objektes. Diese objektive Unmöglich meint Nietzsche
mit dem Wort »Notwendigkeit«. Der Satz vom Widerspruch hat
daher nur »subjektive« Gültigkeit, er hängt von
der Verfassung unseres Denkvermögens ab. Bei einer biologischen Veränderung
unseres Denkvermögens könnte der Satz vom Widerspruch seine
Gültigkeit verlieren. Hat er sie nicht bereits verloren?
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 539 |
Hat nicht jener Denker, der mit Nietzsche zusammen (aber
fast ein Jahrhundert früher als Nietzsche; HB) die Vollendung
der Metaphysik vollzogen, hat nicht Hegel in seiner Metaphysik
die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch aufgehoben? Lehrt nicht
Hegel, daß zum innersten Wesen des Seins der Widerspruch gehört?
Ist dies nicht auch die wesentliche Lehre des Heraklit? Aber für
Hegel und für Herkalit ist der »Widerspruch« das »Element
des Seins«, so daß wir schon alles verkehren, wenn wir von
einem Widerspruch des Sprechens und Sagens reden, statt von einer
Widerwendigkeit des Seins. Aber derselbe Aristoteles, der jenen Grundsatz
über das Sein des Seienden erstmals ausdrücklich prägte,
spricht auch von der antifasiV. Er gibt dem
Satz neben der angeführten auch Fassungen, nach denen es scheint,
als handle es sich in der Tat nur um ein Gegeneinanderstellen von Ausagen
- faseiV.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 539-540 |
»Wenn, nach Aristoteles,
der Satz vom Widerspruch der gewisseste aller Grundsätze
ist, wenn er der letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführungen
zurückgehn, wenn in ihm das Prinzip aller anderen Axiome liegt:
um so strenger sollte man erwägen, was er im Grunde schon an
Behauptungen voraussetzt. Entweder wird mit ihm etwas in
betreff des Wirklichen, Seienden behauptet, wie als ob man es anderswoher
bereits kennte; nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte
Prädikate zugesprochen werden können. Oder der Satz will
sagen: daß ihm entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen
werden sollen. Dann wäre Logik ein Imperativ, nicht
zur Erkenntnis des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung
einer Welt, die uns wahr heißen soll.« (»Der
Wille zur Macht«, N. 516.) |
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 540-541 |
Verstehen wir den Satz im Sinne der herrschend gewordenen Überlieferung
- mithin nicht streng und vollständig Aristotelisch -, dann sagt
er nur etwas über die Art, wie das Denken verfahren muß, um
ein Denken vom Seienden zu sein. Verstehen wir aber den Satz vom Widerspruch
Aristotelisch, dann müssen wir nach dem fragen, was dieser Satz eigentlich
im voraus setzt und so setzt, daß er dann allerdings und in der
Folge ein Regelsatz für das denken sein kann. - Nietzsche nimmt
den Satz, wie aus dem Bisherigen schon deutlich genug wurde, als einen
Grundsatz der Logik, als »logisches Axiom«, und vermerkt,
er sei nach Aristoteles der »gewissenste« aller Grundsätze.
Bei Aristoteles steht freilich nichts von »Gewißheit«,
weil solches bei ihm nicht stehen kann, da »Gewißheit«
ein neuzeitlicher Begriff ist, vorbereitet allerdings durch den hellenistischen
und christlichen Gedanekn der Heilsgwißheit.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 542 |
Der Satz sagt nach Aristoteles Wesentliches über das Seiende
als solches: daß jedes Abwesen dem Anwesen fremd bleibe, weil es
das Anwesen in sein Unwesen wegreißt und damit die Unbeständigkeit
setzt und so das Wesen des Seins zerstört. Das Sein aber hat sein
Wesen im Anwesen und in der Beständigkeit. Deshalb müssen auch
die Hinsichten, nach denen ein Seiendes als Seiendes vorgestellt werden
soll, diesem Anwesen und dieser Beständigkeit Rechnung tragen durch
das ama, das »Zugleich«, und durch
das Kata to auto, den »Hinblick auf das
Selbe«.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 543 |
Anwesendes, Beständiges wird als ein solches notwendig verfehlt,
wenn sein Anwesen und seine Gegenwart durch den Hinblick auf einen anderen
Zeitpunkt, wenn seine Beständigkeit durch den Hinblick auf ein Unbeständiges
mißachtet werden. Geschieht dies, dann kommt es dazu, daß
von einem Seienden dasselbe bejaht und verneint wird. Dergleichen kann
der Mensch durchaus vollziehen. Er kann sich selbst widersprechen. Hält
aber der Mensch sich in einem Widerspruch, dann besteht freilich das Unmögliche
nicht darin, das Ja und Nein zusammengeworfen werden,sondern daß
sich der Mensch aus dem Vorstellen des Seienden als solchen ausschließt
und vergißt, was er in seinem Ja und Nein eigentlich fassen
will. Durch widersprechende Behauptungen, die der Mensch ungehindert über
dassebe vorbringen kann, setzt er sich aus seinem Wesen in das Unwesen;
er löst den Bezug zum Seienden als solchen. - Dieser Abfall in das
Unwesen seiner selbst hat darin sein Unheimliches, daß er sich stets
wie eine Harmlosigkeit ausnimmt, daß dabei die Geschäfte und
das Vergnügen genauso weitergehen wie zuvor,daß es überhaupt
nicht so sehr ins Gewicht fällt, was und wie man denkt; bis eines
Tages die Katastrophe da ist ....
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 543 |
Hier - in der Deutung des Satzes vom Widerspruch - streifen wir
diesen Bezirk nur un versuchen ein Geringes, aber Unumgehbares ins Wissen
zu heben, nämlich folgendes: Mit dem Satz des zu vermeidenden Widerspruchs
wird über das Seiende als solches etwas behauptet,und zwar nichts
Geringeres als dies: Das Wesen des Seienden besteht in dem ständigen
Abwesen von Widerspruch.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 544 |
Nietzsche erkennt, daß der Satz vom Widerspruch ein Satz
über das Sein des Seienden ist. Nietzsche erkennt aber nicht, daßdiese
Auffassung des Satzes vom Widerspruch gerade von dem Denker ausgesprochen
wurde, der diesen Satz erstmals vollständig als Satz vom Sein setzte
und begriff. Wäre Nietzsches Nichterkennen nur ein historisches Versehen,
dann dürften wir es nicht weiter vermerken. Aber es bedeutet ein
anderes: Daß Nietzsche den geschichtlichen Grund seiner eigenen
Auslegung des Seienden verkennt und die reichweite seiner Stellungnahmen
nicht ermißt und so seinen eigenen Standort nicht auszumachen
vermag, so daß er auch die Gegnerschaft nicht treffen kann, die
er treffen will und die für eine solche Absicht zuvor aus ihrer eigensten
Stellung begriffen und angegriffen werden muß.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 544 |
Wir vermögen kaum zu sagen, was größer und wesentlicher
ist an dieser denkerischen Haltung der Griechen im Denken des Seins: die
Unmittelbarkeit und Reinheit des erstanfänglichen Ersehens der Wesensgestalten
des Seienden oder die Unbedürftigkeit, der Wahrheit dieses Ersehens
noch eigens nachzufragen, neuzeitlich gedacht: hinter ihre eigenen Setzungen
noch zurückzugehen. Die griechischen Denker zeigen »nur«
die ersten Schritte voraus.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 545 |
Zum Geheimnis des ersten Anfanges gehört es, soviel Helle
um sich zu werfen, daß es einer nachhinkenden Aufklärung nicht
bedarf. Dies sagt zugleich: Wenn ein ursprünglicheres Bedenken des
Seins aus einer wirklichen geschichtlichen Not des abendländischen
Menschen notwendig werden sollte, dann kann dieses Denken nur in der Auseinandersetzung
mit dem ersten Anfang des abendländischen Denken geschehen. Diese
Auseinandersetzung glückte solange nicht,sie bleibt selbst in ihrem
Wesen und ihrer Notwendigkeit solange verschlossen, als uns die Größe,will
sagen,die Einfachheit und Reinheit der entsprechenden Grundstimmung des
Denkens und die Kraft des gemäßen Sagens verweigert sind.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 545 |
Weil Nietzsche unmittelbarer als je ein metaphysischer Denker
vor ihm dem Wesen des Griechentums nahegekommen ist und weil er zugleich
und durchaus und in der härtesten Folgerichtigkeit neuzeitlich
denkt, möchte es schenen, daß sich in seinem Denken die Auseinandersetzung
mit dem Anfang des abendländischen Denkens vollzieht. Aber als noch
neuzeitliche ist sie gleichwohl nicht jene vorgenannte Auseinandersetzung,
sie wird vielmehr unausweichlich zu einer bloßen Umkehrung des griechischen
Denkens. Durch die Umkehrung verwickelt sich Nietzsche nur um so endgültiger
in das Umgekehrte. Es kommt nicht zu einer Auseinander-setzung, zur Gründung
einer Grundstellung, die aus der anfänglichen heraustritt,
so zwar, daß sie diese nicht wegwirft, sondern sie erst in ihrer
Einzigkeit und Bündigkeit erstehen läßt, um an ihr
sich aufzurichten.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 545-546 |
Nietzsche erkennt, daß im Satz vom Widerspruch ein Satz
über das Seiende als solches vorausgesetzt ist, aber er verkennt,
daß diese Vorausetzung die eigentliche und einzige von Aristoteles
vollzogene Setzung dieses Satzes ist.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 546 |
»Kurz, die Frage steht
offen: sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder
sind sie Maßstäbe und Mittel, um Wirkliches, den Begriff
»Wirklichkeit«, für uns erst zu schaffen?
.... Um das erste bejahen zu können, müßte man aber,
wie gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht
der Fall ist. Der Satz enthält also kein Kriterium der Wahrheit,
sondern einen Imperativ über das, was als wahr gelten
soll.« (»Der Wille zur Macht«, N. 516.) |
Damit bejaht Nietzsche zwar die Möglichkeit einer Setzung, die ausmacht,
als was das Seiende im Wesen zu fassen sei. Aber diese Setzung beruht
nicht darauf, daß sich das Vorstellen und Denken an das Seiende
anmißt,um an ihm abzunehmen, welches Wesen das Seiende sei. Dafür
müßten wir schon wissen, worin das Wesen des Seienden bestehe,
und jede nachträgliche Anmessung und Feststellung würde überflüssig.
Der Satz vom Widerspruch ist keine Anmessung an das irgendwie aufgreifbare
Wirkliche, sondern selbst Maßsetzung. Er sagt vor, was Seiendes
sei und was allein für seiend gelten könne, nämlich das
sich-nicht-Widersprechende. Der Satz gibt überhaupt erst die
Anweisung dafür, was für seiend gelten soll. Er spricht ein
Sollen aus, ist ein Imperativ.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 547 |
Die Auslegung des Satzes vom Widerspruch als Imperativ, der sagt,
was als seiend gelten soll, steht im Einklang mit Nietzsches Auffassung
der Wahrheit als eines Für-wahr-haltens.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 547 |
Die im Satz vom Widerspruch liegende Maßstabsetzung für
das, was als seiend soll gelten können, ist ein »Imperativ«
- also ein Befehl. Damit sind wir in einen ganz anderen Bezirk verwiesen.
