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Das Mesmerhaus in Meßkirch, in dem Martin Heidegger aufwuchs.
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Blick auf Martin Heideggers Hütte oberhalb von Rütte, Todtnauberg.
Hier schrieb Martin Heidegger den größten Teil von Sein
und Zeit.
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Die folgende Erläuterung versucht, dorthin zu weisen, von
wo aus vielleicht eines Tages die Frage nach dem Wesen des Nihilismus
gestellt werden kann. Die Erläuterung entstammt einem Denken, das
beginnt, erst einmal über Nietzsches Grundstellung innerhalb der
Geschichte der abendländischen Metaphysik eine Klarheit zu gewinnen.
Der Hinweis verdeutlicht ein Stadium der abendländischen Metaphysik,
das vermutlich ihr Endstadium ist, da andere Möglichkeiten der Metaphysik
insofern nicht mehr sichtbar werden können, als die Metaphysik durch
Nietzsche in gewisser Weise sich selbst ihrer eigenen Wesensmöglichkeit
beraubt. Der Metaphysik bleibt durch die von Nietzsche vollzogene Umkehrung
nur noch die Verkehrung in ihr Unwesen. Das Übersinnliche wird zu
einem bestandlosen Produkt des Sinnlichen. Dieses aber verleugnet mit
solcher Herabsetzung seines Gegensatzes das eigene Wesen. Die Absetzung
des Übersinnlichen beseitigt auch das bloß Sinnliche und damit
den Unterschied beider. Die Absetzung des Übersinnlichen endet bei
einem Weder-Noch in Bezug auf die Unterscheidung von Sinnlichem (aisthton)
und Nichtsinnlichem (nohton). Die Absetzung
endet im Sinnlosen. Sie bleibt jedoch die unbedachte und unüberwindliche
Voraussetzung der verblendeten Versuche, sich durch eine bloße Sinn-gebung
dem Sinnlosen zu entziehen. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort
»Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 209).
Metaphysik ist im folgenden überall als die Wahrheit des
Seienden als solchen im Ganzen gedacht, nicht als Lehre eines Denkers.
Dieser hat jeweils seine philosophische Grundstellung in der Metaphysik.
Deshalb kann die Metaphysik bei seinem Namen benannt werden. Das sagt
aber nach dem hier gedachten Wesen der Metaphysik keineswegs, die jeweilige
Metaphysik sei die Leistung und der Besitz des Denkers als einer Persönlichkeit
im öffentlichen Rahmen des kulturellen Schaffens. In jeder Phase
der Metaphysik wird jeweils ein Stück eines Weges sichtbar, den das
Geschick des Seins in jähen Epochen der Wahrheit über das Seiende
sich bahnt. Nietzsche selbst deutet den Gang der abendländischen
Geschichte metaphysisch und zwar als das Heraufkommen und die Entfaltung
des Nihilismus. Das Durchdenken der Metaphysik Nietzsches wird zur Besinnung
auf die Lage und den Ort des jetzigen Menschen, dessen Geschick hinsichtlich
seiner Wahrheit noch wenig erfahren ist. Jede Besinnung solcher Art geht
jedoch, wenn sie nicht nur leer wiederholender Bericht bleibt, über
das hinaus, dem die Besinnung gilt. Das Hinausgehen ist nicht ohne weiteres
ein Überhöhen oder gar Übertreffen, auch nicht sogleich
ein Überwinden. Daß wir uns auf Nietzsches Metaphysik besinnen,
heißt nicht, daß wir jetzt neben seiner Ethik und seiner Erkenntnistheorie
und seiner Ästhetik auch und vor allem die Metaphysik berücksichtigen,
sondern heißt nur: daß wir versuchen, Nietzsche als Denker
ernst zu nehmen. Denken aber heißt auch für Nietzsche: das
Seiende als das Seiende vorstellen. Jedes metaphysische Denken ist Onto-logie,
oder es ist überhaupt nichts. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 209-210).
Für die hier versuchte Besinnung handelt es sich darum, einen
einfachen und unscheinbaren Schritt des Denkens vorzubereiten. Dem vorbereitenden
Denken liegt daran, den Spielraum zu lichten, innerhalb dessen das Sein
selbst den Menschen hinsichtlich seines Wesens wieder in einen anfänglichen
Bezug nehmen könnte. Vorbereitend zu sein, ist das Wesen solchen
Denkens. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 210).
Dieses wesenhafte und daher überall und nach jeder Hinsicht
nur vorbereitende Denken geht im Unscheinbaren. Hier ist jedes Mitdenken,
so unbeholfen und tastend es sich geben mag, eine wesentliche Hilfe. Das
Mitdenken wird zur unauffälligen, durch Geltung und Nutzen nicht
bewährbaren Aussaat von Säern, die vielleicht nie Halm und Frucht
sehen und eine Ernte nicht kennen. Sie dienen der Aussaat und eher noch
der Vorbereitung dieser. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 210-211).
Der Aussaat voraus geht das Pflügen. Es gilt, das Feld urbar
zu machen, das durch die unumgängliche Vorherrschaft des Landes der
Metaphysik im Unbekannten bleiben mußte. Es gilt, dieses Feld erst
zu ahnen und dann zu finden und dann zu bebauen. Es gilt, einen ersten
Gang zu diesem Feld zu tun. Der noch unbekannten Feldwege sind viele.
Doch ist jedem Denkenden je nur ein Weg, der seine, zugewiesen, in: dessen
Spuren er immer wieder hin und her gehen muß, um ihn endlich als
den seinen, der ihm doch nie gehört, einzuhalten und das auf diesem
einen Weg Erfahrbare zu sagen. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 211).
Vielleicht ist der Titel »Sein und Zeit« das Wegzeichen
eines solchen Weges. Gemäß der wesenhaften, durch die Metaphysik
selbst geforderten und immer wieder neu gesuchten Verflechtung der Metaphysik
mit den Wissenschaften, die zur eigenen Nachkommenschaft der Metaphysik
gehören, muß sich das vorbereitende Denken bisweilen auch im
Umkreis der Wissenschaften bewegen, weil diese immer noch in vielfältigen
Gestalten die Grundform des Wissens und des Wißbaren vorzugeben
beanspruchen, sei es wissentlich, sei es durch die Art ihrer Geltung und
Wirkung. Je eindeutiger die Wissenschaften ihrem vorbestimmten technischen
Wesen und dessen Ausprägung zutreiben, um so entschiedener klärt
sich die Frage nach der in der Technik beanspruchten Wissensmöglichkeit,
nach deren Art, deren Grenzen, deren Recht. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 211).
Zum vorbereitenden Denken und zu seinem Vollzug gehört eine
Erziehung im Denken inmitten der Wissenschaften. Hierfür die gemäße
Form zu finden, so daß diese Erziehung im Denken nicht einer Verwechslung
mit der Forschung und der Gelehrsamkeit anheimfällt, ist das Schwierige.
In der Gefahr bleibt dies Vorhaben vor allem dann, wenn das Denken zugleich
und stets seinen eigenen Aufenthalt erst finden muß. Inmitten der
Wissenschaften denken heißt: an ihnen vorbeigehen, ohne sie zu verachten.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 211-212).
Wir wissen nicht, welche Möglichkeiten das Geschick der abendländischen
Geschichte unserem Volk und dem Abendland aufbehält. Die äußere
Gestaltung und Einrichtung dieser Möglichkeiten ist auch nicht das
zuerst Nötige. Wichtig ist nur, daß Lernende im Denken mitlernen
und zugleich in ihrer Weise mitlehrend auf dem Weg bleiben und im rechten
Augenblick da sind. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 212).
Die folgende Erläuterung hält sich mit ihrer Absicht
und nach ihrer Tragweite im Bezirk der einen Erfahrung, aus der »Sein
und Zeit« gedacht ist. Das Denken wird unablässig von dem einen
Geschehnis angegangen, daß in der Geschichte des abendländischen
Denkens zwar von Anfang an das Seiende hinsichtlich des Seins gedacht
wird, daß jedoch die Wahrheit des Seins ungedacht bleibt und als
mögliche Erfahrung dem Denken nicht nur verweigert ist, sondern daß
das abendländische Denken selbst und zwar in der Gestalt der Metaphysik
das Geschehnis dieser Verweigerung eigens, aber gleichwohl unwissend verhüllt.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 212).
Das vorbereitende Denken hält sich deshalb notwendig im Bereich
der geschichtlichen Besinnung. Die Geschichte ist für dieses Denken
nicht die Abfolge von Zeitaltern, sondern eine einzige Nähe des Selben,
das in unberechenbaren Weisen des Geschickes und aus wechselnder Unmittelbarkeit
das Denken angeht. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 212).
Jetzt gilt die Besinnung der Metaphysik Nietzsches. Sein Denken
sieht sich im Zeichen des Nihilismus. Das ist der Name für eine von
Nietzsche erkannte, bereits die voraufgehenden Jahrhunderte durchherrschende
und das jetzige Jahrhundert bestimmende geschichtliche Bewegung. Deren
Auslegung nimmt Nietzsche in den kurzen Satz zusammen: »Gott ist
tot«. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist
tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 212).
Man könnte vermuten, das Wort »Gott ist tot«
spreche eine Meinung des Atheisten Nietzsche aus und sei daher nur eine
persönliche Stellungnahme und deshalb einseitig und darum auch durch
den Hinweis leicht widerlegbar, daß heute allenthalben viele Menschen
die Gotteshäuser aufsuchen und aus einem christlich bestimmten Gottvertrauen
die Drangsale bestehen. Aber die Frage bleibt, ob das genannte Wort Nietzsches
nur eine verstiegene Ansicht eines Denkers ist, über den die richtige
Aussage bereitsteht, er sei zuletzt wahnsinnig geworden. Zu fragen bleibt,
ob Nietzsche hier nicht eher das Wort ausspricht, das innerhalb der metaphysisch
bestimmten Geschichte des Abendlandes immer schon unausgesprochen gesagt
wird. Vor jeder übereilten Stellungnahme müssen wir erst versuchen,
das Wort »Gott ist tot« so zu denken, wie es gemeint ist.
Wir tun daher gut daran, alles voreilige Meinen, das sich bei diesem furchtbaren
Wort sogleich vordrängt, abzustellen. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 213).
Die folgenden Überlegungen versuchen, das Wort Nietzsches
nach einigen wesentlichen Hinsichten zu erläutern. Noch einmal sei
eingeschärft: Das Wort Nietzsches nennt das Geschick von zwei Jahrtausenden
abendländischer Geschichte. Wir selbst dürfen, unvorbereitet
wie wir alle zusammen sind, nicht meinen, durch einen Vortrag über
das Wort Nietzsches dieses Geschick abzuändern oder es auch nur hinreichend
wissen zu lernen. Gleichwohl ist jetzt dieses Eine nötig, daß
wir aus der Besinnung eine Belehrung empfangen und auf dem Wege der Belehrung
uns besinnen lernen. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 213).
Jede Erläuterung muß freilich die Sache nicht nur dem
Text entnehmen, sie muß auch, ohne darauf zu pochen, unvermerkt
Eigenes aus ihrer Sache dazu geben. Diese Beigabe ist dasjenige, was der
Laie, gemessen an dem, was er für den Inhalt des Textes hält,
stets als ein Hineindeuten empfindet und mit dem Recht, das er für
sich beansprucht, als Willkür bemängelt. Eine rechte Erläuterung
versteht jedoch den Text nie besser als dessen Verfasser ihn verstand,
wohl aber anders. Allein, dieses Andere muß so sein, daß es
das Selbe trifft, dem der erläuterte Text nachdenkt. (Martin
Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 213-214).
Nietzsche hat das Wort »Gott ist tot« zum ersten Mal
im dritten Buch der 1882 erschienenen Schrift »Die fröhliche
Wissenschaft« ausgesprochen. Mit dieser Schrift beginnt der Weg
Nietzsches zur Ausbildung seiner metaphysischen Grundstellung. Zwischen
dieser Schrift und der vergeblichen Mühsal mit der Gestaltung des
geplanten Hauptwerkes liegt die Veröffentlichung von »Also
sprach Zarathustra«. Das geplante Hauptwerk ist nie vollendet worden.
Zeitweilig sollte es den Titel tragen »Der Wille zur Macht«
und den Untertitel erhalten »Versuch einer Umwertung aller Werte«.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 214).
Der befremdende Gedanke an den Tod eines Gottes und an das Sterben
der Götter war schon dem jungen Nietzsche vertraut. In einer Aufzeichnung
aus der Zeit der Ausarbeitung seiner ersten Schrift »Die Geburt
der Tragödie« schreibt Nietzsche (1870): »Ich glaube
an das urgermanische Wort: alle Götter müssen sterben«.
Der junge Hegel nennt am Schluß der Abhandlung »Glauben und
Wissen« (1802) das »Gefühl, worauf die Religion der neuen
Zeit beruht - das Gefühl: Gott selbst ist tot.« Hegels Wort
denkt Anderes als Nietzsche in dem seinen. Gleichwohl besteht zwischen
beiden ein wesentlicher Zusammenhang, der sich im Wesen aller Metaphysik
verbirgt. Das aus Plutarch genommene Wort Pascals: »Le grand Pan
est mort« (Pensees, 695) gehört, obzwar aus entgegengesetzten
Gründen, in denselben Bereich. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 214).
Wir hören zunächst den vollständigen Wortlaut des
Stückes Nr. 125 aus der Schrift »Die fröhliche Wissenschaft«.
Das Stück ist betitelt: »Der tolle Mensch« und lautet:
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 214).
»Der tolle Mensch. Habt ihr nicht von jenem
tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete,
auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: Ich suche Gott!
Ich suche Gott! Da dort gerade viele von denen zusammenstanden,
welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter.
Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie
ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet
er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? so schrien
und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie
und durchbohrte sie mit seinen Blicken. Wohin ist Gott? rief
er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet
ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies
gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm,
um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde
von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen
wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend?
Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten?
Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches
Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden?
Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen
am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem
Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch
nichts von der göttlichen Verwesung? auch Götter verwesen!
Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten
wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste,
was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet
wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten
wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden
wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu
groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern
werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere
Tat und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser
Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher
war! Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer
an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er
seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch.
Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch
nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert
es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz
und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen
Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehn und gehört zu werden.
Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne
und doch haben sie dieselbe getan! Man erzählt
noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen
eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt
habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies
entgegnet: Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die
Grüfte und Grabmäler Gottes sind?« (Martin
Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 214-216).
Vier Jahre später (1886) hat Nietzsche den vier Büchern
der »Fröhlichen Wissenschaft« ein fünftes hinzugefügt,
das betitelt ist: »Wir Furchtlosen«. Das erste Stück
dieses Buches (Aphorismus 343) ist überschrieben: »Was es
mit unsrer Heiterkeit auf sich hat«. Das Stück beginnt:
»Das größte neuere Ereignis - daß Gott tot
ist, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig
geworden ist - beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa
zu werfen.« (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 216).
Aus diesem Satz wird klar, daß Nietzsches Wort vom Tod Gottes
den christlichen Gott meint. Aber es ist nicht weniger gewiß und
im voraus zu bedenken, daß die Namen Gott und christlicher Gott
im Denken Nietzsches zur Bezeichnung der übersinnlichen Welt überhaupt
gebraucht werden. Gott ist der Name für den Bereich der Ideen und
der Ideale. Dieser Bereich des übersinnlichen gilt seit Platon, genauer
gesagt, seit der spätgriechischen und der christlichen Auslegung
der Platonischen Philosophie, als die wahre und eigentlich wirkliche Welt.
Im Unterschied zu ihr ist die sinnliche Welt nur die diesseitige, die
veränderliche und deshalb die bloß scheinbare, unwirkliche
Welt. Die diesseitige Welt ist das Jammertal im Unterschied zum Berg der
ewigen Seligkeit im Jenseits. Nennen wir, wie das noch bei Kant geschieht,
die sinnliche Welt die im weiteren Sinne physische, dann ist die übersinnliche
Welt die metaphysische Welt. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort
»Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 216-217).
Das Wort »Gott ist tot« bedeutet: die übersinnliche
Welt ist ohne wirkende Kraft. Sie spendet kein Leben. Die Metaphysik,
d. h. für Nietzsche die abendländische Philosophie als Platonismus
verstanden, ist zu Ende. Nietzsche versteht seine eigene Philosophie als
die Gegenbewegung gegen die Metaphysik, d. h. für ihn gegen den Platonismus.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 217).
Als bloße Gegenbewegung bleibt sie jedoch notwendig wie
alles Anti- im Wesen dessen verhaftet, wogegen sie angeht. Nietzsches
Gegenbewegung gegen die Metaphysik ist als die bloße Umstülpung
dieser die ausweglose Verstrickung in die Metaphysik, so zwar, daß
diese sich gegen ihr Wesen abschnürt und als Metaphysik ihr eigenes
Wesen nie zu denken vermag. Darum bleibt für die Metaphysik und durch
sie das verborgen, was in ihr und was als sie selbst eigentlich geschieht.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 217).
