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Prägnant und möglichst knapp formulierte Gedanken

von

Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900)

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 4. Teil: Nietzsches Spätphilosophie (**|**|**

 

„I c h   l e h r e   e u c h   d e n   Ü b e r m e n s c h e n .    Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden? Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham: Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe.Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst. Aber heisse ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden? Seht, ich lehre euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 8

„Seht! Ich zeige euch den  l e t z t e n   M e n s c h e n . Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. »Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 13

„Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben; denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme. Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine und Menschen stolpert! Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 13-14

„Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren ?  Wer noch gehorchen?  Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche. Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus. »Ehemals war alle Welt irre« – sagen die Feinsten und blinzeln. Man ist klug und weiß Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch; aber man versöhnt sich bald - sonst verdirbt es den Magen. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht, aber man ehrt die Gesundheit. »Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 14

„»Nicht doch«, sprach Zarathustra, »du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde: dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 16

„Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe. Vieles Schwere giebt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke. Was ist schwer?  so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder, dem Kameele gleich, und will gut beladen sein. .... Neue Werthe schaffen - das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen - das vermag die Macht des Löwen. Freiheit sich schaffen zu neuen Werthen und ein heiliges Nein auch vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des Löwen. .... Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: s e i n e n   Willen will nun der Geist,  s e i n e   Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 25-27

„Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss: und darum sollst du deine Tugenden lieben – denn du wirst an ihnen zugrunde gehn.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 40

„Dass Jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf die Dauer nicht allein das Schreiben, sondern auch das Denken.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 44

„Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen und jetzt wird er gar noch Pöbel.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 44

„Und auch ihr, denen das Leben wilde Arbeit und Unruhe ist: seid ihr nicht sehr müde des Lebens? Seid ihr nicht sehr reif für die Predigt des Todes? Ihr alle, denen die wilde Arbeit lieb ist und das Schnelle, Neue, Fremde – ihr ertragt euch schlecht, euer Fleiß ist Fluch und Wille, sich selber zu vergessen. Wenn ihr mehr an das Leben glaubtet, würdet ihr weniger euch dem Augenblicke hinwerfen. Aber ihr habt zum Warten nicht Inhalt genug in euch – und selbst zur Faulheit nicht!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 52-53

„Überall ertönt die Stimme derer, welche den Tod predigen: und die Erde ist voll von Solchen, welchen der Tod gepredigt werden muss. Oder »das ewige Leben«: das gilt mir gleich, – wofern sie nur schnell dahinfahren!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 53

„Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den langen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 54

„Euch rathe ich nicht zur Arbeit, sondern zum Kampfe. Euch rate ich nicht zum Frieden, sondern zum Siege. Eure Arbeit sei ein Kampf, euer Friede sei ein Sieg!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55

„Man kann nur schweigen und stillsitzen, wenn man Pfeil und Bogen hat: sonst schwätzt und zankt man. Euer Friede sei ein Sieg!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55

„Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55

„Der Krieg und der Muth haben mehr große Dinge gethan, als die Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 55

„Euren höchsten Gedanken aber sollt ihr euch von mir befehlen lassen – und er lautet: der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 56

„So lebt euer Leben des Gehorsams und des Krieges! Was liegt am Lang-Leben! Welcher Krieger will geschont sein!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 56

„Ich schone euch nicht, ich liebe euch von Grund aus, meine Brüder im Kriege!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 56

Vom neuen Götzen. – Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da giebt es Staaten. Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt thut mir die Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode der Völker. Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: »Ich, der Staat, bin das Volk.« Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die Völker und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten sie dem Leben. Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für Viele und heissen sie Staat: sie hängen ein Schwert und hundert Begierden über sie hin. Wo es noch Volk giebt, da versteht es den Staat nicht und hasst ihn als bösen Blick und Sünde an Sitten und Rechten. Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes Volk spricht seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es sich in Sitten und Rechten. Aber der Staat lügt in allen Zungen der Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt – und was er auch hat, gestohlen hat er's. Falsch ist Alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen beisst er, der Bissige. Falsch sind selbst seine Eingeweide. Sprachverwirrung des Guten und Bösen: dieses Zeichen gebe ich euch als Zeichen des Staates. Wahrlich, den Willen zum Tode deutet dieses Zeichen! Wahrlich, es winkt den Predigern des Todes! Viel zu Viele werden geboren: für die Überflüssigen ward der Staat erfunden! Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-Vielen! Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut! »Auf der Erde ist nichts Grösseres als ich: der ordnende Finger bin ich Gottes« – also brüllt das Unthier. Und nicht nur Langgeohrte und Kurzgeäugte sinken auf die Kniee! Ach, auch in euch, ihr großen Seelen, raunt er seine düsteren Lügen! Ach, er erräth die reichen Herzen, die gerne sich verschwenden! Ja, auch euch erräth er, ihr Besieger des alten Gottes! Müde wurdet ihr im Kampfe, und nun dient eure Müdigkeit noch dem neuen Götzen! Helden und Ehrenhafte möchte er um sich aufstellen, der neue Götze! Gerne sonnt er sich im Sonnenschein guter Gewissen – das kalte Unthier! Alles will er euch geben, wenn ihr ihn anbetet, der neue Götze: also kauft er sich den Glanz eurer Tugenden und den Blick eurer stolzen Augen. Ködern will er mit euch die Viel-zu Vielen! Ja, ein Höllenkunststück ward da erfunden, ein Pferd des Todes, klirrend im Putz göttlicher Ehren! Ja, ein Sterben für Viele ward da erfunden, das sich selber als Leben preist: wahrlich, ein Herzensdienst allen Predigern des Todes! Staat nenne ich's, wo alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat, wo alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbstmord aller – »das Leben« heisst. Seht mir doch diese Überflüssigen! Sie stehlen sich die Werke der Erfinder und die Schätze der Weisen: Bildung nennen sie ihren Diebstahl – und alles wird ihnen zu Krankheit und Ungemach! Seht mir doch diese Überflüssigen! Krank sind sie immer, sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung. Sie verschlingen einander und können sich nicht einmal verdauen. Seht mir doch diese Überflüssigen! Reichtümer erwerben sie und werden ärmer damit. Macht wollen sie und zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld – diese Unvermögenden! Seht sie klettern, diese geschwinden Affen! Sie klettern übereinander hinweg und zerren sich also in den Schlamm und die Tiefe. Hin zum Throne wollen sie alle: ihr Wahnsinn ist es – als ob das Glück auf dem Throne sässe! Oft sitzt der Schlamm auf dem Thron - und oft auch der Thron auf dem Schlamme. Wahnsinnige sind sie mir alle und kletternde Affen und Überheisse. Übel riecht mir ihr Götze, das kalte Unthier: übel riechen sie mir alle zusammen, diese Götzendiener. Meine Brüder, wollt ihr denn ersticken im Dunste ihrer Mäuler und Begierden? Lieber zerbrecht doch die Fenster und springt ins Freie! Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von der Götzendienerei der Überflüssigen! Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von dem Dampfe dieser Menschenopfer! Frei steht großen Seelen auch jetzt noch die Erde. Leer sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame, um die der Geruch stiller Meere weht. Frei steht noch großen Seelen ein freies Leben. Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine Armut! Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Nothwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise. Dort, wo der Staat  a u f h ö r t  – so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen?“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 57-60

„Wahrlich, das schlaue Ich, das lieblose, das seinen Nutzen im Nutzen Vieler will: das ist nicht der Heerde Ursprung, sondern ihr Untergang.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 72

„Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. Nur die Fessel der tausend Nacken fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. Noch hat die Menschheit kein Ziel. Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel noch fehlt, fehlt da nicht auch – sie selber noch?“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 72

„Ihr drängt euch um den Nächsten und habt schöne Worte dafür. Aber ich sage euch: eure Nächstenliebe ist eure schlechte Liebe zu euch selber. Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus eine Tugend machen: aber ich durchschaue euer »Selbstloses«.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 73

„Das Du ist älter als das Ich; das Du ist heilig gesprochen, aber noch nicht das Ich: so drängt sich der Mensch hin zum Nächsten.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 73

„Meine Brüder, zur Nächstenliebe rathe ich euch nicht: ich rathe euch zur Fernsten-Liebe.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 75

„Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber! Und an dir selber führt dein Weg vorbei, und an deinen sieben Teufeln!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 78

„Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und das Weib zur Erholung des Kriegers: alles Andere ist Thorheit.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 81

„Du gehst zu Frauen?  Vergiss die Peitsche nicht!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 82

„Ich habe eine Frage für dich allein, mein Bruder: wie ein Senkblei werfe ich diese Frage in deine Seele, dass ich wisse, wie tief sie sei. Du bist jung und wünschest dir Kind und Ehe. Aber ich frage dich: bist du ein Mensch, der ein Kind sich wünschen  d a r f ?  Bist du der Siegreiche, der Selbstbezwinger, der Gebieter der Sinne, der Herr deiner Tugenden? Also frage ich dich. Oder redet aus deinem Wunsche das Thier und die Nothdurft? Oder Vereinsamung? Oder Unfriede mit dir? Ich will, dass dein Sieg und deine Freiheit sich nach einem Kinde sehne. Lebendige Denkmale sollst du bauen deinem Siege und deiner Befreiung. Über dich sollst du hinausbauen. Aber erst mußt du mir selber gebaut sein, rechtwinklig an Leib und Seele. Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf! Dazu helfe dir der Garten der Ehe. Einen höheren Leib sollst du schaffen, eine erste Bewegung, ein aus sich rollendes Rad, - einen Schaffenden sollst du schaffen. Ehe: so heisse ich den Willen zu Zweien, das Eine zu schaffen, das mehr ist, als die es schufen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 86

„Viele sterben zu spät, und einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: »stirb zur rechten Zeit!« Stirb zur rechten Zeit; also lehrt es Zarathustra. Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten Zeit sterben? Möchte er doch nie geboren sein! – Also rathe ich den Überflüssigen. Aber auch die Überflüssigen tun noch wichtig mit ihrem Sterben, und auch die hohlste Nuß will noch geknackt sein. Wichtig nehmen Alle das Sterben: aber noch ist der Tod kein Fest. Noch erlernten die Menschen nicht, wie man die schönsten Feste weiht. Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden ein Stachel und ein Gelöbnis wird. Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich, umringt von Hoffenden und Gelobenden. Also sollte man sterben lernen; und es sollte kein Fest geben, wo ein solcher Sterbender nicht der Lebenden Schwüre weihte! Also zu sterben ist das Beste; das zweite aber ist: im Kampfe zu sterben und eine große Seele zu verschwenden. Aber dem Kämpfenden gleich verhasst wie dem Sieger ist euer grinsender Tod, der heranschleicht wie ein Dieb – und doch als Herr kommt. Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil  i c h  will. Und wann werde ich wollen? – Wer ein Ziel hat und einen Erben, der will den Tod zur rechten Zeit für Ziel und Erben.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 89-90

„Sagt mir, meine Brüder: was gilt uns als Schlechtes und Schlechtestes? Ist es nicht  E n t a r t u n g ?  –  Und auf Entartung rathen wir immer, wo die schenkende Seele fehlt. Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Über-Art. Aber ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: »Alles für mich.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 94

„Arzt, hilf dir selber: so hilfst du auch deinem Kranken noch. Das sei seine beste Hilfe, dass er den mit Augen sehe, der sich selber heil macht.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 96

„Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen – und aus ihm der Übermensch.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 96-97

„Der Mensch der Erkenntnis muss nicht nur seine Feinde lieben, sondern auch seine Freunde hassen können. Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen? Ihr verehrt mich; aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, daß euch nicht eine Bildsäule erschlage! Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra? Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen! Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So tun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben. Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren. Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer andern Liebe werde ich euch dann lieben. Und einst noch sollt ihr mir Freunde geworden sein und Kinder einer Hoffnung: dann will ich zum dritten Male bei euch sein, daß ich den großen Mittag mit euch feiere. Und das ist der große Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen Morgen. Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, daß er ein Hinübergehender sei; und die Sonne seiner Erkenntnis wird ihm im Mittage stehn.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 97-98

„ » T o d t   s i n d   a l l e   G ö t t e r :   n u n   w o l l e n   w i r ,   d a s s   d e r   Ü b e r m e n s c h   l e b e . «   –   diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 98

„Könntet ihr einen Gott  s c h a f f e n ?  –  So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen. Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder! Aber zu Vätern und Vorfahren könntet ihr euch umschaffen des Übermenschen: und Diess sei euer bestes Schaffen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 105

„Ach, wo in der Welt geschahen grössere Thorheiten, als bei den Mitleidigen? Und was in der Welt stiftete mehr Leid als die Thorheiten der Mitleidigen? Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche über ihrem Mitleiden ist! Also sprach der Teufel einst zu mir: »auch Gott hat seine Hölle: das ist seine Liebe zu den Menschen.« Und jüngst hörte ich ihn dies Wort sagen: »Gott ist todt; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.« “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 111

„Und noch von Grösseren, als alle Erlöser waren, müsst ihr, meine Brüder, erlöst werden, wollt ihr zur Freiheit den Weg finden! Niemals noch gab es einen Übermenschen. Nackt sah ich Beide, den grössten und den kleinsten Menschen: - Allzuähnlich sind sie noch einander. Wahrlich, auch den Grössten fand ich - allzumenschlich!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 115

Von den Taranteln. – Siehe, das ist der Tarantel Höhle! Willst du sie selber sehn? Hier hängt ihr Netz: rühre daran, dass es erzittert. Da kommt sie willig: willkommen, Tarantel! Schwarz sitzt auf deinem Rücken dein Dreieck und Wahrzeichen; und ich weiss auch, was in deiner Seele sitzt. Rache sitzt in deiner Seele: wohin du beissest, da wächst schwarzer Schorf; mit Rache macht dein Gift die Seele drehend! Also rede ich zu euch im Gleichnis, die ihr die Seelen drehend macht, ihr Prediger der  G l e i c h h e i t !  Taranteln seid ihr mir und versteckte Rachsüchtige! Aber ich will eure Verstecke schon ans Licht bringen: darum lache ich euch ins Antlitz mein Gelächter der Höhe. Darum reisse ich an eurem Netze, dass eure Wut euch aus eurer Lügen-Höhle locke, und eure Rache hervorspringe hinter eurem Wort »Gerechtigkeit«. Denn  d a s s   d e r   M e n s c h   e r l ö s t   w e r d e   v o n   d e r   R a c h e :  das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern. Aber anders wollen es freilich die Taranteln. »Das gerade heisse uns Gerechtigkeit, dass die Welt voll werde von den Unwettern unsrer Rache« – also reden sie mit einander. »Rache wollen wir üben und Beschimpfung an Allen, die uns nicht gleich sind« – so geloben sich die Tarantel-Herzen. »Und ›Wille zur Gleichheit‹ – das selber soll fürderhin der Name für Tugend werden; und gegen Alles, was Macht hat, wollen wir unser Geschrei erheben!« Ihr Prediger der Gleichheit, der Tyrannen-Wahnsinn der Ohnmacht schreit also aus euch nach »Gleichheit«: eure heimlichsten Tyrannen-Gelüste vermummen sich also in Tugend-Worte! Vergrämter Dünkel, verhaltener Neid, vielleicht eurer Väter Dünkel und Neid: aus euch bricht's als Flamme heraus und Wahnsinn der Rache. Was der Vater schwieg, das kommt im Sohne zum Reden; und oft fand ich den Sohn als des Vaters entblösstes Geheimnis. Den Begeisterten gleichen sie: aber nicht das Herz ist es, was sie begeistert – sondern die Rache. Und wenn sie fein und kalt werden, ist's nicht der Geist, sondern der Neid, der sie fein und kalt macht. Ihre Eifersucht führt sie auch auf der Denker Pfade; und diess ist das Merkmal ihrer Eifersucht – immer gehn sie zu weit: dass ihre Müdigkeit sich zuletzt noch auf Schnee schlafen legen muss. Aus jeder ihrer Klagen tönt Rache, in jedem ihrer Lobsprüche ist ein Wehetun; und Richter-sein scheint ihnen Seligkeit. Also aber rate ich euch, meine Freunde: misstraut Allen, in welchen der Trieb, zu strafen, mächtig ist! Das ist Volk schlechter Art und Abkunft; aus ihren Gesichtern blickt der Henker und der Spürhund. Misstraut Allen denen, die viel von ihrer Gerechtigkeit reden! Wahrlich, ihren Seelen fehlt es nicht nur an Honig. Und wenn sie sich selber »die Guten und Gerechten« nennen, so vergeßt nicht, dass ihnen zum Pharisäer nichts fehlt als – Macht! Meine Freunde, ich will nicht vermischt und verwechselt werden. Es giebt Solche, die predigen meine Lehre vom Leben: und zugleich sind sie Prediger der Gleichheit und Taranteln. Dass sie dem Leben zu Willen reden, ob sie gleich in ihrer Höhle sitzen, diese Gift-Spinnen, und abgekehrt vom Leben: das macht, sie wollen damit wehetun. Solchen wollen sie damit wehetun, die jetzt die Macht haben: denn bei diesen ist noch die Predigt vom Tode am besten zu Hause. Wäre es anders, so würden die Taranteln anders lehren: und gerade sie waren ehemals die besten Welt-Verleumder und Ketzer-Brenner. Mit diesen Predigern der Gleichheit will ich nicht vermischt und verwechselt sein. Denn so redet mir die Gerechtigkeit: »die Menschen sind nicht gleich«. Und sie sollen es auch nicht werden! Was wäre denn meine Liebe zum Übermenschen, wenn ich anders spräche? Auf tausend Brücken und Stegen sollen sie sich drängen zur Zukunft, und immer mehr Krieg und Ungleichheit soll zwischen sie gesetzt sein: so lässt mich meine große Liebe reden! Erfinder von Bildern und Gespenstern sollen sie werden in ihren Feindschaften, und mit ihren Bildern und Gespenstern sollen sie noch gegeneinander den höchsten Kampf kämpfen! Gut und Böse, und Reich und Arm, und Hoch und Gering, und Alle Namen der Werthe: Waffen sollen es sein und klirrende Merkmale davon, dass das Leben sich immer wieder selber überwinden muss! In die Höhe will es sich bauen mit Pfeilern und Stufen, das Leben selber: in weite Fernen will es blicken und hinaus nach seligen Schönheiten –  d a r u m  braucht es Höhe! Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und Widerspruch der Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und steigend sich überwinden. Und seht mir doch, meine Freunde! Hier, wo der Tarantel Höhle ist, heben sich eines alten Tempels Trümmer aufwärts – seht mir doch mit erleuchteten Augen hin! Wahrlich, wer hier einst seine Gedanken in Stein nach Oben thürmte, um das Geheimnis Alles Lebens wusste er gleich dem Weisesten! Dass Kampf und Ungleiches auch noch in der Schönheit sei, und Krieg um Macht und Übermacht: das lehrt er uns hier im deutlichsten Gleichnis. Wie sich göttlich hier Gewölbe und Bogen brechen, im Ringkampfe: wie mit Licht und Schatten sie wider einander streben, die göttlich-Strebenden – Also sicher und schön lasst uns auch Feinde sein, meine Freunde! Göttlich wollen wir  w i d e r  einander streben! – Wehe! Da biss mich selber die Tarantel, meine alte Feindin! Göttlich sicher und schön biss sie mich in den Finger! »Strafe muss sein und Gerechtigkeit« – so denkt sie: »nicht umsonst soll er hier der Feindschaft zu Ehren Lieder singen!« Ja, sie hat sich gerächt! Und wehe! nun wird sie mit Rache auch noch meine Seele drehend machen! Dass ich mich aber nicht drehe, meine Freunde, bindet mich fest hier an diese Säule! Lieber noch Säulen-Heiliger will ich sein, als Wirbel der Rachsucht! Wahrlich, kein Dreh- und Wirbelwind ist Zarathustra; und wenn er ein Tänzer ist, nimmermehr doch ein Tarantel-Tänzer!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 124-127

„Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein. Dass dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: dieser Lust allein mag es nicht entraten. Und wie das Kleinere sich dem Größeren hingiebt, dass es Lust und Macht am Kleinsten habe: also giebt sich auch das Grösste noch hin und setzt um der Macht willen – das Leben dran. Das ist die Hingebung des Grössten, dass es Wagnis ist und Gefahr, und um den Tod ein Würfelspielen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 143-144

„Und wo Opferung und Dienste und Liebesblicke sind: auch da ist Wille, Herr zu sein. Auf Schleichwegen schleicht sich da der Schwächere in die Burg und bis ins Herz dem Mächtigeren – und stiehlt da Macht. Und diess Geheimnis redete das Leben selber zu mir: »Siehe«, sprach es, »ich bin das,  w a s   s i c h   i m m e r   s e l b e r   ü b e r w i n d e n   m u s s .  Freilich, ihr heisst es Wille zur Zeugung oder Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren: aber all diess ist Eins und Ein Geheimnis. Lieber noch gehe ich unter, als dass ich diesem Einen absagte; und wahrlich, wo es Untergang giebt und Blätterfallen, siehe, da opfert sich Leben – um Macht! Dass ich Kampf sein muss und Werden und Zweck und der Zwecke Widerspruch: ach, wer meinen Willen erräth, erräth wohl auch, auf welchen  k r u m m e n  Wegen er gehen muss! Was ich auch schaffe und wie ich's auch liebe, – bald muss ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 144

„Und auch du, Erkennender, bist nur ein Pfad und Fußtapfen meines Willens: wahrlich, mein Wille zur Macht wandelt auch auf den Füßen deines Willens zur Wahrheit! Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss vom »Willen zum Dasein«: diesen Willen – giebt es nicht! Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 144-145

„Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich's dich – Wille zur Macht!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 145

„Also lehrte mich einst das Leben: und daraus löse ich euch, ihr Weisesten, noch das Räthsel eures Herzens. Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Böses, das unvergänglich wäre – das gibt es nicht! Aus sich selber muss es sich immer wieder überwinden.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 145

„»Und das heisse mir aller Dinge  u n b e f l e c k t e  Erkenntnis, dass ich von den Dingen Nichts will: ausser dass ich vor ihnen da liegen darf wie ein Spiegel mit hundert Augen.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 153

„Wo ist Unschuld?  Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich hinaus schaffen will, der hat mir den reinsten Willen. Wo ist die Schönheit ?  Wo ich mit allem Willen wollen muss; wo ich lieben und untergehn will, dass ein Bild nicht nur Bild bleibe. Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode. Also rede ich zu euch Feiglingen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 153

„Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Meere. Und diess heisst  m i r  Erkenntnis: alles Tiefe soll hinauf – zu meiner Höhe!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 155

„Denn die Menschen sind  n i c h t  gleich: so spricht die Gerechtigkeit.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 158