.... Wenn der Satz vom Widerspruch der oberste Grundsatz des Für-wahr-haltens
ist, wenn er als solcher das Wesen des Für-wahr-haltens trägt
und ermöglicht, und wenn der Setzungscharakter dieses Satzes ein
Befehl ist dann hat das Wesen der Erkenntnis zuinnerst die Wesensart des
befehlshaften. Erkennen ist jedoch als Vor-stellen von Seiendem, Beständigem,
ist als Bestandsicherung eine notwendige Wesensverfassung des Lebens selbst.
Also hat das Leben in sich - in seiner Lebendigkeit - den Wesenszug des
Befehlens. Die Bestnadsicherung des menschlichen Lebens vollzieht sich
demnach in einer Entscheidung darüber, was überhaupt als seiend
gelten solle, was Sein heiße.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 548-549 |
Mit Absicht wurde mehrmals schon auf eine eigentümliche Zweideutigkeit
in Nietzsches Wahrheitsbegriff hingewiesen, die Nietzsche auch nie verschleiern
will, die er aber in ihrer inneren Abgründigkeit nicht sogleich bewältigt.
Es ergab sich: Das Wahre dieser Wahrheit ist nicht das Wahre; denn das
Wahre dieser Wahrheit bedeutet das vor-gestellte Beständige, das
zum Seienden Festgemachte. Dieses Feste erweist sich in der leitenden
Perspektive auf das Chaos als eine Verfestigung des Werdenden; die Verfestigung
ist Abkehr vom eigentlich Wirklichen. Das Wahre als festgemachtes Verfestigendes
schließt sich durch eine Verleugnung des Chaos von der Einstimmigkeit
mit dem eigentlich Wirklichen aus. Das Wahre dieser Wahrheit ist im Hinblick
auf das Choas diesem nicht angemessen, also unwahr, also Irrtum. Nietzsche
spricht dies eindeutig in dem schon angeführten Satz aus:
»Wahrheit ist die Art von
Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen
nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet
zuletzt.« (»Der Wille zur Macht«, N. 493; 1885.) |
Dieser Satz dürfte durch das bisher Erörterte hinreichend geklärt
und erwiesen sein. - Doch was ist daran zweideutig?Wir könnten höchstens
noch sagen: Die eindeutige Besinnung der Wahrheit als einer Art Irrtum
läuft dem gewöhnlichen und eingleisigen Alltagsdenken entgegen:
sie ist, griechsisch gesagt: ein paradoxon.
Die immer wieder ausgesprochene Deutung der Wahrheit als Irrtum, als Illusion,
als Lüge, als Schein,ist nur allzu eindeutig. Von einer Zweideutigkeit
kann nur dort gesprochen werden, wo ein und dasselbe in zweifacher und
verschiedener Bedeutung gedacht ist. Eine wesentliche Zweideutigkeit -
die also nicht auf einer bloßen Lässigkeit des Demkens und
Sagens beruht -, besteht nur dort, wo die Zweifache Bedeutung desselben
unausweichlich ist. - Hier aber steht klar: Wahrheit ist eine »Art
von Irrtum«. Und Irrtum besagt: ein Vorbeigehen an der Wahrheit,
ein Verfehlen des Wahren. Gewiß, und deshalb läßt der
Irrtum die Wahrheit beiseite. - Wenn nur nicht im Irrtum - und in ihm
sogar wesentlicher als im Wahren - die Wahrheit ständig und immer
aufdringlicher andrängte! der Irrtum bleibt auf das Wahre und die
Wahrheit angewiesen; wie wollte der Irrtum ein Verfehlen sein können,
wie sollte er die Wahrheit verfehlen, an ihr vorbei- und sie übergehen
können, wenn sie nicht wahr wäre? Aller Irrtum lebt zuerst
- in seinem Wesen nämlich - von der Wahrheit. Wenn Nietzsche
also eindeutig sagt: die Wahrheit ist eine Art Irrtum, dann muß
er in diesem Begriff »Irrtum« mitdenken: die Verfehlung der
Wahrheit, das Abirren von der Wahrheit. - Die Wahrheit, die als Irrtum
begriffen ist, wurde als das Festgemachte, Beständige bestimmt. Der
so gemeinte Irrtumaber denkt notwendig die Wahrheit im Sinne der Einstimmigkeit
mit dem Wirklichen, d.h. mit dem werdenden Chaos. Die Wahrheit als Irrtum
ist eine Verfehlung der Wahrheit. In der unzweideutigen Wesensbestimmung
der Wahrheit als Irrtum wird die Wahrheit notwendig zweimal und jedesmal
anders, also zweideutig gedacht: einmal als Festmachung des Beständigen
und zum anderen als Einstimmigkeit mit dem Wirklichen. Nur unter Zugrundelegung
dieses Wesens der Wahrheit als Einstimmigkeit kann die Wahrheit als Beständigkeit
ein Irrtum sein. Dieses im Irrtum zugrundegelegte Wesen der Wahrheit ist
jenes, das von altersher im metaphysischen Denken als Angleichung an das
Wirkliche und als Einstimmigkeit mit ihm, als omoiwsis
bestimmt wird. Die Einstimmigleit muß nicht notwendig im Sinne einer
abbildend-nachschreibenden Übereinstimmung ausgelegt werden. Wenn
Nietzsche den Wahrheitsbegriff im Sinn der abbildend-nachschreibenden
Adäquation ablehnt und dies mit Recht, dann braucht er damit nicht
schon die Wahrheit im Sinne der Einstimmigkeit mit dem Wirklichen zurückzuweisen.
Er weist diese herkömmliche und, wie es scheinen möchte, natürlichste
Wesensbestimmung der Wahrheitauch keineswegs zurück. Sie bleibt vielmehr
Leitmaß für die Ansetzung des Wesens der Wahrheit als Festmachung
gegenüber der Kunst, die als Verklärung eine Einstimmigkeit
mit dem Werdenden und seinen Möglichkeiten ist und auf Grund
gerade dieser Einstimmigkeit mit dem Werdenden ein höherer
Wert. Aber Nietzsche spricht hier bei dem, was die Kunst in ihren Gebilden
bildet, nicht von »Wahrheit«, sondern von Schein. Nietzsche
weiß, daß auch das Kunstwerk als Gestalthaftes fest-stellen
muß und damit gleichfalls zum Schein wird, allerdings zu einem »Schein«,
in dem die höheren Möglichkeiten des Lebens aufscheinen und
scheinen, d.h. leuchten. So wird auch der Begriff des Scheins noch zweideutig.
- Wir stehen jetzt in einer doppelten, sich überkreuzenden Zweideutigkeit.
Wahrheit als Festmachung des Seieinden (die irrtumshafte Wahrheit) und
Wahrheit als Einstimmigkeit mit dem Werdenden. Diese Einstimmigkeit mit
dem Werdenden, erreicht in der Kunst, ist aber ein Schein und zwar als
Scheinbarkeit (das festgewordene Werk ist nicht das Werdende selbst) und
Schein als Aufscheinen der neuen Möglichkeiten in jenem Schein. So
wie die Wahrheit als Irrtum der Wahrheit als Einstimmigkeit bedarf, so
bedarf der Schein alsAUfscheinen des Scheins im Sinne der Scheinbarkeit.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 558-560 |
Wenn nun aber in der irrtumshaft gefaßten Wahrheit zugleich
Wahrheit im Sinne der Einstimmigkeit vorausgesetzt wird und wenn auch
diese wahrheit sich noch als ein Schein und eine Scheinbarkeit erweist,
wird dann schließlich nicht alles zu Irrtum und Schein? Alle Wahrheiten
und Arten von Wahrheiten sind nur verschiedene Arten von Stufen von »Irrtümern«
(vgl. N. 535). Dann gibt es in der Tat keine Wahrheiten und keine Wahrheit.
Alles ist nur Schein und ein verschiedenartiges und verschiedenstufiges
Scheinen. - Bis in dieses Äußerste muß gegangen werden.
Dieses Äußerste ist nicht das Nichts - wie das kurzatmige Denken
meinen möchte -, und der hier sich ankündigende »Nihilismus«
ist kein Hirngespinst verzwickter Gedanken, sondern das Beziehen einer
äußersten Stellung, in der die metaphysisch begriffene »Wahrheit«
ihr letztmögliches Wesen erreicht.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 560-561 |
Die Wahrheit als Für-wahr-halten ist Irrtum, wenngleich ein
notwendiger. Die Wahrheit als Einstimmigkeit mit dem Werden, die
Kunst, ist Schein, wenngleich ein verklärender. Es gibt keine
»wahre Welt« im Sinnen eines an sich Gleichbleibenden, ewig
Gültigen. Der Gedanke der wahren Welt als des zuerst und in allem
und von sich her Maßgebenden denkt ins Nichts. Der Gedanke einer
so gedachten Welt muß abgeschafft werden .... Die gedoppelte Zweideutigkeit
von Wahrheit und Schein zwingt zu solchem, was weder das eine noch das
andere ist, weder Wahrheit noch Schein, und was doch beide in ihrem zweideutigen
Wechselbezug möglich macht, in sich aber nie aus ihnen erklärtwerden
kann. Diese Mächtigsten, die eine Erstellung des Äußersten
wagen, nennen sich selbst »die Äußersten« oder
auch die »Immoralisten«. ....
»6. Die »wahre Welt«
haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare
vielleicht? ... Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch
die scheinbare abgeschafft!
(Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens;
Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT
ZRATHUSTRA.)« (VIII, S. 82/83 [auch
in: »Götzen-Dämmerung« bzw. Werke III, S.
409 bzw. 963; HB].) |
Wieder steht hier das Entscheidende in der Klammer, nämlich der positive
Hinweis auf das, was nun nach dem Fall der metaphysischen Grundunterscheidung
ist. - Die Antwort auf unsere Frage, was nach der Abschaffung der
wahren und der scheinbaren Welt aus dem Wesen der Wahrheit geworden
ist, lautet: »Incipit Zarathustra«. .... Mit der Abschaffung
jener Unterscheidung zwischen der wahren und der scheinbaren Welt beginnt
der Untergang der Metaphysik. Untergang ist jedoch nicht das Aufhören
und Verenden, sondern ist Ende als äußerste Vollendung des
Wesens. Nur höchstes Wesen kann einen »Untergang« haben.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 561, 566, 568-569,
569 |
Die Wahrheit als Gerechtigkeit.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 570 |
Dabei liegt uns alles daran, die Gerechtigkeit im Sinne Nietzsches
zu begreifen und seine wenigen Äußerungen darüber in den
bisher gekennzeichneten Bezirk der metaphysischen Wahrheitsfrage einzufügen.