Wenn Gott als der übersinnliche Grund und als das Ziel alles
Wirklichen tot ist, wenn die übersinnliche Welt der Ideen ihre verbindliche
und vor allem ihre erwerkende und bauende Kraft eingebüßt hat,
dann bleibt nichts mehr, woran der Mensch sich halten und wonach er sich
richten kann. Darum steht in dem gelesenen Stück die Frage: »Irren
wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?« Das Wort »Gott
ist tot« enthält die Feststellung, daß dieses Nichts
sich ausbreitet. Nichts bedeutet hier: Abwesenheit einer übersinnlichen,
verbindlichen Welt. Der Nihilismus, »der unheimlichste aller Gäste«,
steht vor der Tür. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 217).
Der Versuch, Nietzsches Wort »Gott ist tot« zu erläutern,
ist gleichbedeutend mit der Aufgabe darzulegen, was Nietzsche unter Nihilismus
versteht, und so zu zeigen, wie Nietzsche selbst zum Nihilismus steht.
Weil jedoch dieser Name oft nur als Schlag- und Lärmwort gebraucht
wird, häufig auch als verurteilendes Scheltwort, ist es nötig
zu wissen, was er bedeutet. Nicht jeder, der sich auf seinen christlichen
Glauben und auf irgendeine metaphysische Überzeugung beruft, steht
deshalb schon außerhalb des Nihilismus. Umgekehrt ist aber auch
nicht jeder, der über das Nichts und sein Wesen sich Gedanken macht,
ein Nihilist. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 217-218).
Dieser Name wird gern in einem Ton gebraucht, als ob die bloße
Bezeichnung Nihilist, ohne daß man sich bei dem Wort noch etwas
denkt, schon hinreiche, um den Beweis zu liefern, daß bereits eine
Besinnung auf das Nichts zum Sturz ins Nichts führe und die Errichtung
der Diktatur des Nichts bedeute. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 218).
Überhaupt wird zu fragen sein, ob der Name Nihilismus, streng
im Sinne der Philosophie Nietzsches gedacht, nur eine nihilistische, d.
h. negative, in das nichtige Nichts treibende Bedeutung hat. Bei dem verschwommenen
und willkürlichen Gebrauch des Titels Nihilismus ist es daher nötig,
schon vor der genauen Erörterung dessen, was Nietzsche selbst über
den Nihilismus sagt, die rechte Blickstellung zu gewinnen, in der wir
allererst nach dem Nihilismus fragen dürfen. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 218).
Der Nihilismus ist eine geschichtliche Bewegung, nicht irgendeine
von irgendwem vertretene Ansicht und Lehre. Der Nihilismus bewegt die
Geschichte nach der Art eines kaum erkannten Grundvorganges im Geschick
der abendländischen Völker. Der Nihilismus ist daher auch nicht
nur eine geschichtliche Erscheinung unter anderen, nicht nur eine geistige
Strömung, die neben anderen, neben dem Christentum, neben dem Humanismus
und neben der Aufklärung innerhalb der abendländischen Geschichte
auch vorkommt. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 218).
Der Nihilismus ist, in seinem Wesen gedacht, vielmehr die Grundbewegung
der Geschichte des Abendlandes. Sie zeigt einen solchen Tiefgang, daß
ihre Entfaltung nur noch Weltkatastrophen zur Folge haben kann. Der Nihilismus
ist die weltgeschichtliche Bewegung der in den Machtbereich der Neuzeit
gezogenen Völker der Erde. Darum ist er nicht erst eine Erscheinung
des gegenwärtigen Zeitalters, auch nicht erst das Produkt des 19.
Jahrhunderts, in dem zwar ein geschärfter Blick für den Nihilismus
wach und auch der Name gebräuchlich wird. Der Nihilismus ist ebensowenig
nur das Produkt einzelner Nationen, deren Denker und Schriftsteller eigens
vom Nihilismus reden. Diejenigen, die sich frei davon wähnen, betreiben
seine Entfaltung vielleicht am gründlichsten. Es gehört zur
Unheimlichkeit dieses unheimlichsten Gastes, daß er seine eigene
Herkunft nicht nennen kann. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort
»Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 218-219).
Der Nihilismus herrscht auch nicht erst dort, wo der christliche
Gott geleugnet, das Christentum bekämpft oder nur noch freidenkerisch
ein ordinärer Atheismus gepredigt wird. Solange wir ausschließlich
auf diesen vom Christentum sich abkehrenden Unglauben und seine Erscheinungsformen
sehen, bleibt der Blick an den äußerlichen und dürftigen
Fassaden des Nihilismus haften. Die Rede des tollen Menschen sagt gerade,
daß das Wort »Gott ist tot« mit dem bloß herumstehenden
und durcheinander redenden Meinen derer, die »nicht an Gott glauben«,
nichts gemein hat. Zu den in solcher Weise bloß Glaubenslosen ist
der Nihilismus als Geschick ihrer eigenen Geschichte noch gar nicht hingedrungen.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 219).
Solange wir das Wort »Gott ist tot« nur als die Formel
des Unglaubens fassen, meinen wir es theologisch-apologetisch und verzichten
auf das, worauf es Nietzsche ankommt, nämlich auf die Besinnung,
die dem nachdenkt, was mit der Wahrheit der übersinnlichen Welt und
mit ihrem Verhältnis zum Wesen des Menschen schon geschehen ist.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 219).
Der Nihilismus im Sinne Nietzsches deckt sich daher auch keineswegs
mit dem bloß negativ vorgestellten Zustand, daß an den christlichen
Gott der biblischen Offenbarung nicht mehr geglaubt werden kann, wie denn
Nietzsche unter Christentum nicht das christliche Leben versteht, das
einmal und für kurze Zeit vor der Abfassung der Evangelien und vor
der Missionspropaganda des Paulus bestand. Das Christentum ist für
Nietzsche die geschichtliche, weltlich-politische Erscheinung der Kirche
und ihres Machtanspruches innerhalb der Gestaltung des abendländischen
Menschentums und seiner neuzeitlichen Kultur. Christentum in diesem Sinne
und Christlichkeit des neutestamentlichen Glaubens sind nicht das Selbe.
Auch ein nichtchristliches Leben kann das Christentum bejahen und als
Machtfaktor gebrauchen, so wie umgekehrt ein christliches Leben nicht
notwendig des Christentums bedarf. Darum ist eine Auseinandersetzung mit
dem Christentum keineswegs und unbedingt eine Bekämpfung des Christlichen,
sowenig wie eine Kritik der Theologie schon eine Kritik des Glaubens ist,
dessen Auslegung die Theologie sein sollte. Man bewegt sich in den Niederungen
der Weltanschauungskämpfe, solange man diese wesentlichen Unterscheidungen
mißachtet. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 219-220).
In dem Wort »Gott ist tot« steht der Name Gott, wesentlich
gedacht, für die übersinnliche Welt der Ideale, die das über
dem irdischen Leben bestehende Ziel für dieses Leben enthalten und
es dergestalt von oben und so in gewisser Weise von außen her bestimmen.
Wenn nun aber der unverfälschte, kirchlich bestimmte Gottesglaube
dahinschwindet, wenn insbesondere die Lehre des Glaubens, die Theologie,
in ihrer Rolle, als die maßgebende Erklärung des Seienden im
Ganzen zu dienen, eingeschränkt und abgedrängt wird, dann zerbricht
damit noch keineswegs das Grundgefüge, demgemäß eine ins
übersinnliche ausgreifende Zielsetzung das sinnlich irdische Leben
beherrscht. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist
tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 220).
An die Stelle der geschwundenen Autorität Gottes und des
Lehramtes der Kirche tritt die Autorität des Gewissens, drängt
sich die Autorität der Vernunft. Gegen diese erhebt sich der soziale
Instinkt. Die Weltflucht ins Übersinnliche wird ersetzt durch den
historischen Fortschritt. Das jenseitige Ziel einer ewigen Seligkeit wandelt
sich um in das irdische Glück der Meisten. Die Pflege des Kultus
der Religion wird abgelöst durch die Begeisterung für das Schaffen
einer Kultur oder für die Ausbreitung der Zivilisation. Das Schöpferische,
vormals das Eigene des biblischen Gottes, wird zur Auszeichnung des menschlichen
Tuns. Dessen Schaffen geht zuletzt in das Geschäft über.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 220).
Was dergestalt sich an die Stelle der übersinnlichen Welt
bringen will, sind Abwandlungen der christlich-kirchlichen und theologischen
Weltauslegung, die ihr Schema des ordo, der Stufenordnung des Seienden,
aus der hellenistisch-jüdischen Welt übernommen hat, deren Grundgefüge
im Beginn der abendländischen Metaphysik durch Platon gegründet
wurde. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 221).
Der Bereich für das Wesen und das Ereignis des Nihilismus
ist die Metaphysik selbst, immer gesetzt, daß wir bei diesem Namen
nicht eine Lehre oder gar nur eine Sonderdisziplin der Philosophie meinen,
sondern an das Grundgefüge des Seienden im Ganzen denken, sofern
dieses in eine sinnliche und übersinnliche Welt unterschieden und
jene von dieser getragen und bestimmt wird. Die Metaphysik ist der Geschichtsraum,
worin zum Geschick wird, daß die übersinnliche Welt, die Ideen,
Gott, das Sittengesetz, die Vernunftautorität, der Fortschritt, das
Glück der Meisten, die Kultur, die Zivilisation ihre bauende Kraft
einbüßen und nichtig werden. Wir nennen diesen Wesenszerfall
des Übersinnlichen seine Verwesung. Der Unglaube im Sinne des Abfalls
von der christlichen Glaubenslehre ist daher niemals das Wesen und der
Grund, sondern stets nur eine Folge des Nihilismus; denn es könnte
sein, daß das Christentum selbst eine Folge und Ausformung des Nihilismus
darstellt. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist
tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 221).
Von hier aus erkennen wir nun auch die letzte Abirrung, der man
beim Erfassen und vermeintlichen Bekämpfen des Nihilismus ausgesetzt
bleibt. Weil man den Nihilismus nicht als eine schon lange währende
geschichtliche Bewegung erfährt, deren Wesensgrund in der Metaphysik
selbst ruht, verfällt man der verderblichen Sucht, Erscheinungen,
die bereits und nur Folgen des Nihilismus sind, für diesen selbst
zu halten oder die Folgen und Auswirkungen als die Ursachen des Nihilismus
darzustellen. In der gedankenlosen Anbequemung an diese Vorstellungsweise
hat man sich seit Jahrzehnten bereits daran gewöhnt, die Herrschaft
der Technik oder den Aufstand der Massen als die Ursachen der geschichtlichen
Lage des Zeitalters anzuführen und unermüdlich die geistige
Situation der Zeit nach solchen Hinsichten zu zergliedern. Aber jede noch
so vielkennende und noch so geistreiche Analyse des Menschen und seiner
Stellung innerhalb des Seienden bleibt gedankenlos und erzeugt nur den
Anschein einer Besinnung, solange sie unterläßt, an die Ortschaft
des Wesens des Menschen zu denken und sie in der Wahrheit des Seins zu
erfahren. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist
tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 221-222).
Solange wir nur Erscheinungen des Nihilismus für diesen selbst
nehmen, bleibt die Stellungnahme zum Nihilismus oberflächlich. Sie
bringt auch dann nichts von der Stelle, wenn sie aus dem Mißvergnügen
an der Weltlage oder aus halb eingestandener Verzweiflung oder aus moralischer
Entrüstung oder aus der selbstgerechten Überlegenheit des Gläubigen
sich eine gewisse Leidenschaftlichkeit der Abwehr erborgt. (Martin
Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 222).
Demgegenüber gilt zuerst, daß wir uns besinnen. Darum
fragen wir jetzt Nietzsche selbst, was er unter Nihilismus versteht, und
lassen es zunächst offen, ob Nietzsche mit diesem Verständnis
das Wesen des Nihilismus schon trifft und treffen kann. (Martin
Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 222).
Nietzsche stellt in einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1887 die Frage
(W. z. M. A. 2): »Was bedeutet Nihilismus?« Er antwortet:
»Daß die obersten Werte sich entwerten.«
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 222).
Diese Antwort ist unterstrichen und mit dem erläuternden
Zusatz versehen: »Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das
Warum?.« (Martin Heidegger, Nietzsches Wort
»Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 222).
Nach dieser Aufzeichnung begreift Nietzsche den Nihilismus als
einen geschichtlichen Vorgang. Er interpretiert diesen Vorgang als die
Entwertung der bisherigen obersten Werte. Gott, die übersinnliche
Welt als die wahrhaft seiende und alles bestimmende Welt, die Ideale und
Ideen, die Ziele und Gründe, die alles Seiende und das menschliche
Leben im besonderen bestimmen und tragen, all das wird hier im Sinne von
obersten Werten vorgestellt. Nach der auch jetzt noch geläufigen
Meinung versteht man darunter das Wahre, das Gute und das Schöne:
das Wahre, d. h. das wirklich Seiende; das Gute, d. h. das, worauf alles
überall ankommt; das Schöne, d. h. die Ordnung und Einheit des
Seienden im Ganzen. Die obersten Werte entwerten sich nun aber bereits
dadurch, daß die Einsicht aufkommt, die ideale Welt sei innerhalb
der realen nicht und nie zu verwirklichen. Die Verbindlichkeit der obersten
Werte gerät ins Schwanken. Die Frage erhebt sich: wozu diese obersten
Werte, wenn sie nicht zugleich die Gewähr und die Wege und Mittel
einer Verwirklichung der in ihnen gesetzten Ziele sicherstellen?
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 222-223).
Wollten wir nun aber Nietzsches Bestimmung des Wesens des Nihilismus,
daß er das Wertloswerden der obersten Werte ist, nur nach dem Wortlaut
verstehen, dann ergäbe sich diejenige Auffassung vom Wesen des Nihilismus,
die inzwischen geläufig geworden ist und deren Geläufigkeit
schon durch die Bezeichnung Nihilismus unterstützt wird, daß
die Entwertung der obersten Werte offenkundig den Verfall bedeutet. Allein,
für Nietzsche ist der Nihilismus keineswegs nur eine Verfallserscheinung,
sondern der Nihilismus ist als Grundvorgang der abendländischen Geschichte
zugleich und vor allem die Gesetzlichkeit dieser Geschichte. Deshalb liegt
Nietzsche auch bei seinen Betrachtungen über den Nihilismus weniger
daran, den Ablauf des Vorganges der Entwertung der obersten Werte historisch
zu schildern und schließlich daraus den Untergang des Abendlandes
zu errechnen, sondern Nietzsche denkt den Nihilismus als die »innere
Logik« der abendländischen Geschichte. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 223).
Nietzsche erkennt dabei, daß mit der Entwertung der bisherigen
obersten Werte für die Welt doch die Welt selbst bleibt und daß
allererst die wert-los gewordene Welt unausweichlich zu einer neuen Wertsetzung
drängt. (Unter welcher Voraussetzung? Daß
»Welt«: das Seiende im Ganzen, Wille zur Macht in ewiger Wiederkehr
des Gleichen.) Die neue Wertsetzung wandelt sich, nachdem die bisherigen
obersten Werte hinfällig geworden sind, im Hinblick auf die bisherigen
Werte zu einer »Umwertung aller Werte«. Das Nein gegenüber
den bisherigen Werten kommt aus dem Ja zur neuen Wertsetzung. Weil es
in diesem Ja nach der Meinung Nietzsches keine Vermittlung und keinen
Ausgleich mit den bisherigen Werten gibt, gehört das unbedingte Nein
in dieses Ja zur neuen Wertsetzung. Um die Unbedingtheit des neuen Ja
gegen den Rückfall zu den bisherigen Werten zu sichern und d. h.,
um die neue Wertsetzung als die Gegenbewegung zu begründen, bezeichnet
Nietzsche auch noch die neue Wertsetzung als Nihilismus, nämlich
als denjenigen, durch den sich die Entwertung zu einer neuen und allein
maßgebenden Wertsetzung vollendet. Diese maßgebende Phase
des Nihilismus nennt Nietzsche den »vollendeten«, d. h. klassischen
Nihilismus. Nietzsche versteht unter Nihilismus die Entwertung der bisherigen
obersten Werte. Aber Nietzsche steht zugleich bejahend zum Nihilismus
im Sinne einer »Umwertung aller bisherigen Werte«. Der Name
Nihilismus bleibt daher mehrdeutig und, in die Extreme gesehen, zunächst
immer zweideutig, insofern er einmal die bloße Entwertung der bisherigen
obersten Werte bezeichnet, dann aber zugleich die unbedingte Gegenbewegung
zur Entwertung meint. Zweideutig in diesem Sinne ist bereits auch das,
was Nietzsche als die Vorform des Nihilismus anführt, der Pessimismus.