„»Seit ich den Leib besser kenne«, – sagte Zarathustra zu einem seiner Jünger – »ist mir der Geist nur noch gleichsam Geist; und alles das ›Unvergängliche‹ – das ist auch nur ein Gleichnis.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 159

„Die Erde ... hat eine Haut; und diese Haut hat Krankheiten. Eine dieser Krankheiten heisst zum Beispiel: »Mensch«.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 164

„Lasst euch nur umstürzen! Dass ihr wieder zum Leben kommt, und zu euch – die Tugend!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 165

„Also redete ich vor dem Feuerhunde: da unterbrach er mich mürrisch und fragte: »Kirche? Was ist denn das?« »Kirche?« antwortete ich, »das ist eine Art von Staat, und zwar die verlogenste. Doch schweig still, du Heuchelhund! Du kennst deine Art wohl am besten schon! Gleich dir selber ist der Staat ein Heuchelhund; gleich dir redet er gern mit Rauch und Gebrülle – dass er glauben mache, gleich dir, er rede aus dem Bauch der Dinge. Denn er will durchaus das wichtigste Thier auf Erden sein, der Staat; und man glaubt's ihm auch.« – Als ich das gesagt hatte, gebärdete sich der Feuerhund wie unsinnig vor Neid. »Wie?« schrie er, »das wichtigste Thier auf Erden? Und man glaubt's ihm auch?« Und so viel Dampf und grässliche Stimmen kamen ihm aus dem Schlunde, dass ich meinte, er werde vor Ärger und Neid ersticken.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 165-166

„Ihr höchsten Menschen, denen mein Auge begegnete! das ist mein Zweifel an euch und mein heimliches Lachen: ich rathe, ihr würdet meinen Übermenschen – Teufel heissen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 181-182

„Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: »Was liegt an ihrem Spotte! Du bist Einer, der das Gehorchen verlernt hat: nun sollst du befehlen! Weisst du nicht, wer allen am nöthigsten tut? Der Grosses befiehlt. Grosses vollführen ist schwer: aber das Schwerere ist, Grosses befehlen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 185

„Gelobt sei, was hart macht! Ich lobe das Land nicht, wo Butter und Honig – fliesst!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 190

„Mitleiden ... ist der tiefste Abgrund: so tief der Mensch in das Leben sieht, so tief sieht er auch in das Leiden.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 195

„»Alles Gerade lügt«, murmelte verächtlich der Zwerg. »Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 196

„Muss nicht, was laufen  k a n n  von allen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? Muß nicht, was geschehn  k a n n  von allen Dingen, schon einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein? Und wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muß auch dieser Torweg nicht schon – dagewesen sein?“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 196

„Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: »über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth.« …. Diesen Übermuth und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes Willens, als ich lehrte: »bei Allem ist Eins unmöglich - Vernünftigkeit!« Ein wenig Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von Stern zu Stern, - dieser Sauerteig ist allen Dingen eingemischt: um der Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt! Ein wenig Weisheit ist schon möglich, aber diese selige Sicherheit fand ich an allen Dingen: dass sie lieber noch auf den Füssen des Zufalls - tanzen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 205

„Ich gehe durch dies Volk und halte die Augen offen: sie sind  k l e i n e r  geworden und werden immer kleiner –  d a s   a b e r   m a c h t   i h r e   L e h r e   v o n   G l ü c k   u n d   T u g e n d . “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 209

„Fuss und Augen sollen nicht lügen, noch sich einander Lügen strafen. Aber es ist viel Lügnerei bei den kleinen Leuten. Einige von ihnen wollen, aber die Meisten werden nur gewollt. Einige von ihnen sind ächt, aber die Meisten sind schlechte Schauspieler. Es gibt Schauspieler wider Wissen unter ihnen und Schauspieler wider Willen –, die Ächten sind immer selten, sonderlich die ächten Schauspieler.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 209-

„Des Mannes ist hier wenig: darum vermännlichen sich ihre Weiber. Denn nur wer Mannes genug ist, wird im Weibe  d a s   W e i b   –   e r l ö s e n . “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 209-210

„Und diese Heuchelei fand ich unter ihnen am schlimmsten: dass auch Die, welche befehlen, die Tugenden Derer heucheln, welche dienen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 210

„Soviel Güte, soviel Schwäche sehe ich. Soviel Gerechtigkeit und Mitleiden, soviel Schwäche.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 210

„Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: damit machten sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen bestem Hausttiere.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 210

„Ach, dass ihr mein Wort verstündet: »thut immerhin, was ihr wollt – aber seid erst solche, die  w o l l e n   k ö n n e n ! «  »Liebt immerhin euren Nächsten gleich euch, – aber seid mir erst Solche, die  s i c h   s e l b e r  l i e b e n  – mit der grossen Liebe lieben, mit der grossen Verachtung lieben!« Also spricht Zarathustra, der Gottlose. – Doch was rede ich, wo niemand  m e i n e  Ohren hat! Es ist hier noch eine Stunde zu früh für mich. Mein eigner Vorläufer bin ich unter diesem Volke, mein eigner Hahnen-Ruf durch dunkle Gassen. Aber  i h r e  Stunde kommt! Und es kommt auch die meine! Stündlich werden sie kleiner, ärmer, unfruchtbarer – armes Kraut! armes Erdreich! Und  b a l d  sollen sie mir dastehn wie dürres Gras und Steppe, und wahrlich! ihrer selber müde – und mehr, als nach Wasser, nach  F e u e r  lechzend! Oh gesegnete Stunde des Blitzes! Oh Geheimnis vor Mittag! – Laufende Feuer will ich einst noch aus ihnen machen und Verkünder mit Flammen-Zungen: – verkünden sollen sie einst noch mit Flammen-Zungen: Er kommt, er ist nahe,  d e r   g r o s s e   M i t t a g ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 212-213

„Der Rest: das sind immer die Allermeisten, der Alltag, der Überfluß, die Viel-zu-Vielen – diese alle sind feige!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 223

„Wer Alles bei den Menschen begreifen wollte, der müsste Alles angreifen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 229

„Sonderlich Die, welche sich »die Guten« heissen, fand ich als die giftigsten Fliegen: sie stechen in aller Unschuld, sie lügen in aller Unschuld; wie  v e r m ö c h t e n  sie gegen mich – gerecht zu sein! Wer unter den Guten lebt, den lehrt Mitleid lügen. Mitleid macht dumpfe Luft allen freien Seelen. Die Dummheit der Guten nämlich ist unergründlich. Mich selber verbergen und meinen Reichtum – das lernte ich da unten: denn jeden fand ich noch arm am Geiste. Das war der Lug meines Mitleidens, dass ich bei Jedem wusste, – daß ich Jedem es ansah und anroch, was ihm Geistes  g e n u g  und was ihm schon Geistes  z u v i e l  war!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 230

„Wer da segnen lehrte, der lehrte auch fluchen: welches sind in der Welt die drei bestverfluchten Dinge? Diese will ich auf die Wage tun.  W o l l u s t ,   H e r r s c h s u c h t ,   S e l b s t s u c h t :  diese drei wurden bisher am besten verflucht und am schlimmsten beleu- und belügenmundet – diese drei will ich menschlich gut abwägen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 232

„Widriger aber sind mir noch alle Speichellecker; und das widrigste Thier von Mensch, das ich fand, das taufte ich Schmarotzer: das wollte nicht lieben und doch von Liebe leben.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 240

„Das Vergangne am Menschen zu erlösen und alles »Es war« umzuschaffen, bis der Wille spricht: »Aber so wollte ich es! So werde ich's wollen –« – Dies hiess ich ihnen Erlösung, Dies allein lehrte ich sie Erlösung heissen. – Nun warte ich  m e i n e r  Erlösung –, dass ich zum letzten Male zu ihnen gehe. Denn noch Ein Mal will ich zu den Menschen:  u n t e r  ihnen will ich untergehen, sterbend will ich ihnen meine reichste Gabe geben! Der Sonne lernte ich das ab, wenn sie hinabgeht, die Überreiche: Gold schüttet sie da ins Meer aus unerschöpflichem Reichthume, – also, dass der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dies nämlich sah ich einst und wurde der Thränen nicht satt im Zuschauen – Der Sonne gleich will auch Zarathustra untergehn: nun sitzt er hier und wartet, alte zerbrochene Tafeln um sich und auch neue Tafeln – halbbeschriebene. “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 245

„Siehe, hier ist eine neue Tafel: aber wo sind meine Brüder, die sie mit mir zu Thale und in fleischerne Herzen tragen? – Also heischt es meine große Liebe zu den Fernsten:  s c h o n e   d e i n e n   N ä c h s t e n   n i c h t !  Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss. Es gibt vielerlei Weg und Weise der Überwindung: da siehe  d u  zu! Aber nur ein Possenreisser denkt: »der Mensch kann auch  ü b e r s p r u n g e n  werden.« Überwinde dich selber noch in deinem Nächsten: und ein Recht, das du dir rauben kannst, sollst du dir nicht geben lassen! Was du thust, das kann dir keiner wieder thun. Siehe, es giebt keine Vergeltung. Wer sich nicht befehlen kann, der soll gehorchen. Und Mancher  k a n n  sich befehlen, aber da fehlt noch viel, dass er sich auch gehorche!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 245-246

„Also will es die Art edler Seelen: sie wollen Nichts  u m s o n s t  haben, am wenigsten das Leben. Wer vom Pöbel ist, der will umsonst leben; wir Anderen aber, denen das Leben sich gab – wir sinnen immer darüber,  w a s  wir am besten  d a g e g e n  geben! Und wahrlich, dies ist eine vornehme Rede, welche spricht: »Was  u n s  das Leben verspricht, das wollen  w i r  – dem Leben halten!« Man soll nicht geniessen wollen, wo man nicht zu geniessen giebt. Und – man soll nicht geniessen  w o l l e n !  Genuss und Unschuld nämlich sind die schamhaftesten Dinge: Beide wollen nicht gesucht sein. Man soll sie  h a b e n  –, aber man soll eher noch nach Schuld und Schmerzen  s u c h e n ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 246

„Gute Menschen reden nie die Wahrheit ....“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 247

„ N e b e n  dem bösen Gewissen wuchs bisher alles  W i s s e n !  Zerbrecht, zerbrecht mir, ihr Erkennenden, die alten Tafeln!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 247

„Oh meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 249

„Denn es könnte einmal kommen, dass der Pöbel Herr würde, und in seichten Gewässern alle Zeit ertränke. Darum, oh meine Brüder, bedarf es eines  n e u e n   A d e l s ,  der allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt »edel«. Vieler Edlen nämlich bedarf es und vielerlei Edlen,  d a s s   e s   A d e l   g e b e !  Oder, wie ich einst im Gleichnis sprach: »Das eben ist Göttlichkeit, dass es Götter, aber keinen Gott giebt!«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 250

„Wo der schlimmste aller Bäume wuchs, das Kreuz, – an dem Lande ist Nichts zu loben!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 251

„Oh meine Brüder, nicht zurück soll euer Adel schauen, sondern  h i n a u s !  Vertriebene sollt ihr sein aus allen Vater- und Urväterländern! Eurer  K i n d e r   L a n d  sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel – das unentdeckte, im fernsten Meere! Nach ihm heisse ich eure Segel suchen und suchen! An euren Kindern sollt ihr  g u t   m a c h e n ,  dass ihr eurer Väter Kinder seid: Alles Vergangene sollt ihr so erlösen! Diese neue Tafel stelle ich über euch!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 251

„Zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln der Nimmer-Frohen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 252

„Der Beste ist noch Etwas, das überwunden werden muss!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 253

„Zerbrecht, zerbrecht mir, oh meine Brüder, diese alten Tafeln der Frommen! Zersprecht mir die Sprüche der Welt-Verleumder!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 253

„Und so ist es immer schwacher Menschen Art: sie verlieren sich auf ihren Wegen. Und zuletzt fragt noch ihre Müdigkeit: »wozu gingen wir jemals Wege! Es ist alles gleich!«  D e n e n  klingt es lieblich zu Ohren, dass gepredigt wird: »Es verlohnt sich nichts! Ihr sollt nicht wollen!« Dies aber ist eine Predigt zur Knechtschaft.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 254

„Wollen befreit: denn Wollen ist Schaffen: so lehre ich. Und  n u r  zum Schaffen sollt ihr lernen! Und auch das Lernen sollt ihr erst von mir  l e r n e n , das Gut-Lernen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 254

„Ich schließe Kreise um mich und heilige Grenzen; immer Wenigere steigen mit mir auf immer höhere Berge: ich baue ein Gebirge aus immer heiligeren Bergen. – Wohin ihr aber auch mit mir steigen mögt, oh meine Brüder: seht zu, daß nicht ein  S c h m a r o t z e r  mit euch steige! Schmarotzer: das ist ein Gewürm, ein kriechendes, geschmiegtes, das fett werden will an euren kranken wunden Winkeln. Und  d a s  ist seine Kunst, dass ersteigende Seelen errät, wo sie müde sind: in euren Gram und Unmut, in eure zarte Scham baut er sein ekles Nest. Wo der Starke schwach, der Edle allzumild ist – dahinein baut er sein ekles Nest: der Schmarotzer wohnt, wo der Große kleine wunde Winkel hat. Was ist die höchste Art alles Seienden und was die geringste? Der Schmarotzer ist die geringste Art; wer aber höchster Art ist, der ernährt die meisten Schmarotzer. Die Seele nämlich, welche die längste Leiter hat und am tiefsten hinunter kann: wie sollten nicht an der die meisten Schmarotzer sitzen? – die umfänglichste Seele, welche am weitesten in sich laufen und irren und schweifen kann; die nothwendigste, welche sich aus Lust in den Zufall stürzt: – die seiende Seele, welche ins Werden taucht; die habende, welche ins Wollen und Verlangen  w i l l :  – die sich selber fliehende, die sich selber im weitesten Kreise einholt; die weiseste Seele, welcher die Narrheit am süssesten zuredet: – die sich selber liebendste, in der alle Dinge ihr Strömen und Widerströmen und Ebbe und Flut haben: – o hwie sollte  d i e   h ö c h s t e   S e e l e  nicht die schlimmsten Schmarotzer haben?“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 256-257

„Oh meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stossen! Das Alles von heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber ich – ich  w i l l  es noch stoßen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 257-258

„Ihr sollt nur Feinde haben, die zu hassen sind, aber nicht Feinde zum Verachten: ihr müsst stolz auf euren Feind sein: also lehrte ich schon Ein Mal.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 258

„Der Mensch nämlich ist das beste Raubthier. Allen Thieren hat der Mensch schon ihre Tugenden abgeraubt: das macht, von allen Thieren hat es der Mensch am schwersten gehabt. Nur noch die Vögel sind über ihm. Und wenn der Mensch noch fliegen lernte, wehe!  w o h i n a u f  – würde seine Raublust fliegen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 259

„So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den einen, gebärtüchtig das andre, beide aber tanztüchtig mit Kopf und Beinen. Und verloren sei uns der Tag, wo nicht einmal getanzt wurde! Und falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht ein Gelächter gab!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 260

„Nicht nur fort euch zu pflanzen, sondern  h i n a u f  – dazu, oh meine Brüder, helfe euch der Garten der Ehe!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 260

„Im Erdbeben alter Völker brechen neue Quellen aus.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 261

„Die Menschen-Gesellschaft: die ist ein Versuch, so lehre ich's – ein langes Suchen: sie sucht aber den Befehlenden! – ein Versuch, oh meine Brüder! Und  k e i n  »Vertrag«! Zerbrecht, zerbrecht mir solch Wort der Weich-Herzen und Halb- und Halben!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 261

„Oh meine Brüder! Bei welchen liegt doch die grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten? “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 261

„Und was für Schaden auch die Bösen thun mögen: der Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden! Und was für Schaden auch die Welt-Verleumder thun mögen: der Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden. Oh meine Brüder, den Guten und Gerechten sah einer einmal ins Herz, der da sprach: »es sind die Pharisäer«. Aber man verstand ihn nicht. Die Guten und Gerechten selber durften ihn nicht verstehen: ihr Geist ist eingefangen in ihr gutes Gewissen. Die Dummheit der Guten ist unergründlich klug. Das aber ist die Wahrheit: die Guten  m ü s s e n  Pharisäer sein – sie haben keine Wahl! Die Guten  m ü s s e n  den kreuzigen, der sich seine eigne Tugend erfindet! Das  i s t  die Wahrheit! Der zweite aber, der ihr Land entdeckte, Land, Herz und Erdreich der Guten und Gerechten: das war, der da fragte: »wen hassen sie am meisten?« Den  S c h a f f e n d e n  hassen sie am meisten: den, der Tafeln bricht und alte Werte, den Brecher – den heissden sie Verbrecher. Die Guten nämlich – die  k ö n n e n  nicht schaffen: die sind immer der Anfang vom Ende: – sie kreuzigen den, der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die Zukunft – sie kreuzigen alle Menschen-Zukunft! Die Guten – die waren immer der Anfang vom Ende.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 262

„Und was ich einst sagte vom »letzten Menschen«? – Bei welchen liegt die grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten?  Z e r b r e c h t ,   z e r b r e c h t   m i r   d i e   G u t e n   u n d   G e r e c h t e n ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 263

„Ihr flieht von mir? Ihr seid erschreckt? Ihr zittert vor diesem Worte? Oh meine Brüder, als ich euch die Guten zerbrechen hiessund die Tafeln der Guten: da erst schiffte ich den Menschen ein auf seine hohe See. Und nun erst kommt ihm der große Schrecken, das grosse Umsich-sehn, die grosse Krankheit, der grosse Ekel, die grosse See-Krankheit. Falsche Küsten und falsche Sicherheiten lehrten euch die Guten; in Lügen der Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten. Aber wer das Land »Mensch« entdeckte, entdeckte auch das Land »Menschen-Zukunft«. Nun sollt ihr mir Seefahrer sein, wackere, geduldsame! Aufrecht geht mir beizeiten, oh meine Brüder, lernt aufrecht gehn! Das Meer stürmt: Viele wollen an euch sich wieder aufrichten. Das Meer stürmt: alles ist im Meere. Wohlan! Wohlauf! Ihr alten Seemanns-Herzen! Was Vaterland!  D o r t h i n  will unser Steuer, wo unser  K i n d e r - L a n d  ist! Dorthinaus, stürmischer als das Meer, stürmt unsre grosse Sehnsucht!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 263-264

„»Warum so hart!« – sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle; »sind wir denn nicht Nah-Verwandte?« – Warum so weich? Oh meine Brüder, also frage ich euch: seid ihr denn nicht – meine Brüder? Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist so viel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? So wenig Schicksal in eurem Blicke? Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr mit mir – siegen? Und wenn eure Härte nicht blitzen und scheiden und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir – schaffen? Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muss es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, – Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, – härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste. Diese neue Tafel, oh meine Brüder, stelle ich über euch:  w e r d e t   h a r t ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 264

„Oh du mein Wille! Du Wende aller Not, du  m e i n e  Nothwendigkeit! Bewahre mich vor allen kleinen Siegen! Du Schickung meiner Seele, die ich Schicksal heisse! Du In-mir! Über-mir! Bewahre und spare mich auf zu einem großen Schicksale! Und deine letzte Grösse, mein Wille, spare dir für dein Letztes auf – daß du unerbittlich bist in deinem Siege! Ach, wer unterlag nicht seinem Siege! Ach, wessen Auge dunkelte nicht in dieser trunkenen Dämmerung! Ach, wessen Fuß taumelte nicht und verlernte im Siege – stehen! – Dass ich einst bereit und reif sei im großen Mittage: bereit und reif gleich glühendem Erze, blitzschwangrer Wolke und schwellendem Milch-Euter: – bereit zu mir selber und zu meinem verborgensten Willen: ein Bogen brünstig nach seinem Pfeile, ein Pfeil brünstig nach seinem Sterne: – ein Stern, bereit und reif in seinem Mittage, glühend, durchbohrt, selig vor vernichtenden Sonnen-Pfeilen: – eine Sonne selber und ein unerbittlicher Sonnen-Wille, zum Vernichten bereit im Siegen! Oh Wille, Wende aller Not, du  m e i n e  Nothwendigkeit! Spare mich auf zu einem grossen Siege!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 264-265

„Es ist eine schöne Narrethei, das Sprechen: damit tanzt der Mensch über alle Dinge.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 268

„Wie lieblich ist alles Reden und alle Lüge der Töne! Mit Tönen tanzt unsre Liebe auf bunten Regenbögen. “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 268

„Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 268-269

„Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln! antwortete Zarathustra und lächelte wieder, wie gut wißt ihr, was sich in sieben Tagen erfüllen musste: ....“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 269

„ U n d   i h r   s c h a u t e t   d e m   A l l e n   z u ?  Oh meine Thiere, seid auch ihr grausam? Habt ihr meinem grossen Schmerze zuschaun wollen, wie Menschen thun? Der Mensch nämlich ist das grausamste Thier.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 270

„Der Mensch ist gegen sich selber das grausamste Thier; und bei Allem, was sich »Sünder« und »Kreuzträger« und »Büsser« heisst, überhört mir die Wollust nicht, die in diesem Klagen und Anklagen ist!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 269

„Und ich selber – will ich damit des Menschen Ankläger sein? Ach, meine Thiere, Das allein lernte ich bisher, dass dem Menschen sein Bösestes nöthig ist zu seinem Besten, – dass alles Böseste seine beste Kraft ist und der härteste Stein dem höchsten Schaffenden; und dass der Mensch besser  u n d  böser werden muß: – Nicht an  d i e s  Marterholz war ich geheftet, dass ich weiß: der Mensch ist böse – sondern ich schrie, wie noch niemand geschrien hat: »Ach, dass sein Bösestes so gar klein ist! Ach, dass sein Bestes so gar klein ist!« Der grosse Überdruss am Menschen –  d e r  würgte mich und war mir in den Schlund gekrochen: und was der Wahrsager wahrsagte: »Alles ist gleich, es lohnt sich nichts, Wissen würgt.« Eine lange Dämmerung hinkte vor mir her, eine todesmüde, todestrunkene Traurigkeit, welche mit gähnendem Munde redete. »Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du müde bist, der kleine Mensch« – so gähnte meine Traurigkeit und schleppte den Fuss und konnte nicht einschlafen. Zur Höhle wandelte sich mir die Menschen-Erde, ihre Brust sank hinein, alles Lebendige ward mir Menschen-Moder und Knochen und morsche Vergangenheit. Mein Seufzen sass auf allen Menschen-Gräbern und konnte nicht mehr aufstehn; mein Seufzen und Fragen unkte und würgte und nagte und klagte bei Tag und Nacht: – »ach, der Mensch kehrt ewig wieder! Der kleine Mensch kehrt ewig wieder!« Nackt hatte ich einst beide gesehn, den größten Menschen und den kleinsten Menschen: allzuähnlich einander – allzumenschlich auch den Größten noch! Allzuklein der Größte! – das war mein Überdruss am Menschen! Und ewige Wiederkunft auch des Kleinsten! – das war mein Überdruß an allem Dasein!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 270