Das Verständnis und der mögliche Nachvollzug dieser Schritte
hängen am Geligen des ersten. Hierbei versagt uns Nietzsche jede
Hilfe, weil er die geschichtliche Verwurzelung der metaphysischen Wahrheitsfrage
überhaupt und die seiner eigenen Entscheidungen im besonderen nicht
zu durchschauen vermochte.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 571 |
Die Gerechtigkeit ist es, worein sich das auf sich selbst stellende
Leben gründet. Das Für-wahr-halten empfängt Gesetz und
Regel aus der Gerechtigkeit. Sie ist der Wesensgrund der Wahrheit
und der Erkenntnis, ist es freilich nur, wenn wir »die Gerechtigkeit«
im Sinne Nietzsches metaphysisch denken und zu begreifen suchen, inwiefern
sie die Seinsverfassung des lebendigen, d.h. des Seienden im Ganzen meint.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 580 |
Es galt zu fragen, worin der Befehlscharakter des menschlichen
Erkennens und das dichtende Wesen der menschlichen Vernunft ihren rechtgebenden,
maßgebenden Grund haben. Die Antwort lautet: in der Gerechtigkeit.
Sie ist gemäß der gekennzeichneten Verfassung: der grund der
Notwendigkeit. und der Möglichkeit jeder Art von Einstimmigkeit des
Menschen mit dem Chaos, sei diese Einstimmung die höhere der Kunst
oder der Erkenntnis. Die befehehlende Erklärung und die dichtende
Verklärung sind »recht« und gerecht, weil das Leben selbst
im Grunde das ist, was Nietzsche Gerechtigkeit nennt.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 584 |
Wille ist Befehl (vgl. z.B. XIII, N. 638 ff.).
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 587 |
Wille zur Macht heißt: die Ermächtigung in die Überhöhung
seiner selbst. Diese Übermächtigung in die Erhöhung ist
zugleich der Grundakt der Überhöhung selbst. Deshalb spricht
Nietzsche ständig davon, daß Macht in sich »Machtsteigerung«
sei; das Machten der Macht ist Ermächtigung zu »mehr«
Macht.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 588 |
Es gilt zu sehen, »daß der Wille zur Macht es ist,
der auch die unorganische Welt führt, oder vielmehr, daß es
keine unorganische Welt gibt« (XIII, N. 204, 1885).
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 589 |
Wenn die Gerechtigkeit der »höchste Repräsentant
des Lebens selber« ist, wenn sich im menschlichen Leben der Wille
zur Macht eigentlich offenbart, wird dann nicht die Ausweitung der Gerechtigkeit
zur Grundmacht des Seienden überhaupt und die durchgängige Deutung
des Seienden im Ganzen als Wille zur Macht zu einer Vermenschlichung alles
Seienden? Wird die Welt nicht nach dem Bilde des Menschen gedacht? Ist
solches Denken nicht reine Anthopomorphie? Allerdings - es ist die Anthropomorphie
des »großen Stils«, der einen Sinn hat für Weniges
und Langes. Wir dürfen auch nicht meinen, diese Vermenschlichung
müßte Nietzsche erst noch nach als Einwand vorgehalten werden.
Nietzsche weiß von dieser Anthropomorphie seiner Metaphysik. Er
weiß von ihr nicht nur als einer Denkweise, in die er beiläufig
geraten ist und aus der er nicht mehr herausfindet. Nietzsche will
diese Vermenschlichung alles Seienden und will nur sie. Dies steht klar
in einer kurzen Auffassung aus dem Jahre 1884:
»Die Welt »vermenschlichen«,
d.h. immer mehr uns in ihr als Herren fühlen -« (»Der
Wille zur Macht«, N. 614). |
Diese Vermenschlichung vollzieht sich freilich nicht nach dem Bilde irgendeines
Alltags- und Normalmenschen, sondern auf Grund einer Auslegung des Menschseins,
das, in die »Gerechtigkeit gegründet, im Grunde seines Wesens
Wille zur Macht ist.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 589-590 |
Anthropomorphie gehört zum Wesen der Erdgeschichte der Metaphysik
und bestimmt mittelbar die Entscheidung des Überganges, sofern dieser
eine »Überwindung« des animal rationale und des subiectum
in einem vollzieht, und zwar als Drehung in einem erst durch sie erreichenden
Drehungs»punkt«. Die Drehung: Seiendes - Sein, der Wendepunkt
der Drehung: die Wahrheit des Seins. Die Drehung ist keine Umkehrung,
sie ist: Eindrehen in den anderen Grund als Ab-grund. Die Grund-losigkeit
der Wahrheit des Seins wird geschichtlich zur Seinsverlassenheit,
die darin besteht, daß die Entbergung des Seins als solche ausbleibt.
Dies ergibt die Seinsvergessenheit, sofern wir das Vergessen nur im Sinne
von einem Ausbleiben des Andenkens verstehen. In diesem bereich ist anfänglich
der Grund für die Ansetzung des Menschen als des bloßen Menschen,
ist der Grund für die Vermenschlichung des Seienden zu suchen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 590 |
Diese rücksichslose und ins Äußerste gestellte
Vermenschlichung der Welt wirft die letzten Illusionen der neuzeitlichen
metaphysischen Grundstellung auf die Seite und macht Ernst mit der Ansetzung
des Menschen als subiectum. Nietzsche würde gewiß und mit Recht
den Vorwurf jedes banalen Subjektivismus zurückweisen, der sich darin
erschöpft, den gerade vorhandenen Menschen, sei es als Einzelnen,
sei es als Gemeinschaft, zum Maßstab und Nutzwerk von allem zu machen.
Nietzsche würde indes mit dem gleichen Recht fürsich in Anspruch
nehmen, den metaphysich notwendigen Subjektivismus dadurch zur Vollendung
gebracht zu haben, daß er den »Leib« zumLeitfaden der
Weltauslegung bestimmte.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 590-591 |
In Nietzsches Gedanken-Gang zum Willen zur Macht vollendet sich
nicht nur die Metaphysik der Neuzeit, sondern die abendländische
Metaphysik im Ganzen. Deren Frage lautet von Anfang an: Was ist das Seiende?
Die Greichen bestimmten das Sein des Seienden asls Beständigkeit
des Anwesens. Diese Bestimmung des Seins bleibt durch die ganze Geschichte
der Metaphysik hinfurch unerschüttert.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 591 |
Was Wille zur Macht bedeutet: die Ermächtigung in die Überhöhung
zum eigenen Wesen. Die Ermächtigung bringt die Überhöhung
- das Werden - zum Stand und in die Beständigkeit. Im Gedanken des
Willens zur Macht soll da sim höchsten und eigentlichsten Sinne Werdende
und Bewegte - das Leben selbst - in seiner Beständigkeit gedacht
werden. Gewiß will Nietzsche das Werden und das Werdende als den
grundcharakter des Seienden im Ganzen; aber er will das Werden gerade
und allem zuvor als das Bleibende - als das eigentlich »Seiende«;
seiend nämlich im Sinne der griechischen Denker. Nietzsche denkt
so entschieden als Metaphysiker, daß er dies auch weiß. Daher
beginnt eine Aufzeichnung, die erst im letzten Jahre, 1888, ihre endgültige
Form erhielt, also:
»Rekapitulation:
Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen das ist
der höchste Wille zur Macht.«
(»Der Wille zur Macht«, N. 614). |
Wir fragen: Warum ist das der höchste Wille zur
Macht? Antwort: Weil der Wille zur Macht in seinem tiefsten Wesen
michts anderes ist als die Beständigung des werdens in die Anwesenheit.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 591-592 |
In dieser Auslegung des Seins kommt im Durchgang durch das Äußerste
der neuzeitlichen metaphysischen Grundstellung das anfängliche Denken
des Seins als fusiV zu seiner Vollendung. Aufgehen
und Erscheinen, Werden und Anwesen sind im Gedanken des Willens zur
Macht in die Einheit des Wesens von »Sein« nach dem anfänglichen
Sinn zurückgedacht, nicht als Nachahmung des griechischen, sondern
als Verwandlung des neuzeitlichen Denkens des Seienden in seine ihm gewiesene
Vollendung. - Das bedeutet: Die anfängliche Auslegung des Seins als
Beständigkeit des Anwesens wird jetzt in die Fraglosigkeit gerettet.
- Die Frage, worin die Wahrheit dieser ersten und letzten metaphysischen
Auslegung des Seins gründe, die Frage, ob innerhalb der Metaphysik
jemals ein solcher Grund zu erfahren sei, liegt jetzt so fern,
daß sie als Frage überhaupt nicht gefragt werden kann, denn
jetzt scheint das Wesen des Seins so weit und wesentlich gefaßt,
daß es auch dem Werdenden, dem »Leben«, als desen
Begriff gewachsen bleibt. - Weil hier, in der Vollendung der abendländischen
Metaphysik durch Nietzsche, die alles tragende Frage nach der Wahrheit,
in deren Wesen das metaphysisch vielfach ausgelegte Sein selbst west,
nicht nur wie bsiher ungefragt bleibt, sondern in ihrer Fragwürdigkeit
gänzlich verschüttet ist, wird diese Vollendung der Metaphysik
zu einem Ende. Dieses Ende aber ist die Not des anderen Anfangs. An uns
und den Künftigen liegt es, ob wir seine Notwendigkeit erfahren.
Solche Erfahrung verlangt als nächstes, das Ende als Vollendung zu
begreifen.
Martin
Heidegger, Nietzsche I, 1936-1939, S. 592-593 |
Das Gespräch ist jedoch nicht nur eine Weise, wie Sprache
sich vollzieht, sondern als Gespräch nur ist Sprache wesentlich
Martin Heidegger,
Erläuterungen zu Hölderlins Dichtungen, 1936-1968, in:
Werke (GA), Band 4, S. 38 |
Nur wo Sprache ist, da ist Welt ....
Martin Heidegger,
Erläuterungen zu Hölderlins Dichtungen, 1936-1968, in:
Werke (GA), Band 4, S. 371 |
Gestand er (ein gewisser Dr. Hanke aus Berlin; HB) mir, er könne
mir nicht länger verheimlichen, daß er im Auftrag von Dr. Scheel
arbeite, der damals des SD Hautabschnitt Südwest leitete.
Martin
Heidegger, 1937, in: Ders., Tatsachen und Gedanken,
S. 41 |
Zu den wesentlichen Erscheinungen der
Neuzeit gehört ihre Wissenschaft. Eine dem range nach gleichwertige
Erscheinung ist die Maschinentechnik. Man darf sie jedoch nicht als bloße
Anwendung der neuzeitlichen mathematischen Naturwisenschaft auf die Praxis
mißdeuten. Die Maschinentechnik ist selbst eine eigenständige
Verwandlung der Praxis derart, daß diese erst die Verwendung der
matehmatischen Naturwissenschaft fordert. Die Maschinentechnik bleibt
der bis jetzt sichtbarste Ausläufer des Wesens der neuzeitlichen
Technik, das mit dem Wesen der neuzeitlichen Metaphysik identisch ist.