Nach Schopenhauer ist der Pessimismus der Glaube, daß in der schlechtesten
dieser Welten das Leben nicht wert sei, gelebt und bejaht zu werden. Nach
dieser Lehre ist das Leben und d. h. zugleich das Seiende als solches
im Ganzen zu verneinen. Dieser Pessimismus ist nach Nietzsche der »Pessimismus
der Schwäche«. Er sieht überall nur das Düstere,
findet für jegliches einen Grund des Mißlingens und beansprucht
zu wissen, wie alles im Sinne einer durchgängigen Verunglückung
kommen wird. Der Pessimismus der Stärke und als Stärke dagegen
macht sich nichts vor, sieht das Gefährliche, will keine Verschleierungen
und Übermalungen. Er durchschaut das Verhängnisvolle des bloßen
Laueros auf die Rückkehr des Bisherigen. Er dringt analytisch in
die Erscheinungen ein und verlangt die Bewußtheit über die
Bedingungen und Kräfte, die eine Meisterung der geschichtlichen Lage
trotz allem sicherstellen. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort
»Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 223-225).
Eine wesentlichere Besinnung könnte zeigen, wie in dem, was
Nietzsche den »Pessimismus der Stärke« nennt, sich der
Aufstand des neuzeitlichen Menschentums in die unbedingte Herrschaft der
Subjektivität innerhalb der Subjektität des Seienden vollendet.
Durch den Pessimismus in seiner zwiefachen Form kommen Extreme zum Vorschein.
Die Extreme erhalten als solche das Übergewicht. So entsteht der
Zustand der unbedingten Zuspitzung in ein Entweder-Oder. Ein »Zwischenzustand«
macht sich geltend, in dem offenbar wird, daß einerseits die Verwirklichung
der bisherigen obersten Werte sich nicht erfüllt. Die Welt sieht
wert-los aus. Andererseits wird durch dieses Bewußtmachen der suchende
Blick auf die Quelle der neuen Wertsetzung gelenkt, ohne daß die
Welt dadurch schon ihren Wert zurückgewinnt. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 225).
Allerdings kann angesichts der Erschütterung der Herrschaft
der bisherigen Werte noch ein anderes versucht werden. Wenn nämlich
Gott im Sinne des christlichen Gottes aus seiner Stelle in der übersinnlichen
Welt verschwunden ist, dann bleibt immer noch die Stelle selbst erhalten,
obzwar als die leer gewordene. Der leer gewordene Stellenbereich des übersinnlichen
und der idealen Welt kann noch festgehalten werden. Die leere Stelle fordert
sogar dazu auf, sie neu zu besetzen und den daraus entschwundenen Gott
durch anderes zu ersetzen. Neue Ideale werden aufgerichtet. Das geschieht
nach der Vorstellung Nietzsches (W. z. M. A. 1021. a. d. J. 1887) durch
die Weltbeglückungslehren und durch den Sozialismus, insgleichen
durch die Wagnerische Musik, d. h. überall dort, wo das »dogmatische
Christentum« »abgewirtschaftet hat«. So kommt der »unvollständige
Nihilismus« auf. Nietzsche sagt darüber (W. z. M. A. 28. a.
d. J. 1887): »Der unvollständige Nihilismus, seine Formen:
wir leben mitten drin. Die Versuche, dem Nihilismus zu entgehn, ohne die
bisherigen Werte umzuwerten: bringen das Gegenteil hervor, verschärfen
das Problem.« (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 225).
Wir können Nietzsches Gedanken des unvollständigen Nihilismus
deutlicher und schärfer so fassen, daß wir sagen: Der unvollständige
Nihilismus ersetzt zwar die bisherigen Werte durch andere, aber er setzt
sie immer noch an die alte Stelle, die als der ideale Bereich des Übersinnlichen
gleichsam freigehalten wird. Der vollständige Nihilismus aber muß
sogar noch die Wertstelle selbst, das Übersinnliche als Bereich,
beseitigen und demgemäß die Werte anders setzen und umwerten.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 226).
Daraus wird klar: zum vollständigen, vollendeten und somit
klassischen Nihilismus gehört zwar die »Umwertung aller bisherigen
Werte«, aber die Umwertung ersetzt nicht bloß die alten Werte
durch neue. Das Umwerten wird zur Umkehrung der Art und Weise des Wertens.
Die Wertsetzung bedarf eines neuen Prinzips, d. h. dessen, wovon sie ausgeht
und worin sie sich hält. Die Wertsetzung bedarf eines anderen Bereiches.
Das Prinzip kann nicht mehr die leblos gewordene Welt des Übersinnlichen
sein. Deshalb wird der auf die so verstandene Umwertung zielende Nihilismus
das Lebendigste aufsuchen. Der Nihilismus wird so selbst zum »Ideal
des überreichsten Lebens« (W. z. M. A. 14. a. d. J. 1887).
In diesem neuen höchsten Wert verbirgt sich eine andere Schätzung
des Lebens, d. h. dessen, worin das bestimmende Wesen alles Lebendigen
beruht. Darum bleibt zu fragen, was Nietzsche unter Leben versteht.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 226).
Der Hinweis auf die verschiedenen Stufen und Formen des Nihilismus
zeigt, daß der Nihilismus nach der Interpretation Nietzsches überall
eine Geschichte ist, in der es sich um die Werte, die Ansetzung von Werten,
die Entwertung von Werten, die Umwertung von Werten, um die Neusetzung
von Werten und schließlich und eigentlich um das anders wertende
Setzen des Prinzips aller Wertsetzung handelt. Die obersten Ziele, die
Gründe und Prinzipien des Seienden, die Ideale und das Übersinnliche,
Gott und die Götter - all das ist im vorhinein als Wert begriffen.
Wir fassen daher Nietzsches Begriff vom Nihilismus erst dann zureichend,
wenn wir wissen, was Nietzsche unter Wert versteht. Von hier aus verstehen
wir das Wort »Gott ist tot« erst so, wie es gedacht ist. Die
hinreichend klare Verdeutlichung dessen, was Nietzsche bei dem Wort Wert
denkt, ist der Schlüssel zum Verständnis seiner Metaphysik.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 226-227).
Im 19. Jahrhundert wird die Rede von den Werten geläufig
und das Denken in Werten üblich. Aber erst zufolge einer Verbreitung
der Schriften Nietzsches ist die Rede von Werten populär geworden.
Man spricht von Lebenswerten, von den Kulturwerten, von Ewigkeitswerten,
von der Rangordnung der Werte, von geistigen Werten, die man z. B. in
der Antike zu fmden glaubt. Bei der gelehrten Beschäftigung mit der
philosophie und bei der Umbildung des Neukantianismus kommt man zur Wertphilosophie.
Man baut Systeme von Werten und verfolgt in der Ethik die Schichtungen
von Werten. Sogar in der christlichen Theologie bestimmt man Gott, das
summum ens qua summum bonum, als den höchsten Wert. Man hält
die Wissenschaft für wertfrei und wirft die Wertungen auf die Seite
der Weltanschauungen. Der Wert und das Werthafte wird zum positivistischen
Ersatz für das Metaphysische. Der Häufigkeit des Redens von
Werten entspricht die Unbestimmtheit des Begriffes. Diese ihrerseits entspricht
der Dunkelheit der Wesensherkunft des Wertes aus dem Sein. Denn gesetzt,
daß der in solcher Weise vielberufene Wert nicht nichts ist, muß
er wohl sein Wesen im Sein haben. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 227).
Was versteht Nietzsche unter Wert? Worin ist das Wesen des Wertes
begründet? Warum ist die Metaphysik Nietzsches die Metaphysik der
Werte? (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 227).
In einer Aufzeichnung (1887/88) sagt Nietzsche, was er unter Wert
versteht (W. z. M. A. 715): »Der Gesichtspunkt des Werts
ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingungen
in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb
des Werdens.« Das Wesen des Wertes beruht darin, Gesichtspunkt zu
sein. Der Wert meint solches, was ins Auge gefaßt ist. Wert bedeutet
den Augenpunkt für ein Sehen, das es auf etwas absieht, oder, wie
wir sagen, auf etwas rechnet und dabei mit anderem rechnen muß.
Wert steht im inneren Bezug zu einem Soviel, zu Quantum und Zahl. Werte
sind daher (W. z. M. A. 710. a. d. J. 1888) auf eine »Zahl- und
Maß-Skala« bezogen. Die Frage bleibt noch, worauf sich die
Skala der Steigerung und Minderung ihrerseits gründet. (Martin
Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 227-228).
Durch die Kennzeichnung des Wertes als eines Gesichtspunktes ergibt
sich das Eine und für Nietzsches Wertbegriff Wesentliche: als Gesichtspunkt
ist er jeweils von einem Sehen und für dieses gesetzt. Dieses Sehen
ist von jener Art, daß es sieht, insofern es gesehen hat; daß
es gesehen hat, indem es das Gesichtete als ein solches sich vor-gestellt
und so gesetzt hat. Durch dieses vorstellende Setzen wird erst der für
das Absehen auf etwas nötige und so die Sehbahn dieses Sehens leitende
Punkt zum Augenpunkt, d. h. zu dem, worauf es im Sehen und in allem von
der Sicht geleiteten Tun ankommt. Werte sind also nicht zuvor etwas an
sich, so daß sie dann gelegentlich als Gesichtspunkte genommen werden
könnten. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 228).
Der Wert ist Wert, insofern er gilt. Er gilt, insofern er als
das gesetzt ist, worauf es ankommt. Er wird so gesetzt durch ein Absehen
und Hinsehen auf solches, womit gerechnet werden muß. Der Augenpunkt,
die Hinsicht, der Gesichtskreis meint hier Gesicht und Sehen in einem
von den Griechen her bestimmten, aber durch die Wandlung der idea vom
eidoV zur perceptio hindurchgegangenen Sinne.
Das Sehen ist solches Vorstellen, das seit Leibniz ausdrücklicher
im Grundzug des Strebens (appetitus) gefaßt wird. Alles Seiende
ist vorstellendes, insofern zum Sein des Seienden der nisus gehört,
der Drang zum Auftreten, der etwas dem Aufkommen (Erscheinen) anbefiehlt
und so sein Vorkommen bestimmt. Das dergestalt nisus-hafte Wesen alles
Seienden nimmt sich so und setzt für sich einen Augenpunkt. Dieser
gibt den Hinblick, dem es zu folgen gilt. Der Augenpunkt ist der Wert.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 228).
Mit den Werten als den Gesichtspunkten sind nach Nietzsche »Erhaltungs-,
Steigerungs-Bedingungen« gesetzt. Schon durch diese Schreibweise,
in der zwischen Erhaltung und Steigerung das »und« ausgelassen
und durch einen Bindestrich ersetzt wird, will Nietzsche deutlich machen,
daß die Werte als Gesichtspunkte wesensmäßig und darum
stets zugleich Bedingungen der Erhaltung und der Steigerung sind. Wo Werte
gesetzt werden, müssen stets beide Arten des Bedingens ins Auge gefaßt
sein, dergestalt, daß sie einheitlich aufeinander bezogen bleiben.
Weshalb? Offenbar nur deshalb, weil das vor-stellendstrebende Seiende
selbst in seinem Wesen so ist, daß es dieser zwiefachen Augenpunkte
bedarf. Wofür sind die Werte als Gesichtspunkte Bedingungen, wenn
sie sowohl Erhaltung als auch Steigerung zugleich bedingen müssen?
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 228-229).
Erhaltung und Steigerung kennzeichnen die in sich zusammengehörigen
Grundzüge des Lebens. Zum Wesen des Lebens gehört das Wachsenwollen,
die Steigerung. Jede Erhaltung des Lebens steht im Dienste der Lebenssteigerung.
Jedes Leben, das sich nur auf bloße Erhaltung beschränkt, ist
schon Niedergang. Die Sicherung des Lebensraumes z. B. ist für das
Lebendige niemals das Ziel, sondern nur ein Mittel zur Lebenssteigerung.
Umgekehrt erhöht wiederum das gesteigerte Leben das frühere
Bedürfnis nach Raumerweiterung. Nirgends aber ist Steigerung möglich,
wo nicht schon ein Bestand als gesicherter und so erst steigerungsfähiger
erhalten bleibt. Das Lebendige ist daher ein durch die beiden Grundzüge
der Steigerung und Erhaltung verknüpftes, d. h. »komplexes
Gebilde des Lebens«. Die Werte leiten als Gesichtspunkte das Sehen
in der »Hinsicht auf komplexe Gebilde«. Das Sehen ist jeweils
das Sehen eines Lebensblickes, der jedes Lebendige durchwaltet. Indem
es die Augenpunkte für das Lebendige setzt, erweist sich das Leben
in seinem Wesen als wert-setzendes (vgl. W. z. M. A. 556. a. d. J. 1885/6).
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 229).
Die »komplexen Gebilde des Lebens« sind auf Bedingungen
eines Erhaltens und einer Beständigung angewiesen, so zwar, daß
das Beständige nur besteht, um in der Steigerung ein Unbeständiges
zu werden. Die Dauer dieser komplexen Gebilde des Lebens beruht im Wechsel-Verhältnis
von Steigerung und Erhaltung. Sie ist daher eine verhältnismäßige.
Sie bleibt eine »relative Dauer« von Lebendigem und d. h.
von Leben. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist
tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 229-230).
Der Wert ist nach Nietzsches Wort »Gesichtspunkt von Erhaltungs-,
Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer
Dauer des Lebens innerhalb des Werdens«. Das bloße und unbestimmte
Wort Werden bedeutet hier und überhaupt in der Begriffssprache der
Metaphysik Nietzsches nicht irgendein Fließen aller Dinge, nicht
den bloßen Wechsel der Zustände, auch nicht irgendeine Entwicklung
und unbestimmte Entfaltung. »Werden« meint den Übergang
von etwas zu etwas, jene Bewegung und Bewegtheit, die Leibniz in der Monadologie
(§ 11) die changements naturels nennt, die das ens qua ens, d. h.
das ens percipiens et appetens durchwaltet. Nietzsche denkt dieses Waltende
als den Grundzug alles Wirklichen, d. h. im weiteren Sinne Seienden. Er
begreift das, was so das Seiende in seiner essentia bestimmt, als den
»Willen zur Macht«. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 230).
Wenn Nietzsche die Kennzeichnung des Wesens des Wertes mit dem
Wort Werden schließt, dann gibt dieses Schlußwort den Hinweis
auf den Grundbereich, in den überhaupt und allein die Werte und die
Wertsetzung gehören. »Das Werden«, das ist für Nietzsche
»der Wille zur Macht«. Der »Wille zur Macht« ist
so der Grundzug des »Lebens«, welches Wort Nietzsche oft auch
in der weiten Bedeutung gebraucht, nach der es innerhalb der Metaphysik
(vgl. Hegel) mit »Werden« gleichgesetzt worden ist. Wille
zur Macht, Werden, Leben und Sein im weitesten Sinne bedeuten in Nietzsches
Sprache das Selbe (W. z. M. A. 582. a. d. J. 1885/86 und A. 689. a. d.
J. 1888). Innerhalb des Werdens gestaltet sich das Leben, d. h. das Lebendige
zu jeweiligen Zentren des Willens zur Macht. Diese Zentren sind demnach
Herrschaftsgebilde. Als solche versteht Nietzsche die Kunst, den Staat,
die Religion, die Wissenschaft, die Gesellschaft. Deshalb kann Nietzsche
auch sagen (W. z. M. A. 715): »Wert ist wesentlich der
Gesichtspunkt für das Zunehmen oder Abnehmen dieser herrschaftlichen
Zentren« (nämlich hinsichtlich ihres Herrschaftscharakters).
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 230-231).
Sofern Nietzsche in der angeführten Umgrenzung des Wesens
des Wertes diesen als gesichtspunkthafte Bedingung der Erhaltung und Steigerung
des Lebens begreift, das Leben aber in das Werden als den Willen zur Macht
gegründet sieht, enthüllt sich der Wille zur Macht als dasjenige,
was jene Gesichtspunkte setzt. Der Wille zur Macht ist das, was aus seinem
»inneren Prinzip« (Leibniz) her als der nisus im esse des
ens nach Werten schätzt. Der Wille zur Macht ist der Grund für
die Notwendigkeit der Wert-setzung und der Ursprung der Möglichkeit
der Wertschätzung. Daher sagt Nietzsche (W. z. M. A.14. a. d. 1.1887):
»Die Werte und deren Veränderung stehen im Verhältnis
zu dem Macht-Wachstum des Wertsetzenden. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 231).
Hier wird deutlich: Die Werte sind die vom Willen zur Macht selbst
gesetzten Bedingungen seiner selbst. Erst da, wo der Wille zur Macht als
der Grundzug alles Wirklichen zum Vorschein kommt, d. h. wahr wird und
demgemäß als die Wirklichkeit alles Wirklichen begriffen wird,
zeigt sich, von woher die Werte entspringen und wodurch alle Wertschätzung
getragen und geleitet bleibt. Das Prinzip der Wertsetzung ist jetzt erkannt.
Die Wertsetzung wird künftig »prinzipiell«, d. h. aus
dem Sein als dem Grund des Seienden vollziehbar. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 231).
Der Wille zur Macht ist daher als dieses erkannte und d. h. gewollte
Prinzip zugleich das Prinzip einer neuen Wertsetzung. Sie ist neu, weil
sie sich zum ersten Mal aus dem Wissen ihres Prinzips wissentlich vollzieht.