„»Sprich nicht weiter«, antworteten ihm abermals seine Thiere; »lieber noch, du Genesender, mache dir erst eine Leier zurecht, eine neue Leier!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 271

„Denn deine Tiere wissen es wohl, oh Zarathustra, wer du bist und werden mußt: siehe,  d u   b i s t   d e r   L e h r e r   d e r   e w i g e n   W i e d e r k u n f t  –, das ist nun  d e i n  Schicksal!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 271

„Siehe, wir wissen, was du lehrst: dass alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit, und dass wir schon ewige Male dagewesen sind, und alle Dinge mit uns. Du lehrst, dass es ein grosses Jahr des Werdens gibt, ein Ungeheuer von grossem Jahre: das muss sich, einer Sanduhr gleich, immer wieder von neuem umdrehn, damit es von neuem ablaufe und auslaufe: – so dass alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Grössten und auch im Kleinsten, so dass wir selber in jedem großen Jahre uns selber gleich sind, im Grössten und auch im Kleinsten.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 272

„Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin – der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft. Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, mit diesem Adler, mit dieser Schlange –  n i c h t  zu einem neuen Leben oder besseren Leben oder ähnlichen Leben: – ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre, – dass ich wieder das Wort spreche vom großen Erden- und Menschen-Mittage, dass ich wieder den Menschen den Übermenschen künde. Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort: so will es mein ewiges Loos –, als Verkündiger gehe ich zu Grunde! Die Stunde kam nun, dass der Untergehende sich selber segnet. Also –  e n d e t  Zarathustra's Untergang.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 273

„Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring der Wiederkunft! Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!   D e n n   i c h   l i e b e   d i c h ,   o h   E w i g k e i t ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 283-287

„ D e r  nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranziehend, hinaufziehend, aufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich nicht umsonst einstmals zusprach: »Werde, der du bist!«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 293

„Ich aber und mein Schicksal – wir reden nicht zum Heute, wir reden auch nicht zum Niemals: wir haben zum Reden schon Geduld und Zeit und Überzeit. Denn einst muss er doch kommen und darf nicht vorübergehn. Wer muss einst kommen und darf nicht vorübergehn? Unser grosser Hazar, das ist unser grosses fernes Menschen-Reich, das Zarathustra-Reich von tausend Jahren.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 294

„Einstmals – ich glaub’, im Jahr des Heiles Eins – // Sprach die Sibylle, trunken sonder Weins: // »Weh, nun geht's schief! // Verfall! Verfall! Nie sank die Welt so tief! // Rom sank zur Hure und zur Huren-Bude, // Rom’s Caesar sank zum Vieh, Gott selbst – ward Jude!«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 303

„Verlange Viel – das rät mein Stolz! // Und rede kurz – das rät mein andrer Stolz!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 312

„Ich liebe die grossen Verachtenden. Der Mensch aber ist Etwas, das überwunden werden muss.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 328

„So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich. Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen: das Wiederkäuen. Und wahrlich, wenn der Mensch auch die ganze Welt gewönne und lernte das Eine nicht, das Wiederkäuen: was hülfe es! Er würde nicht seine Trübsal los– seine große Trübsal: die aber heißt heute Ekel. Wer hat heute von Ekel nicht Herz, Mund und Augen voll? Auch du! Auch du! Aber siehe doch diese Kühe an!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 330

„Die Kühe aber schauten dem Allen zu und wunderten sich. »Sprich nicht von mir, du Wunderlicher! Lieblicher!« sagte Zarathustra und wehrte seiner Zärtlichkeit, »sprich mir erst von dir! Bist du nicht der freiwillige Bettler, der einst einen großen Reichtum von sich warf, – der sich seines Reichthums schämte und der Reichen, und zu den Ärmsten floh, dass er ihnen seine Fülle und sein Herz schenke? Aber sie nahmen ihn nicht an.« »Aber sie nahmen mich nicht an«, sagte der freiwillige Bettler, »du weisst es ja. So gieng ich endlich zu den Thieren und zu diesen Kühen.« »Da lerntest du«, unterbrach Zarathustra den Redenden, »wie es schwerer ist, recht geben als recht nehmen, und dass gut schenken eine  K u n s t  ist und die letzte listigste Meister-Kunst der Güte.« »Sonderlich heutzutage«, antwortete der freiwillige Bettler: »heute nämlich, wo alles Niedrige aufständisch ward und scheu und auf seine Art hoffärtig: nämlich auf Pöbel-Art. Denn es kam die Stunde, du weisst es ja, für den großen schlimmen langen langsamen Pöbel- und Sklaven-Aufstand: der wächst und wächst! Nun empört die Niedrigen alles Wohltun und kleine Weggeben; und die Überreichen mögen auf der Hut sein! Wer heute gleich bauchichten Flaschen tröpfelt aus allzuschmalen Hälsen – solchen Flaschen bricht man heute gern den Hals. Lüsterne Gier, gallichter Neid, vergrämte Rachsucht, Pöbel-Stolz: das sprang mir alles ins Gesicht. Es ist nicht mehr wahr, daß die Armen selig sind. Das Himmelreich aber ist bei den Kühen.« »Und warum ist es nicht bei den Reichen?« fragte Zarathustra versuchend, während er den Kühen wehrte, die den Friedfertigen zutraulich anschnauften. »Was versuchst du mich?« antwortete dieser. »Du weisst es selber besser noch als ich. Was trieb mich doch zu den Ärmsten, oh Zarathustra? War es nicht der Ekel vor unsern Reichsten? – vor den Sträflingen des Reichtums, welche sich ihren Vortheil aus jedem Kehricht auflesen, mit kalten Augen, geilen Gedanken, vor diesem Gesindel, das gen Himmel stinkt, – vor diesem vergüldeten, verfälschten Pöbel, dessen Väter Langfinger oder Aasvögel oder Lumpensammler waren, mit Weibern willfährig, lüstern, vergesslich – sie haben’s nämlich alle nicht weit zur Hure – Pöbel oben, Pöbel unten! Was ist heute noch ›arm‹ und ›reich‹! Diesen Unterschied verlernte ich – da floh ich davon, weiter, immer weiter, bis ich zu diesen Kühen kam.«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 331-332

„Es wird mir wahrlich zu viel; diess Gebirge wimmelt, mein Reich ist nicht mehr von dieser Welt, ich brauche neue Berge.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 334

„Am späten Nachmittage war es erst, dass Zarathustra, nach langem umsonstigen Suchen und Umherstreifen, wieder zu seiner Höhle heimkam. Als er aber derselben gegenüberstand, nicht zwanzig Schritt mehr von ihr ferne, da geschah das, was er jetzt am wenigsten erwartete: von Neuem hörte er den grossen  N o t h s c h r e i .  Und, erstaunlich! diess Mal kam derselbige aus seiner eignen Höhle. Es war aber ein langer vielfältiger seltsamer Schrei, und Zarathustra unterschied deutlich, dass er sich aus vielen Stimmen zusammensetze: mochte er schon, aus der Ferne gehört, gleich dem Schrei aus einem einzigen Munde klingen. Da sprang Zarathustra auf seine Höhle zu, und siehe! welches Schauspiel erwartete ihn erst nach diesem Hörspiele! Denn da sassen sie allesamt beieinander, an denen er des Tags vorübergegangen war: der König zur Rechten und der König zur Linken, der alte Zauberer, der Papst, der freiwillige Bettler, der Schatten, der Gewissenhafte des Geistes, der traurige Wahrsager und der Esel; der hässlichste Mensch aber hatte sich eine Krone aufgesetzt und zwei Purpurgürtel umgeschlungen – denn er liebte es, gleich allen Hässlichen, sich zu verkleiden und schön zu tun. Inmitten aber dieser betrübten Gesellschaft stand der Adler Zarathustra’s, gesträubt und unruhig, denn er sollte auf zu vieles antworten, wofür sein Stolz keine Antwort hatte; die kluge Schlange aber hing um seinen Hals. Dies alles schaute Zarathustra mit grosser Verwunderung; dann aber prüfte er jeden Einzelnen seiner Gäste mit leutseliger Neugierde, las ihre Seelen ab und wunderte sich von Neuem. Inzwischen hatten sich die Versammelten von ihren Sitzen erhoben und warteten mit Ehrfurcht, dass Zarathustra reden werde. Zarathustra aber sprach also: »Ihr Verzweifelnden! Ihr Wunderlichen! Ich hörte also  e u r e n  Nothschrei? Und nun weiss ich auch, wo Der zu suchen ist, den ich umsonst heute suchte:  d e r   h ö h e r e   M e n s c h  – :  –  in meiner eignen Höhle sitzt er, der höhere Mensch! Aber was wundere ich mich! Habe ich ihn nicht selber zu mir gelockt, durch Honig-Opfer und listige Lockrufe meines Glücks?“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 342-343

„»Meine Gäste, ihr höheren Menschen, ich will deutsch und deutlich mit euch reden. Nicht auf  e u c h  wartete ich hier in diesen Bergen.« (»....«) »Ihr mögt wahrlich insgesamt höhere Menschen sein«, fuhr Zarathustra fort, »aber für mich – seid ihr nicht hoch und stark genug. Für mich, das heisst: für das Unerbittliche, das in mir schweigt, aber nicht immer schweigen wird. Und gehört ihr zu mir, so doch nicht als mein rechter Arm. Wer nämlich selber auf kranken und zarten Beinen steht, gleich euch, der will vor Allem, ob er's weiss oder sich verbirgt: dass er  g e s c h o n t  werde. Meine Arme und meine Beine aber schone ich nicht,  i c h   s c h o n e   m e i n e   K r i e g e r   n i c h t :  wieso könntet ihr zu  m e i n e m  Kriege taugen? Mit euch verdürbe ich mir jeden Sieg noch. Und mancher von euch fiele schon um, wenn er nur den lauten Schall meiner Trommeln hörte. Auch seid ihr mir nicht schön genug und wohlgeboren. Ich brauche reine glatte Spiegel für meine Lehren; auf eurer Oberfläche verzerrt sich noch mein eignes Bildnis. Eure Schultern drückt manche Last, manche Erinnerung; manch schlimmer Zwerg hockt in euren Winkeln. Es giebt verborgenen Pöbel auch in euch. Und seid ihr auch hoch und höherer Art: vieles an euch ist krumm und missgestalt. Da ist kein Schmied in der Welt, der euch mir zurecht und gerade schlüge. Ihr seid nur Brücken: mögen Höhere auf euch hinüberschreiten! Ihr bedeutet Stufen: so zürnt Dem nicht, der über euch hinweg in  s e i n e  Höhe steigt! Aus eurem Samen mag auch mir einst ein echter Sohn und vollkommener Erbe wachsen: aber das ist ferne. Ihr selber seid Die nicht, welchen mein Erbgut und Name zugehört. Nicht auf euch warte ich hier in diesen Bergen, nicht mit euch darf ich zum letzten Male niedersteigen. Als Vorzeichen kamt ihr mir nur, dass schon Höhere zu mir unterwegs sind, – –  n i c h t  die Menschen der grossen Sehnsucht, des grossen Ekels, des grossen Überdrusses und das, was ihr den Überrest Gottes nanntet. – Nein! Nein! Drei Mal Nein! Auf  A n d e r e  warte ich hier in diesen Bergen und will meinen Fuss nicht ohne sie von dannen heben, – auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemutere, solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele:  l a c h e n d e   L ö w e n  müssen kommen! Oh, meine Gastfreunde, ihr Wunderlichen – hörtet ihr noch nichts von meinen Kindern? Und dass sie zu mir unterwegs sind? Sprecht mir doch von meinen Gärten, von meinen glückseligen Inseln, von meiner neuen schönen Art – warum sprecht ihr mir nicht davon? Diess Gastgeschenk erbitte ich mir von eurer Liebe, dass ihr mir von meinen Kindern sprecht. Hierzu bin ich reich, hierzu ward ich arm: was gab ich nicht hin, – was gäbe ich nicht hin, dass ich Eins hätte:  d i e s e  Kinder,  d i e s e  lebendige Pflanzung,  d i e s e  Lebensbäume meines Willens und meiner höchsten Hoffnung!«“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 346-347

„Als ich zum ersten Male zu den Menschen kam, da that ich die Einsiedler-Thorheit, die große Thorheit: ich stellte mich auf den Markt. Und als ich zu Allen redete, redete ich zu Keinem. Des Abends aber waren Seiltänzer meine Genossen, und Leichname; und ich selber fast ein Leichnam. Mit dem neuen Morgen aber kam mir eine neue Wahrheit: da lernte ich sprechen »Was geht mich Markt und Pöbel und Pöbel-Lärm und lange Pöbel-Ohren an!« Ihr höheren Menschen, Diess lernt von mir: auf dem Markt glaubt niemand an höhere Menschen. Und wollt ihr dort reden, wohlan! Der Pöbel aber blinzelt »wir sind alle gleich«. »Ihr höheren Menschen« – so blinzelt der Pöbel – »es giebt keine höheren Menschen, wir sind Alle gleich, Mensch ist Mensch, vor Gott – sind wir Alle gleich!« Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott. Vor dem Pöbel aber wollen wir nicht gleich sein. Ihr höheren Menschen, geht weg vom Markt!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 352

„Vor Gott! – Nun aber starb dieser Gott! Ihr höheren Menschen, dieser Gott war eure grösste Gefahr. Seit er im Grabe liegt, seid ihr erst wieder auferstanden. Nun erst kommt der große Mittag, nun erst wird der höhere Mensch – Herr! Verstandet ihr diess Wort, oh meine Brüder? Ihr seid erschreckt: wird euren Herzen schwindlig? Klafft euch hier der Abgrund? Kläfft euch hier der Höllenhund? Wohlan! Wohlauf! Ihr höheren Menschen! Nun erst kreisst der Berg der Menschen-Zukunft. Gott starb: nun wollen wir – dass der Übermensch lebe.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 353

„Die Sorglichsten fragen heute: »wie bleibt der Mensch erhalten?« Zarathustra aber fragt als der einzige und erste: »wie wird der Mensch  ü b e r w u n d e n ? «  Der Übermensch liegt mir am Herzen,  d e r  ist mein Erstes und Einziges – und  n i c h t  der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste, nicht der Beste. – Oh meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang ist und ein Untergang. Und auch an euch ist Vieles, das mich lieben und hoffen macht. Dass ihr verachtetet, ihr höheren Menschen, das macht mich hoffen. Die großen Verachtenden nämlich sind die großen Verehrenden. Dass ihr verzweifeltet, daran ist Viel zu ehren. Denn ihr lerntet nicht, wie ihr euch ergäbet, ihr lerntet die kleinen Klugheiten nicht. Heute nämlich wurden die kleinen Leute Herr: die predigen alle Ergebung und Bescheidung und Klugheit und Fleiss und Rücksicht und das lange Und-so-weiter der kleinen Tugenden. Was von Weibsart ist, was von Knechtsart stammt und sonderlich der Pöbel-Mischmasch:  D a s  will nun Herr werden alles Menschen-Schicksals – oh Ekel! Ekel! Ekel! Das frägt und frägt und wird nicht müde: »wie erhält sich der Mensch, am besten, am längsten, am angenehmsten?« Damit – sind sie die Herren von heute. Diese Herren von heute überwindet mir, oh meine Brüder – diese kleinen Leute:  d i e  sind des Übermenschen grösste Gefahr! Überwindet mir, ihr höheren Menschen, die kleinen Tugenden, die kleinen Klugheiten, die Sandkorn-Rücksichten, den Ameisen-Kribbelkram, das erbärmliche Behagen, das »Glück der Meisten« –! Und lieber verzweifelt, als dass ihr euch ergebt. Und, wahrlich, ich liebe euch dafür, dass ihr heute nicht zu leben wisst, ihr höheren Menschen! So nämlich lebt  i h r  – am Besten!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 353-354

„Habt ihr Muth, oh meine Brüder? Seid ihr herzhaft? Nicht Muth vor Zeugen, sondern Einsiedler- und Adler-Muth, dem auch kein Gott mehr zusieht? Kalte Seelen, Maultiere, Blinde, Trunkene heissen mir nicht herzhaft. Herz hat, wer Furcht kennt, aber Furcht zwingt; wer den Abgrund sieht, aber mit  S t o l z .  Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen, – wer mit Adlers-Krallen den Abgrund  f a s s t :  Der hat Muth.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 354

„»Der Mensch ist böse« – so sprachen mir zum Troste alle Weisesten. Ach, wenn es heute nur noch wahr ist! Denn das Böse ist des Menschen beste Kraft. »Der Mensch muss besser und böser werden« – so lehre ich. Das Böseste ist nöthig zu des Übermenschen Bestem. Das mochte gut sein für jenen Prediger der kleinen Leute, dass er litt und trug an des Menschen Sünde. Ich aber erfreue mich der grossen Sünde als meines großen  T r o s t e s .  – Solches ist aber nicht für lange Ohren gesagt. Jedwedes Wort gehört auch nicht in jedes Maul. Das sind feine ferne Dinge: nach denen sollen nicht Schafs-Klauen greifen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 355

„Ihr höheren Menschen, meint ihr, ich sei da, gut zu machen, was ihr schlecht machtet? Oder ich wollte fürderhin euch Leidende bequemer betten? Oder euch Unstäten, Verirrten, Verkletterten neue leichtere Fussteige zeigen? Nein! Nein! Drei Mal Nein! Immer Mehr, immer Bessere eurer Art sollen zu Grunde gehn – denn ihr sollt es immer schlimmer und härter haben. So allein – – so allein wächst der Mensch in  d i e  Höhe, wo der Blitz ihn trifft und zerbricht: hoch genug für den Blitz! Auf Weniges, auf Langes, auf Fernes geht mein Sinn und meine Sehnsucht: was gienge mich euer kleines, vieles, kurzes Elend an! Ihr leidet mir noch nicht genug! Denn ihr leidet an euch, ihr littet noch nicht  a m   M e n s c h e n .  Ihr würdet lügen, wenn ihr's anders sagtet! Ihr leidet Alle nicht, woran  i c h  litt.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 355

„Es ist mir nicht genug, dass der Blitz nicht mehr schadet. Nicht ableiten will ich ihn: er soll lernen für  m i c h  – arbeiten. – Meine Weisheit sammelt sich lange schon gleich einer Wolke, sie wird stiller und dunkler. So tut jede Weisheit, welche  e i n s t  Blitze gebären soll. – Diesen Menschen von Heute will ich nicht Licht sein, nicht Licht heissen.  D i e  – will ich blenden. Blitz meiner Weisheit! stich ihnen die Augen aus!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 356

„Wollt Nichts über euer Vermögen: es giebt eine schlimme Falschheit bei Solchen, die über ihr Vermögen wollen. Sonderlich, wenn sie grosse Dinge wollen! Denn sie wecken Misstrauen gegen grosse Dinge, diese feinen Falschmünzer und Schauspieler:– – bis sie endlich falsch vor sich selber sind, schieläugig, übertünchter Wurmfrass, bemäntelt durch starke Worte, durch Aushänge-Tugenden, durch glänzende falsche Werke. Habt da eine gute Vorsicht, ihr höheren Menschen! Nichts nämlich gilt mir heute kostbarer und seltner als Redlichkeit. Ist diess Heute nicht des Pöbels? Pöbel aber weiss nicht, was gross, was klein, was gerade und redlich ist: der ist unschuldig krumm, der lügt immer.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 356

„Habt heute ein gutes Misstrauen, ihr höheren Menschen, ihr Beherzten! Ihr Offenherzigen! Und haltet eure Gründe geheim! Diess Heute nämlich ist des Pöbels. Was der Pöbel ohne Gründe einst glauben lernte, wer könnte ihm durch Gründe das – umwerfen? Und auf dem Markte überzeugt man mit Gebärden. Aber Gründe machen den Pöbel misstrauisch. Und wenn da einmal die Wahrheit zum Siege kam, so fragt euch mit gutem Misstrauen: »welch starker Irrtum hat für sie gekämpft?« Hütet euch auch vor den Gelehrten! Die hassen euch: denn sie sind unfruchtbar! Sie haben kalte vertrocknete Augen, vor ihnen liegt jeder Vogel entfedert. Solche brüsten sich damit, dass sie nicht lügen: aber Ohnmacht zur Lüge ist lange noch nicht Liebe zur Wahrheit. Hütet euch! Freiheit von Fieber ist lange noch nicht Erkenntnis! Ausgekälteten Geistern glaube ich nicht. Wer nicht lügen kann, weiss nicht, was Wahrheit ist.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 357

„Wollt ihr hoch hinaus, so braucht die eignen Beine! Lasst euch nicht empor  t r a g e n ,  setzt euch nicht auf fremde Rücken und Köpfe! Du aber stiegst zu Pferde? Du reitest nun hurtig hinauf zu deinem Ziele? Wohlan, mein Freund! Aber dein lahmer Fuß sitzt auch mit zu Pferde! Wenn du an deinem Ziele bist, wenn du von deinem Pferde springst: auf deiner Höhe gerade, du höherer Mensch – wirst du stolpern!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 357

„Ihr Schaffenden, ihr höheren Menschen! Man ist nur für das eigne Kind schwanger. Lasst euch nichts vorreden, einreden! Wer ist denn euer Nächster? Und handelt ihr auch »für den Nächsten« – ihr schafft doch nicht für ihn! Verlernt mir doch diess »Für«, ihr Schaffenden: eure Tugend gerade will es, dass ihr kein Ding mit »für« und »um« und »weil« thut. Gegen diese falschen kleinen Worte sollt ihr euer Ohr zukleben. Das »für den Nächsten« ist die Tugend nur der kleinen Leute: da heisst es »gleich und gleich« und »Hand wäscht Hand« – sie haben nicht Recht noch Kraft zu eurem Eigennutz! In eurem Eigennutz, ihr Schaffenden, ist der Schwangeren Vorsicht und Vorsehung! Was niemand noch mit Augen sah, die Frucht: die schirmt und schont und nährt eure ganze Liebe. Wo eure ganze Liebe ist, bei eurem Kinde, da ist auch eure ganze Tugend! Euer Werk, euer Wille ist  e u e r  »Nächster«: lasst euch keine falschen Werte einreden!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 358