Martin
Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (ursprünglicher Titel: Die Begründung des neuzeitlichen
Weltbildes durch die Metaphysik, Vortrag, 9. Juni 1938), 1938, in: Ders., Holzwege,
S. 75 |
Eine dritte gleichwesentliche Erscheinung der Neuzeit liegt in
dem Vorgang, daß die Kunst in den Gesichtskreis der Ästhetik
rückt. Das bedeutet: Das Kunstwerk wird zum Gegenstand des Erlebens,
und demzufolge gilt die Kunst als Ausdruck des Lebens des Menschen.
Martin
Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (ursprünglicher Titel: Die Begründung des neuzeitlichen
Weltbildes durch die Metaphysik, Vortrag, 9. Juni 1938), 1938, in: Ders., Holzwege, S. 75 |
Eine vierte neuzeitliche Erscheinung bekundet sich darin, daß
das menschliche Tun als Kultur aufgefaßt und vollzogen wird. Kultur
ist dann die Verwirklichung der obersten Werte durch die Pflege der höchsten
Güter des Menschen. Im Wesen der Kultur liegt es, als solche Pflege
ihrerseits sich in die Pflege zu nehmen und so zur Kulturpolitik zu werden.
Martin
Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (ursprünglicher Titel: Die Begründung des neuzeitlichen
Weltbildes durch die Metaphysik, Vortrag, 9. Juni 1938), 1938, in: Ders., Holzwege, S. 75-76 |
Eine fünfte Erscheinung der Neuzeit ist die Entgötterung.
Dieser Ausdruck meint nicht die bloße Beseitigung der Götter,
den groben Atheismus. Entgötterung ist der doppelseitige Vorgang,
daß einmal das Weltbild sich verchristlicht, insofern der Weltgrund
als das Unendeliche, das Unbedingte, das Absolute angesetzt wird, und
daß zum anderen das Christentum seine Christlichkeit zu einer Weltanschauung
(der christlichen Weltanschauung) umdeutet und sich so neuzeitgemäß
macht. Die Entgötterung ist der Zustand der Entscheidungslosigkeit
über den Gott und die Götter. An seiner Heraufführung gat
ds Christentum den größten Anteil. Aber die Entgötterung
schließt die Religiosität so wenig aus, daß vielmehr
erst durch sie der Bezug zu den Göttern sich in das religiöse
Erleben abwandelt. Ist es dahin gekommen, dann sind die Götter entflohen.
Die entstandene Lehre wird durch die historische und psychologische Erforschung
des Mythos ersetzt.
Martin
Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (ursprünglicher Titel: Die Begründung des neuzeitlichen
Weltbildes durch die Metaphysik, Vortrag, 9. Juni 1938), 1938, in: Ders., Holzwege,
S. 76 |
Wenn aber der Mensch zu dem ersten und eigentlichen Subjectum wird, dann heißt
das: Der Mensch wird zu jenem Seienden,, auf das sich alles Seiende in der Art
seines Seins und seiner Wahrheit gründet. Der Mensch
wird zur Bezugsmitte des Seienden als solchen. Das ist aber nur möglich, wenn die Auffassung des Seienden im Ganzen
sich wandelt. Worin zeigt sich diese Wandlung? Was sit ihr gemäß das Wesen der Neuzeit?
Martin
Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (ursprünglicher Titel: Die Begründung des neuzeitlichen
Weltbildes durch die Metaphysik, Vortrag, 9. Juni 1938), 1938, in: Ders., Holzwege, S. 88 |
Das Seiende ist das Aufgehende und Sichöffnende,
was als das Anwesende über den Menschen als den Anwesenden kommt,
d.h. über den, der sich selber dem Anwesenden öffnet, indem
er vernimmt. Das Seiende wird nicht seiend dadurch, daß erst der
Mensch es anschaut im Sinne gar des Vorstellens von der Art der subjektiven Perseption. Vielmehr ist der
Mensch der vom Seienden Angeschaute, von dem Sichöffnenden auf das
Anwesen bei ihm Versammelte. Vom Seienden angeschaut, in dessen Offenes
einbezogen und einbehalten und so von ihm getragen, in seinen Gegensätzen
umgetrieben und von seinem Zwiespalt gezeichnet sein: das ist das Wesen
des Menschen in der großen griechischen Zeit.
Martin
Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (ursprünglicher Titel: Die Begründung des neuzeitlichen
Weltbildes durch die Metaphysik, Vortrag, 9. Juni 1938), 1938, in: Ders., Holzwege, S. 90-91 |
Nur weil und isofern der Mensch überhaupt und wesentlich zum Subjekt geworden ist,
muß es in der Folge für ihn zu der ausdrücklichen Frage kommen,
ob der Mensch als das auf seine Beliebigkeit
beschränkte und in seine Willkür losgelassene Ich oder als Wir
der Gesellschaft, ob der Mensch als Einzelner oder als Gemeinschaft, ob
der Mensch als Persönlichkeit in der Gemeinschaft oder als bloßes
Gruppenglied der Körperschaft, ob er als Staat und Nation und als
Volk oder als die allgemeine Menschheit des neuzeitlichen Menschen das
Subjekt sein will und muß, das er als neuzeitliches Wesen schon
ist. Nur wo der Mensch wesenhaft schon Subjekt ist, besteht die Möglichkeit
des Ausgleitens in das Unwesen des Subjektivismus im Sinne des Individualismus.
Aber auch nur da, wo der Mensch Subjekt bleibt, hat der ausdrückliche Kampf
gegen dei Individualismus und für die Gemeinschaft als das Zielfeld alles
Leistens und Nutzens einen Sinn.
Martin
Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (ursprünglicher Titel: Die Begründung des neuzeitlichen
Weltbildes durch die Metaphysik, Vortrag, 9. Juni 1938), 1938, in: Ders., Holzwege, S. 92 |
Für
diesen Kampf der Weltanschauungen und gemäß dem Sinne dieses Kampfes setzt der Mensch die uneingeschränkte Gewalt der
Berechnung, der Planung und der Züchtung aller Dinge ins Spiel.
Martin
Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (ursprünglicher Titel: Die Begründung des neuzeitlichen
Weltbildes durch die Metaphysik, Vortrag, 9. Juni 1938), 1938, in: Ders., Holzwege, S. 94 |
Erst wo das Seiende zum Gegenstand
des Vor-stellens geworden ist, geht das Seiende in gewisser Weise des Seins
verlustig.
Martin
Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (ursprünglicher Titel: Die Begründung des neuzeitlichen
Weltbildes durch die Metaphysik, Vortrag, 9. Juni 1938), 1938, in: Ders., Holzwege, S. 101 |
Das Vorstellen ist nicht mehr das Sich-entbergen für ..., sondern das
Eingreifen und Begreifen von .... Nicht das Anwesende waltet, sondern der Angriffherrscht. Das Vorstellen ist
jetzt gemäß der neuen Freiheit ein von sich aus Vorgehen in den erst
zu sichernden Bezirk des Gesicherten. Das Seiende ist nicht mehr das Anwesende,
sondern das im Vorstellen erst entgegen Gestellte, Gegen-ständige. Vor-stellen
ist vor-gehende, meisternde Ver-gegen-ständlichung. Das Vorstellen treibt
so alles in die Einheit des so Gegenständigen zusammen. Das Vorstell ist
coagitatio.
Martin
Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (ursprünglicher Titel: Die Begründung des neuzeitlichen
Weltbildes durch die Metaphysik, Vortrag, 9. Juni 1938), 1938, in: Ders., Holzwege, S. 108 |
Im planetarischen Imperialismus des technisch organisierten Menschen erreicht
der Subjektivismus des Menschen seine höchste Spitze, von der er
sich in die Ebene der organisierten Gleichförmigkeit niederlassen
und dort sich einrichten wird. Diese Gleichförmigkeit wird das sicherste
Instrument der vollständigen, nämlich technischen Herrschaft
über die Erde. Die neuzeitliche Freiheit der Subjektivität geht vollständig
in der ihr gemäßen Objektivität auf. Der Mensch kann dieses Geschick
seines neuzeitlichen Wesens nicht von sich aus verlassen oder durch einen Machtspruch
abbrechen. Aber der Mensch kann vordenkend bedenken, daß das Subjektsein des Menschentums weder die einzige Möglichkeit
des anfangenden Wesens des geschichtlichen Menschen je gewesen, noch je
sein wird.
Martin
Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (ursprünglicher Titel: Die Begründung des neuzeitlichen
Weltbildes durch die Metaphysik, Vortrag, 9. Juni 1938), 1938, in: Ders., Holzwege, S. 111 |
Erst Jetzt vollzieht sich die Einschmelzung des sich vollendenden neuzeitlichen Wesens und das
Selbstverständliche. Erst wenn dieses weltanschauliche gesichert ist, wächst der mögliche Nöährboden
für eine ursprüngliche Fragwürdigkeit des Seins, die den Spielraum der Entscheidung darüber öffnet, ob das Sein
noch einmal eines Gottes fähig wird, ob das Wesen der Wahrheit des Seins das Wesen des Menschen anfänglicher in den Anspruch nimmt. Dort, wo die Vollendeung der
Neuzeit die Rücksichtslosigkeit der ihr eigenen Größe erlangt, wird allein die zukünftige Geschichte vorbereitet.
Martin
Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (ursprünglicher Titel: Die Begründung des neuzeitlichen
Weltbildes durch die Metaphysik, Vortrag, 9. Juni 1938), 1938, in: Ders., Holzwege, S. 112 |
Der Amerikanismus ist etwas Europäisches. Er ist die noch unverstandene Abart des noch losgebundenen und noch gar nicht
aus dem vollen und gesammelten metaphysischen Wesen der Neuzeit entspringenden Riesenhaften. Die amerikanische Interpretation des Amerikanismus
durch den Pragmatismus bleibt noch außerhalb des metaphysischen Bereiches.
Martin
Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (ursprünglicher Titel: Die Begründung des neuzeitlichen
Weltbildes durch die Metaphysik, Vortrag, 9. Juni 1938), 1938, in: Ders., Holzwege, S. 112 |
Räumen
besagt leer machen, aufgeben, verlassen.
Martin Heidegger,
Besinnung, 1938/39, in: Werke (GA), Band 66, S. 102 |
Historismus ist die völlige Herrschaft der Historie
als Verrechnung des Vergangenen auf in Gegenwärtiges mit dem Anspruch,
dadurch das Wesen des Menschen als eines historischen - nicht geschichtlichen
- Wesens endgültig festzumachen.