Die Wertsetzung ist neu, weil sie sich selbst ihres Prinzips versichert
und diese Sicherung zugleich als einen aus ihrem Prinzip gesetzten Wert
festhält. Der Wille zur Macht ist aber als das Prinzip der neuen
Wertsetzung im Verhältnis zu den bisherigen Werten zugleich das Prinzip
der Umwertung aller bisherigen Werte. Weil jedoch die bisherigen obersten
Werte aus der Höhe des Übersinnlichen über das Sinnliche
herrschten, das Gefüge dieser Herrschaft aber die Metaphysik ist,
vollzieht sich mit der Setzung des neuen Prinzips der Umwertung aller
Werte die Umkehrung aller Metaphysik, Nietzsche hält diese Umkehrung
für die Überwindung der Metaphysik (d.
h. für Nietzsche: des Platonismus). Allein, jede Umkehrung
dieser Art bleibt nur die sich selbst blendende Verstrickung in das unkennbar
gewordene Selbe. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 231-232).
Sofern nun aber Nietzsche den Nihilismus als die Gesetzlichkeit
in der Geschichte der Entwertung der bisherigen obersten Werte begreift,
die Entwertung aber im Sinne einer Umwertung aller Werte deutet, beruht
nach Nietzsches Auslegung der Nihilismus in der Herrschaft und im Zerfall
der Werte und damit in der Möglichkeit der Wertsetzung überhaupt.
Diese selbst gründet im Willen zur Macht. Darum läßt sich
Nietzsches Begriff des Nihilismus und das Wort »Gott ist tot«
erst aus dem Wesen des Willens zur Macht zureichend denken, Wir vollziehen
daher den letzten Schritt in der Aufhellung jenes Wortes, wenn wir erläutern,
was Nietzsche bei dem von ihm geprägten Titel »Der Wille zur
Macht« denkt. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 232).
Dieser Name »Der Wille zur Macht« gilt als so selbstverständlich,
daß man nicht versteht, wie jemand noch sich abmühen mag, dieses
Wortgefüge eigens zu erläutern. Denn was Wille heißt,
kann jederzeit jeder bei sich selbst erfahren. Wollen ist ein Streben
nach etwas. Was Macht bedeutet, kennt heute jeder aus der alltäglichen
Erfahrung als die Ausübung von Herrschaft und Gewalt, Wille »zur«
Macht ist demnach eindeutig das Streben, an die Macht zu kommen.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 232).
Der Titel»Wille zur Macht« setzt nach dieser Meinung
zwei verschiedene Tatbestände voraus und zueinander in die nachträgliche
Beziehung: das Wollen auf der einen und die Macht auf der anderen Seite.
Fragen wir schließlich, um das Genannte nicht nur zu umschreiben,
sondern zugleich auch schon zu erklären, nach dem Grund des Willens
zur Macht, dann ergibt sich, daß er offenbar als ein Streben nach
solchem, was noch nicht ein Besitz ist, aus einem Gefühl des Mangels
entspringt. Streben, Ausübung von Herrschaft, Gefühl des Mangels
sind Vorstellungsweisen und Zustände (seelische Vermögen), die
wir in der psychologischen Erkenntnis erfassen. Darum gehört die
Erläuterung des Wesens des Willens zur Macht in die Psychologie.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 232-233).
Das soeben über den Willen zur Macht und seine Erkennbarkeit
Dargelegte ist zwar einleuchtend, aber es denkt in jeder Hinsicht an dem
vorbei, was Nietzsche bei dem Wort »Wille zur Macht« denkt
und wie er es denkt. Der Titel »Wille zur Macht« nennt ein
Grundwort der endgültigen Philosophie Nietzsches. Sie kann deshalb
als die Metaphysik des Willens zur Macht bezeichnet werden. Was Wille
zur Macht im Sinne Nietzsches heißt, verstehen wir niemals an Hand
irgendeiner populären Vorstellung über Wollen und Macht, sondern
allein auf dem Wege einer Besinnung über das metaphysische Denken
und d. h. zugleich über das Ganze der Geschichte der abendländischen
Metaphysik. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist
tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 233).
Die folgende Erläuterung des Wesens des Willens zur Macht
denkt aus diesen Zusammenhängen. Sie muß aber auch, obzwar
sie sich an Nietzsches eigene Darlegungen hält, diese zugleich deutlicher
fassen, als Nietzsche selbst sie unmittelbar sagen konnte. Doch deutlicher
wird uns immer nur das, was uns zuvor bedeutender geworden ist. Bedeutend
ist jenes, was uns in seinem Wesen näherkommt. Überall ist im
vorigen und im folgenden aus dem Wesen der Metaphysik, nicht nur
aus einer ihrer Phasen gedacht. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 233).
Nietzsche nennt im zweiten Teil von »Also sprach Zarathustra«,
der ein Jahr nach der Schrift »Die fröhliche Wissenschaft«
1883 erschien, zum ersten Mal den »Willen zur Macht« in dem
Zusammenhang, aus dem er begriffen werden muß: »Wo ich Lebendiges
fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand
ich den Willen, Herr zu sein.« (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 233).
Wollen ist Herr-sein-wollen. Der so verstandene Wille ist auch
noch im Willen des Dienenden. Zwar nicht insofern, als der Diener danach
streben könnte, aus der Rolle des Knechtes herauszukommen, um selbst
ein Herr zu werden. Vielmehr will der Knecht als Knecht, der Dienende
als Dienender immer noch etwas unter sich haben, dem er bei seinem Dienst
befieht und dessen er sich bedient. So ist er als Knecht noch ein Herr.
Auch das Knecht-sein ist ein Herr-sein-wollen. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 234).
Der Wille ist kein Wünschen und kein bloßes Streben
nach etwas, sondern Wollen ist in sich das Befehlen (vgl. Also sprach
Zarathustra I. und II. Teil; ferner W. z. M. A. 668. a. d. I. 1888). Dieses
hat sein Wesen darin, daß der Befehlende Herr ist im wissenden Verfügen
über die Möglichkeiten des handelnden Wirkens. Was im Befehl
befohlen wird, ist der Vollzug dieses Verfügens. Im Befehl gehorcht
der Befehlende (nicht erst der Ausführende) diesem Verfügen
und Verfügenkönnen und gehorcht so sich selbst. Dergestalt ist
der Befehlende sich selbst überlegen, indem er noch sich selbst wagt.
Befehlen, was vom bloßen Herumkommandieren an den anderen wohl zu
unterscheiden bleibt, ist Selbstüberwindung und schwerer als Gehorchen.
Wille ist das Sichzusammennehmen in das Aufgegebene. Nur dem, der nicht
sich selbst gehorchen kann, muß eigens noch befohlen werden. Was
der Wille will, erstrebt er nicht erst als etwas, was er noch nicht hat.
Was der Wille will, hat er schon. Denn der Wille will seinen Willen. Sein
Wille ist sein Gewolltes. Der Wille will sich selbst. Er übersteigt
sich selbst. Dergestalt will der Wille als der Wille über sich hinaus
und muß sich so zugleich hinter sich und unter sich bringen. Deshalb
kann Nietzsche sagen (W. z. M. A. 675. a. d. 1.1887/8): »Wollen
überhaupt, ist soviel wie Stärker-werden-wollen, Wachsen-wollen.
..« Stärker bedeutet hier »mehr Macht«, und dies
besagt: nur Macht. Denn das Wesen der Macht beruht im Herr-sein über
die je erreichte Machtstufe. Macht ist nur dann und nur so lange Macht,
als sie Macht-Steigerung bleibt und sich das »Mehr an Macht«
befiehlt. Schon das bloße Innehalten in der Machtsteigerung, schon
das bloße Stehenbleiben auf einer Machtstufe ist der Beginn des
Sinkens der Macht. Zum Wesen der Macht gehört die Übermächtigung
ihrer selbst. Diese gehört und entspringt der Macht selbst, sofern
sie Befehl ist und als Befehl sich selbst zur Übermächtigung
der jeweiligen Machtstufe ermächtigt. So ist zwar die Macht ständig
unterwegs zu ihr selbst, aber nicht als ein irgendwo für sich vorhandener
Wille, der im Sinne eines Strebens an eine Macht zu kommen sucht. Die
Macht ermächtigt sich auch nicht nur zur Übermächtigung
der jeweiligen Machtstufe bloß der nächsten Stufe wegen, sondern
einzig deshalb, um sich ihrer selbst in der Unbedingtheit ihres Wesens
zu bemächtigen. Wollen ist nach dieser Wesensbestimmung so wenig
ein Streben, daß vielmehr alles Streben nur eine Nach- oder eine
Vorform des Wollens bleibt. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort
»Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 234-235).
In dem Titel »Wille zur Macht« nennt das Wort Macht nur
das Wesen der Weise, wie der Wille sich selbst will, insofern er das Befehlen
ist. Als Befehlen stellt sich der Wille mit sich selbst und d. h. mit
seinem Gewollten zusammen. Dieses Sichzusammennehmen ist das Machten der
Macht. Wille für sich gibt es sowenig wie Macht für sich. Wille
und Macht sind daher auch nicht erst im Willen zur Macht aneinandergekoppelt,
sondern der Wille ist als Wille zum Willen der Wille zur Macht im Sinne
der Ermächtigung zur Macht. Die Macht aber hat ihr Wesen darin, daß
sie als der im Willen stehende Wille zu diesem steht. Der Wille zur Macht
ist das Wesen der Macht. Er zeigt das unbedingte Wesen des Willens an,
der als bloßer Wille sich selbst will. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 235).
Der Wille zur Macht kann daher auch nicht gegen einen Willen zu
etwas anderem abgesetzt werden, z. B. gegen den »Willen zum Nichts«;
denn auch dieser Wille ist noch Wille zum Willen, so daß Nietzsche
sagen kann (Zur Genealogie der Moral, 3. Abhandlung A. 1. a. d. J. 1887):
»eher will er (der Wille) noch das Nichts wollen, als nicht wollen.
-« (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 235).
Das »Nichts wollen« bedeutet keineswegs, die bloße
Abwesenheit von allem Wirklichen wollen, sondern meint, gerade das Wirkliche
wollen, aber dieses je und überall als ein Nichtiges und durch dieses
erst die Vernichtung wollen. In solchem Wollen sichert sich die Macht
immer noch die Befehlsmöglichkeit und das Herr-sein-können.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 236).
Das Wesen des Willens zur Macht ist als das Wesen des Willens
der Grundzug alles Wirklichen. Nietzsche sagt (W. z. M. A. 693. a. d.
J. 1888): Der Wille zur Macht ist »das innerste Wesen des Seins«.
»Das Sein« meint hier nach dem Sprachgebrauch der Metaphysik:
das Seiende im Ganzen. Das Wesen des Willens zur Macht und der Wille zur
Macht selbst als der Grundcharakter des Seienden lassen sich deshalb nicht
durch psychologische Beobachtung feststellen, sondern die Psychologie
selbst empfängt umgekehrt erst ihr Wesen und d. h. die Setzbarkeit
und die Erkennbarkeit ihres Gegenstandes durch den Willen zur Macht. Nietzsche
begreift daher den Willen zur Macht nicht psychologisch, sondern er bestimmt
umgekehrt die Psychologie neu als »Morphologie und Entwicklungslehre
des Willens zur Macht« (Jenseits von Gut und Böse, A. 23).
Die Morphologie ist die Ontologie des on, dessen
morfh, durch den Wandel des eidoV
zur perceptio mitgewandelt, im appetitus der perceptio als der Wille zur
Macht erscheint. Daß die Metaphysik, die von altersher das Seiende
als das upokeimenon, sub-iectum, hinsichtlich
seines Sellls denkt, zu der so bestimmten Psychologie wird, bezeugt nur
als eine Folgeerscheinung das wesentliche Geschehnis, das in einem Wandel
der Seiendheit des Seienden besteht. Die ousia
(Seiendheit) des subiectum wird zur Subjektität des Selbstbewußtseins,
das jetzt sein Wesen als Willen zum Willen ans Licht bringt. Der Wille
ist als Wille zur Macht der Befehl zu Mehr-Macht. Damit der Wille in der
Übermächtigung seiner selbst die jeweilige Stufe übersteigen
kann, muß diese Stufe zuvor erreicht, gesichert und festgehalten
sein. Die Sicherung der jeweiligen Machtstufe ist die notwendige Bedingung
der Überhöhung der Macht. Aber diese notwendige Bedingung ist
nicht hinreichend dafür, daß der Wille sich wollen kann, d.
h. daß ein Stärkersein-wollen, eine Machtsteigerung ist. Der
Wille muß in ein Gesichtsfeld hineinblicken und dieses erst aufschließen,
damit sich von daher allererst Möglichkeiten zeigen, die einer Machtsteigerung
die Bahn weisen. Der Wille muß so eine Bedingung des Über-sich-hinaus-wollens
setzen. Der Wille zur Macht muß zumal setzen: Bedingungen der Machterhaltung
und der Machtsteigerung. Zum Willen gehört das Setzen dieser in sich
zusammengehörigen Bedingungen. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 236-237).
»Wollen überhaupt, ist soviel wie Stärker-werden-wollen,
Wachsen-wollen -und dazu auch die Mittel wollen.« (W. z. M. A. 675.
a. d. J. 1887/88). (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 210). (Martin
Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 237).
Die wesenhaften Mittel sind die vom Willen zur Macht selbst gesetzten
Bedingungen seiner selbst. Diese Bedingungen nennt Nietzsche die Werte.
Er sagt (XIII, A. 395. a. d. J. 1884): »In allem Willen ist Schätzen«.
Schätzen bedeutet: den Wert ausmachen und feststellen. Der Wille
zur Macht schätzt, insofern er die Bedingung der Steigerung aus-
und die Bedingung der Erhaltung festmacht. Der Wille zur Macht ist seinem
Wesen nach der Werte-setzende Wille. Die Werte sind die Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingungen
innerhalb des Seins des Seienden. Der Wille zur Macht ist, sobald er eigens
in seinem reinen Wesen zum Vorschein kommt, selbst der Grund und der Bereich
der Wertsetzung. Der Wille zur Macht hat seinen Grund nicht in einem Gefühl
des Mangels, sondern er selbst ist der Grund des überreichsten Lebens.
Hier bedeutet Leben den Willen zum Willen. »Lebendig:
das heißt schon schätzen« (a. a. 0.).
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 237).
Insofern der Wille die Übermächtigung seiner selbst
will, beruhigt er sich bei keinem Reichtum des Lebens. Er machtet im Überreichen
- nämlich seines eigenen Willens. So kommt er ständig als der
gleiche auf sich als den Gleichen zurück. Die Weise, wie das Seiende
im Ganzen, dessen essentia der Wille zur Macht ist, existiert, seine existentia,
ist die »ewige Wiederkunft des Gleichen«. Die beiden Grundworte
der Metaphysik Nietzsches, »Wille zur Macht« und »ewige
Wiederkunft des Gleichen«, bestimmen das Seiende in seinem Sein
nach den Hinsichten, die von altersher für die Metaphysik leitend
bleiben, das ens qua ens im Sinne von essentia und existentia. (Martin
Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 237-238).
Das so zu denkende Wesensverhältnis zwischen dem »Willen
zur Macht« und der »ewigen Wiederkunft des Gleichen«
läßt sich hier deshalb noch nicht unmittelbar darstellen, weil
die Metaphysik die Herkunft der Unterscheidung zwischen essentia und existentia
weder bedacht, noch auch nur erfragt hat. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 238).
Wenn die Metaphysik das Seiende in seinem Sein als den Willen
zur Macht denkt, denkt sie das Seiende notwendig als Werte-setzendes.
Sie denkt alles im Horizont der Werte, der Wertgeltung, der Entwertung
und Umwertung. Die Metaphysik der Neuzeit beginnt damit und hat darin
ihr Wesen, daß sie das unbedingt Unbezweifelbare, das Gewisse, die
Gewißheit sucht. Es gilt nach dem Wort von Descartes, firmum et
mansumm quid stabilire, etwas Festes und Bleibendes zum Stehen zu bringen.
Dieses Ständige als der Gegenstand genügt dem von altersher
waltenden Wesen des Seienden als des beständig Anwesenden, das überall
schon vorliegt (upokeimenon, subiectum). Auch
Descartes fragt wie Aristoteles nach dem upokeimenon.
Insofern Descartes dieses subiectum in der vorgezeichneten Bahn der Metaphysik
sucht, findet er, die Wahrheit als Gewißheit denkend, das ego cogito
als das ständig Anwesende. So wird das ego sum zum subiectum, d.
h. das Subjekt wird zum Selbstbewußtsein. Die Subjektität des
Subjekts bestimmt sich aus der Gewißheit dieses Bewußtseins.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 238).