„Ihr Schaffenden, ihr höheren Menschen! Wer gebären muss, der ist krank; wer aber geboren hat, ist unrein. Fragt die Weiber: man gebiert nicht, weil es Vergnügen macht. Der Schmerz macht Hühner und Dichter gackern. Ihr Schaffenden, an euch ist viel Unreines. Das macht, ihr musstet Mütter sein. Ein neues Kind: oh, wie viel neuer Schmutz kam auch zur Welt! Geht beiseite! Und wer geboren hat, soll seine Seele rein waschen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 358

„Seid nicht tugendhaft über eure Kräfte! Und wollt Nichts von euch wider die Wahrscheinlichkeit! Geht in den Fusstapfen, wo schon eurer Väter Tugend ging! Wie wolltet ihr hoch steigen, wenn nicht eurer Väter Wille mit euch steigt? Wer aber Erstling sein will, sehe zu, dass er nicht auch Letztling werde! Und wo die Laster eurer Väter sind, darin sollt ihr nicht Heilige bedeuten wollen! Wessen Väter es mit Weibern hielten und mit starken Weinen und Wildschweinen: was wäre es, wenn der von sich Keuschheit wollte? Eine Narrheit wäre es! Viel, wahrlich, dünkt es mich für einen Solchen, wenn er Eines oder Zweier oder Dreier Weiber Mann ist. Und stiftete er Klöster und schriebe über die Tür: »der Weg zum Heiligen« – ich spräche doch: wozu! es ist eine neue Narrheit! Er stiftete sich selber ein Zucht- und Fluchthaus: wohl bekomm's! Aber ich glaube nicht daran. In der Einsamkeit wächst, was Einer in sie bringt, auch das innere Vieh. Solchergestalt widerräth sich vielen die Einsamkeit. Gab es Schmutzigeres bisher auf Erden als Wüsten-Heilige?  U m   d i e  herum war nicht nur der Teufel los – sondern auch das Schwein.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 359

„Scheu, beschämt, ungeschickt, einem Tiger gleich, dem der Sprung missriet: also, ihr höheren Menschen, sah ich oft euch beiseite schleichen. Ein Wurf missriet euch. Aber, ihr Würfelspieler, was liegt daran! Ihr lerntet nicht spielen und spotten, wie man spielen und spotten muss! Sitzen wir nicht immer an einem grossen Spott- und Spieltische? Und wenn euch Grosses missriet, seid ihr selber darum – missraten? Und missrietet ihr selber, missriet darum – der Mensch? Missriet aber der Mensch: wohlan! wohlauf!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 359-360

„Je höher von Art, je seltener gerät ein Ding. Ihr höheren Menschen hier, seid ihr nicht alle – missgeraten? Seid guten Muths, was liegt daran! Wie Vieles ist noch möglich! Lernt über euch selber lachen, wie man lachen muss! Was Wunders auch, dass ihr missrietet und halb gerietet, ihr Halbzerbrochenen! Drängt und stösst sich nicht in euch – des Menschen  Z u k u n f t ?  Des Menschen Fernstes, Tiefstes, Sternen-Höchstes, seine ungeheure Kraft: schäumt das nicht alles gegen einander in eurem Topfe? Was Wunders, dass mancher Topf zerbricht! Lernt über euch lachen, wie man lachen muss! Ihr höheren Menschen, oh wie Vieles ist noch möglich! Und wahrlich, wie Viel gerieth schon! Wie reich ist diese Erde an kleinen guten vollkommenen Dingen, an Wohlgerathenem! Stellt kleine gute vollkommene Dinge um euch, ihr höheren Menschen! Deren goldene Reife heilt das Herz. Vollkommnes lehrt hoffen.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 360

„Welches war hier auf Erden bisher die grösste Sünde? War es nicht das Wort dessen, der sprach: »Wehe denen, die hier lachen!« Fand er zum Lachen auf der Erde selber keine Gründe? So suchte er nur schlecht. Ein Kind findet hier noch Gründe. Der – liebte nicht genug: sonst hätte er auch uns geliebt, die Lachenden! Aber er hasste und höhnte uns, Heulen und Zähneklappern verhiess er uns. Muss man denn gleich fluchen, wo man nicht liebt? Das – dünkt mich ein schlechter Geschmack. Aber so that er, dieser Unbedingte. Er kam vom Pöbel. Und er selber liebte nur nicht genug: sonst hätte er weniger gezürnt, dass man ihn nicht liebe. Alle grosse Liebe  w i l l  nicht Liebe – die will mehr. Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten! Das ist eine arme kranke Art, eine Pöbel-Art: sie sehn schlimm diesem Leben zu, sie haben den bösen Blick für diese Erde. Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten! Sie haben schwere Füsse und schwüle Herzen – sie wissen nicht zu tanzen. Wie möchte Solchen wohl die Erde leicht sein!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 361

„Krumm kommen alle guten Dinge ihrem Ziele nahe. Gleich Katzen machen sie Buckel, sie schnurren innewendig vor ihrem nahen Glücke – alle guten Dinge lachen. Der Schritt verrät, ob Einer schon auf  s e i n e r  Bahn schreitet: so seht mich gehn! Wer aber seinem Ziele nahe kommt, der tanzt. Und, wahrlich, zum Standbild ward ich nicht, noch stehe ich nicht da, starr, stumpf, steinern, eine Säule; ich liebe geschwindes Laufen. Und wenn es auf Erden auch Moor und dicke Trübsal giebt: wer leichte Füsse hat, läuft über Schlamm noch hinweg und tanzt wie auf gefegtem Eise. Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 361-362

„Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen Anderen fand ich heute stark genug dazu. Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, ein Selig-Leichtfertiger: – Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher, kein Ungeduldiger, kein Unbedingter, einer, der Sprünge und Seitensprünge liebt; ich selber setzte mir diese Krone auf!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 362

„Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf! Es giebt auch im Glück schweres Gethier, es giebt Plumpfüssler von Anbeginn. Wunderlich mühn sie sich ab, einem Elephanten gleich, der sich müht auf dem Kopf zu stehn. Besser aber noch närrisch sein vor Glücke als närrisch vor Unglücke, besser plump tanzen, als lahm gehn. So lernt mir doch meine Weisheit ab: auch das schlimmste Ding hat zwei gute Kehrseiten, – – auch das schlimmste Ding hat gute Tanzbeine: so lernt mir doch euch selbst, ihr höheren Menschen, auf eure rechten Beine stellen! So verlernt mir doch Trübsal-Blasen und alle Pöbel-Traurigkeit! Oh wie traurig dünken mich heute des Pöbels Hanswürste noch! Diess Heute aber ist des Pöbels.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 362-363

„Dem Winde thut mir gleich, wenn er aus seinen Berghöhlen stürzt: nach seiner eignen Pfeife will er tanzen, die Meere zittern und hüpfen unter seinen Fusstapfen. Der den Eseln Flügel giebt, der Löwinnen melkt, gelobt sei dieser gute unbändige Geist, der allem Heute und allem Pöbel wie ein Sturmwind kommt, – – der Distel- und Tiftelköpfen feind ist und allen welken Blättern und Unkräutern: gelobt sei dieser wilde gute freie Sturmgeist, welcher auf Mooren und Trübsalen wie auf Wiesen tanzt! Der die Pöbel-Schwindhunde hasst und alles missratene düstere Gezücht: gelobt sei dieser Geist aller freien Geister, der lachende Sturm, welcher allen Schwarzsichtigen, Schwärsüchtigen Staub in die Augen bläst! Ihr höheren Menschen, euer Schlimmstes ist: ihr lerntet alle nicht tanzen, wie man tanzen muss – über euch hinweg tanzen! Was liegt daran, dass ihr missrietet! Wie vieles ist noch möglich! So  l e r n t  doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch! höher! Und vergesst mir auch das gute Lachen nicht! Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich heilig; ihr höheren Menschen,  l e r n t  mir – lachen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 363-364

„Und da stehe ich schon, Als Europäer, Ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 381

„ D i e   W ü s t e   w ä c h s t :   w e h   D e m ,   d e r   W ü s t e n   b i r g t ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 381

„Eins aber weiss ich, – von dir selber lernte ich's einst, oh Zarathustra: wer am gründlichsten tödten will, der  l a c h t .  ›Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man‹ – so sprachst du einst. Oh Zarathustra, du Verborgener, du Vernichter ohne Zorn, du gefährlicher Heiliger, – du bist ein Schelm!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 388

„Es lohnt sich auf der Erde zu leben: ein Tag, ein Fest mit Zarathustra lehrte mich die Erde lieben. ›War  D a s  – das Leben?‹ will ich zum Tode sprechen. ›Wohlan! Noch Ein Mal!‹ Meine Freunde, was dünket euch? Wollt ihr nicht gleich mir zum Tode sprechen: War  D a s  – das Leben? Um Zarathustras Willen, wohlan! Noch Ein Mal!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 392

„Weh spricht: »Vergeh! Weg, du Wehe!« Aber Alles, was leidet, will leben, dass es reif werde und lustig und sehnsüchtig, – sehnsüchtig nach Fernerem, Höherem, Hellerem. »Ich will Erben, so spricht Alles, was leidet, ich will Kinder, ich will nicht  m i c h « ,  – Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder – Lust will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft, will Alles-sich-ewig-gleich.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 397-398

„Mitternacht ist auch Mittag ....“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 398

„ D e n n   a l l e   L u s t   w i l l   –   E w i g k e i t ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 398

„Lust will  a l l e r  Dinge Ewigkeit,  w i l l   t i e f e ,   t i e f e   E w i g k e i t ! “
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 399

„Oh Mensch! Gib Acht! // Was spricht die tiefe Mitternacht? // »Ich schlief, ich schlief –, // Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – // Die Welt ist tief, // Und tiefer als der Tag gedacht. // Tief ist ihr Weh –, // Lust – tiefer noch als Herzeleid: // Weh spricht: Vergeh! // Doch alle Lust will Ewigkeit –, // – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 400

„Mein Leid und mein Mitleiden – was liegt daran! Trachte ich denn nach  G l ü c k e ?  Ich trachte nach meinem  W e r k e !  Wohlan! Der  Löwe kam, meine Kinder sind nahe, Zarathustra ward reif, meine Stunde kam: – Dies ist  m e i n  Morgen,  m e i n  Tag hebt an:  h e r a u f   n u n ,   h e r a u f ,   d u   g r o s s e r   M i t t a g ! «  – – Also sprach Zarathustra und verliess seine Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885, S. 404

„Grundsatz: das, was im Kampf mit den Tieren dem Menschen seinen Sieg errang, hat zugleich die schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich gebracht. Er ist das noch nicht festgestellte Tier.“
Friedrich Nietzsche, Frühjahr 1884, in: Nachgelassene Fragmente (25 [428], KSA, 11, 125)

„Ist Pessimismus notwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Mißratenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte? – wie er es bei den Indern war, wie er es, allem Anschein nach, bei uns, den »modernen« Menschen und Europäern ist? Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins? Gibt es vielleicht ein Leiden an der Überfülle selbst? Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem Furchtbaren verlangt, als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an dem sie ihre Kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was »das Fürchten« ist? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten, stärksten, tapfersten Zeit, der tragische Mythus? Und das ungeheure Phänomen des Dionysischen? Was, aus ihm geboren, die Tragödie? – Und wiederum: das, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen – wie? könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lösenden Instinkte sein? Und die »griechische Heiterkeit« des späteren Griechentums nur eine Abendröte? Der epikurische Wille gegen den Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden? Und die Wissenschaft selbst, unsere Wissenschaft – ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher – alle Wissenschaft? Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Notwehr gegen – die Wahrheit? Und, moralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit? Unmoralisch geredet, eine Schlauheit? O Sokrates, Sokrates, war das vielleicht dein Geheimnis? O geheimnisvoller Ironiker, war dies vielleicht deine – Ironie?“
Friedrich Nietzsche, Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 3-4

„Christentum war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Überdruß des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein »anderes« oder »besseres« Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Haß auf die »Welt«, der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen ins Nichts, ans Ende, ins Ausruhen, hin zum »Sabbat der Sabbate« – dies alles dünkte mich, ebenso wie der unbedingte Wille des Christentums, nur moralische Werte gelten zu lassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste Form aller möglichen Formen eines »Willens zum Untergang«, zum mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Mißmutigkeit, Erschöpfung, Verarmung an Leben, – denn vor der Moral (insonderheit christlichen, das heißt unbedingten Moral) muß das Leben beständig und unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell Unmoralisches ist, – muß endlich das Leben, erdrückt unter dem Gewichte der Verachtung und des ewigen Neins, als begehrens-unwürdig, als unwert an sich empfunden werden.“
Friedrich Nietzsche, Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 10

„Und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der nicht vor langem noch den Willen zur Herrschaft über Europa, die Kraft zur Führung Europas gehabt hatte, eben letztwillig und endgültig abdankte und, unter dem pomphaften Vorwande einer Reichs-Begründung, seinen Übergang zur Vermittelmäßigung, zur Demokratie und den »modernen Ideen« machte!“
Friedrich Nietzsche, Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 12

„Abseits freilich von allen übereilten Hoffnungen und fehlerhaften Nutzanwendungen auf Gegenwärtigstes, mit denen ich mir damals mein erstes Buch verdarb, bleibt das große dionysische Fragezeichen, wie es darin gesetzt ist, auch in betreff der Musik, fort und fortbestehn: wie müßte eine Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre, gleich der deutschen, – sondern dionysischen?
Friedrich Nietzsche, Versuch einer Selbstkritik, 1886, S. 12

„Leben selbst ist Wille zur Macht -: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 13, in: Werke III, S. 24 bzw. 578

„Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, daß Physik auch nur eine Welt-Auslegung und Zurechtlegung und nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muß auf lange hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 13, in: Werke III, S. 24 bzw. 578

„Philosophen .... Ihr Denken ist in der Tat viel weniger ein Entdecken als ein Wiedererkennenm eine Rück- und Heimkerh in einen fernen uralten Gesamt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind – Philosophieren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 20, in: Werke III, S. 29-30 bzw. 583-584

„Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophierens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, daß, dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik – ich meine dank der unbewußten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen – von vornherein alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt ist) werden mit großer Wahrscheinlichkeit anders »in die Welt« blicken und auf andern Pfaden zu finden sein als Indogermanen oder Muselmänner: der Bann bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann physiologischer Werturteile und Rasse-Bedingungen. – So viel zur Zurückweisung von Lockes Oberflächlichkeit in bezug auf die Herkunft der Ideen.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 20, in: Werke III, S. 30 bzw. 584

„Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen: aber jene »Gesetzmäßigkeit der Natur«, von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob – – besteht nur dank eurer Ausdeutung und schlechten »Philologie« – sie ist kein Tatbestand, kein »Text«, vielmehr nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam entgegenkommt!“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 22, in: Werke III, S. 32 bzw. 586

„Die Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als wirkend anerkennen, ob wir an die Kausalität des Willens glauben: tun wir das – und im Grunde ist der Glaube daran eben unser Glaube an Kausalität selbst –, so müssen wir den Versuch machen, die Willens-Kausalität hypothetisch als die einzige zu setzen. »Wille« kann natürlich nur auf »Wille« wirken – und nicht auf »Stoffe« (nicht auf »Nerven« zum Beispiel –): genug, man muß die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo »Wirkungen« anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt – und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin tätig wird, eben Willenskraft, Willens- Wirkung ist. – Gesetzt endlich, daß es gelänge, unser gesamtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist –; gesetzt, daß man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – es ist ein Problem – fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren »intelligiblen Charakter« hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben »Wille zur Macht« und nichts außerdem.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 36, in: Werke III, S. 47 bzw. 601

„Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verächter.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 78, in: Werke III, S. 73 bzw. 627

„Eine Seele, die sich gelebt weiß, aber selbst niocht lebt, verrät ihren Bodensatz – ihr Unterstes kommt herauf.“
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, 79, in: Werke III, S. 73 bzw. 627

„Gerade hier ... sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wehrend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermütig sich ankündigend: ich verstand die immer mehr um sich greifend Mildeids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäischen Kultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Eiropäer-Buddhismus? zum - Nihilismus? ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 213 bzw. 767

„Man hat bisher auch nicht im entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, »den Guten« für höherwertig als »den Bösen« anzusetzen, höherwertig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im »Guten« auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narkotikum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile, niedriger? .... So daß gerade die Moral daran schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre?“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 214 bzw. 768

„Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 228 bzw. 782

„Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem »Außerhalb«, zu einem »Anders«, zu einem »Nicht-selbst«: und dies Nein ist ihre schöpferische Tat. Diese Umkehrung des werte-setzenden Blicks - diese notwendige Richtung nach außen statt zurück auf sich selber - gehört eben zum Resentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Außenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äußerer Reize, um überhaupt zu agieren - ihre Aktion ist von Grund auf Reaktion. Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Wertungsweise der Fall: sie agiert und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender ja zu sagen - ihr negativer Begriff »niedrig«, »gemein«, »schlecht« ist nur ein nachgeborenes blasses Kontrastbild im Verhältnis zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff »wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!«“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 228-220 bzw. 782-783

„Während der vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt (gennaios »edelbürtig« unterstreicht die Nuance »aufrichtig« und auch wohl »naiv«), so ist der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele schielt; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte mutet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demütigen.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 230 bzw. 784

„Das Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht und erschöpft sich ... in einer sofortigen Reaktion, es vergiftet darum nicht: andrerseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf wo es bei allen Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 230 bzw. 784

„Wieviel Ehrfurcht vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer Mensch! - und eine solche Ehrfurcht ist schon eine Brücke zur Liebe .... Er verlangt ja seinen Feind für sich, als seine Auszeichnung, er hält ja keinen andren Feind aus, als einen solchen, an dem nichts zu verachten und sehr viel zu ehren ist! Dagegen stelle man sich »den Feind« vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment konzipiert - und hier gerade ist seine Tat, seine Schöpfung: er hat »den bösen Feind« konzipiert, »den Bösen«, und zwar als Gegenbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen »Guten« ausdenkt - sich selbst ! ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 231 bzw. 785

„Der Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit »bösem Blick« betrachtet, so daß sie sich in ihm schließlich mit dem »schlechten Gewissen« verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch wäre an sich möglich – aber wer ist stark genug dazu? –, nämlich die unnatürlichen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Tierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesamt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern. An wen sich heute mit solchen Hoffnungen und Ansprüchen wenden? .... Gerade die guten Menschen hätte man damit gegen sich; dazu, wie billig, die bequemen, die versöhnten, die eitlen, die schwärmerischen, die müden. .... Was beleidigt tiefer, was trennt so gründlich ab, als etwas von der Strenge und Höhe merken zu lassen, mit der man sich selbst behandelt? Und wiederum – wie entgegenkommend, wie liebreich zeigt sich alle Welt gegen uns, sobald wir es machen wie alle Welt und uns »gehen lassen« wie alle Welt!“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 282 bzw. 836

„Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erlösende Mensch der großen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke mißverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei – während sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder ans Licht kommt, die Erlösung dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird als von dem, was aus ihm wachsen mußte, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muß einst kommen ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 282-283 bzw. 836-837

„An dieser Stelle geziemt mir nur eins, zu schweigen: ich vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein freisteht, einem »Zukünftigeren«, einem Stärkeren, als ich bin – was allein Zarathustra freisteht, Zarathustra dem Gottlosen ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 283 bzw. 837

„Ein verheirateter Philosoph gehört in die Komödie, das ist mein Satz: und jene Ausnahme Sokrates – der boshafte Sokrates hat sich, scheint es, ironice verheiratet, eigens um gerade diesen Satz zu demonstrieren.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 295 bzw. 849

Das asketische Ideal entspringt dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerierenden Lebens, welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft; es deutet auf eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung hin, gegen welche die tiefsten, intakt gebliebenen Instinkte des Lebens unausgesetzt mit neuen Mitteln und Erfindungen ankämpfen. Das asketische Ideal ist ein solches Mittel: es steht also gerade umgekehrt, als es die Verehrer dieses Ideals meinen – das Leben ringt in ihm und durch dasselbe mit dem Tode und gegen den Tod, das asketische Ideal ist ein Kunstgriff in der Erhaltung des Lebens. Daß dasselbe in dem Maße, wie die Geschichte es lehrt, über den Menschen walten und mächtig werden konnte, insonderheit überall dort, wo die Zivilisation und Zähmung des Menschen durchgesetzt wurde, darin drückt sich eine große Tatsache aus: die Krankhaftigkeit im bisherigen Typus des Menschen, zum mindesten des zahm gemachten Menschen, das physiologische Ringen des Menschen mit dem Tode (genauer: mit dem Überdrusse am Leben, mit der Ermüdung, mit dem Wunsche nach dem »Ende«).“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 307-308 bzw. 861-862

„Der asketische Priester ist der fleischgewordne Wunsch nach einem Anders-sein, Anders wo-sein, und zwar der höchste Grad dieses Wunsches, dessen eigentliche Inbrunst und Leidenschaft: aber eben die Macht seines Wünschens ist die Fessel, die ihn hier anbindet; eben damit wird er zum Werkzeug, das daran arbeiten muß, günstigere Bedingungen für das Hier-sein und Mensch-sein zu schaffen – eben mit dieser Macht hält er die ganze Herde der Mißratnen, Verstimmten, Schlechtweggekommnen, Verunglückten, An-sich-Leidenden jeder Art am Dasein fest, indem er ihnen instinktiv als Hirt vorangeht. Man versteht mich bereits: dieser asketische Priester, dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Verneinende – er gerade gehört zu den ganz großen konservierenden und Ja-schaffenden Gewalten des Lebens .... Woran sie hängt, jene Krankhaftigkeit?“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 308 bzw. 862

„Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgendein Tier sonst, daran ist kein Zweifel – er ist das kranke Tier: woher kommt das? Sicherlich hat er auch mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal herausgefordert als alle übrigen Tiere zusammengenommen: er, der große Experimentator mit sich, der Unbefriedigte, Ungesättigte, der um die letzte Herrschaft mit Tier, Natur und Göttern ringt – er, der immer noch Unbezwungne, der ewig-Zukünftige, der vor seiner eignen drängenden Kraft keine Ruhe mehr findet, so daß ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische jeder Gegenwart wühlt – wie sollte ein solches mutiges und reiches Tier nicht auch das am meisten gefährdete, das am längsten und tiefsten kranke unter allen kranken Tieren sein? .... Der Mensch hat es satt, oft genug, es gibt ganze Epidemien dieses Satthabens (– so um 1348 herum, zur Zeit des Totentanzes): aber selbst noch dieser Ekel, diese Müdigkeit, dieser Verdruß an sich selbst – alles tritt an ihm so mächtig heraus, daß es sofort wieder zu einer neuen Fessel wird. Sein Nein, das er zum Leben spricht, bringt wie durch einen Zauber eine Fülle zarterer Jas ans Licht; ja, wenn er sich verwundet, dieser Meister der Zerstörung, Selbstzerstörung – hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn zwingt, zu leben ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 308 bzw. 862