Martin Heidegger,
Besinnung, 1938/39, in: Werke (GA), Band 66, S. 169 |
Weil die Historie als »Wissenschaft« aus einer bestimmten
Form der abendländischen Geschichte - ihrem neuzeitlichen Wesen - entspringt,
deshalb ist die Historie nicht etwa nur ein gleichgültiger Überbau
einer Kenntnisnahme von der Geschichte über der Geschichte, sondern einer
der wesentlichen Wege, auf denen die Geschichte »gemacht« wird.
Diese geschichtliche Rolle der Historie ist noch nicht erkannt, geschweige denn
in ihrer Tragweite für den entscheidenden Abschnitt der Neuzeit ermessen.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Gesamtausgabe, Band 95, S. 1 |
Die Geschichte (des Seienden) als das Abfangen der Stöße
des Sens. Ein solche Abfangen ist die »Kultur«, die nicht zufällig
in die Riesenform der Erlebnisveranstaltung ausartet. »Die Welt erlebt
Max Schmeling - wenn das nur eine gleichgültige Zeitungsphrase wäre,
wenn die Zeitungsphrase nicht die wirklichste Wirklichkeit wäre und keineswegs
nur eine flüchtige Wiedergabe. Und wenn nur nicht jene,
die darüber die Entrüsteten spielen, in dem gleichen Spiel mitspielten.
Denn die »Kultur« als Erlebnisveranstaltung
ist der Grund dafür, daß jenes, was sich scheinbar bekämpft,
ganz desselben Wesens ist: die Kulturpolitik, die Kulturbesorgnis,
der christliche Kulturausgleish. Das dritte - ist
das Gefährlichste. Hier wird alles vereinigt und verarbeitet und doch das
Schöpferische - das Rechtschaffende eines Wagnisses der Ausetzung in den
Wurfbereich der Stöße - von Grund aus verneint, diese Verneinung
aber am besten versteckt und dieses Verstecken als maßloses Ausgleichen
am umfassendsten gerechtfertigt. Das Verhängnis des Abendlandes ist das,
was sich den verfänglichen Anschein gibt, es vor dem »Untergang«
zu retten: das Kulturchristentum - dieses »rettet« allerdings
vor dem »Untergang«, indem es ihn unmöglich macht dadurch,
daß es ihm die Voraussetzung versagt: die Größe geschichtlichen
Seyns aus dem Wagnis der Wahrheit des Seyns.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 1-2 |
Das apologetische Geschäft des Kulturchristentums, seit langem
(seit Irenäus) eingeübt im Abendland, ist die Vorform der neuzeitlichen
Historie. Diese darf sich niemals mit Thukydides zusammenbringen, wohl aber
mit Augustinus und der civitas dei, aus der dann schließlich das allerchristlichste
neuzeitliche Reich der höchsten Kulturwerte geworden ist, die noch
einmal bestätigt, was sie nur »umwerten« will. Deshalb - weil
Historie aus ihm herkommt - kann sich das Kulturchristentum auch mit einer besonderen
Virtuosität der Historie bedienen; diese christliche Art, Geschichte »umzuschreiben«,
macht innerhalb der Neuzeit, je neuzeitlicher sie wird, notwendig Schule.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 4-5 |
Die wenigen großen Wandlungen der Geschichte bestehen nur in der
jeweils kurzen Lichtung der Einfachheit des Seyns, das kraft seiner Einigkeit
immer wieder die Überwindung des angestauten Seienden verlangt und für
dieses Verlangen nur selten ein Gehör findet bei den Menschen.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 27 |
In diesem Ausbleiben der Seinsstöße besteht die Möglichkeit
zum Aufdringlichen und Lauten und Üblichen des für »seiend«
gehaltenen Seienden - d.h. die gewöhnlich so gemeinte »Geschichte«.
Wenn nun ein Volk, wie die Deutschen, im Bezug auf die Rettung der Wahrheit
des Seyns einen ungewöhnlichen Auftrag hat, sich aufmacht, das Gewöhnlichste
zu seinem »Lebens«gesetz zu machen und seiner Bestimmung völlig
abzusagen oder, deutlicher, auf die Erkämpfung derselben zu verzichten,
dann ist dieser Vorgang selbst wieder so ungewöhnlich, daß
die Besinnung hier anhalten und sich fragen muß, ob hier nicht ein Notwendiges
geschehe, weil diejenigen, die ein Wesentliches angetragen bekommen, mit dieser
Auszeichnung auch das Ungewöhnliche des Sturzes und der Irre übernehmen
müssen. Dann ist das Eine nicht mehr zu umgehen, daß der Mensch wach
werde für das noch verborgene Wesen der Geschichte, das jetzt im Zusammenstoß
mit der Übermacht der Historie im weitesten Sinne zu erliegen scheint.
Die Geschichte wird nie dadurch gerettet, daß man für das Weitergehen
und die »Zukunft« sorgt, d.h. für das Weiter-so-bestehen-bleiben
des Bisherigen, wozu gerade der Fortschritt gehört - die Geschichte wird
nur gerettet, wenn die »Rettung« in sich ist die schaffende
Rechtfertigung des Nochungegründeten - wenn das Wesen der Geschichte
und das Wissen von ihm die Wahrheit des Seyns mitgestaltet.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 27-28 |
Die »Existenzphilosophie« ist neuzeitliche Philosophie,
die das »Subjektum« »ethisch« nicht als bloße
»Persönlichkeit« faßt, sondern alle Wissenschaft und
alle Metaphysik zugleich, wenn auch in verschiedener Weise, in den Dienst des
»Appellierens« an das »Subjekt« stellt - die geforderte
»Kommunikation« bestätigt nur diesen »Subjektivismus«.
Ohne es wohl zu wissen, ist in der »existenz-philosophischen« Auffassung
der »Wissenschaft« und der »Metaphysik« der vor-stellende
Bezug zum Seienden in ein Äußerstes getrieben und alles in die Schwebe
gebracht, die sich nur noch in das »Umgreifende« retten kann. Daß
die im Zusammenhang der Seinsfrage vollzogene »existenziale Analytik«
des Da-seins vom Da-sein her die »Existenz« bestimmt und
niemals den Menschen als Subjekt durch die Existenz, sollte jedem deutlich werden,
der ein Nachfragen der Seinsfrage versucht hat und sich nicht an das Wort »Existenz«
klammert. Der ekstatische Charakter, der allen »Existenzialien«
zugewiesen ist, macht jedes Zusammenbringen dieser nur der Seinsfrage gehörigen
»Existenzialanalytik« mit der wesentlich subjektivistischen »Existenzerhellung«
von Grund aus unmöglich. Aber wie oft wird heute nicht das Unmögliche
möglich! Die »Existenzphilosophie«, die in einer echten Gestalt
allein Jaspers ausgeführt hat, ist nach mehrfachen Hinsichten unmittelbar
in ihrer Neuzeitlichkeit zu erkennen.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 35-36 |
Schon die Gliederung ihrer »Systematik«, die im Grunde dei
Kantische wird, mit der Mittelstellung der Existenz bzw. »Existenzerhellung«,
kennzeichnet die Grundstellung. Da in keiner neuzeitlichen philosophischen Grundstellung
die Geschichte zum Wesen des Denkens werden kann, muß die Historie die
Systematik erfüllen und die größte Mannigfaltigkeit der historisch-psychologischen
Verarbeitung der bisherigen Überlieferung des Denkens herbeiführen.
Das Umfängliche all dieser »Philosophien« ist keiner äußeren
Ansicht auf Vollständigkeit erwachsen, sondern der tiefverborgenen geschichtlichen
Entscheidungslosigkeit in den wesentlichen Fragen und ihrer Geschichte. Die
Art solchen Denkens verlangt einen Ausgleich mit dem Bisherigen, und das bedeutet
die Auflösung seiner selbst, gesetzt, daß überhaupt ein eigener
kern eine bildende Kraft entwickelte.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 36 |
Erst wenn wir uns aufmachen an dieser Herrschaft des Subjektums zu ersehen,
wie dies als Mitte des Seienden gleichsam völlig vor das Seyn und dessen
Wahrheit bringt, vermögen wir die Not zu wissen, in die erst der Mensch
geworfen werden muß, um in sein Wesen - der Wächterschaft der Wahrheit
des Seyns - zu finden.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 41 |
Die Notwendigkeit der Philosophie - nur jenes denkerische Fragen
ist wesensgerecht Philosophie, das jedesmal aus sich neu die Philosophie in
einer neuen - unüblichen - Notwendigkeit nötig macht und sich daher
nie auf das Vorhandensein der Philosophie und ihrer »Geschichte«
beruft, sondern die Philosophie ursprünglich ins Seiende ruft. Dies gilt
zuerst vom anderen Anfang; doch ist er nicht, was er ist, kraft des Widerspiels
zum ersten Anfang? Wird nicht hier, wenn je irgendwo die Notwendigkeit der Philosophie
geschichtlich erwiesen? Geschichtlich ja - aber nicht historisch; geschichtlich
aber heißt: das Wesen der Geschichte wird selbst durch das anfängliche
Fragen im anderen Anfang neu bestimmt (aus dem Ereignis). Zwar folgt
- historisch gerechnet - der andere Anfang auf den ersten - aber geschichtlich
wird erst durch den anderen Anfang der »erste« zum
ersten. Was jedoch hier wie auseinandergerissen erscheint, ist in sich dasselbe:
die Seinsfrage in der erstanfänflichen Gestalt und in der Gestalt des anderen
Anfangs.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 45 |
Die Frage - nach der Wahrheit des Seyns - setzt hinweg über
jede Ansetzung eines Seienden in seiner Auszeichnung - aber das Da-sein?
ist eben kein Seiendes, und der Mensch wird erst auf seinem Grunde seiend -
das Da-sein das Ungestützte und Ungeschützte - das Er-springen
des Zwischen - hier ist die Not des Seyns als Ereignis nötigend - im Da-sein
eröffnet sich erstmals das Wesen des Seyns -, sonst würde nicht einmal
die Geschichte des ersten Anfangs ins Offene kommen; nicht einmal als Beständigkeit
und Anwesenheit, und diese als »Zeit« möchte die Seiendheit
sich erschließen, wäre nicht im Da-sein eine erste Lichtung
des »Da« gegründet.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 45-46 |
Geschichte - wenn eine lichtende Bahn des Seyns durch das Seiende
schießt und in ihrem Verlöschen unsichtbar stehen bleibt, immer dem
Seienden eine Irre zu bieten und eine Ausbreitung für das Heimischwerden
des Menschen, der auf der Flucht vor seinem Wesen das Seiende vor das Seyn stellt
und darin ein zeitweises Genügen errafft. Die Historie und alles Gedächtnis
bewegen sich in erloschenen Bahnen des Seyns, ohne sogar sie je als solche zu
erkennen. Wenn einmal der Mensch eine noch erglühende Bahn des Seyns bewachen
und dem Seienden durch sie hindurchhelfen müßte - welcher Zusammenstoß
müßte da sein mit welchen Göttern? Geschichte - das Ausbleiben
des Seyns? (Vgl. Überlegungen, VIII, 36 [Band 95: S. 115]).