Der Wille zur Macht rechtfertigt, indem er die Erhaltung, d. h.
die Bestandsicherung seiner selbst, als einen notwendigen Wert setzt,
zugleich die Notwendigkeit der Sicherung in allem Seienden, das als ein
wesenhaft vorstellendes immer auch ein für-wahr-haltendes ist. Die
Sicherung des Für-wahr-haltens heißt Gewißheit. So wird
nach dem Urteil Nietzsches die Gewißheit als das Prinzip der neuzeitlichen
Metaphysik erst im Willen zur Macht wahrhaft gegründet, gesetzt freilich,
daß die Wahrheit ein notwendiger Wert und die Gewißheit die
neuzeitliche Gestalt der Wahrheit ist. Dies macht deutlich, inwiefern
sich in Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als der »Essenz«
alles Wirklichen die neuzeitliche Metaphysik der Subjektität vollendet.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 238-239).
Deshalb kann Nietzsche sagen: »Die Frage der Werte ist fundamentaler
als die Frage der Gewißheit: letztere erlangt ihren Ernst erst unter
der Voraussetzung, daß die Wertfrage beantwortet ist.« (W.
z. M. A. 588. a. d. J. 1887/88). (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 239).
Die Wertfrage muß jedoch, wenn einmal der Wille zur Macht
als das Prinzip der Wertsetzung erkannt ist, zunächst bedenken, welches
der aus diesem Prinzip notwendige und welches der dem Prinzip gemäße
höchste Wert ist. Insofern das Wesen des Wertes sich darin bekundet,
die im Willen zur Macht gesetzte Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingung zu
sein, hat sich die Perspektive für eine Kennzeichnung des maßgebenden
Wertgefüges geöffnet. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 239).
Die Erhaltung der jeweils erreichten Machtstufe des Willens besteht
darin, daß der Wille sich mit einem Umkreis von solchem umgibt,
worauf er jederzeit und verläßlich zurückgreifen kann,
um daraus seine Sicherheit zu bestreiten. Dieser Umkreis umgrenzt den
für den Willen unmittelbar verfügbaren Bestand an Anwesendem
(ousia nach der alltäglichen Bedeutung
dieses Wortes bei den Griechen). Dieses Beständige wird jedoch nur
so zu einem Ständigen, d. h. zu solchem, was stets zur Verfügung
steht, daß es durch ein Stellen zum Stand gebracht wird. Dieses
Stellen hat die Art des vor-stellenden Herstellens. Das in solcher Weise
Beständige ist das Bleibende. Nietzsche nennt dieses Beständige,
getreu dem in der Geschichte der Metaphysik waltenden Wesen des Seins
(Sein = währende Anwesenheit) »das Seiende«. Oft nennt
er das Beständige, wiederum getreu der Redeweise des metaphysischen
Denkens, »das Sein«. Seit dem Beginn des abendländischen
Denkens gilt das Seiende als das Wahre und als die Wahrheit, wobei indessen
der Sinn von »seiend« und »wahr« sich mannigfach
wandelt. Nietzsche bleibt trotz aller Umkehrungen und Umwertungen der
Metaphysik in der ungebrochenen Bahn ihrer Überlieferungen, wenn
er das im Willen zur Macht für dessen Erhaltung Festgemachte einfachhin
das Sein oder das Seiende oder die Wahrheit nennt. Demgemäß
ist die Wahrheit eine im Wesen des Willens zur Macht gesetzte Bedingung,
nämlich diejenige der Machterhaltung. Die Wahrheit ist als diese
Bedingung ein Wert. Weil der Wille aber nur aus dem Verfügen über
ein Beständiges wollen kann, ist die Wahrheit der aus dem Wesen des
Willens zur Macht für diesen notwendige Wert. Der Name Wahrheit bedeutet
jetzt weder die Unverborgenheit des Seienden, noch die Ubereinstimmung
einer Erkenntnis mit dem Gegenstand, noch die Gewißheit als das
einsichtige Zu- und Sicherstellen des Vorgestellten. Wahrheit ist jetzt,
und zwar in einer wesensgeschichtlichen Herkunft aus den genannten Weisen
ihres Wesens, die beständigende Bestandsicherung des Umkreises, aus
dem her der Wille zur Macht sich selbst will. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 239-240).
Im Hinblick auf die Sicherung der jeweils erreichten Machtstufe
ist die Wahrheit der notwendige Wert. Aber sie reicht nicht zu, um eine
Machtstufe zu erreichen; denn das Beständige, für sich genommen,
vermag niemals das zu geben, dessen der Wille allem zuvor bedarf, um als
Wille über sich hinaus und d. h. erst in Möglichkeiten des Befehls
hineinzugehen. Diese geben sich nur durch einen durchblickenden Vorblick,
der zum Wesen des Willens zur Macht gehört; denn als der Wille zu
Mehr-Macht ist er in sich perspektivisch auf Möglichkeiten. Das Eröffnen
und Beistellen solcher Möglichkeiten ist diejenige Bedingung für
das Wesen des Willens zur Macht, die als die im wörtlichen Sinne
vor-gängige die zuerst genannte überragt. Darum sagt Nietzsche
(W. z. M. A. 853. a. d. J. 1887/88): »Aber die Wahrheit gilt nicht
als oberstes Wertmaß, noch weniger als oberste Macht.«
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 240-241).
Das Schaffen von Möglichkeiten des Willens, aus denen sich
der Wille zur Macht erst zu sich selbst befreit, ist für Nietzsche
das Wesen der Kunst. Diesem metaphysischen Begriff entsprechend, denkt
Nietzsche unter dem Titel Kunst nicht nur und nicht einmal zuerst an den
ästhetischen Bereich der Künstler. Kunst ist das Wesen alles
Wollens, das Perspektiven eröffnet und sie besetzt: »Das Kunstwerk,
wo es ohne Künstler erscheint, z. B. als Leib, als Organisation (preußisches
Offizierkorps, Jesuitenorden). Inwiefern der Künstler nur eine Vorstufe
ist. Die Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk - -«.
(W. z. M. A. 796. a. d. J. 1885/86). (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 241).
Das aus dem Willen zur Macht begriffene Wesen der Kunst besteht
darin, daß die Kunst den Willen zur Macht allererst zu sich selbst
aufreizt und zum Übersichhinauswollen anstachelt. Weil Nietzsche
den Willen zur Macht als die Wirklichkeit des Wirklichen oft im verklingenden
Anklang an zwh und fusiV
der frühen griechischen Denker auch das Leben nennt, kann er sagen,
die Kunst sei »das große Stimulans des Lebens« (W. z.
M. A. 851. a. d. J. 1888). (Martin Heidegger, Nietzsches Wort
»Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 241).
Die Kunst ist die im Wesen des Willens zur Macht gesetzte Bedingung
dafür, daß er als der Wille, der er ist, in die Macht steigen
und sie steigern kann. Weil sie dergestalt bedingt, ist die Kunst ein
Wert. Als diejenige Bedingung, die in der Rangordnung des Bedingens der
Bestandsicherung vorauf- und so allem Bedingen vorausgeht, ist sie der
alle Steighöhe erst eröffnende Wert. Die Kunst ist der höchste
Wert. Im Verhältnis zum Wert Wahrheit ist sie der höhere Wert.
Einer ruft in je anderer Weise den anderen. Beide Werte bestimmen in ihrem
Wertverhältnis das einheitliche Wesen des in sich Werte-setzenden
Willens zur Macht. Dieser ist die Wirklichkeit des Wirklichen oder, das
Wort weiter genommen als Nietzsche es gewöhnlich zu gebrauchen pflegt:
das Sein des Seienden. Wenn die Metaphysik das Seiende hinsichtlich des
Seins zu sagen hat und wenn sie damit nach ihrer Art den Grund des Seienden
nennt, dann muß der Grund-Satz der Metaphysik des Willens zur Macht
den Grund aussagen. Er sagt, welche Werte wesensmäßig gesetzt
und in welcher Wertrangordnung innerhalb des Wesens des Werte-setzenden
Willens zur Macht als der »Essenz« des Seienden sie gesetzt
sind. Der Satz lautet: »Die Kunst ist mehr wert als die Wahrheit«
(W. z. M. A. 853. a. d. J. 1887/88). (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 241-142).
Der Grund-Satz der Metaphysik des Willens zur Macht ist ein Wertsatz.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 242).
Aus dem obersten Wertsatz wird deutlich, daß die Wertsetzung
als solche wesenhaft zwiefältig ist. In ihr wird, ob ausdrücklich
oder nicht, je ein notwendiger und ein hinreichender Wert, beide aber
aus der vorwaltenden Beziehung beider zueinander, gesetzt. Dieses Zwiefältige
der Wertsetzung entspricht ihrem Prinzip. Dasjenige, von woher das Wertsetzen
als solches getragen und geleitet wird, ist der Wille zur Macht. Aus der
Einheit seines Wesens verlangt er nach und langt aus auf Bedingungen der
Steigerung und Erhaltung seiner selbst. Der Hinblick auf das zwiefältige
Wesen der Wertsetzung bringt das Denken eigens vor die Frage nach der
Wesenseinheit des Willens zur Macht. Insofern er die »Essenz«
des Seienden als solchen ist, dies zu sagen aber das Wahre der Metaphysik
ist, fragen wir, wenn wir auf die Wesenseinheit des Willens zur Macht
denken, nach der Wahrheit dieses Wahren. Wir gelangen damit auf den höchsten
Punkt dieser und jeder Metaphysik. Doch was heißt hier höchster
Punkt? Wir erläutern das Gemeinte am Wesen des Willens zur Macht
und bleiben dabei in den Grenzen, die der jetzigen Betrachtung gezogen
sind. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 242).
Die Wesenseinheit des Willens zur Macht kann nichts anderes sein
als er selbst. Sie ist die Weise, wie der Wille zur Macht als Wille sich
vor sich selbst bringt. Sie stellt ihn selbst in seine eigene Prüfung
und vor sie dergestalt, daß er in solcher Prüfung sich selbst
erst rein und damit in seiner höchsten Gestalt repräsentiert.
Aber die Repräsentation ist hier keineswegs eine nachträgliche
Darstellung, sondern die aus ihr bestimmte Präsenz ist die Weise,
in welcher und als welche der Wille zur Macht ist. (Martin
Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 242-243).
Doch diese Weise, wie er ist, ist zugleich die Art, in der er
sich selbst in das Unverborgene seiner selbst stellt. Darin aber beruht
seine Wahrheit. Die Frage nach der Wesenseinheit des Willens zur Macht
ist die Frage nach der Art derjenigen Wahrheit, in der er als das Sein
des Seienden ist. Diese Wahrheit aber ist zugleich die Wahrheit des Seienden
als solchen, als welche die Metaphysik ist. Die Wahrheit, nach der jetzt
gefragt wird, ist demnach nicht jene, die der Wille zur Macht selbst als
die notwendige Bedingung des Seienden als eines Seienden setzt, sondern
diejenige, in der schon der Bedingungen-setzende Wille zur Macht als solcher
west. Dieses Eine, worin er west, seine Wesenseinheit, geht den Willen
zur Macht selbst an. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 243).
Von welcher Art ist nun aber diese Wahrheit des Seins des Seienden?
Sie kann sich nur aus dem bestimmen, dessen Wahrheit sie ist. Insofern
sich aber innerhalb der neuzeitlichen Metaphysik das Sein des Seienden
als Wille und damit als das Sich-wollen bestimmt hat, das Sichwollen aber
in sich schon das Sich-selbst-wissen ist, west das Seiende, das upokeimenon,
das subiectum in der Weise des Sich-selbst-wissens. Das Seiende (subiectum)
präsentiert sich, und zwar ihm selbst in der Weise des ego cogito.
Dieses Sichpräsentieren, die Re-präsentation (Vor-stellung),
ist das Sein des Seienden qua subiectum. Das Sich-selbst-wissen wird zum
Subjekt schlechthin. Im Sich-selbst-wissen versammelt sich alles Wissen
und dessen Wißbares. Es ist Versammlung von Wissen, wie das Gebirge
die Versammlung der Berge. Die Subjektivität des Subjekts ist als
solche Versammlung co-agitatio (cogitatio), die conscientia, das Ge-wissen,
conscience. Die co-agitatio aber ist in sich schon velle, wollen. Mit
der Subjektität des Subjekts kommt als deren Wesen der Wille zum
Vorschein. Die neuzeitliche Metaphysik denkt als die Metaphysik der Subjektität
das Sein des Seienden im Sinne des Willens. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 243-244).
Zur Subjektität gehört als die erste Wesensbestimmung,
daß das vorstellende Subjekt seiner selbst und d. h. stets auch
seines Vorgestellten als eines solchen sich versichert. Gemäß
solcher Versicherung hat die Wahrheit des Seienden als die Gewißheit
den Charakter der Sicherheit (certitudo). Das Sich-selbst-wissen, worin
die Gewißheit als solche ist, bleibt seinerseits eine Abart des
bisherigen Wesens der Wahrheit, nämlich der Richtigkeit (rectitudo)
des Vorstellens. Aber das Richtige besteht jetzt nicht mehr in der Angleichung
an ein in seiner Anwesenheit ungedachtes Anwesendes. Die Richtigkeit besteht
jetzt in der Einrichtung alles Vorzustellenden auf das Richtmaß,
das im Wissensanspruch der vorstellenden res cogitans sive mens gesetzt
ist. Dieser Anspruch geht auf die Sicherheit, die darin besteht, daß
alles Vorzustellende und das Vorstellen in die Klarheit und Deutlichkeit
der mathematischen idea zusammengetrieben und dort versammelt werden.
Das ens ist das ens co-agitatum perceptionis. Das Vorstellen ist jetzt
richtig, wenn es diesem Anspruch auf Sicherheit gerecht wird. Dergestalt
als richtig ausgewiesen, ist es als recht gefertigt und verfügbar,
gerecht-fertigt. Die Wahrheit des Seienden im Sinne der Selbst-Gewißheit
der Subjektität ist als die Sicherheit (certitudo) im Grunde das
Recht-fertigen des Vorstellens und seines Vorgestellten vor der ihm eigenen
Helle. Die Rechtfertigung (iustificatio) ist der Vollzug der iustitia
und so die Gerechtigkeit selbst. Indem das Subjekt je und je Subjekt ist,
vergewissert es sich seiner Sicherung. Es rechtfertigt sich vor dem von
ihm selbst gesetzten Anspruch auf Gerechtigkeit. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 244).
Im Beginn der Neuzeit ist die Frage neu erwacht, wie der Mensch
im Ganzen des Seienden und d. h. vor dem seiendsten Grund alles Seienden
(Gott) der Beständigkeit seiner selbst, d. h. seines Heils gewiß
werden und sein kann. Diese Frage der Heilsgewißheit ist die Frage
der Rechtfertigung, d. h. der Gerechtigkeit (iustitia). (Martin
Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 244-245).
Innerhalb der neuzeitlichen Metaphysik denkt Leibniz zuerst das
subiectum als ens percipiens et appetens. Er denkt im vis-Charakter des
ens zum ersten Mal deutlich das Willenswesen des Seins des Seienden. Er
denkt neuzeitlich die Wahrheit des Seienden als Gewißheit. In seinen
24 Thesen über die Metaphysik sagt Leibniz (Th. 20): iustitia nihil
aliud est quam ordo seu perfectio circa mentes. Die mentes, d. h. die
res cogitantes, sind nach Th. 22 die primariae Mundi unitates. Wahrheit
als Gewißheit ist Sicherung der Sicherheit, ist Ordnung {ordo) und
durchgängige Fest-stellung, d. h. Durch- und Ver-fertigung {per-fectio).
Der Charakter der Sicher-stellung des erstlich und eigentlich Seienden
in seinem Sein ist die iustitia (Gerechtigkeit). (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 245).
Kant denkt in seiner kritischen Grundlegung der Metaphysik die
letzte Selbstsicherung der transzendentalen Subjektivität als die
quaestio iuris der transzendentalen Deduktion. Sie ist die Rechtsfrage
der Recht-fertigung des vorstellenden Subjekts, das sich selbst sein Wesen
in die Selbst-Gerechtigkeit seines »Ich denke« festgemacht
hat. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 245).
Im Wesen der Wahrheit als der Gewißheit, diese als die Wahrheit
der Subjektität und diese als das Sein des Seienden gedacht, verbirgt
sich die aus der Rechtfertigung der Sicherheit erfahrene Gerechtigkeit.
Sie waltet zwar als das Wesen der Wahrheit der Subjektität, wird
jedoch innerhalb der Metaphysik der Subjektität nicht als die Wahrheit
des Seienden gedacht. Wohl muß dagegen die Gerechtigkeit als das
sich selbst wissende Sein des Seienden vor das Denken der neuzeitlichen
Metaphysik kommen, sobald das Sein des Seienden als der Wille zur Macht
erscheint. Dieser weiß sich als den wesenhaft Werte-setzenden, der
sich im Setzen der Werte als der Bedingungen seines eigenen Wesensbestandes
sichert und so sich ständig selbst gerecht wird und in solchem Werden
Gerechtigkeit ist. In dieser und als sie muß das eigene Wesen des
Willens zur Macht repräsentieren und d. h. neuzeitlich metaphysisch
gedacht: sein. So wie in Nietzsches Metaphysik der Wertgedanke fundamentaler
ist als der Grundgedanke der Gewißheit in der Metaphysik bei Descartes,
insofern die Gewißheit als das Rechte nur gelten kann, wenn sie
als der oberste Wert gilt, so erweist sich im Zeitalter der Vollendung
der abendländischen Metaphysik bei Nietzsche die einsichtige Selbstgewißheit
der Subjektität als die Rechtfertigung des Willens zur Macht gemäß
der Gerechtigkeit, die im Sein des Seienden waltet. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 245-246).