„Je normaler die Krankhaftigkeit am Menschen ist – und wir können diese Normalität nicht in Abrede stellen –, um so höher sollte man die seltnen Fälle der seelisch-leiblichen Mächtigkeit, die Glücksfälle des Menschen in Ehren halten, um so strenger die Wohlgeratenen vor der schlechtesten Luft, der Kranken-Luft behüten. Tut man das? .... Die Kranken sind die größte Gefahr für die Gesunden; nicht von den Stärksten kommt das Unheil für die Starken, sondern von den Schwächsten. Weiß man das?“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863

„Ins große gerechnet, ist es durchaus nicht die Furcht vor dem Menschen, deren Verminderung man wünschen dürfte: denn diese Furcht zwingt die Starken dazu, stark, unter Umständen furchtbar zu sein – sie hält den wohlgeratenen Typus Mensch aufrecht. Was zu fürchten ist, was verhängnisvoll wirkt wie kein andres Verhängnis, das wäre nicht die große Furcht, sondern der große Ekel vor dem Menschen; insgleichen das große Mitleid mit dem Menschen. Gesetzt, daß diese beiden eines Tags sich begatteten, so würde unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der »letzte Wille« des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus. Und in der Tat: hierzu ist viel vorbereitet. Wer nicht nur seine Nase zum Riechen hat, sondern auch seine Augen und Ohren, der spürt fast überall, wohin er heute auch nur tritt, etwas wie Irrenhaus-, wie Krankenhaus-Luft – ich rede, wie billig, von den Kulturgebieten des Menschen, von jeder Art »Europa«, das es nachgerade auf Erden gibt.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863

„Die Krankhaften sind des Menschen große Gefahr: nicht die Bösen, nicht die »Raubtiere«. Die von vornherein Verunglückten, Niedergeworfnen, Zerbrochenen - sie sind es, die Schwächsten sind es, welche am meisten das Leben unter Menschen unterminieren, welche unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen, zu uns am gefährlichsten vergiften und in Frage stellen.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863

„Wo entginge man ihm, jenem verhängten Blick, von dem man eine tiefe Traurigkeit mit fortträgt, jenem zurückgewendeten Blick des Mißgebornen von Anbeginn, der es verrät, wie ein solcher Mensch zu sich selber spricht – jenem Blick, der ein Seufzer ist! »Möchte ich irgend jemand anderes sein!« so seufzt dieser Blick: »aber da ist keine Hoffnung. Ich bin, der ich bin: wie käme ich von mir selber los? Und doch – habe ich mich satt!«“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309 bzw. 863

„Auf solchem Boden der Selbstverachtung, einem eigentlichen Sumpfboden, wächst jedes Unkraut, jedes Giftgewächs, und alles so klein, so versteckt, so unehrlich, so süßlich. Hier wimmeln die Würmer der Rach- und Nachgefühle; hier stinkt die Luft nach Heimlichkeiten und Uneingeständlichkeiten; hier spinnt sich beständig das Netz der bösartigsten Verschwörung - der Verschwörung der Leidenden gegen die Wohlgeratenen und Siegreichen, hier wird der Aspekt des Siegreichen gehaßt.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 309-310 bzw. 863-864

„Sie wandeln unter uns herum als leibhafte Vorwürfe, als Warnungen an uns – wie als ob Gesundheit, Wohlgeratenheit, Stärke, Stolz, Machtgefühl an sich schon lasterhafte Dinge seien, für die man einst büßen, bitter büßen müsse: o wie sie im Grunde dazu selbst bereit sind, büßen zu machen, wie sie darnach dürsten, Henker zu sein. Unter ihnen gibt es in Fülle die zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort »Gerechtigkeit« wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer gespitzen Mundes, immer bereit, alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muts seine Straße zieht.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 310 bzw. 864

„Der Wille der Kranken, irgendeine Form der Überlegenheit darzustellen, ihr Instinkt für Schleichwege, die zu einer Tyrannei über die Gesunden führen – wo fände er sich nicht, dieser Wille gerade der Schwächsten zur Macht! Das kranke Weib insonderheit: niemand übertrifft es in Raffinements, zu herrschen, zu drücken, zu tyrannisieren. Das kranke Weib schont dazu nichts Lebendiges, nichts Totes, es gräbt die begrabensten Dinge wieder auf (die Bogos sagen: »das Weib ist eine Hyäne«). Man blicke in die Hintergründe jeder Familie, jeder Körperschaft, jedes Gemeinwesens: überall der Kampf der Kranken gegen die Gesunden – ein stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern, mit Nadelstichen, mit tückischem Dulder-Mienenspiele, mitunter aber auch mit jenem Kranken-Pharisäismus der lauten Gebärde, der am liebsten »die edle Entrüstung« spielt. Bis in die geweihten Räume der Wissenschaft hinein möchte es sich hörbar machen, das heisere Entrüstungs-Gebell der krankhaften Hunde, die bissige Verlogenheit und Wut solcher »edlen« Pharisäer ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 310-311 bzw. 864-865

„Das sind alles Menschen des Ressentiment, diese physiologisch Verunglückten und Wurmstichigen, ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer Rache, unerschöpflich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen und ebenso in Maskeraden der Rache, in Vorwänden zur Rache: wann würden sie eigentlich zu ihrem letzten, feinsten, sublimsten Triumph der Rache kommen? Dann unzweifelhaft, wenn es ihnen gelänge, ihr eignes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen ins Gewissen zu schieben: so daß diese sich eines Tags ihres Glücks zu schämen begännen und vielleicht untereinander sich sagten »es ist eine Schande, glücklich zu sein! es gibt zu viel Elend!« .... Aber es könnte gar kein größeres und verhängnisvolleres Mißverständnis geben, als wenn dergestalt die Glücklichen, die Wohlgeratenen, die Mächtigen an Leib und Seele anfingen, an ihrem Recht auf Glück zu zweifeln. Fort mit dieser »verkehrten Welt«!“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 311 bzw. 865

„Hat man in aller Tiefe begriffen – und ich verlange, daß man hier gerade tief greift, tief begreift –, inwiefern es schlechterdings nicht die Aufgabe der Gesunden sein kann, Kranke zu warten, Kranke gesund zu machen, so ist damit auch eine Notwendigkeit mehr begriffen – die Notwendigkeit von Ärzten und Krankenwärtern, die selber krank sind: und nunmehr haben und halten wir den Sinn des asketischen Priesters mit beiden Händen. Der asketische Priester muß uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Herde gelten: damit erst verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die Herrschaft über Leidende ist sein Reich ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 312 bzw. 866

„Der Priester ... bringt Salben und Balsam mit, es ist kein Zweifel; aber erst hat er nötig, zu verwunden, um Arzt zu sein; indem er dann den Schmerz stillt, den die Wunde macht, vergiftet er zugleich die Wunde – darauf vor allem nämlich versteht er sich, dieser Zauberer und Raubtier-Bändiger, in dessen Umkreis alles Gesunde notwendig krank und alles Kranke notwendig zahm wird. Er verteidigt in der Tat gut genug seine kranke Herde, dieser seltsame Hirt – er verteidigt sie auch gegen sich, gegen die in der Herde selbst glimmende Schlechtigkeit, Tücke, Böswilligkeit und was sonst allen Süchtigen und Kranken untereinander zu eigen ist, er kämpft klug, hart und heimlich mit der Anarchie und der jederzeit beginnenden Selbstauflösung innerhalb der Herde, in welcher jener gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das Ressentiment, sich beständig häuft und häuft. Diesen Sprengstoff so zu entladen, daß er nicht die Herde und nicht den Hirten zersprengt, das ist sein eigentliches Kunststück, auch seine oberste Nützlichkeit; wollte man den Wert der priesterlichen Existenz in die kürzeste Formel fassen, so wäre geradewegs zu sagen: der Priester ist der Richtungs-Veränderer des Ressentiment.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 313-314 bzw. 867-868

„Es gibt, streng geurteilt, gar keine »voraussetzungslose« Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, paralogisch: eine Philosophie, ein »Glaube« muß immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt. (Wer es umgekehrt versteht, wer zum Beispiel sich anschickt, die Philosophie »auf streng wissenschaftliche Grundlage« zu stellen, der hat dazu erst nötig, nicht nur die Philosophie, sondern auch die Wahrheit selber auf den Kopf zu stellen: die ärgste Anstands-Verletzung, die es in Hinsicht auf zwei so ehrwürdige Frauenzimmer geben kann!)“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 336 bzw. 890

„Ja, es ist kein Zweifel – und hiermit lasse ich meine »fröhliche Wissenschaft« zu Worte kommen, vgl. deren fünftes Buch: (II 208) – »der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ›andre Welt‹ bejaht, wie? muß er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt – verneinen? .... Es ist immer noch ein metaphysischer Glaube, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht – auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir nehmen unser Feuer noch von jenem Brande, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist .... Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum, die Blindheit, die Lüge – wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist?« “
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 336-337 bzw. 890-891

„Die Wissenschaft selber bedarf nunmehr einer Rechtfertigung (womit noch nicht einmal gesagt sein soll, daß es eine solche für sie gibt). Man sehe sich auf diese Frage die ältesten und die jüngsten Philosophien an: in ihnen allen fehlt ein Bewußtsein darüber, inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer Rechtfertigung bedarf, hier ist eine Lücke in jeder Philosophie – woher kommt das? Weil das asketische Ideal über alle Philosophie bisher Herr war, weil Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde, weil Wahrheit gar nicht Problem sein durfte. Versteht man dies »durfte«?“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 337 bzw. 891

„Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, gibt es auch ein neues Problem: das vom Werte der Wahrheit. – Der Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik – bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe –, der Wert der Wahrheit ist versuchsweise einmal in Frage zu stellen .... (Wem dies zu kurz gesagt scheint, dem sei empfohlen, jenen Abschnitt der »fröhlichen Wissenschaft« nachzulesen, welcher den Titel trägt: »Inwiefern auch wir noch fromm sind«: (II 206 ff.), am besten das ganze fünfte Buch des genannten Werks, insgleichen die Vorrede zur »Morgenröte«.)“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 337 bzw. 891

„Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Tier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; »wozu Mensch überhaupt?«  war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem großen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch größeres »Umsonst;!«  Das eben bedeutet das asketische Ideal: daß etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand - er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Problem seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Tier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage »wozu leiden?«  Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint an sich nicht das Leiden; er will es; er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag - und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn!“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 345 bzw. 899

„Nein! Man komme mir nicht mit der Wissenschaft, wenn ich nach dem natürlichen Antagonisten des asketischen Ideals suche, wenn ich frage: »wo ist der gegnerische Wille, in dem sich sein gegnerisches Ideal ausdrückt?« Dazu steht die Wissenschaft lange nicht genug auf sich selber, sie bedarf in jedem Betrachte erst eines Wert-Ideals, einer werteschaffenden Macht, in deren Dienste sie an sich selber glauben darf – sie selbst ist niemals werteschaffend. Ihr Verhältnis zum asketischen Ideal ist an sich durchaus noch nicht antagonistisch; sie stellt in der Hauptsache sogar eher noch die vorwärtstreibende Kraft in dessen innerer Ausgestaltung dar. Ihr Widerspruch und Kampf bezieht sich, feiner geprüft, gar nicht auf das Ideal selbst, sondern nur auf dessen Außenwerke, Einkleidung, Maskenspiel, auf dessen zeitweilige Verhärtung, Verholzung, Verdogmatisierung – sie macht das Leben in ihm wieder frei, indem sie das Exoterische an ihm verneint.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 337-338 bzw. 891-892

„Diese beiden, Wissenschaft und asketisches Ideal, sie stehen ja auf einem Boden – ich gab dies schon zu verstehen –: nämlich auf der gleichen Überschätzung der Wahrheit (richtiger: auf dem gleichen Glauben an die Unabschätzbarkeit, Unkritisierbarkeit der Wahrheit), eben damit sind sie sich notwendig Bundesgenossen – so daß sie, gesetzt, daß sie bekämpft werden, auch immer nur gemeinsam bekämpft und in Frage gestellt werden können. Eine Wertabschätzung des asketischen Ideals zieht unvermeidlich auch eine Wertabschätzung der Wissenschaft nach sich: dafür mache man sich bei Zeiten die Augen hell, die Ohren spitz!“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338 bzw. 892

„(Die Kunst, vorweg gesagt, denn ich komme irgendwann des längeren darauf zurück – die Kunst, in der gerade die Lüge sich heiligt, der Wille zur Täuschung das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft: so empfand es der Instinkt Platos, dieses größten Kunstfeindes, den Europa bisher hervorgebracht hat. Plato gegen Homer: das ist der ganze, der echte Antagonismus – dort der »Jenseitige« besten Willens, der große Verleumder des Lebens, hier dessen unfreiwilliger Vergöttlicher, die goldene Natur. Eine Künstler-Dienstbarkeit im Dienste des asketischen Ideals ist deshalb die eigentlichste Künstler-Korruption, die es geben kann, leider eine der allergewöhnlichsten: denn nichts ist korruptibler als ein Künstler.) “
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338 bzw. 892

„Auch physiologisch nachgerechnet, ruht die Wissenschaft auf dem gleichen Boden wie das asketische Ideal: eine gewisse Verarmung des Lebens ist hier wie dort die Voraussetzung, – die Affekte kühl geworden, das Tempo verlangsamt, die Dialektik an Stelle des Instinktes, der Ernst den Gesichtern und Gebärden aufgedrückt (der Ernst, dieses unmißverständlichste Abzeichen des mühsameren Stoffwechsels, des ringenden, schwerer arbeitenden Lebens). Man sehe sich die Zeiten eines Volkes an, in denen der Gelehrte in den Vordergrund tritt: es sind Zeiten der Ermüdung, oft des Abends, des Niederganges – die überströmende Kraft, die Lebens-Gewißheit, die Zukunfts-Gewißheit sind dahin.“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338 bzw. 892

„Das Übergewicht des Mandarinen bedeutet niemals etwas Gutes: so wenig als die Heraufkunft der Demokratie, der Friedens-Schiedsgerichte an Stelle der Kriege, der Frauen-Gleichberechtigung, der Religion des Mitleids und was es sonst alles für Symptome des absinkenden Lebens gibt. (Wissenschaft als Problem gefaßt; was bedeutet Wissenschaft? – vgl. darüber die Vorrede zur »Geburt der Tragödie«.)“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 338-339 bzw. 892-893

„Nein! diese »moderne Wissenschaft« – macht euch nur dafür die Augen auf! – ist einstweilen die beste Bundesgenossin des asketischen Ideals, und gerade deshalb, weil sie die unbewußteste, die unfreiwilligste, die heimlichste und unterirdischste ist! Sie haben bis jetzt ein Spiel gespielt, die »Armen des Geistes« und die wissenschaftlichen Widersacher jenes Ideals (man hüte sich, anbei gesagt, zu denken, daß sie deren Gegensatz seien, etwa als die Reichen des Geistes – das sind sie nicht, ich nannte sie Hektiker des Geistes). Diese berühmten Siege der letzteren: unzweifelhaft, es sind Siege – aber worüber? Das asketische Ideal wurde ganz und gar nicht in ihnen besiegt, es wurde eher damit stärker, nämlich unfaßlicher, geistiger, verfänglicher gemacht, daß immer wieder eine Mauer, ein Außenwerk, das sich an dasselbe angebaut hatte und seinen Aspekt vergröberte, seitens der Wissenschaft schonungslos abgelöst, abgebrochen worden ist. Meint man in der Tat, daß etwa die Niederlage der theologischen Astronomie eine Niederlage jenes Ideals bedeute? .... Ist damit vielleicht der Mensch weniger bedürftig nach einer Jenseitigkeits-Lösung seines Rätsels von Dasein geworden, daß dieses Dasein sich seitdem noch beliebiger, eckensteherischer, entbehrlicher in der sichtbaren Ordnung der Dinge ausnimmt?“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 339 bzw. 893

„Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin – er ist Tier geworden, Tier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott ((»Kind Gottes«, »Gottmensch«) war .... Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins »durchbohrende Gefühl seines Nichts«? .... Wohlan! dies eben wäre der gerade Weg – ins alte Ideal?“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 339 bzw. 893

Alle Wissenschaft (und keineswegs nur die Astronomie, über deren demütigende und herunterbringende Wirkung Kant ein bemerkenswertes Geständnis gemacht hat, »sie vernichtet meine Wichtigkeit« ...), alle Wissenschaft, die natürliche sowohl, wie die unnatürliche – so heiße ich die Erkenntnis-Selbstkritik –, ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe nichts als ein bizarrer Eigendünkel gewesen sei; man könnte sogar sagen, sie habe ihren eigenen Stolz, ihre eigene herbe Form von stoischer Ataraxie darin, diese mühsam errungene Selbstverachtung des Menschen als dessen letzten, ernstesten Anspruch auf Achtung bei sich selbst aufrechtzuerhalten (mit Recht, in der Tat: denn der Verachtende ist immer noch einer, der »das Achten nicht verlernt hat« ...).“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 339-340 bzw. 893-894

„Wird damit dem asketischen Ideale eigentlich entgegengearbeitet? Meint man wirklich allen Ernstes noch (wie es die Theologen eine Zeitlang sich einbildeten), daß etwa Kants Sieg über die theologische Begriffs-Dogmatik ((raquo;Gott«, »Seele«, »Freiheit«, »Unsterblichkeit«) jenem Ideale Abbruch getan habe? – wobei es uns einstweilen nichts angehn soll, ob Kant selber etwas Derartiges überhaupt auch nur in Absicht gehabt hat. Gewiß ist, daß alle Art Transzendentalisten seit Kant wieder gewonnenes Spiel haben – sie sind von den Theologen emanzipiert: welches Glück! – er hat ihnen jenen Schleichweg verraten, auf dem sie nunmehr auf eigne Faust und mit dem besten wissenschaftlichen Anstande den »Wünschen ihres Herzens« nachgehn dürfen. Insgleichen: wer dürfte es nunmehr den Agnostikern verargen, wenn sie, als die Verehrer des Unbekannten und Geheimnisvollen an sich, das Fragezeichen selbst jetzt als Gott anbeten? .... Gesetzt, daß alles, was der Mensch »erkennt«, seinen Wünschen nicht genugtut, ihnen vielmehr widerspricht und Schauder macht, welche göttliche Ausflucht, die Schuld davon nicht im »Wünschen«, sondern im »Erkennen« suchen zu dürfen! . .... »Es gibt kein Erkennen: folglich – gibt es einen Gott«: welche neue elegantia syllogismi! welcher Triumph des asketischen Ideals!“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 340 bzw. 894

„Oder zeigte vielleicht die gesamte moderne Geschichtsschreibung eine lebensgewissere, idealgewissere Haltung? Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt dahin, Spiegel zu sein; sie lehnt alle Teleologie ab; sie will nichts mehr »beweisen«; sie verschmäht es, den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack – sie bejaht so wenig, als sie verneint, sie stellt fest, sie »beschreibt« .... Dies alles ist in einem hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem noch höheren Grade nihilistisch ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 340-341 bzw. 894-895

„Hundertmal schlimmer sind die »Beschaulichen« –: ich wüßte nichts, was so sehr Ekel machte, als solch ein »objektiver« Lehnstuhl, solch ein duftender Genüßling vor der Historie, halb Pfaff, halb Satyr, Parfum Renan, der schon mit dem hohen Falsett seines Beifalls verrät, was ihm abgeht, wo es ihm abgeht, wo in diesem Falle die Parze ihre grausame Schere ach! allzu chirurgisch gehandhabt hat! Das geht mir wider den Geschmack, auch wider die Geduld: behalte bei solchen Aspekten seine Geduld, wer nichts an ihr zu verlieren hat – mich ergrimmt solch ein Aspekt, solche »Zuschauer« erbittern mich gegen das »Schauspiel«, mehr noch als das Schauspiel (die Historie selbst, man versteht mich), unversehens kommen mir dabei anakreontische Launen. Diese Natur, die dem Stier das Horn, dem Löwen das chasm odonion gab, wozu gab mir die Natur den Fuß? .... Zum Treten, beim heiligen Anakreon! und nicht nur zum Davonlaufen; zum Zusammentreten der morschen Lehnstühle, der feigen Beschaulichkeit, des lüsternen Eunuchentums vor der Historie, der Liebäugelei mit asketischen Idealen, der Gerechtigkeits-Tartüfferie der Impotenz!“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 341-342 bzw. 895-896

„Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, sofern es ehrlich ist! solange es an sich selber glaubt und uns keine Possen vormacht! Aber ich mag alle diese koketten Wanzen nicht, deren Ehrgeiz unersättlich darin ist, nach dem Unendlichen zu riechen, bis zuletzt das Unendliche nach Wanzen riecht; ich mag die übertünchten Gräber nicht, die das Leben schauspielern; ich mag die Müden und Vernutzten nicht, welche sich in Weisheit einwickeln und »objektiv« blicken; ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal um ihren Strohwisch von Kopf tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die den Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur tragische Hanswürste sind; ich mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld erschöpfenden Mißbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen suchen ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 342 bzw. 896

„Europa ist heute reich und erfinderisch vor allem in Erregungsmitteln, es scheint nichts nötiger zu haben als Stimulantia und gebrannte Wasser: daher auch die ungeheure Fälscherei in Idealen, diesen gebranntesten Wassern des Geistes, daher auch die widrige, übelriechende, verlogne, pseudo-alkoholische Luft überall. Ich möchte wissen, wieviel Schiffsladungen von nachgemachtem Idealismus, von Helden-Kostümen und Klapperblech großer Worte, wieviel Tonnen verzuckerten spirituosen Mitgefühls, wieviel Stelzbeine »edler Entrüstung« zur Nachhilfe geistig Plattfüßiger, wieviel Komödianten des christlich-moralischen Ideals heute aus Europa exportiert werden müßten, damit seine Luft wieder reinlicher röche .... Ersichtlich steht in Hinsicht auf diese Überproduktion eine neue Handels–Möglichkeit offen, ersichtlich ist mit kleinen Ideal-Götzen und zugehörigen »Idealisten« ein neues »Geschäft« zu machen – man überhöre diesen Zaunpfahl nicht! Wer hat Mut genug dazu? – wir haben es in der Hand, die ganze Erde zu »idealisieren«!.. Aber was rede ich von Mut: hier tut eins nur not, eben die Hand, eine unbefangne, eine sehr unbefangne Hand ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 342-343 bzw. 896-897