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 46 |
Seitdem die fusiV entmachtet wurde, ist alle
Größe der Kunst verwirrt, und sie wird um so wirrer, je geschickter
und häufiger das Können sich ausbreitet und das historische Kennen
handlich gemacht wird.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 47 |
Frage: inwieweit ist die Kunsthistorie noch an der Zerstörung der
Geschichte der Kunst mitbeteilgt? Oder kommt die Kunsthistorie erst dann auf,
wenn schon die innere Zerstörung der Geschichte der Kunst begonnen hat?
Im 19. Jahrhundert scheinen diese »Bewegungen« deutlicher zu sein
- wie steht es aber vorher?
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 47 |
Seit wann gibt es Historie? Seit den Kirchenvätern - d.h.
seit dem Ende des Griechentums. Thukydides war kein »Historiker«.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 47 |
Revolutionen (vgl. S. 69 [Band 95: S. 48]) können nie ein geschichtliches
Zeitalter überwinden, denn sie wollen ja innerhalb des Zeitalters das bisher
Unterdrückte, das Nochverkannte zur Geltung bringen, sie wollen das das
Zeitalter gerade erst durch seine Vollendung und in dieser festhalten. Revolutionen
verbreiten den Schein eines neuen Anfangs der Geschichte, und doch ist dies
nur die Maske, hinter der sich die Festsetzung im Historischen breitmacht -
das Vorbringen des Bisherigen in eine »neuen« Übermalung und
geänderten Zwecksetzung und Nutzung und Verteilung: die »Sinngebung«
ist eine andere - aber das andere will nur die Rettung des Bisherigen und kann
daher auch nur eine Folge von diesem bleiben. Revolutionen verketten in das
Geschichtslose und geben damit jeweils der Historie einen Auftrieb. Je vollständiger
eine Revoltion ausgreift, um so eindeutiger wird dieser Vorgang.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 53-54 |
Die Notwendigkeit der Philosophie entspringt nur aus dem Äußersten
der Möglichkeiten der Geschichte, sofern diese in die Wahrheit des Seyns
gewurzelt ist.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 55 |
Also das Notwendigste und Einzigste gründet in einer Möglichkeit?
Ja - und hier läßt auch alle »Logik«, die ja noch die
das Wesen des Denkens erfragt, geschweige denn begriffen hat, im Stich.
Unter dieser geschichtlichen Notwendigkeit des eigentlichen Er-denkens des Seyns
steht auch, wenngleich nur kaum von ihrer bestimmenden Stimmung gestreift, jede
geschichtliche Vorbereitung jenes Denkens. Sogar ihr ist verwehrt, durch einen
historischen Anhalt sich zu rechtfertigen. Ihr geschichtlicher kann nur
die Geschichte des Denkens - nicht als das Bisherige, sondern als Geschichte
des ersten Anfangs - sein - dieser Anfang ist ja die scheinbar zurückliegende,
aber als gewesene noch künftig wesende erste Ent-scheidung des Seins zum
Seienden in der Gestalt des Aufgangs (fusiV) des
Seyns als des Seienden selbst. Diese Entscheidung hebt die Möglichkeit,
daß der Mensch als Gründer der Wahrheit des Seyns gebraucht werde,
nciht auf, sondern eröffnet sie; aber in der verhüllten Ernennung
des Menschen zum Vernehmer des Seyns (aus dem dann das »vernünftige«
Lebewesen wird, welche Vernunft schließlich das Wesen der Subjektivität
des Subjektums beansprucht) liegt schon jenes Möglichste der höchsten
Möglichkeit beschlossen, daß sie ihrer selbst verlustig geht und
so das Mögliche ihres Wesens ins Äußerste hinaushebt und das
Unberechenbare ihres Einschlags jeder Bedingung entreißt: daß nun
doch einstmals der Mensch gebraucht und dem zuvor das Sein als Er-eignis die
Not des Gottes wird.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 55-56 |
Ob freilich unsere Geschichte schon durch einen Wink dieser Möglichkeit
getroffen ist? Noch nicht getroffen zwar, aber wenn hier eine Vermutung sein
darf, vielleicht doch ausersehen. Denn wie anders sollen wir - auf die Wahrheit
des Seyns vordenkend - es deuten, daß Hölderlin und nur Er
diesen Wink des Seyns den Deutschen gestiftet hat und deshalb sein Sagen noch
ohne jene geblieben ist, die es auslegen, indem sie wissen, daß
sie sich in jene äußerste Möglichkeit der Seynsgeschichte hinauslegen
müssen, um im Denken des Seyns und des Wesens seiner Geschichte
das Unscheinbarste zu wagen, mit der kühnsten Kühle die Herrschaft
der Metaphysik zu vernichten durch die Rettung des verborgenen Wesens
ihrer Frage: was ist das Seiende? in die Frage nach der Wahrheit des Seyns?
Vom abendländischen neuzeitlichen Menschen aus gesehen ist aber die Bereitschaft
für diese Möglichkeit des Seins-stoßes die schwerste Last, die
geschichtlich zu übernehmen und ins Gewicht des Daseins zu verwandeln ist.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 56 |
Übernehmen aber verlangt das noch Vorläufigere: diese Möglichkeit
vor sich her werfen, den Übergang aus der Neuzeit gehen.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 56 |
Schelling - geschichtlich aus der Seinsgeschichte begriffen (d.h.
hier in der Überwindung der Metaphysik) steht er zwischen Leibniz und Nietzsche.
Seine Abkehr in das scheinaristotelisch-Christliche seiner Positiven/Negativen
Philosophie ist in gleichem Maße unwesentlich wie seine Herkunft aus der
Romantik. Beides bleibt historisch wichtig und vielleicht so nachhaltig fürs
Nächste, daß er in dieser Hinsicht bei der Aufrechnung des deutschen
Idealismus in das neuzeitliche Denken noch zu Einfluß kommen könnte.
Dennnoch steht ja für das neuzeitliche Denken eine Aufgabe aus, die ihm
scheinbar widerspricht und wie seine Aufhebung aussehen könnte, aber doch
nur seine letzte Bestätigung ist: daß man das Lebendige - die »Natur«
und ihr Unlebendiges - d. h. die »Erde« zum Gegenstand der Theorie
und der begrifflichen Deutung und Beschreibung macht (im Zusammenhang einer
Erneuerung des Goetheschen »Weltbildes«). Es könnte dann ein
Wählen beginnen in den »Elementen«, Paracelsus und Boehme und
alle die Kehrseitigen des neuzeitlichen Denkens könnten noch einmal wiederkehren
und jetzt, wie ehemals Kant, Descartes, Hegel und Spinoza, wissenschaftlich
verarbeitet werden in die nunmehr irrationale Philosophiegelehrsamkeit.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 59 |
Diese Versumpfung der »Philosophie« muß erst
noch überstanden werden; sie am wesentlichen Denken einfach vorbeigehen
zu lassen, ist für die Fragenden innere Entschiedenheit und keine Aufgabe.
Aber im öffentlichen Kulturbetrieb wird diese letzte Versumpfung der »Philosophie«
sich besonders hartnäckig breitmachen. Und dies aus zwei Gründen:
einmal erscheint die gelehrt-begriffliche Systematik und Beschreibung
des nicht mathematischen Faßlichen als besonders »lebensnah«
und »tief«. Diese Erforschung des Gegen-Rationalen, dessen, was
nicht berechnet werden kann, sieht so aus, als würde da mit dem Unberechenbaren
ernstgemacht, während ja nur das Nichtberechenbare - jenes, wobei die Berechnung
aufhört - zum Gegenstand einer nur entsprechend abgewandelten Rechnung
gemacht wird. Das ganze Unternehmen ist reaktiv und damit abhängig vom
neuzeitlichen Denken, d. h. es ist nur die notwendige Vollendung und Übertreibung
desselben mit dem Anspruch der »Tiefe« und gar der Überwindung.
Zum anderen bringt sich diese gelehrte Systematik des Systemlosen in die empfehlende
Nähe jener Weltanschauungen, die auf Grund der äußersten Berechnung
den »intellectus« herabsetzen und dem »Leben«
den Vorrang zuweisen. (Richard Wagner, Klages als Mischung eines halbseitig
verstandenen Nietzsche mit Bachofen).
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 60 |
Dazu dann die arischen Abwandlungen der Grundlehren der Psychoanalyse
und alles, was sich eine Geltung fristet aus dem Gegen-satz zum Begriff, zum
Erklärbaren. Mithilfe dieser Errungenschaften wird die Philosophiegelehrsamkeit
sich noch einmal den Anschein von »lebendigem« und »naturverbundenem«
Denken und somit, wie man meint, den Anschein einer »wirklichen«
Philosophie verschaffen. Das ist freilich an diesem Vorgang das mehr Beiläufige
und Unwichtige. Das Notwendige liegt eben darin, daß der Grenzbereich
des berechnenden Denkens und der neuzeitlichen Metaphysik überhaupt jetzt
auch in den Bezirk der Gelehrsamkeit und der Systeme der Kosmologie einbezogen
wird. Diese Versumpfung (der Ausdruck meint nicht ein Verkommen und eine Verfehlung
- die liegt bereits im Wesen der Philosophiegelehrsamkeit) befördert
in einem neuen, eigenen Unternehmen die Möglichkeiten des »Erlebens«
und erweist sich damit als echte und zeitgemäße Einrichtung des längst
seiner Fragen verlustig gegangenen »Denkens«. Wenn erst das »Leben«
und die »Erde« und die »Natur« zum Gegenstand des scheinbar
nichtberechnenden, aber dennoch und erst recht nur rechnenden Denkens geworden
sind, dann ist der Vorstellungsbezirk des Subjektums vollständig durchmessen
und auch für die Wissenschaft und »Philosophie« begrifflich
eingerichtet. Dann ist der letzte Anstoß zu einer Frage beseitigt, denn
man beherrscht jetzt auch das Unbeherrschbare und meint, man habe sich ihm zugleich
anheimgegeben. Zu vermuten steht, daß die abendländische Metaphysik
historisch nach dieser ihrer Kehrseite abgesucht und nutzbar gemacht wird, umso
mehr als diese Forschungen je Gelegenheit geben, »Seiten« zu entdecken,
die die Rationalisten vernachlässigt haben. Aber - ihr Anwälte der
Sümpfe und der Dämpfe -, wer bürgt dafür, daß nicht
eben jene Rationalisten und Meister des Gedankens näher waren dem,
was ihr da unmittelbar »erlebt« und in »Erlebnisbegriffen«
zum allgemeinen »Besten« gebt?