Schon in einer frühen und auch allgemeiner bekannten Schrift,
in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung. Vom Nutzen und Nachteil
der Historie für das Leben« (1874), setzt Nietzsche an die
Stelle der Objektivität der historischen wissenschaften »die
Gerechtigkeit« (Abschnitt 6). Sonst aber schweigt Nietzsche über
die Gerechtigkeit. Erst in den entscheidenden Jahren 1884/85, da ihm der
»Wille zur Macht« als der Grundzug des Seienden vor dem denkenden
Auge steht, schreibt er zwei Gedanken über die Gerechtigkeit auf,
ohne sie zu veröffentlichen. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 246).
Die erste Aufzeichnung (1884) trägt den Titel: »Die
Wege der Freiheit«. Sie lautet: »Gerechtigkeit als bauende,
ausscheidende, vernichtende Denkweise, aus den Wertschätzungen heraus;
höchster Repräsentant des Lebens selber.« (XIII,
A. 98). (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 246).
Die zweite Aufzeichnung (1885) sagt: »Gerechtigkeit, als
Funktion einer weit umherschauenden Macht, welche über die kleinen
Perspektiven von Gut und Böse hinaussieht, also einen weiteren Horizont
des Vorteils hat - die Absicht, Etwas zu erhalten, das mehr ist
als diese und jene Person.« (XIV, A. 158). (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 246).
Eine genaue Erläuterung dieser Gedanken ginge über den
Rahmen der hier versuchten Besinnung hinaus. Hier genüge der Hinweis
auf den Wesensbezirk, in den die von Nietzsche gedachte Gerechtigkeit
gehört. Zur Vorbereitung eines Verständnisses der Gerechtigkeit,
die Nietzsche im Auge hat, müssen wir alle Vorstellungen über
die Gerechtigkeit ausschalten, die aus der christlichen, humanistischen,
aufklärerischen, bürgerlichen und sozialistischen Moral stammen.
Denn Nietzsche versteht die Gerechtigkeit überhaupt nicht zuerst
als eine Bestimmung des ethischen und juristischen Bereiches. Er denkt
sie vielmehr aus dem Sein des Seienden im Ganzen, d. h. aus dem Willen
zur Macht. Das Gerechte bleibt jenes, was dem Rechten gemäß
ist. Aber was rechtens ist, bestimmt sich aus dem, was als Seiendes seiend
ist. Darum sagt Nietzsche (XIII, A. 462. a. d. J. 1883): .Recht = der
Wille, ein jeweiliges Machtverhältnis zu verewigen. Zufriedenheit
damit ist die Voraussetzung. Alles, was ehrwürdig ist, wird hinzugezogen,
das Recht als das Ewige erscheinen zu lassen.« (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 246-247).
Dazu gehört die Aufzeichnung aus dem folgenden Jahr: »Das
Problem der Gerechtigkeit. Das Erste und Mächtigste ist nämlich
gerade der Wille und die Kraft zur Übermacht. Erst der Herrschende
stellt nachher Gerechtigkeit fest, d. h. er mißt die
Dinge nach seinem Maße; wenn er sehr mächtig ist, kann
er sehr weit gehen im Gewähren-lassen und Anerkennen des versuchenden
Individuums.« (XIV, A. 181). Mag nun auch, was in der Ordnung ist,
Nietzsches metaphysischer Begriff der Gerechtigkeit das geläufige
Vorstellen noch befremden, er trifft gleichwohl das Wesen der Gerechtigkeit,
die im Beginn der Vollendung des neuzeitlichen Weltalters innerhalb des
Kampfes um die Erdherrschaft bereits geschichtlich ist und darum alles
Handeln des Menschen in diesem Weltalter, ausdrücklich oder nicht,
versteckt oder offen bestimmt. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 247).
Die von Nietzsche gedachte Gerechtigkeit ist die Wahrheit des
Seienden, das in der Weise des Willens zur Macht ist. Allein, auch Nietzsche
hat die Gerechtigkeit weder ausdrücklich als das Wesen der Wahrheit
des Seienden gedacht, noch hat er aus diesem Gedanken die Metaphysik der
vollendeten Subjektität zur Sprache gebracht. Die Gerechtigkeit ist
aber die vom Sein selbst bestimmte Wahrheit des Seienden. Als diese Wahrheit
ist sie die Metaphysik selbst in ihrer neuzeitlichen Vollendung. In der
Metaphysik als solcher verbirgt sich der Grund, weshalb Nietzsche den
Nihilismus zwar metaphysisch als Geschichte der Wertsetzung erfahren,
aber gleichwohl das Wesen des Nihilismus nicht denken kann. (Martin
Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 247-248).
Welche verborgene, aus dem Wesen der Gerechtigkeit als ihrer Wahrheit
sich fügende Gestalt für die Metaphysik des Willens zur Macht
aufbehalten war, wissen wir nicht. Kaum ihr erster Grundsatz ist ausgesprochen
und dabei nicht einmal als Satz in solcher Form. Gewiß ist der Satzcharakter
dieses Satzes innerhalb dieser Metaphysik von eigener Art. Gewiß
ist der erste Wertsatz nicht der Obersatz für ein deduktives Sätze-System.
Verstehen wir den Titel Grund-Satz der Metaphysik in dem vorsichtigen
Sinne, daß er den Wesensgrund des Seienden als solchen, d. h. dieses
in der Einheit seines Wesens nennt, dann bleibt er weit und faltig genug,
um jeweils nach der Art der Metaphysik die Weise ihres Sagens vom Grunde
zu bestimmen. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 248).
Nietzsche hat den ersten Wertsatz der Metaphysik des Willens zur
Macht noch in einer anderen Form ausgesprochen (W. z. M. A. 822. a. d.
J. 1888): »Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit
zu Grunde gehn.« (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 248).
Diesen Satz über das metaphysische Wesens- und d. h. hier
Wertverhältnis zwischen Kunst und Wahrheit dürfen wir freilich
nicht nach unseren Alltagsvorstellungen über Wahrheit und Kunst auffassen.
Geschieht es, dann wird alles banal und nimmt uns, was erst recht verhängnisvoll
ist, die Möglichkeit, eine wesentliche Auseinandersetzung mit der
verborgenen Position der sich vollendenden Metaphysik des Weltalters zu
versuchen, um so unser eigenes geschichtliches Wesen aus den Vernebelungen
durch die Historie und die Weltanschauungen zu befreien. (Martin
Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 248).
In der zuletzt genannten Formel des Grund-Satzes der Metaphysik
des Willens zur Macht sind Kunst und Wahrheit als die ersten Herrschaftsgebilde
des Willens zur Macht in der Beziehung auf den Menschen gedacht. Wie überhaupt
die Wesensbeziehung der Wahrheit des Seienden als solchen zum Wesen des
Menschen innerhalb der Metaphysik gemäß ihrem Wesen zu denken
ist, bleibt unserem Denken noch verhüllt. Die Frage ist kaum gefragt
und durch das Vorherrschen der philosophischen Anthropologie ins Heillose
verwirrt. In jedem Falle aber wäre es irrig, wollte man die Formel
des Wertsatzes als ein Zeugnis dafür nehmen, daß Nietzsche
existenziell philosophiert. Das hat er nie getan. Aber er hat metaphysisch
gedacht. Wir sind noch nicht reif für die Strenge eines Gedankens
von der Art des folgenden, den Nietzsche um die Zeit seines Denkens für
das geplante Hauptwerk »Der Wille zur Macht« aufzeichnete:
»Um den Helden herum wird alles zur Tragödie, um den Halbgott
herum Alles zum Satyrspiel; und um Gott herum wird Alles -wie? vielleicht
zur Welt? -« (Jenseits von Gut und Böse, A. 150.
[1886]). (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 248-249).
Doch ist es an der Zeit, einsehen zu lernen, daß Nietzsches
Denken, obzwar es historisch und auf den Titel gesehen eine andere Gebärde
zeigen muß, nicht weniger sachhaft und streng ist als das Denken
des Aristoteles, der im vierten Buch seiner Metaphysik den Satz vom Widerspruch
als die erste Wahrheit über das Sein des Seienden denkt. Die üblich
gewordene, aber deshalb nicht weniger fragwürdige Zusammenstellung
Nietzsches mit Kierkegaard verkennt, und zwar aus einer Verkennung des
Wesens des Denkens, daß Nietzsche als metaphysischer Denker die
Nähe zu Aristoteles wahrt. Diesem bleibt Kierkegaard, obwoW er ihn
öfter nennt, wesenhaft fern. Denn Kierkegaard ist kein Denker, sondern
ein religiöser Schriftsteller und zwar nicht einer unter anderen,
sondern der einzige dem Geschick seines Zeitalters gemäße.
Darin beruht seine Größe, falls so zu reden nicht schon ein
Mißverständnis ist. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 249).
Im Grund-Satz der Metaphysik Nietzsches ist mit dem Wesensverhältnis
der Werte Kunst und Wahrheit die Wesenseinheit des Willens zur Macht genannt.
Aus dieser Wesenseinheit des Seienden als solchen bestimmt sich das metaphysische
Wesen des Wertes. Er ist die im Willen zur Macht für diesen gesetzte
zwiefältige Bedingung seiner selbst. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 249-250).
Weil Nietzsche das Sein des Seienden als den Willen zur Macht
erfährt, muß sein Denken auf die Werte hinausdenken. Deshalb
gilt es, überall und allem zuvor die Wertfrage zu stellen. Dieses
Fragen erfährt sich selbst als geschichtliches. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 250).
Wie steht es mit den bisherigen obersten Werten? Was bedeutet
die Entwertung dieser Werte im Hinblick auf die Umwertung aller Werte?
Weil das Denken nach Werten in der Metaphysik des Willens zur Macht gründet,
ist Nietzsches Auslegung des Nihilismus als des Vorganges der Entwertung
der obersten Werte und der Umwertung aller Werte eine metaphysische und
zwar im Sinne der Metaphysik des Willens zur Macht. Sofern aber Nietzsche
das eigene Denken, die Lehre vom Willen zur Macht als dem »Prinzip
der neuen Wertsetzung«, im Sinne der eigentlichen Vollendung des
Nihilismus begreift, versteht er den Nihilismus nicht mehr nur negativ
als die Entwertung der obersten Werte, sondern zugleich positiv, nämlich
als die Überwindung des Nihilismus; denn die jetzt ausdrücklich
erfahrene Wirklichkeit des Wirklichen, der Wille zur Macht, wird zum Ursprung
und Maß einer neuen Wertsetzung. Deren Werte bestimmen unmittelbar
das menschliche Vorstellen und befeuern insgleichen das menschliche Handeln.
Das Menschsein wird in eine andere Dimension des Geschehens gehoben.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 250).
In dem gelesenen Stück A. 125 aus der »Fröhlichen
Wissenschaft« sagt der tolle Mensch von der Tat der Menschen, durch
die Gott getötet, d. h. die übersinnliche Welt entwertet wurde,
dieses: »Es gab nie eine größere Tat - und wer nur immer
nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere
Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 250).
Mit dem Bewußtsein, daß »Gott tot ist«,
beginnt das Bewußtsein von einer radikalen Umwertung der bisherigen
obersten Werte. Der Mensch selbst geht nach diesem Bewußtsein in
eine andere Geschichte über, die höher ist, weil in ihr das
Prinzip aller Wertsetzung, der Wille zur Macht, eigens als die Wirklichkeit
des Wirklichen, als das Sein alles Seienden erfahren und übernommen
wird. Das Selbstbewußtsein, worin das neuzeitliche Menschentum sein
Wesen hat, vollzieht damit den letzten Schritt. Es will sich selbst als
den Vollstrecker des unbedingten Willens zur Macht. Der Niedergang der
maßgebenden Werte ist zu Ende. Der Nihilismus, »daß
die obersten Werte sich entwerten«, ist überwunden. Dasjenige
Menschentum, das sein eigenes Menschsein als Willen zur Macht will und
dieses Menschsein als zugehörig in die durch den Willen zur Macht
im Ganzen bestimmte Wirklichkeit erfährt, wird durch eine Wesensgestalt
des Menschen bestimmt, die über den bisherigen Menschen hinausgeht.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 250-251).
Der Name für die Wesensgestalt des Menschentums, das über
den bisherigen Menschenschlag hinausgeht, heißt »der Übermensch«.
Darunter versteht Nietzsche nicht irgendein vereinzeltes Exemplar von
Mensch, in dem die Fähigkeiten und Absichten des gewöhnlich
bekannten Menschen ins Riesige vergrößert und gesteigert sind.
»Der Übermensch« ist auch nicht diejenige Art von Menschen,
die auf dem Wege einer Anwendung der Philosophie Nietzsches auf das Leben
erst entsteht. Der Name »Übermensch« nennt das Wesen
des Menschentums, das als das neuzeitliche in die Wesensvollendung seines
Zeitalters einzutreten beginnt. »Der Übermensch« ist
der Mensch, welcher Mensch ist aus der durch den Willen zur Macht bestimmten
Wirklichkeit und für diese. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 251).
Der Mensch, dessen Wesen das aus dem Willen zur Macht gewillte
ist, ist der Übermensch. Das Wollen dieses so gewillten Wesens muß
dem Willen zur Macht als dem Sein des Seienden entsprechen. Darum entspringt
in eins mit dem Denken, das den Willen zur Macht denkt, notwendig die
Frage: In welche Gestalt muß sich das aus dem Sein des Seienden
gewillte Wesen des Menschen stellen und entfalten, damit es dem Willen
zur Macht genügt und so die Herrschaft über das Seiende zu übernehmen
vermag? Unversehens und vor allem unversehen findet sich der Mensch aus
dem Sein des Seienden her vor die Aufgabe gestellt, die Erdherrschaft
zu übernehmen. Hat der bisherige Mensch hinreichend bedacht, in welcher
Weise das Sein des Seienden inzwischen erscheint? Hat der bisherige Mensch
sich dessen versichert, ob sein Wesen die Reife und Kraft hat, dem Anspruch
dieses Seins zu entsprechen? Oder hilft sich der bisherige Mensch nur
mit Aushilfen und auf Umwegen, die ihn immer neu davon abdrängen,
das zu erfahren, was ist? Der bisherige Mensch möchte der bisherige
bleiben und ist zugleich schon der Gewillte des Seienden, dessen Sein
als der Wille zur Macht zu erscheinen beginnt. Der bisherige Mensch ist
in seinem Wesen überhaupt noch nicht vorbereitet auf das Sein, das
inzwischen das Seiende durchwaltet. In ihm waltet die Notwendigkeit, daß
der Mensch über den bisherigen Menschen hinausgehe, nicht aus einer
bloßen Lust und nicht zur bloßen Willkür, sondern einzig
umwillen des Seins. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 251-252).
Nietzsches Gedanke, der den Übermenschen denkt, entspringt
aus dem Denken, das ontologisch das Seiende als das Seiende denkt und
sich so dem Wesen der Metaphysik fügt, ohne doch dieses Wesen innerhalb
der Metaphysik erfahren zu können. Darum bleibt auch wie in aller
Metaphysik vor Nietzsche für ihn verborgen, inwiefern sich das Wesen
des Menschen aus dem Wesen des Seins bestimmt. Darum verhüllt sich
in Nietzsches Metaphysik notwendig der Grund des Wesenszusammenhanges
zwischen dem Willen zur Macht und dem Wesen des Übermenschen. Doch
in jedem Verhüllen waltet zugleich schon ein Erscheinen. Die existentia,
die zur essentia des Seienden, d. h. zum Willen zur Macht, gehört,
ist die ewige Wiederkunft des Gleichen. Das in ihr gedachte Sein enthält
den Bezug zum Wesen des Übermenschen. Aber dieser Bezug bleibt in
seinem seinsmäßigen Wesen notwendig ungedacht. Darum liegt
auch für Nietzsche selber im Dunkel, in welchem Zusammenhang das
Denken, das den Übermenschen in der Gestalt des Zarathustra denkt,
mit dem Wesen der Metaphysik steht. Darum bleibt der Werkcharakter des
Werkes »Also sprach Zarathustra« verborgen. Erst wenn ein
künftiges Denken in den Stand gebracht ist, dieses »Buch für
Alle und Keinen« mit Schellings »Untersuchungen über
das Wesen der menschlichen Freiheit« (1809), und d. h. zugleich
mit Hegels Werk »Die Phänomenologie des Geistes« (1807),
und d. h. zugleich mit der »Monadologie« (1714) von Leibniz
zusammenzudenken und diese Werke nicht nur metaphysisch, sondern aus dem
Wesen der Metaphysik zu denken, sind Recht und Pflicht sowohl wie Boden
und Gesichtskreis für eine Auseinandersetzung gegründet.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 252-253).