„Genug! Genug! Lassen wir diese Kuriositäten und Komplexitäten des modernsten Geistes, an denen ebensoviel zum Lachen als zum Verdrießen ist: gerade unser Problem kann deren entraten, das Problem von der Bedeutung des asketischen Ideals – was hat dasselbe mit gestern und heute zu tun! Jene Dinge sollen von mir in einem andren Zusammenhange gründlicher und härter angefaßt werden (unter dem Titel »Zur Geschichte des europäischen Nihilismus«; ich verweise dafür auf ein Werk, das ich vorbereite: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte).“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 343 bzw. 897

„Worauf es mir allein ankommt, hier hingewiesen zu haben, ist dies: das asketische Ideal hat auch in der geistigsten Sphäre einstweilen immer nur noch eine Art von wirklichen Feinden und Schädigern: das sind die Komödianten dieses Ideals – denn sie wecken Mißtrauen. Überall sonst, wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke ist, entbehrt er jetzt überhaupt des Ideals – der populäre Ausdruck für diese Abstinenz ist »Atheismus« –: abgerechnet seines Willens zur Wahrheit. Dieser Wille aber, dieser Rest von Ideal, ist, wenn man mir glauben will, jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulierung, esoterisch ganz und gar, alles Außenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein Kern. Der unbedingte redliche Atheismus (– und seine Luft allein atmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!) steht demgemäß nicht im Gegensatz zu jenem Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlußformen und inneren Folgerichtigkeiten – er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet. (Derselbe Entwicklungsgang in Indien, in vollkommner Unabhängigkeit und deshalb etwas beweisend; dasselbe Ideal zum gleichen Schlusse zwingend; der entscheidende Punkt fünf Jahrhunderte vor der europäischen Zeitrechnung erreicht, mit Buddha, genauer: schon mit der Sankhyam-Philosophie, diese dann durch Buddha popularisiert und zur Religion gemacht.)“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 343-344 bzw. 897-898

Was, in aller Strenge gefragt, hat eigentlich über den christlichen Gott gesiegt? Die Antwort steht in meiner »fröhlichen Wissenschaft« (II, 227 f.): »Die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretieren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugnis einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlußabsichten; die eignen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob alles Fügung, alles Wink, alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit – mit dieser Strenge, wenn irgendwomit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Europas längster und tapferster Selbstüberwindung.«“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 344 bzw. 898

„Alle großen Dinge gehen durch sich selbst zugrunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der notwendigen »Selbstüberwindung« im Wesen des Lebens – immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: »patere legem, quam ipse tulisti.« Dergestalt ging das Christentum als Dogma zugrunde, an seiner eignen Moral; dergestalt muß nun auch das Christentum als Moral noch zugrunde gehn – wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses. Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluß nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten Schluß, ihren Schluß gegen sich selbst; dies aber geschieht, wenn sie die Frage stellt »was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?« .... Und hier rühre ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine unbekannten Freunde (– denn noch weiß ich von keinem Freunde): welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, daß in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewußtsein gekommen wäre? .... An diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zugrunde: jenes große Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europas aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 344-345 bzw. 898-899

„Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Tier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; »wozu Mensch überhaupt?« – war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem großen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch größeres »Umsonst!« Das eben bedeutet das asketische Ideal: daß etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand – er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Tier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage »wozu leiden?« Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint an sich nicht das Leiden; er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag – und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn!
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887, in: Werke III, S. 345 bzw. 899

„Es war bisher der einzige Sinn; irgend ein Sinn ist besser als gar kein Sinn; das asketische Ideal war in jedem Betracht das »faute de mieux« par excellence, das es bisher gab. In ihm war das Leben ausgelegt; die ungeheure Leere schien ausgefüllt; die Tür schloß sich vor allem selbstmörderischen Nihilismus zu. Die Auslegung - es ist kein Zweifel - brachte neues Leiden mit sich; tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes: sie brachte alles Leiden unter die Perspektive der Schuld .... Aber trotz alledem - der Mensch war damit gerettet, er hatte einen Sinn, er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des »Ohne-Sinns«; er konnte nunmehr etwas wollen - gleichgültig zunächst, wohin, wozu, womit er wollte: der Wille selbst war gerettet. Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, was eigentlich jenes ganze Wollen ausdrückt, das vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat: dieser Haß gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Tierische, mehr noch gegen das Stoffliche; dieser Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst; die Furcht vor dem Glück und der Schönheit, dieses Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst - das alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Aufglehnung gegen die grundsätzlichen Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein Wille! ....  Und, um es noch zum Schluß zu sagen, was ich anfangs sagte: lieber will noch der Mensch das Nichts wollen als nicht wollen ....“
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887 in: Werke III, S. 345-346 bzw. 899-900

„Um allein zu leben, muß man ein Tier oder ein Gott sein – sagt Aristoteles. Fehlt der dritte Fall: man muß beides sein – Philosoph.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 389 bzw. 943

Aus der Kriegsschule des Lebens. – Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 389 bzw. 943

„Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 390 bzw. 944

„»Böse Menschen haben keine Lieder.« - Wie kommt es, daß die Russen Lieder haben?“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 392 bzw. 946

„Wenn das Weib männliche Tugenden hat, so ist es zum Davonlaufen; und wenn es keine männliche Tugenden hat, so läuft es selbst davon.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 392 bzw. 951

„Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, daß die großen Weisen Niedergangs-Typen sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurteil entgegensteht: ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch (»Geburt der Tragödie«, 1872).“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 397 bzw. 951

„Sokrates gehörte, seiner Herkunft nach, zum niedersten Volk: Sokrates war Pöbel.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 398 bzw. 952

„Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zugunsten der Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor allem wird damit ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab: sie galten als schlechte Manieren, sie stellten bloß. Man warnte die Jugend vor ihnen.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 399 bzw. 953

„Der Dialektiker überläßt seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein: er macht wütend, er macht zugleich hilflos. Der Dialektiker depotenziert den Intellekt seines Gegners.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 400 bzw. 954

„Der Moralismus der griechischen Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt: ebenso ihre Schätzung der Dialektik. Vernunft = Tugend = Glück heißt bloß: man muß es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein Tageslicht in Permanenz herstellen – das Tageslicht der Vernunft. Man muß klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes Nachgeben an die Instinkte, ans Unbewußte führt hinab ....“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 401 bzw. 955

„Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates faszinierte: er schien ein Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nötig, noch den Irrtum aufzuzeigen, der in seinem Glauben an die »Vernünftigkeit um jeden Preis« lag? – Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, daß sie gegen dieselbe Krieg machen.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 401 bzw. 955

„Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, daß sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht außerhalb ihrer Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence – sie verändern deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 401 bzw. 955

„Sie fragen mich, was alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist? .... Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Haß gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägyptizismus.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 403 bzw. 957

„Die »Vernunft« ist die Ursache, daß wir das Zeugnis der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht .... Aber damit wird Heraklit ewig recht behalten, daß das Sein eine leere Fiktion ist. Die »scheinbare« Welt ist die einzige: die »wahre Welt« ist nur hinzugelogen ....“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 404 bzw. 958

„Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne anzunehmen – als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist Mißgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie. Oder Formal-Wissenschaft, Zeichen-Lehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem: ebensowenig als die Frage, welchen Wert überhaupt eine solche Zeichen-Konvention, wie die Logik ist, hat.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 404 bzw. 958

„Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, daß etwas da sein müsse, das uns irreführe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurteil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaßen verstrickt in den Irrtum, nezessitiert zum Irrtum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, daß hier der Irrtum ist. Es steht damit nicht anders als mit den Bewegungen des großen Gestirns: bei ihnen hat der Irrtum unser Auge, hier hat er unsre Sprache zum beständigen Anwalt.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 405 bzw. 959

„Die vier großen Irrtümer —: (1) Irrtum der Verwechslung von Ursache und Folge. .... – (2) Irrtum einer falschen Ursächlichkeit. .... – (3) Irrtum der imaginären Ursachen. .... – (4) Irrtum vom freien Willen. ....“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 417-424 bzw. 971-978

„Man kennt meine Forderung an den Philosophen, sich jenseits von Gut und Böse zu stellen – die Illusion des moralischen Urteils unter sich zu haben. Diese Forderung folgt aus einer Einsicht, die von mir zum ersten Male formuliert worden ist: daß es gar keine moralischen Tatsachen gibt.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425 bzw. 979

„Das moralische Urteil hat das mit dem religiösen gemein, daß es an Realitäten glaubt, die keine sind. Moral ist nur eine Ausdeutung gewisser Phänomene, bestimmter geredet, eine Mißdeutung. Das moralische Urteil gehört, wie das religiöse, einer Stufe der Unwissenheit zu, auf der selbst der Begriff des Realen, die Unterscheidung des Realen und Imaginären noch fehlt: so daß »Wahrheit« auf solcher Stufe lauter Dinge bezeichnet, die wir heute »Einbildungen« nennen. Das moralische Urteil ist insofern nie wörtlich zu nehmen: als solches enthält es immer nur Widersinn. Aber es bleibt als Semiotik unschätzbar: es offenbart, für den Wissenden wenigstens, die wertvollsten Realitäten von Kulturen und Innerlichkeiten, die nicht genug wußten, um sich selbst zu »verstehn«. Moral ist bloß Zeichenrede, bloß Symptomatologie: man muß bereits wissen, worum es sich handelt, um von ihr Nutzen zu ziehn.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425 bzw. 979

„Zu allen Zeiten hat man die Menschen »verbessern« wollen: dies vor allem hieß Moral. Aber unter dem gleichen Wort ist das Allerverschiedenste von Tendenz versteckt. Sowohl die Zähmung der Bestie Mensch, als die Züchtung einer bestimmten Gattung Mensch ist »Besserung« genannt worden: erst diese zoologischen termini drücken Realitäten aus – Realitäten freilich, von denen der typische »Verbesserer«, der Priester, nichts weiß – nichts wissen will.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425 bzw. 979

„Die Zähmung eines Tieres seine »Besserung« nennen ist in unsern Ohren beinahe ein Scherz. Wer weiß, was in Menagerien geschieht, zweifelt daran, daß die Bestie daselbst »verbessert« wird. Sie wird geschwächt, sie wird weniger schädlich gemacht, sie wird durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger zur krankhaften Bestie.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425-426 bzw. 979-980

„Nicht anders steht es mit dem gezähmten Menschen, den der Priester »verbessert« hat. Im frühen Mittelalter, wo in der Tat die Kirche vor allem eine Menagerie war, machte man allerwärts auf die schönsten Exemplare der »blonden Bestie« Jagd – man »verbesserte« zum Beispiel die vornehmen Germanen. Aber wie sah hinterdrein ein solcher »verbesserter«, ins Kloster verführter Germane aus? Wie eine Karikatur des Menschen, wie eine Mißgeburt: er war zum »Sünder« geworden, er stak im Käfig, man hatte ihn zwischen lauter schreckliche Begriffe eingesperrt .... Da lag er nun, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig; voller Haß gegen die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen alles, was noch stark und glücklich war. Kurz, ein »Christ« .... Physiologisch geredet: im Kampf mit der Bestie kann Krankmachen das einzige Mittel sein, sie schwach zu machen. Das verstand die Kirche: sie verdarb den Menschen, sie schwächte ihn – aber sie nahm in Anspruch, ihn »verbessert« zu haben.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 426 bzw. 980

„Nehmen wir den andern Fall der sogenannten Moral, den Fall der Züchtung einer bestimmten Rasse und Art. Das großartigste Beispiel dafür gibt die indische Moral, als »Gesetz des Manu« zur Religion sanktioniert. Hier ist die Aufgabe gestellt, nicht weniger als vier Rassen auf einmal zu züchten: eine priesterliche, eine kriegerische, eine händler- und ackerbauerische, endlich eine Dienstboten-Rasse, die Sudras. Ersichtlich sind wir hier nicht mehr unter Tierbändigern: eine hundertmal mildere und vernünftigere Art Mensch ist die Voraussetzung, um auch nur den Plan einer solchen Züchtung zu konzipieren. Man atmet auf, aus der christlichen Kranken- und Kerkerluft in diese gesündere, höhere, weitere Welt einzutreten. Wie armselig ist das »Neue Testament« gegen Manu, wie schlecht riecht es! – Aber auch diese Organisation hatte nötig, furchtbar zu sein – nicht diesmal im Kampf mit der Bestie, sondern mit ihrem Gegensatz-Begriff, dem Nicht-Zucht-Menschen, dem Mischmasch-Menschen, dem Tschandala. Und wieder hatte sie kein andres Mittel, ihn ungefährlich, ihn schwach zu machen, als ihn krank zu machen – es war der Kampf mit der »großen Zahl«.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 426-427 bzw. 980-981

„Vielleicht gibt es nichts unserm Gefühle Widersprechenderes als diese Schutzmaßregeln der indischen Moral. Das dritte Edikt zum Beispiel (Avadana-Sastra I), das »von den unreinen Gemüsen«, ordnet an, daß die einzige Nahrung, die den Tschandala erlaubt ist, Knoblauch und Zwiebeln sein sollen, in Anbetracht, daß die heilige Schrift verbietet, ihnen Korn oder Früchte, die Körner tragen, oder Wasser oder Feuer zu geben. Dasselbe Edikt setzt fest, daß das Wasser, welches sie nötig haben, weder aus den Flüssen, noch aus den Quellen, noch aus den Teichen genommen werden dürfe, sondern nur aus den Zugängen zu Sümpfen und aus Löchern, welche durch die Fußtapfen der Tiere entstanden sind. Insgleichen wird ihnen verboten, ihre Wäsche zu waschen und sich selbst zu waschen, da das Wasser, das ihnen aus Gnade zugestanden wird, nur benutzt werden darf, den Durst zu löschen. Endlich ein Verbot an die Sudra-Frauen, den Tschandala-Frauen bei der Geburt beizustehn, insgleichen noch eins für die letzteren, einander dabei beizustehn.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 427 bzw. 981

„Der Erfolg einer solchen Sanitäts-Polizei blieb nicht aus: mörderische Seuchen, scheußliche Geschlechtskrankheiten und daraufhin wieder »das Gesetz des Messers«, die Beschneidung für die männlichen, die Abtragung der kleinen Schamlippen für die weiblichen Kinder anordnend. – Manu selbst sagt: »die Tschandala sind die Frucht von Ehebruch, Inzest und Verbrechen (– dies die notwendige Konsequenz des Begriffs Züchtung). Sie sollen zu Kleidern nur die Lumpen von Leichnamen haben, zum Geschirr zerbrochne Töpfe, zum Schmuck altes Eisen, zum Gottesdienst nur die bösen Geister; sie sollen ohne Ruhe von einem Ort zum andern schweifen. Es ist ihnen verboten, von links nach rechts zu schreiben und sich der rechten Hand zum Schreiben zu bedienen: der Gebrauch der rechten Hand und des Von-links-nach-rechts ist bloß den Tugendhaften vorbehalten, den Leuten von Rasse.«“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 427 bzw. 981

„Diese Verfügungen sind lehrreich genug: in ihnen haben wir einmal die arische Humanität, ganz rein, ganz ursprünglich – wir lernen, daß der Begriff »reines Blut« der Gegensatz eines harmlosen Begriffs ist. Andrerseits wird klar, in welchem Volk sich der Haß, der Tschandala-Haß gegen diese »Humanität« verewigt hat, wo er Religion, wo er Genie geworden ist .... Unter diesem Gesichtspunkte sind die Evangelien eine Urkunde ersten Ranges; noch mehr das Buch Henoch. – Das Christentum, aus jüdischer Wurzel und nur verständlich als Gewächs dieses Bodens, stellt die Gegenbewegung gegen jede Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar – es ist die antiarische Religion par excellence: das Christentum die Umwertung aller arischen Werte, der Sieg der Tschandala-Werte, das Evangelium den Armen, den Niedrigen gepredigt, der Gesamt-Aufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Mißratenen, Schlechtweggekommenen gegen die »Rasse« – die unsterbliche Tschandala-Rache als Religion der Liebe.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 427-428 bzw. 981-982

„Die Moral der Züchtung und die Moral der Zähmung sind in den Mitteln, sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig: wir dürfen als obersten Satz hinstellen, daß, um Moral zu machen, man den unbedingten Willen zum Gegenteil haben muß. Dies ist das große, das unheimliche Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin: die Psychologie der »Verbesserer« der Menschheit. Eine kleine und im Grunde bescheidne Tatsache, die der sogenannten pia fraus, gab mir den ersten Zugang zu diesem Problem: die pia fraus, das Erbgut aller Philosophen und Priester, die die Menschheit »verbesserten«. Weder Manu, noch Plato, noch Konfuzius, noch die jüdischen und christlichen Lehrer haben je an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt. Sie haben an ganz andren Rechten nicht gezweifelt .... In Formel ausgedrückt dürfte man sagen: alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus unmoralisch.
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 428 bzw. 982

„Man mache einen Überschlag: es liegt nicht nur auf der Hand, daß die ... Kultur niedergeht, es fehlt auch nicht am zureichenden Grund dafür. Niemand kann zuletzt mehr ausgeben, als er hat – das gilt von Einzelnen, das gilt von Völkern. Gibt man sich für Macht, für große Politik, für Wirtschaft, Weltverkehr, Parlamentarismus, Militär-Interessen aus – gibt man das Quantum Verstand, Ernst, Wille, Selbstüberwindung, das man ist, nach dieser Seite weg, so fehlt es auf der andern Seite.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 431 bzw. 985

„Die Kultur und der Staat – man betrüge sich hierüber nicht – sind Antagonisten: »Kultur-Staat« ist bloß eine moderne Idee. Das eine lebt vom andern, das eine gedeiht auf Unkosten des andern. Alle großen Zeiten der Kultur sind politische Niedergangs-Zeiten: was groß ist im Sinn der Kultur, war unpolitisch, selbst antipolitisch ....“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 431 bzw. 985

„Dem ganzen höheren Erziehungswesen in Deutschland ist die Hauptsache abhanden gekommen: Zweck sowohl als Mittel zum Zweck. Daß Erziehung, Bildung selbst Zweck ist – und nicht »das Reich« –, daß es zu diesem Zweck der Erzieher bedarf – und nicht der Gymnasiallehrer und Universitäts-Gelehrten – man vergaß das .... Erzieher tun not, die selbst erzogen sind, überlegne, vornehme Geister, in jedem Augenblick bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, süß gewordene Kulturen – nicht die gelehrten Rüpel, welche Gymnasium und Universität der Jugend heute als »höhere Ammen« entgegenbringt. Die Erzieher fehlen, die Ausnahmen der Ausnahmen abgerechnet, die erste Vorbedingung der Erziehung: daher der Niedergang der deutschen Kultur. Eine jener allerseltensten Ausnahmen ist mein verehrungswürdiger Freund Jacob Burckhardt in Basel: ihm zuerst verdankt Basel seinen Vorrang von Humanität. – Was die »höheren Schulen« Deutschlands tatsächlich erreichen, das ist eine brutale Abrichtung, um, mit möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Männer für den Staatsdienst nutzbar, ausnutzbar zu machen. »Höhere Erziehung« und Unzahl – das widerspricht sich von vornherein. Jede höhere Erziehung gehört nur der Ausnahme: man muß privilegiert sein, um ein Recht auf ein so hohes Privilegium zu haben.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 432 bzw. 986

„Was bedingt den Niedergang der deutschen Kultur? Daß »höhere Erziehung« kein Vorrecht mehr ist – der Demokratismus der »allgemeinen«, der gemein gewordnen »Bildung«.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 433 bzw. 987

„Es steht niemandem mehr frei, im jetzigen Deutschland seinen Kindern eine vornehme Erziehung zu geben: unsre »höheren« Schulen sind allesamt auf die zweideutigste Mittelmäßigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen, mit Lehrzielen. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann mit 23 Jahren noch nicht »fertig« ist, noch nicht Antwort weiß auf die »Hauptfrage«: welchen Beruf? – Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht »Berufe«, genau deshalb, weil sie sich berufen weiß .... Sie hat Zeit, sie nimmt sich Zeit, sie denkt gar nicht daran, »fertig« zu werden – mit dreißig Jahren ist man, im Sinne hoher Kultur, ein Anfänger, ein Kind. – Unsre überfüllten Gymnasien, unsre überhäuften, stupid gemachten Gymnasiallehrer sind ein Skandal: um diese Zustände in Schutz zu nehmen, wie es jüngst die Professoren von Heidelberg getan haben, dazu hat man vielleicht Ursachen – Gründe dafür gibt es nicht.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 433 bzw. 987

Anti-Darwin. – Was den berühmten »Kampf ums Leben« betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der Gesamt-Aspekt des Lebens ist nicht die Notlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung – wo gekämpft wird, kämpft man um Macht .... Man soll nicht Malthus mit der Natur verwechseln. – Gesetzt aber, es gibt diesen Kampf – und in der Tat, er kommt vor –, so läuft er leider umgekehrt aus, als die Schule Darwins wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen dürfte: nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr – das macht, sie sind die große Zahl, sie sind auch klüger .... Darwin hat den Geist vergessen (– das ist englisch!), die Schwachen haben mehr Geist .... Man muß Geist nötig haben, um Geist zu bekommen – man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nötig hat. Wer die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes (– »laß fahren dahin!« denkt man heute in Deutschland »– das Reich muß uns doch bleiben« ...). Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die große Selbstbeherrschung und alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein großer Teil der sogenannten Tugend).“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 444-445 bzw. 998-999

„Ich trage es den Deutschen nach, sich über Kant und seine »Philosophie der Hintertüren«, wie ich sie nenne, vergriffen zu haben – das war nicht der Typus der intellektuellen Rechtschaffenheit. – Das andre, was ich nicht hören mag, ist ein berüchtigtes »und«: die Deutschen sagen »Goethe und Schiller«, – ich fürchte, sie sagen »Schiller und Goethe« .... Kennt man noch nicht diesen Schiller? – Es gibt noch schlimmere »und«; ich habe mit meinen eigenen Ohren, allerdings nur unter Universitäts-Professoren, gehört »Schopenhauer und Hartmann«.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 445-446 bzw. 999-1000

„Was den Menschen rechtfertigt, ist seine Realität – sie wird ihn ewig rechtfertigen. Um wie viel mehr wert ist der wirkliche Mensch, verglichen mit irgendeinem bloß gewünschten, erträumten, erstunkenen und erlogenen Menschen? mit irgendeinem idealen Menschen? .... Und nur der ideale Mensch geht dem Philosophen wider den Geschmack“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 453-454 bzw. 1007-1008