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 60-61 |
Aber Leibniz und Schelling und Nietzsche - und jeder wesentliche Denker
der abendländischen Metaphysik - dürfen nicht in diesen Mißbrauch
genommen werden. Sie werden es nicht, wenn unser Denken seinsgeschichtlich ist
und aus der Seynsfrage einen Gang nimmt, der nie mehr auf die Unterscheidungen
Rationalismus-Irrationalismus, Optimismus-Pessimismus treffen kann. Das Fragen
aus dem Seyn ist eines anderen Ursprungs als jedes Fragen nach dem Seienden,
wohin auch das para-rationale »Denken« gehört, dessen durchschlagender
»Erfolg« schon gesichert ist.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 61 |
Auch hier werden die Verleger ihre Dienstleute finden. Für die
Wissenden und Rettenden aber gilt angesichts der wachsenden, weil notwendigen
Versumpfung zunächst das Eine: die Geschichte der Metaphysik in ihren seinsgeschichtlichen
Grundbedingungen sichtbar zu halten für die Notwendigkeiten des Übergangs.
Und das Andere: gegenüber der Scheintiefe des Sumpfes die Not der Klarheit
und des Lichts nötig zu machen; denn anders bleibt das Seyn aus - da es
den Gräuel verachten muß, der aus der Wirrnis einen Grundsatz und
ein Mittel des »Erlebens« macht.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 61 |
Die Romantik ist eine wesentliche Stufe der Neuzeit und nur in dieser
möglich. Ihre Bedeutung für die Gestalt des 19. Jahrhunderts wird
erst erkennbar, wenn sie so wesentlich erkannt ist, wie das in dem großartigen
- aber selbst romantischen - Buch des echten und weitblickenden Romantikers
Richard Benz (Die deutsche Romantik - Geschichte einer geistigen Bewegung,
1937) geschieht. Erst im Wesen der Herrschaft der Historischen fließen
die »Elemente« der Romantik zusammen; daß dieses Wesen der
Historie sich nicht eigens bekundet, bestätigt nuir diesen Zusammenhang;
die historische Arbeit der Romantiker und ihre Auswirkung auf die der Historie
als Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert ist erst die Folge jener
Herrschaft der »Historie«.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 109-110 |
Wenn einer bloß wirkt und sogar viel wirkt, aber dabei immer nur
das »ist«, was alle schon »sind«, dann fehlt
ihm alles zur Einzigkeit, d. h. zu einer ursprünglichen Zugehörigkeit
zum Seyn. Und wenn die »Kunst« zum Ausdrucksmittel und zur Bestätigung
und Vor-stellung dieses Wirkens geworden ist, hat sie ihre letzte Nutzbarkeit
erreicht, und die Vernutzung ihres Wesens ist am Ziel. - Was aber meint
das Andere der Kunst? Das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit. Wahrheit aber
bedeutet hier die Wahrheit des Seyns und nötig wird, daß das Seyn
selbst, was seines Wesens ist, uns ent-setze aus dem Vorrang des Seienden (und
somit der Metaphysik). Das »Werk« aber ist Wirkung »des«
Seyns (im Sinne des seynsgeschichtlichen Genitivs), nicht Darstellung des Seienden.
Die »Wirkung« des »Seyns« aber kann nicht Ergebnis und
Folge einer Ursache sein, sondern Er-wirkung des »Zwischen« - Versetzung
in den Zeit-Spiel-Raum der Entscheidung zwischen den Göttern und den Menschen
- Anfang der Geschichte.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 137 |
Spengler - in ihm wird Nietzsches Umkehrung des Platonismus zur
bloßen Herrschaft der bloßen »Tatsache« gegenüber
der Ohnmacht der »Wahrheiten«, als welche er »Allgemeinheiten«
des bloßen Meinens nimmt. Die Verherrlichung der »Tatsache«,
die vielleicht die ödeste und zugleich blindeste »Romantik«
darstellt, die für Spengler das Verächtlichste ist, führt zum
letzten Austrag der Anpreisung des Römertums und Cäsarismus - der
halbseitige Nietzsche, nur historischer und entschiedener als jener biologisch-sumpfige
von Klages. Ein fruchtloses Beginnen bliebe es, Spengler auf seine Selbstwidersprüche
abzusuchen. Seine Blindheit gegen das, was seinen Darlegungen (und angeblichen
»Erfahrungen«, die doch auch nur der historischen »Literatur«
entnommen sind) gleichwohl die anstößige Kraft gibt, läßt
sich dadurch nicht beseitigen. Er kann nur als das genommen werden, als was
er nach seiner eigenen »Lehre« genommen werden muß, als eine
Erscheinung seines Zeitalters, das er freilich nur in seiner »Perspektive«
sieht, die er für die »absolute« hält.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 137-138 |
In Spenglers Lehre ist weder der »Pessimismus«, noch der
»Relativismus«, noch der »Zoologismus« (»Menschheit
ist für mich eine zoologische Größe« [in: Ders., Pessimismus?,
1921, S. 14]) das »Gefährliche«; hier gibt es überhaupt
nichts Gefährliches mehr, sondern nur die sehr handfeste Folgerichtigkeit
eines Nachgekommenen, für den die gröbsten Schläge der eigenen
Hand ins eigene Gesicht nichts mehr bedeuten, weil alles nur auf die Wirkung
der »Tatsachen« und ihre Schicksalhaftigkeit ankommt. »Es
gibt im ganzen 19. Jahrhundert nicht eine Frage, welche die Scholastik nicht
schon als eines ihrer Probleme entdeckt, durchdacht und in eine glänzende
Fassung gebracht hätte« (ebd.). Spenglers Begeisterung für die
»Tatsachen« scheint hier auszusetzen, denn sonst müßte
er wissen (aber was ist für einen schreibenden »Tatsachen«menschen
schon das »Wissen«), daß die »Scholastik« nicht
nur überhaupt keine »Probleme« kannte, sondern auch vom 19.
Jahrhundert so weit, so anders entfernt war, daß sie niemals auf dessen
»Probleme« verfallen konnte. Aber solche Sätze, wie der angeführte,
mögen unwissenden »Tatsachen«menschen (Bankdirektoren und Technikern)
einen »Eindruck« machen, sie mögen von apologetisch geschulten
Kaplänen mit einem Schmunzeln verzeichnet werden, sie zeigen doch nur die
Geschichtslosigkeit dieses Urbildes aller heutigen »Historiker«.
Davor steht der Satz: »Es gibt keinen wirklich neuen Gedanken in einer
so späten Zeit.« Welche verblüffende [?] Ehrlichkeit und Bescheidung!
Aber sogleich folgen seitenlange Aufzählungen dessen, was Spengler »Neues
geschaffen«. Aber das Sich-widersprechen - so grobschlächtig es sich
darbietet - bleibt hier ohne Bedeutung; denn dies gehört zu dieser Art
»Philosophie«, die vor den »Tatsachen«, dem Seienden
die Waffen streckt, sofern ihr überhaupt solche zugestanden werden können.
Dieses völlige Versinken in den Platonismus (daß es der umgestülpte
ist, ändert nichts an seinem Wesen), dieses unwissende Ausrufen der Seinsverlassenheit
des Seienden nimmt solcher Denkweise, besser, versagt ihr, jede Gefährlichkeit.
Im Gefolge dieser Harmlosigkeit geht dann jenes Verfahren mit, das sich als
»Gegner« immer nur das Schwache und Beiläufige und Nachträgliche
und Unschöpferische nimmt -; man spottet über gleichgültige »Hochschulphilosophie«
und bleibt ahnungslos gegenüber den allerersten Voraussetzungen, die etwa
eine Auseinandersetzung mit Kant forderte (auch darin ist Spengler eine verschlechterte
Ausgabe eines halbseitigen Nietzsche). Am wenigsten erstaunt aber, daß
das Versinken im Platonismus gegen die »Romantik« poltert und alles,
was »Entwurf« heißt, als Idealismus, d.h. »Vorsichherschlendern«
verspottet. Wie soll auch der Platonismus, zumal wenn er noch auf dem Kopf steht,
sich selbst erkennen, in dem, was er vergißt und nie zu begreifen vermag,
weil ihm schon der »Begriff« nur noch ein »Begriff«
sein kann.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 138-139 |
Hier in dieser Gefahr- und Notlosigkeit eines gedankenlosen Denkens
wird nie erfahrbar werden, daß der Entwurf ursprünglich ist die
Eröffnung der Wahrheit des Seyns, weder ein bloßes »Programm«,
noch eine »Perspektive«, noch eine »über« dem »Leben«
schwebende bloße Vorstellung.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 139 |
Wie kommt es aber, daß Spengler in der Zeitkritik Vieles trifft
und im Verneinen so sicher geht? Auch hier spricht Nietzsche - aber nur wieder
ein Vordergrund Nietzsches, nicht einmal der eigentliche »Nihilismus«
Nietzsches, der von seiner »Metaphysik« und somit vom Platonismus
nicht zu lösen ist. Die Geschichtslosigkeit dieses »Geschichtsphilosophen«
wird vielleicht durch nichts so deutlich belegt wie durch die Meinung, über
Hölderlin etwas gesagt zu haben, wenn er sich darüber lustig macht,
daß - dazu noch in sehr fragwürdiger Weise - der Georgekreis sich
bei Hölderlin ein Bild der Hellenen suchte - statt das Römertum zu
bejahen.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 139-140 |
Allein - alle Bedenken gegen Spengler haben nur dann ein Gewicht, wenn
zugegeben ist, daß in ihm eine echte Kraft seines Zeitalters zu
Wort kam, die durch allen gelehrtenhaften Widerspruch, den sie erfuhr, hindurchgewirkt
hat gerade auf diejenigen, die nachher seinen Pessimismus und die »Untergangsstimmung«
ablehnen und überwunden zu haben glauben. Spengler half, wenn auch sehr
vordergründlich, zum mindesten einen Vordergrund von Nietzsches Denken den
handelnden Menschen zugänglich zu machen. Daß es geschah mit der
Folge einer nun erst recht gesicherten Verachtung der »Philosophie«,
darf nicht verwundern, da gerade Spengler ein »Ausdruck« der heutigen
»Kulturseele« ist in seinem Nichtbegreifen dessen, was sich philosophisch
metaphysisch in Nietzsches Denken ereignete. Doch aus diesem Grunde ist es gerade
verkehrt, zu meinen, mit gelehrten Widerlegungen Spengler »erledigen«
zu können; er ist nicht zu erledigen, solange nicht der Bereich der Besinnung
auf Nietzsches Denken vorverlegt wird, und dann wird die Rede vom »Erledigen«
ohnedies sinnlos. Kann je einer von der Geschichte wissen und gar über
sie verbindlich sprechen wollen, dem der Mensch eine »zoologische Größe«
ist? (Nicht »der Mensch«, sondern »die
Menschheit« war für Spengler eine »zoologische Größe«;
HB.)