Es ist leicht, aber nicht zu verantworten, sich vor der Idee und
der Gestalt des Übermenschen, die sich das eigene Mißverstehen
zurechtgemacht hat, zu entrüsten und die Entrüstung für
eine Widerlegung auszugeben. Es ist schwer, aber für das künftige
Denken unausweichlich, in die hohe Verantwortung zu gelangen, aus der
Nietzsche das Wesen desjenigen Menschentums bedacht hat, das im Seinsgeschick
des Willens zur Macht zur Übernahme der Herrschaft über die
Erde bestimmt wird. Das Wesen des Übermenschen ist kein Freibrief
für die Tobsucht einer Willkür. Es ist das im Sein selbst gegründete
Gesetz einer langen Kette der höchsten Selbstüberwindungen,
die den Menschen erst reif machen für das Seiende, das als das Seiende
dem Sein gehört, welches Sein als der Wille zur Macht sein Willenswesen
zum Erscheinen bringt und durch dieses Erscheinen Epoche macht, nämlich
die letzte Epoche der Metaphysik. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 253).
Der bisherige Mensch heißt nach der Metaphysik Nietzsches
der bisherige, weil sein Wesen vom Willen zur Macht als dem Grundzug alles
Seienden zwar bestimmt ist, er aber gleichwohl den Willen zur Macht nicht
als diesen Grundzug erfahren und übernommen hat. Der über den
bisherigen Menschen hinausgehende Mensch nimmt den Willen zur Macht als
den Grundzug alles Seienden in sein eigenes Wollen auf und will sich so
selbst im Sinne des Willens zur Macht. Alles Seiende ist als das in diesem
Willen gesetzte. Was vormals in der Weise von Ziel und Maß das Menschenwesen
bedingte und bestimmte, hat seine unbedingte und unmittelbare und vor
allem überallhin unfehlbar wirksame Wirkungsmacht eingebüßt.
Jene übersinnliche Welt der Ziele und Maße erweckt und trägt
das Leben nicht mehr. Jene Welt ist selbst leblos geworden: tot. Christlicher
Glaube wird da und dort sein. Aber die in solcher Welt waltende Liebe
ist nicht das wirkend-wirksame Prinzip dessen, was jetzt geschieht. Der
übersinnliche Grund der übersinnlichen Welt ist, als die wirksame
Wirklichkeit alles Wirklichen gedacht, unwirklich geworden. Das ist der
metaphysische Sinn des metaphysisch gedachten Wortes »Gott ist tot«.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 253-254).
Wollen wir vor der so zu denkenden Wahrheit dieses Wortes noch
länger die Augen schließen? Wenn wir das wollen, dann wird
durch diese seltsame Verblendung jenes Wort freilich nicht unwahr. Gott
ist noch nicht ein lebendiger Gott, wenn wir weiter versuchen, das Wirkliche
zu meistern, ohne zuvor seine Wirklichkeit ernst und in die Frage zu nehmen,
ohne zu bedenken, ob der Mensch dem Wesen, in das er aus dem Sein her
hineingerissen wird, so zugereift ist, daß er dieses Geschick aus
seinem Wesen und nicht mit der Scheinhilfe bloßer Maßnahmen
übersteht. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 254).
Der Versuch, die Wahrheit jenes Wortes vom Tod Gottes ohne Illusionen
zu erfahren, ist etwas anderes als ein Bekenntnis zur Philosophie Nietzsches.
Meinten wir es so, dann wäre mit solcher Zustimmung dem Denken nicht
gedient. Einen Denker achten wir nur, indem wir denken. Dies verlangt,
alles Wesentliche zu denken, was in seinem Gedanken gedacht ist. Wenn
Gott und die Götter im Sinne der erläuterten metaphysischen
Erfahrung tot sind, und wenn der Wille zur Macht wissentlich als das Prinzip
alles Setzens der Bedingungen von Seiendem, d. h. als Prinzip der Wertsetzung,
gewollt ist, dann geht die Herrschaft über das Seiende als solches
in der Gestalt der Herrschaft über die Erde an das neue, durch den
Willen zur Macht bestimmte Wollen des Menschen über. Nietzsche schließt
den ersten Teil von »Also sprach Zarathustra«, der ein: Jahr
nach der »Fröhlichen Wissenschaft« im Jahre 1883 erschien,
mit dem Wort: »Tot sind alle Götter: nun wollen wir, daß
der Übermensch lebe!« (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 254-255).
Man könnte grob denkend meinen, das Wort sage, die Herrschaft
über das Seiende gehe von Gott an den Menschen über oder, noch
gröber gemeint, Nietzsche setze an die Stelle Gottes den Menschen.
Die es so meinen, denken allerdings wenig göttlich von Gottes Wesen.
Nie kann sich der Mensch an die Stelle Gottes setzen, weil das Wesen des
Menschen den Wesensbereich Gottes nie erreicht. Wohl dagegen kann, gemessen
an dieser Unmöglichkeit, etwas weit Unheimlicheres geschehen, dessen
Wesen zu bedenken wir noch kaum begonnen haben. Die Stelle, die, metaphysisch
gedacht, Gott eignet, ist der Ort der verursachenden Bewirkung und Erhaltung
des Seienden als eines Geschaffenen. Dieser Ort Gottes kann leer bleiben.
Statt seiner kann sich ein anderer, d. h. metaphysisch entsprechender
Ort auftun, der weder mit dem Wesensbereich Gottes noch mit demjenigen
des Menschen identisch ist, zu dem aber wiederum der Mensch in eine ausgezeichnete
Beziehung gelangt. Der Übermensch tritt nicht und nie an die Stelle
Gottes, sondern die Stelle, auf die das Wollen des Übermenschen eingeht,
ist ein anderer Bereich einer anderen Begründung des Seienden in
seinem anderen Sein. Dieses andere Sein des Seienden ist inzwischen -
und das bezeichnet den Beginn der neuzeitlichen Metaphysik - die Subjektität
geworden. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist
tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 255).
Alles Seiende ist jetzt entweder das Wirkliche als der Gegenstand
oder das Wirkende als die Vergegenständlichung, in der sich die Gegenständlichkeit
des Gegenstandes bildet. Die Vergegenständlichung stellt vor-stellend
den Gegenstand auf das ego cogito zu. In diesem Zustellen erweist sich
das ego als das, was seinem eigenen Tun (dem vor-stellenden Zu-stellen)
zugrunde liegt, d. h. als subiectum. Das Subjekt ist für sich selbst
Subjekt. Das Wesen des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein.
Alles Seiende ist darum entweder Objekt des Subjekts oder Subjekt des
Subjekts. Überall beruht das Sein des Seienden im Sich-vor-sich-selbst-stellen
und so Sich-auf-stellen. Der Mensch steht innerhalb der Subjektität
des Seienden in die Subjektivität seines Wesen auf. Der Mensch tritt
in den Aufstand. Die Welt wird zum Gegenstand. In dieser aufständischen
Vergegenständlichung alles Seienden rückt das, was zuerst in
die Verfügung des Vor- und Her-stellens gebracht werden muß,
die Erde, in die Mitte des menschlichen Setzens und Auseinandersetzens.
Die Erde selbst kann sich nur noch als der Gegenstand des Angriffes zeigen,
der sich als die unbedingte Vergegenständlichung im Wollen des Menschen
einrichtet. Die Natur erscheint überall, weil aus dem Wesen des Seins
gewillt, als der Gegenstand der Technik. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 255-256).
Aus der Zeit 1881/82, in der das Stück »der tolle Mensch«
entstand, stammt die Aufzeichnung Nietzsches: »Die Zeit kommt, wo
der Kampf um die Erdherrschaft geführt werden wird, - er wird im
Namen philosophischer Grundlehren geführt werden.« (XII,
441). (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 256).
Damit ist nicht gesagt, der Kampf um die unbeschränkte Ausnützung
der Erde als Rohstoffgebiet und um die illusionslose Verwendung des »Menschenmaterials«
im Dienste der unbedingten Ermächtigung des Willens zur Macht in
sein Wesen nehme ausdrücklich die Berufung auf eine Philosophie zu
Hilfe. Im Gegenteil ist zu vermuten, daß die Philosophie als Lehre
und als Gebilde der Kultur verschwindet und in ihrer jetzigen Gestalt
auch verschwinden kann, weil sie, sofern sie echt gewesen, die Wirklichkeit
des Wirklichen schon zur Sprache und so das Seiende als solches in die
Geschichte seines Seins gebracht hat. Die »philosophischen Grundlehren«
meinen nicht Doktrinen von Gelehrten, sondern die Sprache der Wahrheit
des Seienden als solchen, welche Wahrheit die Metaphysik selbst ist in
der Gestalt der Metaphysik der unbedingten Subjektität des Willens
zur Macht. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist
tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 256).
Der Kampf um die Erdherrschaft ist in seinem geschichtlichen Wesen
bereits die Folge dessen, daß das Seiende als solches in der Weise
des Willens zur Macht erscheint, ohne doch schon als dieser Wille erkannt
oder gar begriffen zu sein. Ohnehin sagen die mitlaufenden Doktrinen des
Handelns und die Ideologien des Vorstellens nie das, was ist und darum
geschieht. Mit dem Beginn des Kampfes um die Erdherrschaft treibt das
Zeitalter der Subjektität in seine Vollendung. Zu ihr gehört,
daß das Seiende, das im Sinne des Willens zur Macht ist, seiner
eigenen Wahrheit über sich selbst nach seiner Weise in jeder Hinsicht
gewiß und deshalb auch bewußt wird. Das Bewußtmachen
ist ein notwendiges Instrument des WoIlens, das aus dem Willen zur Macht
will. Es geschieht hinsichtlich der Vergegenständlichung in der Gestalt
der Planung. Es geschieht im Bezirk des Aufstandes des Menschen in das
Sichwollen durch das fortgesetzte Zergliedern der historischen Situation.
Metaphysisch gedacht ist die Situation stets die Station der Aktion des
Subjekts. Jede Analyse der Situation griindet, ob sie es weiß oder
nicht, in der Metaphysik der Subjektität. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 257).
»Der große Mittag« ist die Zeit der hellsten
Helle, nämlich des Bewußtseins, das unbedingt und in jeder
Hinsicht sich seiner selbst als desjenigen Wissens bewußt geworden
ist, das darin besteht, wissentlich den Willen zur Macht als das Sein
des Seienden zu wollen und als solches Wollen aufständisch zu sich
jede notwendige Phase der Vergegenständlichung der Welt zu überstehen
und so den beständigen Bestand des Seienden für das möglichst
gleichförmige und gleichmäßige Wollen zu sichern. Im Wollen
dieses Willens kommt aber die Notwendigkeit über den Menschen, die
Bedingungen solchen Wollens mitzuwollen. Das besagt: Werte setzen und
alles nach Werten schätzen. Dergestalt bestimmt der Wert alles Seiende
in seinem Sein. Dies bringt uns vor die Frage: Was ist jetzt, im
Zeitalter, da die unbedingte Herrschaft des Willens zur Macht offenkundig
anbricht und dieses Offenkundige und sein Offentliches selbst eine Funktion
dieses Willens wird? Was ist? Wir fragen nicht nach Begebenheiten und
Tatsachen, für deren jede sich je nach Bedarf im Bereich des Willens
zur Macht Zeugnisse beschaffen und beseitigen lassen. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 257-258).
Was ist? Wir fragen nicht nach diesem oder jenem Seienden, sondern
nach dem Sein des Seienden. Eher noch: wir fragen, wie ist es mit dem
Sein selbst? Wir fragen auch dies nicht ins Ungefähre, sondern im
Hinblick auf die Wahrheit des Seienden als solchen, die in der Gestalt
der Metaphysik des Willens zur Macht zur Sprache kommt. Wie ist es mit
dem Sein im Zeitalter der beginnenden Herrschaft des unbedingten Willens
zur Macht? (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist
tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 258).
Das Sein ist zum Wert geworden. Beständigung der Beständigkeit
des Bestandes ist eine notwendige, vom Willen zur Macht selbst gesetzte
Bedingung der Sicherung seiner selbst. Doch kann das Sein höher geschätzt
werden als so, daß es eigens zum Wert erhoben wird? Allein, indem
das Sein als ein Wert gewürdigt wird, ist es schon zu einer vom Willen
zur Macht selbst gesetzten Bedingung herabgesetzt. Vordem schon ist das
Sein selbst, insofern es überhaupt geschätzt und so gewürdigt
wird, um die Würde seines Wesens gebracht. Wenn das Sein des Seienden
zum Wert gestempelt und wenn damit sein Wesen besiegelt ist, dann ist
innerhalb dieser Metaphysik, und d. h. stets innerhalb der Wahrheit des
Seienden als solchen während dieses Zeitalters, jeder Weg zur Erfahrung
des Seins selbst ausgelöscht. Dabei setzen wir mit solcher Rede voraus,
was wir vielleicht gar nicht voraussetzen dürfen, daß jemals
ein solcher Weg zum Sein selbst bestanden und daß ein Denken an
das Sein je schon das Sein als Sein gedacht habe. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 258).
Uneingedenk des Seins und seiner eigenen Wahrheit denkt das abendländische
Denken seit seinem Anfang stets das Seiende als solches. Inzwischen hat
es nur in solcher Wahrheit das Sein gedacht, so daß es diesen Namen
unbeholfen genug und in einer unentwirrten, weil unerfahrenen Mehrdeutigkeit
zur Sprache bringt. Dieses Denken, das des Seins selbst uneingedenk geblieben,
ist das einfache und alles tragende, darum rätselvolle und unerfahrene
Ereignis der abendländischen Geschichte, die inzwischen zur Weltgeschichte
sich auszubreiten im Begriffe steht. Zuletzt ist in der Metaphysik das
Sein zu einem Wert herabgesunken. Darin bezeugt sich, daß das Sein
nicht als das Sein zugelassen ist. Was sagt dies? (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 258-259).
Wie ist es mit dem Sein? Mit dem Sein ist es nichts. Wie, wenn
darin erst das bisher verhüllte Wesen des Nihilismus sich ankündigte?
Dann wäre das Denken in Werten der reine Nihilismus? Aber Nietzsche
begreift doch die Metaphysik des Willens zur Macht gerade als die Überwindung
des Nihilismus. In der Tat, solange der Nihilismus nur als die Entwertung
der obersten Werte verstanden und der Wille zur Macht als das Prinzip
der Umwertung aller Werte aus einer Neusetzung der obersten Werte gedacht
wird, ist die Metaphysik des Willens zur Macht eine Überwindung des
Nihilismus. Aber in dieser Überwindung des Nihilismus wird das Wertdenken
zum Prinzip erhoben. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 259).
Wenn jedoch der Wert das Sein nicht das Seina sein läßt,
was es als das Sein selbst ist, dann ist die vermeintliche Überwindung
allererst die Vollendung des Nihilismus. Denn jetzt denkt die Metaphysik
nicht nur nicht das Sein selbst, sondern dieses Nicht-denken des Seins
hüllt sich in den Anschein, es denke doch, indem es das Sein als
Wert schätze, das Sein in der würdigsten Weise, so daß
alles Fragen nach dem Sein überflüssig werde und bleibe. Ist
jedoch, auf das Sein selbst gedacht, das Denken, das alles nach Werten
denkt, Nihilismus, dann ist sogar schon Nietzsches Erfahrung von Nihilismus,
daß er die Entwertung der obersten Werte sei, eine nihilistische.
Die Auslegung der übersinnlichen Welt, die Auslegung Gottes als der
obersten Werte ist nicht aus dem Sein selbst gedacht. Der letzte Schlag
gegen Gott und gegen die Übersinnliche Welt besteht darin, daß
Gott, das Seiende des Seienden, zum höchsten Wert herabgewürdigt
wird. Nicht daß Gott für unerkennbar gehalten, nicht daB Gottes
Existenz als unbeweisbar erwiesen wird, ist der härteste Schlag gegen
Gott, sondem daß der für wirklich gehaltene Gott zum obersten
Wert erhoben wird. Denn dieser Schlag kommt gerade nicht von den Herumstehern,
die nicht an Gott glauben, sondern von den Gläubigen und deren Theologen,
die vom Seiendsten alles Seienden reden, ohne je sich einfallen zu lassen,
an das Sein selbst zu denken, um dabei inne zu werden, daß dieses
Denken und jenes Reden, aus dem Glauben gesehen, die Gotteslästerung
schlechthin ist, falls sie sich in die Theologie des Glaubens einmischen.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 259-260).
Jetzt kommt auch erst ein schwaches Licht in das Dunkel der Frage,
die wir schon, während wir noch das Stück über den tollen
Menschen hörten, an Nietzsche richten wollten: Wie kann es überhaupt
geschehen, daß Menschen je vermögen, Gott zu töten? Offenbar
denkt Nietzsche aber gerade dieses. Denn in dem ganzen Stück sind
nur zwei Sätze eigens im Druck herausgehoben. Der eine lautet: »Wir
haben ihn getötet«, nämlich Gott. Der andere lautet:
»und doch haben sie dieselbe getan«, nämlich die
Menschen haben die Tat der Tötung Gottes getan, obzwar sie heute
noch nichts davon gehört haben. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 260).