Naturwert des Egoismus. – Die Selbstsucht ist so viel wert, als der physiologisch wert ist, der sie hat: sie kann sehr viel wert sein, sie kann nichtswürdig und verächtlich sein. Jeder Einzelne darf daraufhin angesehn werden, ob er die aufsteigende oder die absteigende Linie des Lebens darstellt. Mit einer Entscheidung darüber hat man auch einen Kanon dafür, was seine Selbstsucht wert ist. Stellt er das Aufsteigen der Linie dar, so ist in der Tat sein Wert außerordentlich – und um des Gesamt-Lebens willen, das mit ihm einen Schritt weiter tut, darf die Sorge um Erhaltung, um Schaffung seines optimum von Bedingungen selbst extrem sein. Der Einzelne, das »Individuum«, wie Volk und Philosoph das bisher verstand, ist ja ein Irrtum: er ist nichts für sich, kein Atom, kein »Ring der Kette«, nichts bloß Vererbtes von ehedem – er ist die ganze eine Linie Mensch bis zu ihm hin selber noch .... Stellt er die absteigende Entwicklung, den Verfall, die chronische Entartung, Erkrankung dar (– Krankheiten sind, ins Große gerechnet, bereits Folgeerscheinungen des Verfalls, nicht dessen Ursachen), so kommt ihm wenig Wert zu, und die erste Billigkeit will, daß er den Wohlgeratnen so wenig als möglich wegnimmt. Er ist bloß noch deren Parasit ....“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 454 bzw. 1008

Christ und Anarchist. – Wenn der Anarchist, als Mundstück niedergehender Schichten der Gesellschaft, mit einer schönen Entrüstung »Recht«, »Gerechtigkeit«, »gleiche Rechte« verlangt, so steht er damit nur unter dem Drucke seiner Unkultur, welche nicht zu begreifen weiß, warum er eigentlich leidet – woran er arm ist, an Leben .... Ein Ursachen-Trieb ist in ihm mächtig: jemand muß schuld daran sein, daß er sich schlecht befindet .... Auch tut ihm die »schöne Entrüstung« selber schon wohl, es ist ein Vergnügen für alle armen Teufel, zu schimpfen – es gibt einen kleinen Rausch von Macht. Schon die Klage, das Sich-Beklagen kann dem Leben einen Reiz geben, um dessentwillen man es aushält: eine feinere Dosis Rache ist in jeder Klage, man wirft sein Schlechtbefinden, unter Umständen selbst seine Schlechtigkeit denen, die anders sind, wie ein Unrecht, wie ein unerlaubtes Vorrecht vor. »Bin ich eine Kanaille, so solltest du es auch sein«: auf diese Logik hin macht man Revolution. – Das Sich-Beklagen taugt in keinem Falle etwas: es stammt aus der Schwäche. Ob man sein Schlecht-Befinden andern oder sich selber zumißt – ersteres tut der Sozialist, letzteres zum Beispiel der Christ –, macht keinen eigenlichen Unterschied. Das Gemeinsame, sagen wir auch das Unwürdige daran ist, daß jemand schuld daran sein soll, daß man leidet – kurz, daß der Leidende sich gegen sein Leiden den Honig der Rache verordnet. Die Objekte dieses Rach-Bedürfnisses als eines Lust-Bedürfnisses sind Gelegenheits-Ursachen: der Leidende findet überall Ursachen, seine kleine Rache zu kühlen, – ist er Christ, nochmals gesagt, so findet er sie in sich .... Der Christ und der Anarchist – Beide sind décadents. – Aber auch wenn der Christ die »Welt« verurteilt, verleumdet, beschmutzt, so tut er es aus dem gleichen Instinkte, aus dem der sozialistische Arbeiter die Gesellschaft verurteilt, verleumdet, beschmutzt: das »Jüngste Gericht« selbst ist noch der süße Trost der Rache – die Revolution, wie sie auch der sozialistische Arbeiter erwartet, nur etwas ferner gedacht .... Das »Jenseits« selbst – wozu ein Jenseits, wenn es nicht ein Mittel wäre, das Diesseits zu beschmutzen?“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 455 bzw. 1009

Kritik der décadence-Moral. – Eine »altruistische« Moral, eine Moral, bei der die Selbstsucht verkümmert –, bleibt unter allen Umständen ein schlechtes Anzeichen. Dies gilt vom Einzelnen, dies gilt namentlich von Völkern. Es fehlt am Besten, wenn es an der Selbstsucht zu fehlen beginnt. Instinktiv das Sich-Schädliche wählen, Gelockt-werden durch »uninteressierte« Motive gibt beinahe die Formel ab für décadence. »Nicht seinen Nutzen suchen« – das ist bloß das moralische Feigenblatt für eine ganz andere, nämlich physiologische Tatsächlichkeit: »ich weiß meinen Nutzen nicht mehr zu finden« .... Disgregation der Instinkte! – Es ist zu Ende mit ihm, wenn der Mensch altruistisch wird. – Statt naiv zu sagen »ich bin nichts mehr wert«, sagt die Moral-Lüge im Munde des décadent: »Nichts ist etwas wert, – das Leben ist nichts wert« .... Ein solches Urteil bleibt zuletzt eine große Gefahr, es wirkt ansteckend – auf dem ganzen morbiden Boden der Gesellschaft wuchert es bald zu tropischer Begriffs-Vegetation empor, bald als Religion (Christentum), bald als Philosophie (Schopenhauerei). Unter Umständen vergiftet eine solche aus Fäulnis gewachsene Giftbaum-Vegetation mit ihrem Dunste weithin, auf Jahrtausende hin das Leben ....“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 456 bzw. 1010

Moral für Ärzte. – Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetieren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verlorengegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein – nicht Rezepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis Ekel vor ihrem Patienten .... Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichtsloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens verlangt – zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben ....“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 456 bzw. 1010

„Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so daß ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summierung des Lebens – alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christentum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll es dem Christentume nie vergessen, daß es die Schwäche des Sterbenden zu Gewissens-Notzucht, daß es die Art des Todes selbst zu Wert-Urteilen über Mensch und Vergangenheit gemißbraucht hat! – Hier gilt es, allen Feigheiten des Vorurteils zum Trotz, vor allem die richtige, das heißt physiologische Würdigung des sogenannten natürlichen Todes herzustellen: der zuletzt auch nur ein »unnatürlicher«, ein Selbstmord ist. Man geht nie durch jemand anderes zugrunde, als durch sich selbst. Nur ist es der Tod unter den verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod zur unrechten Zeit, ein Feiglings-Tod. Man sollte, aus Liebe zum Leben –, den Tod anders wollen, frei, bewußt, ohne Zufall, ohne Überfall ....“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 456-457 bzw. 1010-1011

„Endlich ein Rat für die Herrn Pessimisten und andre décadents. Wir haben es nicht in der Hand zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können diesen Fehler – denn bisweilen ist es ein Fehler – wieder gutmachen. Wenn man sich abschafft, tut man die achtungswürdigste Sache, die es gibt: man verdient beinahe damit, zu leben .... Die Gesellschaft, was sage ich! das Leben selber hat mehr Vorteil davon als durch irgendwelches »Leben« in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend – man hat die andern von seinem Anblick befreit, man hat das Leben von einem Einwand befreit .... Der Pessimismus, pur ... beweist sich erst durch die Selbst-Widerlegung der Herrn Pessimisten: man muß einen Schritt weiter gehn in seiner Logik, nicht bloß mit »Wille und Vorstellung«, wie Schopenhauer es tat, das Leben verneinen –, man muß Schopenhauer zuerst verneinen .... Der Pessimismus, anbei gesagt, so ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer Zeit, eines Geschlechts im ganzen: er ist deren Ausdruck. Man verfällt ihm, wie man der Cholera verfällt: man muß morbid genug dazu schon angelegt sein. Der Pessimismus selbst macht keinen einzigen décadent mehr; ich erinnere an das Ergebnis der Statistik, daß die Jahre, in denen die Cholera wütet, sich in der Gesamt-Ziffer der Sterbefälle nicht von andern Jahrgängen unterscheiden.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 457-458 bzw. 1011-1012

Ob wir moralischer geworden sind. – Gegen meinen Begriff »jenseits von Gut und Böse« hat sich, wie zu erwarten stand, die ganze Ferozität der moralischen Verdummung ... ins Zeug geworfen: ich hätte artige Geschichten davon zu erzählen. Vor allem gab man mir die »unleugbare Überlegenheit« unsrer Zeit im sittlichen Urteil zu überdenken, unsern wirklich hier gemachten Fortschritt: ein Cesare Borgia sei, im Vergleich mit uns, durchaus nicht als ein »höherer Mensch«, als eine Art Übermensch, wie ich es tue, aufzustellen .... Ein Schweizer Redakteur, vom »Bund«, ging so weit, nicht ohne seine Achtung vor dem Mut zu solchem Wagnis auszudrücken, den Sinn meines Werks dahin zu »verstehn«, daß ich mit demselben die Abschaffung aller anständigen Gefühle beantragte. Sehr verbunden! – ich erlaube mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, ob wir wirklich moralischer geworden sind. Daß alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen .... Wir modernen Menschen, sehr zart, sehr verletztlich und hundert Rücksichten gebend und nehmend, bilden uns in der Tat ein, diese zärtliche Menschlichkeit, die wir darstellen, diese erreichte Einmütigkeit in der Schonung, in der Hilfsbereitschaft, im gegenseitigen Vertrauen, sei ein positiver Fortschritt, damit seien wir weit über die Menschen der Renaissance hinaus. Aber so denkt jede Zeit, so muß sie denken. Gewiß ist, daß wir uns nicht in Renaissance-Zustände hineinstellen dürften, nicht einmal hineindenken: unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus, nicht zu reden von unsern Muskeln. Mit diesem Unvermögen ist aber kein Fortschritt bewiesen, sondern nur eine andre, eine spätere Beschaffenheit, eine schwächere, zärtlichere, verletztlichere, aus der sich notwendig eine rücksichtenreiche Moral erzeugt.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 458 bzw. 1012

„Denken wir unsre Zartheit und Spätheit, unsre physiologische Alterung weg, so verlöre auch unsre Moral der »Vermenschlichung« sofort ihren Wert – an sich hat keine Moral Wert –: sie würde uns selbst Geringschätzung machen. Zweifeln wir andrerseits nicht daran, daß wir Modernen mit unsrer dick wattierten Humanität, die durchaus an keinen Stein sich stoßen will, den Zeitgenossen Cesare Borgias eine Komödie zum Totlachen abgeben würden. In der Tat, wir sind über die Maßen unfreiwillig spaßhaft, mit unsren modernen »Tugenden« .... Die Abnahme der feindseligen und mißtrauen-weckenden Instinkte – und das wäre ja unser »Fortschritt« – stellt nur eine der Folgen in der allgemeinen Abnahme der Vitalität dar: es kostet hundertmal mehr Mühe, mehr Vorsicht, ein so bedingtes, so spätes Dasein durchzusetzen. Da hilft man sich gegenseitig, da ist jeder bis zu einem gewissen Grade Kranker und jeder Krankenwärter. Das heißt dann »Tugend« –: unter Menschen, die das Leben noch anders kannten, voller, verschwenderischer, überströmender, hätte man's anders genannt, »Feigheit« vielleicht, »Erbärmlichkeit«, »Altweiber-Moral« ....“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 458-459 bzw. 1012-1013

„Unsre Milderung der Sitten – das ist mein Satz, das ist, wenn man will, meine Neuerung – ist eine Folge des Niedergangs; die Härte und Schrecklichkeit der Sitte kann umgekehrt eine Folge des Überschusses von Leben sein. Dann nämlich darf auch viel gewagt, viel herausgefordert, viel auch vergeudet werden. Was Würze ehedem des Lebens war, für uns wäre es Gift .... Indifferent zu sein – auch das ist eine Form der Stärke – dazu sind wir gleichfalls zu alt, zu spät: unsre Mitgefühls-Moral, vor der ich als der erste gewarnt habe, ... ist ein Ausdruck mehr der physiologischen Überreizbarkeit, die allem, was décadent ist, eignet. Jene Bewegung, die mit der Mitleids-Moral Schopenhauers versucht hat, sich wissenschaftlich vorzuführen – ein sehr unglücklicher Versuch! – ist die eigentliche décadence-Bewegung in der Moral, sie ist als solche tief verwandt mit der christlichen Moral. Die starken Zeiten, die vornehmen Kulturen sehen im Mitleiden, in der »Nächstenliebe«, im Mangel an Selbst und Selbstgefühl etwas Verächtliches.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 459 bzw. 1013

„Die Zeiten sind zu messen nach ihren positiven Kräften – und dabei ergibt sich jene so verschwenderische und verhängnisreiche Zeit der Renaissance als die letzte große Zeit, und wir, wir Modernen mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe, mit unsern Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit, der Wissenschaftlichkeit – sammelnd, ökonomisch, machinal – als eine schwache Zeit .... Unsre Tugenden sind bedingt, sind herausgefordert durch unsre Schwäche .... “
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 459 bzw. 1013

„Die »Gleichheit«, eine gewisse tatsächliche Anähnlichung, die sich in der Theorie von »gleichen Rechten« nur zum Ausdruck bringt, gehört wesentlich zum Niedergang: die Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen, der Wille, selbst zu sein, sich abzuheben –, das, was ich Pathos der Distanz nenne, ist jeder starken Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer kleiner – die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit .... Alle unsre politischen Theorien und Staats-Verfassungen, das »Deutsche Reich« durchaus nicht ausgenommen, sind Folgerungen, Folge-Notwendigkeiten des Niedergangs; die unbewußte Wirkung der décadence ist bis in die Ideale einzelner Wissenschaften hinein Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze Soziologie in England und Frankreich bleibt, daß sie nur die Verfalls-Gebilde der Sozietät aus Erfahrung kennt und vollkommen unschuldig die eignen Verfalls-Instinkte als Norm des soziologischen Werturteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme aller organisierenden, das heißt trennenden, Klüfte aufreißenden, unter- und überordnenden Kraft formuliert sich in der Soziologie von heute zum Ideal .... Unsre Sozialisten sind décadents, aber auch Herr Herbert Spencer ist ein décadent – er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswertes!“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 459-460 bzw. 1013-1014

Mein Begriff von Freiheit. – Der Wert einer Sache liegt mitunter nicht in dem, was man mit ihr erreicht, sondern in dem, was man für sie bezahlt – was sie uns kostet. Ich gebe ein Beispiel. Die liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal zu sein, sobald sie erreicht sind: es gibt später keine ärgeren und gründlicheren Schädiger der Freiheit als liberale Institutionen. Man weiß ja, was sie zuwege bringen: sie unterminieren den Willen zur Macht, sie sind die zur Moral erhobene Nivellierung von Berg und Tal, sie machen klein, feige und genüßlich – mit ihnen triumphiert jedesmal das Herdentier. Liberalismus: auf deutsch Herden-Vertierung .... Dieselben Institutionen bringen, so lange sie noch erkämpft werden, ganz andre Wirkungen hervor; sie fördern dann in der Tat die Freiheit auf eine mächtige Weise. Genauer zugesehn, ist es der Krieg, der diese Wirkungen hervorbringt, der Krieg um liberale Institutionen, der als Krieg die illiberalen Instinkte dauern läßt. Und der Krieg erzieht zur Freiheit. Denn was ist Freiheit? Daß man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Daß man die Distanz, die uns abtrennt, festhält. Daß man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird. Daß man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern, sich selber nicht abgerechnet. Freiheit bedeutet, daß die männlichen, die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andre Instinkte, zum Beispiel über die des »Glücks«.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 460-461 bzw. 1014-1015

„Der freigewordne Mensch, um wie viel mehr der freigewordne Geist, tritt mit Füßen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen. Der freie Mensch ist Krieger.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 461 bzw. 1015

„Wonach mißt sich die Freiheit, bei Einzelnen wie bei Völkern? Nach dem Widerstand, der überwunden werden muß, nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben. Den höchsten Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der höchste Widerstand überwunden wird: fünf Schritte weit von der Tyrannei, dicht an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft. Dies ist psychologisch wahr, wenn man hier unter den »Tyrannen« unerbittliche und furchtbare Instinkte begreift, die das Maximum von Autorität und Zucht gegen sich herausfordern – schönster Typus Julius Cäsar –; dies ist auch politisch wahr, man mache nur seinen Gang durch die Geschichte. Die Völker, die etwas wert waren, wert wurden, wurden dies nie unter liberalen Institutionen: die große Gefahr machte etwas aus ihnen, das Ehrfurcht verdient, die Gefahr, die uns unsre Hilfsmittel, unsre Tugenden, unsre Wehr und Waffen, unsern Geist erst kennen lehrt – die uns zwingt, stark zu sein .... Erster Grundsatz: man muß es nötig haben, stark zu sein: sonst wird man's nie. – Jene großen Treibhäuser für starke, für die stärkste Art Mensch, die es bisher gegeben hat, die aristokratischen Gemeinwesen in der Art von Rom und Venedig verstanden Freiheit genau in dem Sinne, wie ich das Wort Freiheit verstehe: als etwas, das man hat und nicht hat, das man will, das man erobert ....“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 461 bzw. 1015

Kritik der Modernität. – Unsre Institutionen taugen nichts mehr: darüber ist man einmütig. Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an uns. Nachdem uns alle Instinkte abhanden gekommen sind, aus denen Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen überhaupt abhanden, weil wir nicht mehr zu ihnen taugen. Demokratismus war jederzeit die Niedergangs-Form der organisierenden Kraft: ich habe schon in »Menschliches, Allzumenschliches« (I, 682) die moderne Demokratie samt ihren Halbheiten, wie »Deutsches Reich«, als Verfallsform des Staats gekennzeichnet. Damit es Institutionen gibt, muß es eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur Solidarität von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts in infinitum. Ist dieser Wille da, so gründet sich etwas wie das Imperium Romanum: oder wie Rußland, die einzige Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die etwas noch versprechen kann – Rußland, der Gegensatz-Begriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei und Nervosität, die mit der Gründung des Deutschen Reichs in einen kritischen Zustand eingetreten ist .... Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus denen Zukunft wächst: seinem »modernen Geiste« geht vielleicht nichts so sehr wider den Strich.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 461-462 bzw. 1015-1016

„Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind – man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man »Freiheit«. Was aus Institutionen Institutionen macht, wird verachtet, gehaßt, abgelehnt: man glaubt sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei, wo das Wort »Autorität« auch nur laut wird. Soweit geht die décadence im Wert-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen Parteien: sie ziehn instinktiv vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt .... Zeugnis die moderne Ehe. Aus der modernen Ehe ist ersichtlich alle Vernunft abhanden gekommen: das gibt aber keinen Einwand gegen die Ehe ab, sondern gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe – sie lag in der juristischen Alleinverantwortlichkeit des Mannes: damit hatte die Ehe Schwergewicht, während sie heute auf beiden Beinen hinkt. Die Vernunft der Ehe – sie lag in ihrer prinzipiellen Unlösbarkeit: damit bekam sie einen Akzent, der, dem Zufall von Gefühl, Leidenschaft und Augenblick gegenüber, sich Gehör zu schaffen wußte. Sie lag insgleichen in der Verantwortlichkeit der Familien für die Auswahl der Gatten. Man hat mit der wachsenden Indulgenz zugunsten der Liebes-Heirat geradezu die Grundlage der Ehe, das, was erst aus ihr eine Institution macht, eliminiert. Man gründet eine Institution nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe nicht, wie gesagt, auf die »Liebe« – man gründet sie auf den Geschlechtstrieb, auf den Eigentumstrieb (Weib und Kind als Eigentum), auf den Herrschafts-Trieb, der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisiert, der Kinder und Erben braucht, um ein erreichtes Maß von Macht, Einfluß, Reichtum auch physiologisch festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität zwischen Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits die Bejahung der größten, der dauerhaftesten Organisationsform in sich: wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich gutsagen kann bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt keinen Sinn. – Die moderne Ehe verlor ihren Sinn – folglich schafft man sie ab.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 462-463 bzw. 1016-1017

Die Arbeiter-Frage. – Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung, welche heute die Ursache aller Dummheiten ist, liegt darin, daß es eine Arbeiter-Frage gibt. Über gewisse Dinge fragt man nicht: erster Imperativ des Instinkts. – Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen will, nachdem man erst eine Frage aus ihm gemacht hat. Er befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen. Er hat zuletzt die große Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, daß hier sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Typus Chinese zum Stande herausbilde: und dies hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Notwendigkeit gewesen. Was hat man getan? – Alles, um auch die Voraussetzung dazu im Keime zu vernichten – man hat die Instinkte, vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, sich selber möglich wird, durch die unverantwortlichste Gedankenlosigkeit in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Koalitions-Recht, das politische Stimmrecht gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits als Notstand (moralisch ausgedrückt als Unrecht–) empfindet? Aber was will man? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muß man auch die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herrn erzieht.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 463-464 bzw. 1017-1018

»Freiheit, die ich nicht meine ....« – In solchen Zeiten, wie heute, seinen Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängnis mehr. Diese Instinkte widersprechen, stören sich, zerstören sich untereinander; ich definierte das Moderne bereits als den physiologischen Selbst-Widerspruch. Die Vernunft der Erziehung würde wollen, daß unter einem eisernen Drucke wenigstens eins dieser Instinkt-Systeme paralysiert würde, um einem andern zu erlauben, zu Kräften zu kommen, stark zu werden, Herr zu werden. Heute müßte man das Individuum erst möglich machen, indem man dasselbe beschneidet: möglich, das heißt ganz .... Das Umgekehrte geschieht: der Anspruch auf Unabhängigkeit, auf freie Entwicklung, auf laisser aller wird gerade von denen am hitzigsten gemacht, für die kein Zügel zu streng wäre – dies gilt in politicis, dies gilt in der Kunst. Aber das ist ein Symptom der décadence: unser moderner Begriff »Freiheit« ist ein Beweis von Instinkt-Entartung mehr.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 464 bzw. 1018

Den Konservativen ins Ohr gesagt. – Was man früher nicht wußte, was man heute weiß, wissen könnte –, eine Rückbildung, eine Umkehr in irgendwelchem Sinn und Grade ist gar nicht möglich. Wir Physiologen wenigstens wissen das. Aber alle Priester und Moralisten haben daran geglaubt – sie wollten die Menschheit auf ein früheres Maß von Tugend zurückbringen, zurückschrauben. Moral war immer ein Prokrustes-Bett. Selbst die Politiker haben es darin den Tugendpredigern nachgemacht: es gibt auch heute noch Parteien, die als Ziel den Krebsgang aller Dinge träumen. Aber es steht niemandem frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts: man muß vorwärts, will sagen Schritt für Schritt weiter in der décadence (– dies meine Definition des modernen »Fortschritts« ...). Man kann diese Entwicklung hemmen und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und plötzlicher machen: mehr kann man nicht.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 464-465 bzw. 1018-1019