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 140 |
Geschichte und der Vorrang der Unwahrheit der historischen Erklärung:
man kann immer mithilfe von sogenannten »Tatsachen« zeigen, daß
»große historische Ereignisse« »Künstler«
und »Denker« beeinflußt und zu »Werken« geführt
haben; man kann nie in der entsprechenden Weise »zeigen«,
daß die Vollzieher jener Ereignisse nur durch Dichter und Denker möglich
wurden. Also: ist deren Nachträglichkeit, wenn nicht gar Überflüssigkeit
erwiesen. Allerdings. Aber für wen? Für jene, die meinen, Geschichte
lasse sich erklären durch »Tatsachen«. Der Gipfel der Verwirrung
aber ist erreicht, wenn die Verehrer der »Tatsachen« meinen, das
Schicksalhafte der Geschichte gegenüber dem »Kausalismus« des
Ableitens aus »Ideen« und »Programmen« begriffen zu
haben. Das eigentlich Schicksalhafte der Geschichte offenbart sich gerade darin,
daß es sich diesem Auf-dem-Bauche-liegen vor den »Tatsachen«
entzieht und ihm versagt, etwas vom Ursprung der »Tatsachen« zu
wissen, der freilich nicht in den »Ideen« zu suchen ist. Und »Schicksal«
- wenn dieser Begriff nur der letzte Ausweg der Historie wäre - der Ausweg
in das Weglose, die Verleugnung jeder Besinnung?
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 140-141 |
Die Neuzeit treibt gemäß der sie auszeichnenden Stellung
des Menschen auf eine Entscheidung, die die ganze bisherige von der Metaphysik
getragene Geschichte des Abendlandes einbezieht. Daher kann keine Begebenheit
und keine Leistung und keine Bewegung des gegenwärtigen Zeitalters um ihrer
selbst und ihrer Ziele willen genommen und gefördert werden - alles muß
in seiner Neuzeitlichkeit übernommen und zugleich zu seiner Übergänglichkeit
und möglichen Kraft der Übergangsvorbereitung stillschweigend entfaltet
werden. Warum? Weil alle abendländischen Ziele erschöpft sind und
alles Weitere nur vermischende Abwandlung des Bisherigen sein kann; dieses aber
ist so, weil die Stellung zum Seienden aus diesem immer nur noch Seiendes (für
das Bewirken und »Erleben«) errechnen kann und niemals eine andere
Quelle aufzuschließen vermag, es sei denn, daß sie (diese Stellung)
von Grund aus erschüttert werde; dieses aber, weil nur das Seyn selbst
dem Seienden die Ursprünglichkeit zu gewähren vermag; das Seyn jedoch
läßt sich niemals wie ein Seiendes auffinden, zumal nicht durch ein
Zeitalter, dem das Seiende längst schon zum Gegenständlichen des Berechnens
und Erlebens geworden ist.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 141-142 |
Das Christentum - das nachgriechische Abendland - hat so gut wie das
Griechentum die Möglichkeit zur Gründung einer ursprünglichen
Wahrheit eingebüßt- Worauf kann denn ein bloßes Anti-christentum
noch rechnen? Als Gegen-bewegung treibt es in die
»Bejahunmg des Lebens« und fesselt sich selbst ausschließlich
an das, was es verneint. So wird gerade ihm jene Möglichkeit des Ursprünglichen
noch entschiedener versagt als allem, was schon »historisch« geworden.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 215 |
Wenn jetzt wieder die langen braunschwarzen Bänder frischgepflügter
Äcker aus dem letzten Grün der Matten emportauchen und dem Herbsthimmel
sich entgegenbreiten, steht irgendwo vielleicht eine Stunde still, in der das
Seyn - vergeblich noch für manches Menschenjahr - am stumpfblinden Eigensinn
des Seienden seine lichtende Macht verleuchten muß.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 217 |
Die große Täuschung Nietzsches (vgl. S. 67 ff. [Band 95: S. 224 ff.]) liegt
darin, daß er meint, die Ersetzung des »Bewußtseins«
und der »Logik« mithilfe der Einsetzung der triebe leisten zu können.
Nietzsche sieht nicht, daß »Triebe« (Strebung usw.) als Bestimmungen
des mensche aus derselben Wurzel stammen wie die Vorstellungen (paqh
- nohmata). Das bedeutet aber: das Wesen des Menschen kann niemals gewandelt
werden, wenn nicht die Wurzel seiner ersten abendländischen Bestimmung
(als animal rationale) zuvor ausgerissen ist. Die Folge von Nietzsches Anthropologien
ist dann auch die dogmatische Berufung auf »das« »Leben«
als »die Wirklichkeit« - schlechthin. So sehr Nietzsche den Horizontcharakter
des »Lebendigen« von früh ansieht und festhält, so wenig
führt ihn diese Vorstellung vom Lebendigen über die grobe Metapahysik
des Vorhandenen hinaus.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 217 |
Nietzsche und die Bestimmung des Menschenwesens. (Vgl. Überlegungen
X, 71 ff. [Band 95: S. 320 ff.]). Für Nietzsche ist der Mensch das »noch
nicht festgestellte Thier« (Friedrich Nietzsche): Jenseits von Gut und
Böse - Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, in: Ders., Werke, Band VII,
S. 88). Aber mit der Feststellung als Tier (zwon,
animal) ist das Wesen schon festgestellt; nur bedarf es der zureichenden
Deutung des logoV und der ratio und der Vernunft.
Unzureichend wird die Deutung sogleich, wenn die ratio neuzeitlich als Bewußtsein
(Selbstbewußtsein) begriffen ist; unzureichend bleibt diese Deutung auch
dann, wenn man die »Triebe« und den »Willen« hinzunimmt,
d.h. die Descartesche Grundstellung nicht überwindet, sondern lediglich
in der Leiblichkeit dieses animal raionale verfestigt und noch mehr in
das Seiende der Vorhandenheit herabdrückt, wie das in der Tat durch Nietzsche
geschieht. (Vgl. S. 56 ff. [Band 95: S. 217 ff.]). Die Feststellung des Menschen, des bisherigen und
noch lange jetzigen, ist geschehen und zwar auf dem Grunde der Metaphysik. Aber
was noch aussteht, ist jene Auslegung dieser Feststellung, kraft deren
eine Bestimmung auf den Menschen erwacht, die ihn über sein bisheriges
Wesen hinausführt. Diese Auslegung des animal rationale muß in der
ratio dasjenige fassen, was ihr metaphysisches Wesen ausmacht: den Bezug zum
Seienden als solchem, und sie muß diesen Bezug erkennen als den des erklärenden
Vorstellens - d.h. des istorein im weitesten Sinne.
(Vgl. alles über »Historie«). Dann zeigt sich: das Tier
Mensch ist festgestellt als das »historische« Tier - und die letzte Folge dieser
Feststellung ist der Mensch als »Übermensch«, als jener, der über den
bisherigen nur insofern hinausgeht, als er mit seiner Bisherigkeit ernst macht - d.h. das »Leben«,
die Tierheit schlechthin, als den wesenbestimmenden Grund in seiner ganzen Tragweite anerkennt.
Die bsiherige Metaphysik hat damit schon die letze Möglichkeit
ihrer Menschendeutung im voraus festgemacht, wie es auch das Wesen des Anfangs
will -; der »Übermensch« ist die höchste Spitze der Vermenschung
des Menschen und deshalb ein Ende, kein Anfang (vgl. S. 12 f. [Band 95: S. 189 f.]): der Übermensch
- die Umkehrung des »platonischen«-»christlichen« Menschen
- und zurückgebaut in dieselben Bestimmungen des Seienden, die sich uin
der allgemeinen Unterscheidung von Sein und Werden erschöpfen. Wenn die
schon längst geschehene Feststellung des Menschen ihre bislang ausgebliebene
Auslegung erfährt, nach der jetzt der Mensch als das historische Tier bestimmt
ist, dann scheint zunächst nur ein Versäumnis nachgeholt zu sein,
ohne daß hierdurch ein Überdenken der ganzen bisherigen Geschichte
des Seienden eingeleitet und gar ein Übergang in Gang gebracht wäre.
Allein, die Benennung »historisch« ist nicht lediglich eine Auswechslung
der Bezeichnung »vernünftig« - sie soll vielmehr anzeigen,
daß der Bezug zum Seienden als solchem das erklärende Erkunden bleibt
(wobei die neuzeitliche Ausfaltung der Historie notwendig mitgedacht ist). Mit
dem Hinweis auf den Bezug zum Seienden als solchem aber wird erinnert und zugleich
vorgedacht an den ursprünglichen Bezug zum Sein - die Bestimmung des Menschen
als des historischen Tieres stellt so das Menschenwesen bereits in den Übergang
aus der Metaphysik in das seynsgeschichtliche Denken. Übergang meint
hier immer das Gedopopelte des Hinübergehens in einen anderen Anfang (somit
das Vorbereiten der Einspringung eines Ursprungs) und das Übergehen
des Bisherigen in dem Sinne, daß es unmittelbar - in seiner historischen
Überlieferung - das Fragen nicht mehr bestimmen kann.
Martin Heidegger,
Überlegungen, VII-XI, 1938/39, in: Ders., Gesamtausgabe,
Band 95, S. 224-225 |
Nietzsche verkannte, daß seine Umkehrung des Platonismus, d.h.
die Ansetzung »des« Lebens als der ausschließlichen Grundwirklichkeit,
die auch die Unterscheidbarkeit von Diesseits und Jenseits hinfällig macht,
im Grunde seiner innersten Absicht auf den höheren, wohlgeratenen Menschen
(die großen Exemplare) entgegenarbeiten mußte; denn mit jener Ansetzung
ist die Massenhaftigkeit des Lebenden und seines Lebensdranges an sich gerechtfertigt;
die Anerkennung derselben als Boden und Widerstand für den Einzelnen aber
ist nur ein Schein, weil die Einzelnen selbst sich alsbald nur als Beauftragte
des »Lebens«, und d.h. für die Massen und deren Wohl
und Glück, wissen können. Ihrem eigenen Willen bleibt nur das Echo
»des Lebens« und seiner Steigerung, und jeder »Lebende«
wird als solcher den Anspruch auf Lebensrecht anmelden, und der wachsende Anspruch
wird »das Leben« steigern. Mit anderen Worten, der mögliche
Spielraum eines »Übersichhinaus« des Lebens wird immer enger,
weil er im Wesen schon - nach dem Ansatz des Lebens - nichts anderes ist als
eine dem Leben nötige »Illusion« und selbst nur eine Erscheinung
seiner, die je in dem Augenblick verschwinden kann, wo selbst dieses den Lebenden
zu lästig wird. Der Mensch - als das historische Tier - wird dadurch, daß
die Tierheit zur Seiendheit des Seienden erklärt ist (als Leben), sein
eigenes Wesen historisch »unter« das Tier hinab entwickeln - d.h.
der Wille zur Macht ist in sich notwendig Wiederkehr des Gleichen, so zwar,
daß diese selbst immer mehr historisch - d.h. technisch - d.h. gleichgültig
wird. Daher braucht man jetzt »Nietzschekenner«, die s |