Die beiden im Druck abgehobenen Sätze geben die Auslegung
für das Wort »Gott ist tot«. Das Wort bedeutet nicht,
als sei es aus der Leugnung und dem niedrigen Haß gesprochen: es
gibt keinen Gott. Das Wort bedeutet Ärgeres: Gott ist getötet.
So kommt erst der entscheidende Gedanke zum Vorschein. Indessen wird aber
das Verständnis noch schwieriger. Denn eher noch wäre das Wort
»Gott ist tot« in dem Sinne zu verstehen, daß es anzeigte:
Gott selbst hat von sich her sich aus seiner lebendigen Anwesenheit entfernt.
Daß Gott aber von anderen und sogar von Menschen getötet sein
sollte, ist undenkbar. Nietzsche selbst wundert sich über diesen
Gedanken. Nur darum läßt er unmittelbar nach dem entscheidenden
Wort: »Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir alle
sind seine Mörder!« den tollen Menschen fragen: »Aber
wie haben wir dies gemacht?« Nietzsche erläutert die Frage,
indem er sie, das Gefragte in drei Bildern umschreibend, wiederholt: »Wie
vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den
ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer
Sonne losketteten?« (Martin Heidegger, Nietzsches Wort
»Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 260-261).
Auf die letzte Frage könnten wir antworten: Was die Menschen
taten, als sie die Erde von ihrer Sonne losketteten, sagt die europäische
Geschichte der letzten dreiundeinhalb Jahrhunderte. Doch was ist im Grunde
dieser Geschichte mit dem Seienden geschehen? Nietzsche denkt, wenn er
die Beziehung zwischen Sonne und Erde nennt, nicht nur an die kopernikanische
Wendung in der neuzeitlichen Naturauffassung. Der Name Sonne erinnert
zugleich an Platons Gleichnis. Danach ist die Sonne und der Bereich ihres
Lichtes der Umkreis, in dem das Seiende nach seinem Aussehen, nach seinen
Gesichtern (Ideen) erscheint. Die Sonne bildet und umgrenzt den Gesichtskreis,
worin das Seiende als solches sich zeigt. Der »Horizont« meint
die übersinnliche Welt als die wahrhaft seiende. Dieses ist zugleich
das Ganze, das alles umschlingt und in sich einbezieht wie das Meer. Die
Erde als der Aufenthalt des Menschen ist von ihrer Sonne losgekettet.
Der Bereich des an sich seienden Übersinnlichen steht nicht mehr
als das maßgebende Licht über dem Menschen. Der ganze Gesichtskreis
ist weggewischt. Das Ganze des Seienden als solchen, das Meer, ist vom
Menschen ausgetrunken. Denn der Mensch ist in die Ichheit des ego cogito
aufgestanden. Mit diesem Aufstand wird alles Seiende zum Gegenstand. Das
Seiende wird als das Objektive in die Immanenz der Subjektivität
hinein getrunken. Der Horizont leuchtet nicht mehr von sich aus. Er ist
nur noch der in den Wertsetzungen des Willens zur Macht gesetzte Gesichtspunkt.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 261).
Am Leitfaden der drei Bilder (Sonne, Horizont, Meer), die vermutlich
für das Denken noch anderes sind als Bilder, erläutern die drei
Fragen, was in dem Geschehnis, daß Gott getötet wird, gemeint
ist. Das Töten meint die Beseitigung der an sich seienden übersinnlichen
Welt durch den Menschen. Das Töten nennt den Vorgang, in dem das
Seiende als solches nicht schlechthin zunichte, wohl aber in seinem Sein
anders wird. In diesem Vorgang wird aber auch und vor allem der Mensch
anders. Er wird zu dem, der das Seiende im Sinne des an sich Seienden
beseitigt. Der menschliche Aufstand in die Subjektivität macht das
Seiende zum Gegenstand. Das Gegenständliche aber ist das durch das
Vorstellen zum Stehen Gebrachte. Die Beseitigung des an sich Seienden,
das Töten des Gottes, vollzieht sich in der Bestandsicherung, durch
die sich der Mensch die stofflichen, leiblichen, seelischen und geistigen
Bestände sichert, dies aber um seiner eigenen Sicherheit willen,
die die Herrschaft über das Seiende als das mögliche Gegenständliche
will, um dem Sein des Seienden, dem Willen zur Macht zu entsprechen.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 261-262).
Sichern als Beschaffen von Sicherheit gründet in der Wertsetzung.
Das Wertsetzen hat alles an sich Seiende unter sich und damit als für
sich Seiendes umgebracht, getötet. Diesen letzten Schlag im Töten
Gottes führt die Metaphysik, die als Metaphysik des Willens zur Macht
das Denken im Sinne des Wertdenkens vollzieht. Doch diesen letzten Schlag,
durch den das Sein zu einem bloßen Wert niedergeschlagen wird, erkennt
Nietzsche selbst nicht mehr als das, was der Schlag, im Hinblick auf das
Sein selbst gedacht, ist. Allein, sagt Nietzsche nicht selbst: »Wir
alle sind seine Mörder! - ihr und ich!«? Gewiß; demgemäß
begreift Nietzsche auch noch die Metaphysik des Willens zur Macht als
Nihilismus. Allerdings; das sagt für Nietzsche jedoch nur, daß
sie als Gegenbewegung im Sinne der Umwertung aller bisherigen Werte die
voraufgegangene »Entwertung der bisherigen obersten Werte«
am schärfsten, weil endgültig vollzieht. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 262).
Doch gerade die Neusetzung der Werte aus dem Prinzip aller Wertsetzung
kann Nietzsche nicht mehr als ein Töten und als Nihilismus denken.
Sie ist kein Entwerten mehr im Gesichtskreis des sich wollenden Willens
zur Macht, d. h. in der Perspektive des Wertes und der Wertsetzung.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 262-263).
Aber wie ist es mit dem Wertsetzen selbst, wenn dieses in der
Hinsicht auf das Seiende als solches und d. h. zugleich aus dem Hinblick
auf das Sein gedacht wird? Dann ist das Denken in Werten das radikale
Töten. Es schlägt das Seiende als solches nicht nur in seinem
An-sich-sein nieder, sondern es bringt das Sein gänzlich auf die
Seite. Dieses kann, wo es noch benötigt wird, nur als ein Wert gelten.
Das Wertdenken der Metaphysik des Willens zur Macht ist in einem äußersten
Sinne tödlich, weil es überhaupt das Sein selbst nicht in den
Aufgang und d. h. in die Lebendigkeit seines Wesens kommen läßt.
Das Denken nach Werten läßt im vorhinein das Sein selbst nicht
dahin gelangen, in seiner Wahrheit zu wesen. (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 263).
Aber ist dieses in der Wurzel Töten erst und nur die Art
der Metaphysik des Willens zur Macht? Läßt nur die Auslegung
des Seins als Wert das Sein selbst nicht das Sein sein, das es ist? Stünde
es so, dann müßte die Metaphysik in den Epochen vor Nietzsche
das Sein selbst in seiner Wahrheit erfahren und gedacht oder doch wenigstens
danach gefragt haben. Aber nirgends finden wir solches Erfahren des
Seins selbst. Nirgends begegnet uns ein Denken, das die Wahrheit des
Seins selbst und damit die Wahrheit selbst als das Sein denkt. Sogar dort
ist dieses nicht gedacht, wo das vorplatonische Denken als der Anfang
des abendländischen Denkens die Entfaltung der Metaphysik durch Platon
und Aristoteles vorbereitet. Das eotin (eon)
gar einai nennt zwar das Sein selbst. Aber
es denkt das Anwesen gerade nicht als das Anwesen aus seiner Wahrheit.
Die Geschichte des Seins beginnt und zwar notwendig mit der Vergessenheit
des Seins. So liegt es denn nicht an der Metaphysik als derjenigen
des Willens zur Macht, daß das Sein selbst in seiner Wahrheit ungedacht
bleibt. Dieses seltsame Ausbleiben liegt dann nur an der Metaphysik als
Metaphysik. Doch was ist Metaphysik? Wissen wir ihr Wesen? Kann sie selbst
dieses Wesen wissen? Wenn sie es begreift, greift sie es metaphysisch.
Aber der metaphysische Begriff von der Metaphysik bleibt stets hinter
ihrem Wesen zurück. Das gilt auch von jeder Logik, gesetzt, daß
sie überhaupt noch zu denken vermag, was logoV
ist. Jede Metaphysik von der Metaphysik und jede Logik der Philosophie,
die in irgendeiner Weise die Metaphysik zu überklettern versuchen,
fallen am sichersten unter sie herab, ohne zu erfahren, wohin sie selbst
dabei fallen. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 263-264).
Indessen ist unserem Nachdenken wenigstens ein Zug im Wesen des
Nihilismus deutlicher geworden. Das Wesen des Nihilismus beruht in der
Geschichte, der gemäß es im Erscheinen des Seienden als solchen
im Ganzen mit dem Sein selbst und seiner Wahrheit nichts ist, so zwar,
daß die Wahrheit des Seienden als solchen für das Sein gilt,
weil die Wahrheit des Seins ausbleibt. Nietzsche hat zwar im Zeitalter
der beginnenden Vollendung des Nihilismus einige Züge des Nihilismus
erfahren und zugleich nihilistisch gedeutet und damit ihr Wesen vollends
verschüttet. Nietzsche hat jedoch das Wesen des Nihilismus nie erkannt,
sowenig wie je eine Metaphysik vor ihm. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 264).
Wenn jedoch das Wesen des Nihilismus in der Geschichte beruht,
daß im Erscheinen des Seienden als solchen im Ganzen die Wahrheit
des Seins ausbleibt, und es demgemäß mit dem Sein selbst und
seiner Wahrheit nichs ist, dann ist die Metaphysik als die Geschichte
der Wahrheit des Seienden als solchen in ihrem Wesen Nihilismus. Ist vollends
die Metaphysik der Geschichtsgrund der abendländischen und europäisch
bestimmten Weltgeschichte, dann ist diese in einem ganz anderen Sinne
nihilistisch. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 264).
Aus dem Geschick des Seins gedacht, bedeutet das nihil des Nihilismus,
daß es mit dem Sein nichts ist. Das Sein kommt nicht an das Licht
seines eigenen Wesens. Im Erscheinen des Seienden als solchen bleibt das
Sein selbst aus. Die Wahrheit des Seins entfällt. Sie bleibt vergessen.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 264).
So wäre denn der Nihilismus in seinem Wesen eine Geschichte,
die sich mit dem Sein selbst begibt. Dann läge es im Wesen des Seins
selbst, daß es ungedacht bleibt, weil es sich entzieht. Das Sein
selbst entzieht sich in seine Wahrheit. Es birgt sich in diese und verbirgt
sich selbst in solchem Bergen. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 265).
Im Blick auf das sich verbergende Bergen des eigenen Wesens streifen
wir vielleicht das Wesen des Geheimnisses, als welches die Wahrheit des
Seins west. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist
tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 265).
Die Metaphysik selbst wäre demgemäß kein bloßes
Versäumnis einer noch zu bedenkenden Frage nach dem Sein. Sie wäre
vollends kein Irrtum. Die Metaphysik wäre als Geschichte der Wahrheit
des Seienden als solchen aus dem Geschick des Seins selbst ereignet. Die
Metaphysik wäre in ihrem Wesen das ungedachte, weil vorenthaltene
Geheimnis des Seins selbst. Stünde es anders, dann könnte ein
Denken, das sich müht, an das Zudenkende, das Sein, sich zu halten,
nicht unablässig fragen: Was ist Metaphysik? (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 210).
Die Metaphysik ist eine (die?) Epoche
der Geschichte des Seins selbst. In ihrem Wesen aber ist die Metaphysik
Nihilismus. Dessen Wesen gehört in die Geschichte, als welche das
Sein selber west. Wenn anders das Nichts, wie immer auch, auf das Sein
verweist, dann dürfte wohl die seinsgeschichtliche Bestimmung des
Nihilismus eher den Bereich wenigstens anzeigen, innerhalb dessen das
Wesen des Nihilismus erfahrbar wird, um etwas Gedachtes zu werden, das
unser Andenken angeht. Wir sind gewohnt, aus dem Namen Nihilismus vor
allem einen Mißton herauszuhören. Bedenken wir aber das seinsgeschichtliche
Wesen des Nihilismus, dann kommt in das bloße Hören des Mißtones
alsbald etwas Mißliches. Der Name Nihilismus sagt, daß in
dem, was er nennt, das nihil (nichts) wesentlich ist. Nihilismus bedeutet:
Es ist mit allem in jeder Hinsicht nichts. Alles, das meint das Seiende
im Ganzen. In jeder seiner Hinsichten steht das Seiende aber, wenn es
als das Seiende erfahren ist. Nihilismus bedeutet dann, daß es mit
dem Seienden als solchem im Ganzen nichts ist. Aber das Seiende ist, was
es ist und wie es ist, aus dem Sein. Gesetzt, daß am Sein alles
»ist« liegt, dann besteht das Wesen des Nihilismus darin,
daß es mit dem Sein selbst nichts ist. Das Sein selbst ist
das Sein in seiner Wahrheit, welche Wahrheit zum Sein gehört.
(Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist tot«,
1943, in: Ders., Holzwege, S. 265-266).
Hören wir im Namen Nihilismus den anderen Ton, worin das
Wesen des Genannten anklingt, dann hören wir auch anders in die Sprache
desjenigen metaphysischen Denkens, das einiges vom Nihilismus erfahren
hat, ohne doch dessen Wesen denken zu können. Vielleicht bedenken
wir, mit dem anderen Ton im Ohr, eines Tages das Zeitalter der beginnenden
Vollendung des Nihilismus noch anders als bisher. Vielleicht erkennen
wir dann, daß weder die politischen, noch die ökonomischen,
weder die soziologischen, noch die technischen und wissenschaftlichen,
daß nicht einmal die metaphysischen und religiösen Perspektiven
zulangen, um das zu denken, was in diesem Weltalter geschieht. Was es
dem Denken zu denken gibt, ist nicht irgendein tief versteckter Hintersinn,
sondem etwas Naheliegendes: das Nächstliegende, was wir, weil es
nur dieses ist, darum ständig schon übergangen haben. Durch
dieses übergehen vollziehen wir ständig, ohne dessen zu achten,
jenes Töten am Sein des Seienden. (Martin Heidegger, Nietzsches
Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 266).
Um darauf zu achten und achten zu lernen, kann es für uns
schon genügen, erst einmal zu bedenken, was der tolle Mensch vom
Tod Gottes sagt und wie er es sagt. Vielleicht überhören wir
jetzt nicht mehr so übereilt, was im Beginn des erläuterten
Stückes gesagt wird, daß der tolle Mensch »unaufhörlich
schrie: Ich suche Gott! Ich suche Gott!« (Martin Heidegger,
Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege,
S. 266).
Inwiefern ist dieser Mensch toll? Er ist verrückt. Denn er
ist aus der Ebene des bisherigen Menschen ausgerückt, auf der die
unwirklich gewordenen Ideale der übersinnlichen Welt für das
Wirkliche ausgegeben werden, indes ihr Gegenteil sich verwirklicht. Dieser
ver-rückte Mensch ist über den bisherigen Menschen hinausgerückt.
Gleichwohl ist er auf diese Weise nur vollständig in das vorbestimmte
Wesen des bisherigen Menschen, das animal rationale zu sein, eingerückt.
Dieser dergestalt ver-rückte Mensch hat darum mit der Art jener öffentlichen
Herumsteher, »welche nicht an Gott glauben«, nichts gemein.
Denn diese sind nicht deshalb ungläubig, weil Gott als Gott ihnen
unglaubwürdig geworden ist, sondern weil sie selbst die Möglichkeit
des Glaubens aufgegeben haben, insofern sie Gott nicht mehr suchen können.
Sie können nicht mehr suchen, weil sie nicht mehr denken. Die öffentlichen
Herumsteher haben das Denken abgeschafft und es durch das Geschwätz
ersetzt, das überall dort Nihilismus wittert, wo es sein eigenes
Meinen gefährdet meint. Diese immer noch überhandnehmende Selbstverblendung
gegenüber dem eigentlichen Nihilismus versucht auf diese Weise, sich
ihre Angst vor dem Denken auszureden. Diese Angst aber ist die Angst vor
der Angst. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott ist
tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 266-267).
Der tolle Mensch dagegen ist eindeutig nach den ersten Sätzen,
eindeutiger noch für den, der hören mag, nach den letzten Sätzen
des Stückes derjenige, der Gott sucht, indem er nach Gott schreit.
Vielleicht hat da ein Denkender wirklich de profundis geschrieen? Und
das Ohr unseres Denkens? Hört es den Schrei immer noch nicht? Es
wird ihn so lange überhören, als es nicht zu denken beginnt.
Das Denken beginnt erst dann, wenn wir erfahren haben, daß die seit
Jahrhunderten verherrlichte Vernunft die hartnäckigste Widersacherin
des Denkens ist. (Martin Heidegger, Nietzsches Wort »Gott
ist tot«, 1943, in: Ders., Holzwege, S. 267).


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