Fortschritt in meinem Sinne. – Auch ich rede von »Rückkehr zur Natur«, obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen ist – hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit, eine solche, die mit großen Aufgaben spielt, spielen darf .... Um es im Gleichnis zu sagen: Napoleon war ein Stück »Rückkehr zur Natur«, so wie ich sie verstehe (zum Beispiel in rebus tacticis, noch mehr, wie die Militärs wissen, im Strategischen). – Aber Rousseau – wohin wollte der eigentlich zurück? Rousseau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und Kanaille in einer Person; der die moralische »Würde« nötig hatte, um seinen eignen Aspekt auszuhalten; krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung. Auch diese Mißgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat, wollte »Rückkehr zur Natur« – wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau zurück? – Ich hasse Rousseau noch in der Revolution: sie ist der welthistorische Ausdruck für diese Doppelheit von Idealist und Kanaille. Die blutige Farce, mit der sich diese Revolution abspielte, ihre »Immoralität«, geht mich wenig an: was ich hasse, ist ihre Rousseausche Moralität – die sogenannten »Wahrheiten« der Revolution, mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmäßige zu sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit! .... Aber es gibt gar kein giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das Ende der Gerechtigkeit ist . .... »Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches« – das wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, »Ungleiches niemals gleich machen.« – Daß es um jene Lehre von der Gleichheit herum so schauerlich und blutig zuging, hat dieser »modernen Idee« par excellence eine Art Glorie und Feuerschein gegeben, so daß die Revolution als Schauspiel auch die edelsten Geister verführt hat. Das ist zuletzt kein Grund, sie mehr zu achten. – Ich sehe nur einen, der sie empfand, wie sie empfunden werden muß, mit Ekel – Goethe.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 469-470 bzw. 1023-1024

Goethe – kein deutsches Ereignis, sondern ein europäisches: ein großartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von seiten dieses Jahrhunderts. – Er trug dessen stärkste Instinkte in sich: die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das Idealistische, das Unreale und Revolutionäre (– letzteres ist nur eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza zu Hilfe, vor allem die praktische Tätigkeit; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Totalität; er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille (– in abschreckendster Scholastik durch Kant gepredigt, den Antipoden Goethes); er disziplinierte sich zur Ganzheit, er schuf sich .... Goethe war, inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte Ja zu allem, was ihm hierin verwandt war – er hatte kein größeres Erlebnis als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe konzipierte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichtum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er das, woran die durchschnittliche Natur zugrunde gehn würde, noch zu seinem Vorteil zu brauchen weiß; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr gibt, es sei denn die Schwäche, heiße sie nun Laster oder Tugend .... Ein solcher freigewordner Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, daß nur das Einzelne verwerflich ist, daß im Ganzen sich alles erlöst und bejaht – er verneint nicht mehr .... Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 470-471 bzw. 1024-1025

„Man könnte sagen, daß in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert das alles auch erstrebt hat, was Goethe als Person erstrebte: eine Universalität im Verstehn, im Gutheißen, ein An-sich-heran-kommen-lassen von jedwedem, einen verwegnen Realismus, eine Ehrfurcht vor allem Tatsächlichen. Wie kommt es, daß das Gesamt-Ergebnis kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein nihilistisches Seufzen, ein Nicht-wissen-wo-aus-noch-ein, ein Instinkt von Ermüdung, der in praxi fortwährend dazu treibt, zum achtzehnten Jahrhundert zurückzugreifen? (– zum Beispiel als Gefühls-Romantik, als Altruismus und Hyper-Sentimentalität, als Feminismus im Geschmack, als Sozialismus in der Politik). Ist nicht das neunzehnte Jahrhundert, zumal in seinem Ausgange, bloß ein verstärktes verrohtes achtzehntes Jahrhundert, das heißt ein décadence-Jahrhundert? So daß Goethe nicht bloß für Deutschland, sondern für ganz Europa bloß ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre? – Aber man mißversteht große Menschen, wenn man sie aus der armseligen Perspektive eines öffentlichen Nutzens ansieht. Daß man keinen Nutzen aus ihnen zu ziehen weiß, das gehört selbst vielleicht zur Größe.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 471-472 bzw. 1025-1026

„Goethe ist der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurcht habe: er hätte drei Dinge empfunden, die ich empfinde, – auch verstehen wir uns über das »Kreuz« .... Man fragt mich öfter, wozu ich eigentlich deutsch schriebe: nirgendswo würde ich schlechter gelesen, als im Vaterlande. Aber wer weiß zuletzt, ob ich auch nur wünsche, heute gelesen zu werden? – Dinge schaffen, an denen umsonst die Zeit ihre Zähne versucht; der Form nach, der Substanz nach um eine kleine Unsterblichkeit bemüht sein – ich war noch nie bescheiden genug, weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der »Ewigkeit«; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andre in einem Buche sagt – was jeder andre in einem Buche nicht sagt .... – Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Zarathustra: ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 472 bzw. 1026

„Erst in den dionysischen Mysterien, in der Psychologie des dionysischen Zustands spricht sich die Grundtatsache des hellenischen Instinkts aus – sein »Wille zum Leben«. Was verbürgte sich der Hellene mit diesen Mysterien? Das ewige Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens; die Zukunft in der Vergangenheit verheißen und geweiht; das triumphierende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus; das wahre Leben als das Gesamt-Fortleben durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit. Den Griechen war deshalb das geschlechtliche Symbol das ehrwürdige Symbol an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmigkeit. Alles einzelne im Akte der Zeugung, der Schwangerschaft, der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten Gefühle. In der Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen: die »Wehen der Gebärerin« heiligen den Schmerz überhaupt, – alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz .... Damit es die ewige Lust des Schaffens gibt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muß es auch ewig die »Qual der Gebärerin« geben .... Dies alles bedeutet das Wort Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese griechische Symbolik, die der Dionysien. In ihnen ist der tiefste Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des Lebens, religiös empfunden, – der Weg selbst zum Leben, die Zeugung, als der heilige Weg .... Erst das Christentum, mit seinem Ressentiment gegen das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Unreines gemacht: es warf Kot auf den Anfang, auf die Voraussetzung unsres Lebens.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 477-478 bzw. 1031-1032

„Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des tragischen Gefühls, das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit von unsern Pessimisten mißverstanden worden ist. Die Tragödie ist so fern davon, etwas für den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauers zu beweisen, daß sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und Gegen-Instanz zu gelten hat. Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen, der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend – das nannte ich dionysisch, das erriet ich als die Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters. Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen – so verstand es Aristoteles –: sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein – jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schließt. Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausging – die »Geburt der Tragödie« war meine erste Umwertung aller Werte: damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein Können wächst – ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft.“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 478 bzw. 1032

„»Warum so hart! –« sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle: »sind wir denn nicht Nah-Verwandte?« Warum so weich? O meine Brüder, also frage ich euch: seid ihr denn nicht – meine Brüder? Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist so viel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? so wenig Schicksal in eurem Blicke? Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr einst mit mir – siegen? Und wenn eure Härte nicht blitzen und schneiden und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir – schaffen? Alle Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muß es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, – – Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, – härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart allein ist das Edelste. Diese neue Tafel, o meine Brüder, stelle ich über euch: Werdet hart!“
Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 479 bzw. 1033

„Hat man sich für die Abzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht man auch die Moral – man versteht, was sich unter ihren heiligsten Namen und Wertformeln versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die große Müdigkeit. Moral verneint das Leben .... Zu einer solchen Aufgabe war mir eine Selbstdisziplin vonnöten – Partei zu nehmen gegen alles Kranke an mir, eingerechnet Wagner, eingerechnet Schopenhauer, eingerechnet die ganze moderne »Menschlichkeit«. – Eine tiefe Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung gegen alles Zeitliche, Zeitgemäße: und als höchsten Wunsch das Auge Zarathustras, ein Auge, das die ganze Tatsache Mensch aus ungeheurer Ferne übersieht – unter sich sieht .... Einem solchen Ziele – welches Opfer wäre ihm nicht gemäß? welche »Selbst-Überwindung«! welche »Selbst-Verleugnung«!.“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 3-4

„Mein größtes Erlebnis war eine Genesung. Wagner gehört bloß zu meinen Krankheiten. Nicht daß ich gegen diese Krankheit undankbar sein möchte. Wenn ich mit dieser Schrift den Satz aufrechterhalte, daß Wagner schädlich ist, so will ich nicht weniger aufrechthalten, wem er trotzdem unentbehrlich ist – dem Philosophen. Sonst kann man vielleicht ohne Wagner auskommen: dem Philosophen aber steht es nicht frei, Wagners zu entraten. Er hat das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein – dazu muß er deren bestes Wissen haben. Aber wo fände er für das Labyrinth der modernen Seele einen eingeweihteren Führer, einen beredteren Seelenkündiger als Wagner? Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und umgekehrt: man hat beinahe eine Abrechnung über den Wert des Modernen gemacht, wenn man über Gut und Böse bei Wagner mit sich im klaren ist. – Ich verstehe es vollkommen, wenn heut ein Musiker sagt: »ich hasse Wagner, aber ich halte keine andere Musik mehr aus«. Ich würde aber auch einen Philosophen verstehen, der erklärte: »Wagner resümiert die Modernität. Es hilft nichts, man muß erst Wagnerianer sein.«“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 4

„Auch dieses Werk erlöst, nicht Wagner allein ist ein »Erlöser«.“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 9

„Sie ziehen selbst das Problem Wagners dem Bizets vor? Auch ich unterschätze es nicht, es hat seinen Zauber. Das Problem der Erlösung ist selbst ein ehrwürdiges Problem. Wagner hat über nichts so tief wie über die Erlösung nachgedacht: seine Oper ist die Oper der Erlösung. Irgendwer will bei ihm immer erlöst sein: bald ein Männlein, bald ein Fräulein – dies ist sein Problem. – Und wie reich er sein Leitmotiv variiert! Welche seltenen, welche tiefsinnigen Ausweichungen! Wer lehrte es uns, wenn nicht Wagner, daß die Unschuld mit Vorliebe interessante Sünder erlöst? (der Fall im Tannhäuser). Oder daß selbst der ewige Jude erlöst wird, seßhaft wird, wenn er sich verheiratet? (der Fall im Fliegenden Holländer). Oder daß alte verdorbene Frauenzimmer es vorziehn, von keuschen Jünglingen erlöst zu werden? (der Fall Kundry). Oder daß schöne Mädchen am liebsten durch einen Ritter erlöst werden, der Wagnerianer ist? (der Fall in den Meistersingern). Oder daß auch verheiratete Frauen gerne durch einen Ritter erlöst werden? (der Fall Isoldens). Oder daß »der alte Gott«, nachdem er sich moralisch in jedem Betracht kompromittiert hat, endlich durch einen Freigeist und Immoralisten erlöst wird? (der Fall im »Ring«). Bewundern Sie insonderheit diesen letzten Tiefsinn! Verstehn Sie ihn? Ich – hüte mich, ihn zu verstehn.“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 10-11

„Daß man noch andere Lehren aus den genannten Werken ziehn kann, möchte ich eher beweisen als bestreiten. Daß man durch ein Wagnersches Ballett zur Verzweiflung gebracht werden kann – und zur Tugend! (nochmals der Fall Tannhäusers). Daß es von den schlimmsten Folgen sein kann, wenn man nicht zur rechten Zeit zu Bett geht (nochmals der Fall Lohengrins). Daß man nie zu genau wissen soll, mit wem man sich eigentlich verheiratet (zum drittenmal der Fall Lohengrins). – Tristan und Isolde verherrlichen den vollkommnen Ehegatten, der, in einem gewissen Falle, nur eine Frage hat: »aber warum habt ihr mir das nicht eher gesagt? Nichts einfacher als das!« Antwort: »Das kann ich dir nicht sagen; und was du frägst, das kannst du nie erfahren.« Der Lohengrin enthält eine feierliche In-Acht-Erklärung des Forschens und Fragens. Wagner vertritt damit den christlichen Begriff »du sollst und mußt glauben«. Es ist ein Verbrechen am Höchsten, am Heiligsten, wissenschaftlich zu sein .... Der fliegende Holländer predigt die erhabne Lehre, daß das Weib auch den Unstetesten festmacht, wagnerisch geredet, »erlöst«.“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 11-12

„Ins Wirkliche übersetzt: die Gefahr der Künstler, der Genies ... liegt im Weibe: die anbetenden Weiber sind ihr Verderb. Fast keiner hat Charakter genug, um nicht verdorben – »erlöst« zu werden, wenn er sich als Gott behandelt fühlt – er kondeszendiert alsbald zum Weibe. – Der Mann ist feige vor allem Ewig-Weiblichen: das wissen die Weiblein. – In vielen Fällen der weiblichen Liebe, und vielleicht gerade in den berühmtesten, ist Liebe nur ein feinerer Parasitismus, ein Sich-Einnisten in eine fremde Seele, mitunter selbst in ein fremdes Fleisch – ach! wie sehr immer auf »des Wirtes« Unkosten!“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 12

„Gerade, weil nichts moderner ist als diese Gesamterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par excellence, der Cagliostro der Modernität. In seiner Kunst ist auf die verführerischste Art gemischt, was heute alle Welt am nötigsten hat – die drei großen Stimulantia der Erschöpften, das Brutale, das Künstliche und das Unschuldige (Idiotische).“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 17

„Wagner ... hat ... das Mittel erraten, müde Nerven zu reizen – er hat die Musik damit krank gemacht. Seine Erfindungsgabe ist keine kleine in der Kunst, die Erschöpftesten wieder aufzustacheln, die Halbtoten ins Leben zu rufen. Er ist der Meister hypnotischer Griffe, er wirft die Stärksten noch wie Stiere um. Der Erfolg Wagners – sein Erfolg bei den Nerven und folglich bei den Frauen – hat die ganze ehrgeizige Musiker-Welt zu Jüngern seiner Geheimkunst gemacht. Und nicht nur die ehrgeizige, auch die kluge .... Man macht heute nur Geld mit kranker Musik; unsre großen Theater leben von Wagner.“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 17

„Der Parsifal wird in der Kunst der Verführung ewig seinen Rang behalten, als der Geniestreich der Verführung .... Ich bewundere dies Werk, ich möchte es selbst gemacht haben; in Ermangelung davon verstehe ich es .... Wagner war nie besser inspiriert als am Ende. Das Raffinement im Bündnis von Schönheit und Krankheit geht hier so weit, daß es über Wagners frühere Kunst gleichsam Schatten legt – sie erscheint zu hell, zu gesund. Versteht ihr das? Die Gesundheit, die Helligkeit als Schatten wirkend? als Einwand beinahe? .... So weit sind wir schon reine Toren .... Niemals gab es einen größeren Meister in dumpfen hieratischen Wohlgerüchen – nie lebte ein gleicher Kenner alles kleinen Unendlichen, alles Zitternden und Überschwänglichen, aller Feminismen aus dem Idiotikon des Glücks! – Trinkt nur, meine Freunde, die Philtren dieser Kunst! Ihr findet nirgends eine angenehmere Art, euren Geist zu entnerven, eure Männlichkeit unter einem Rosengebüsche zu vergessen .... Ah dieser alte Zauberer! Dieser Klingsor aller Klingsore! Wie er uns damit den Krieg macht! uns, den freien Geistern! Wie er jeder Feigheit der modernen Seele mit Zaubermädchen-Tönen zu Willen redet! – Es gab nie einen solchen Todhaß auf die Erkenntnis! – Man muß Zyniker sein, um hier nicht verführt zu werden, man muß beißen können, um hier nicht anzubeten. Wohlan, alter Verführer! Der Zyniker warnt dich – cave canem ....“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 37

„In der engeren Sphäre der sogenannten moralischen Werte ist kein größerer Gegensatz aufzufinden als der einer Herren-Moral und der Moral der christlichen Wertbegriffe: letztere, auf einem durch und durch morbiden Boden gewachsen (– die Evangelien führen uns genau dieselben physiologischen Typen vor, welche die Romane Dostojewskis schildern), die Herren-Moral (»römisch«, »heidnisch«, »klassisch«, »Renaissance«) umgekehrt als die Zeichensprache der Wohlgeratenheit, des aufsteigenden Lebens, des Willens zur Macht als Prinzips des Lebens. Die Herren-Moral bejaht ebenso instinktiv, wie die christliche verneint (»Gott«, »Jenseits«, »Entselbstung« lauter Negationen). Die erstere gibt aus ihrer Fülle an die Dinge ab – sie verklärt, sie verschönt, sie vernünftigt die Welt –, die letztere verarmt, verblaßt, verhäßlicht den Wert der Dinge, sie verneint die Welt. »Welt« ein christliches Schimpfwort.“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 44-45

„Diese Gegensatzformen in der Optik der Werte sind beide notwendig: es sind Arten zu sehen, denen man mit Gründen und Widerlegungen nicht beikommt. Man widerlegt das Christentum nicht, man widerlegt eine Krankheit des Auges nicht. Daß man den Pessimismus wie eine Philosophie bekämpft hat, war der Gipfelpunkt des gelehrten Idiotentums. Die Begriffe »wahr« und »unwahr« haben, wie mir scheint, in der Optik keinen Sinn. – Wogegen man sich allein zu wehren hat, das ist die Falschheit, die Instinkt-Doppelzüngigkeit, welche diese Gegensätze nicht als Gegensätze empfinden will: wie es zum Beispiel Wagners Wille war, der in solchen Falschheiten keine kleine Meisterschaft hatte. Nach der Herren-Moral, der vornehmen Moral hinschielen (– die isländische Sage ist beinahe deren wichtigste Urkunde –) und dabei die Gegenlehre, die vom »Evangelium der Niedrigen«, vom Bedürfnis der Erlösung, im Munde führen!“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 45

„Das Bedürfnis nach Erlösung, der Inbegriff aller christlichen Bedürfnisse ... ist die ehrlichste Ausdrucksform der décadence, es ist das überzeugteste, schmerzhafteste Ja-sagen zu ihr in sublimen Symbolen und Praktiken. Der Christ will von sich loskommen .... – Die vornehme Moral, die Herren-Moral, hat umgekehrt ihre Wurzel in einem triumphierenden Ja-sagen zu sich – sie ist Selbstbejahung, Selbstverherrlichung des Lebens ....“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 45-46

„Ich erinnere daran, wie der letzte Deutsche vornehmen Geschmacks, wie Goethe das Kreuz empfand. Man sucht umsonst nach wertvolleren, nach notwendigeren Gegensätzen.“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 46

Anmerkung. Über den Gegensatz »vornehme Moral« und »christliche Moral« unterrichtete zuerst meine »Genealogie der Moral«: es gibt vielleicht keine entscheidendere Wendung in der Geschichte der religiösen und moralischen Erkenntnis. Dies Buch, mein Prüfstein für das, was zu mir gehört, hat das Glück, nur den höchstgesinnten und strengsten Geistern zugänglich zu sein: dem Reste fehlen die Ohren dafür. Man muß seine Leidenschaft in Dingen haben, wo sie heute niemand hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 46

„Der moderne Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werte dar, er sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in einem Atem Ja und Nein.“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 46

„Aber wir alle haben wider Wissen, wider Willen, Werte, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter Abkunft im Leibe – wir sind, physiologisch betrachtet, falsch .... Eine Diagnostik der modernen Seele – womit begänne sie? Mit einem resoluten Einschnitt in diese Instinkt-Widersprüchlichkeit, mit der Herauslösung ihrer Gegensatz-Werte, mit der Vivisektion vollzogen an ihrem lehrreichsten Fall.“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, 1888, S. 47

„Sehen wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer, – wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. »Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden«: das hat schon Pindar von uns gewußt. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes - unser Leben, unser Glück.« .... Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand ihn sonst? – Der moderne Mensch etwa? »Ich weiß nicht aus, noch ein; ich bin alles, was nicht aus noch ein weiß« – seufzt der moderne Mensch .... An dieser Modernität waren wir krank, – am faulen Frieden, am feigen Kompromiß, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. Diese Toleranz ... des Herzens, die alles »verzeiht«, weil sie alles »begreift«.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 611 bzw. 1165

„Was ist gut? - Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? - Alles was aus der Schwäche stammt. Was ist Glück? - Das Gefühl davon, daß die Macht wächst - daß ein Widerstand überwunden wird. Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht, nicht Friede überhaupt, sondern Krieg, nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virtù, moralinfreie Tugend). Die Schwachen und Mißratenen sollen zu Grunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen. Was ist schädlicher als irgend ein Laster? - Das Mitleiden der Tat mit allen Mißratenen und Schwachen - das Christentum ....“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 611-612 bzw. 1165-1166

„Nicht, was die Menschheit ablösen soll in der Reihenfolge der Wesen, ist das Problem, das ich hiermit stelle (- der Mensch ist ein Ende -): sondern welchen Typus Mensch man züchten soll, wollen soll, als den höherwertigeren, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren. Dieser höherwertige Typus ist oft schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden, er war bisher beinahe das Furchtbare; - und aus der Furcht heraus wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch, - der Christ ....“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 611-612 bzw. 1165-1166

„Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der »Fortschritt« ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Europäer von heute bleibt in seinem Werte tief unter dem Europäer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgendwelcher Notwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 612 bzw. 1166

„In einem andern Sinne gibt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Kulturen heraus, mit denen in der Tat sich ein höherer Typus darstellt: etwas, das im Verhältnis zur Gesamt-Menschheit eine Art Übermensch ist. Solche Glücksfälle des großen Gelingens waren immer möglich und werden vielleicht immer möglich sein. Und selbst ganze Geschlechter, Stämme, Völker können unter Umständen einen solchen Treffer darstellen.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 612 bzw. 1166

„Man soll das Christentum nicht schmücken und herausputzen: es hat einen Todkrieg gegen diesen höheren Typus Mensch gemacht, es hat alle Grundinstinkte dieses Typus in Bann getan, es hat aus diesen Instinkten das Böse, den Bösen herausdestilliert – der starke Mensch als der typisch Verwerfliche, der »verworfene Mensch«. Das Christentum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Mißratnen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht; es hat die Vernunft selbst der geistig stärksten Naturen verdorben, indem es die obersten Werte der Geistigkeit als sündhaft, als irreführend, als Versuchungen empfinden lehrte. Das jammervollste Beispiel: die Verderbnis Pascals, der an die Verderbnis seiner Vernunft durch die Erbsünde glaubte, während sie nur durch sein Christentum verdorben war!“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 613 bzw. 1167

„Es ist ein schmerzliches, ein schauerliches Schauspiel, das mir aufgegangen ist: ich zog den Vorhang weg von der Verdorbenheit des Menschen. Dies Wort, in meinem Munde, ist wenigstens gegen einen Verdacht geschützt: daß es eine moralische Anklage des Menschen enthält. Es ist – ich möchte es nochmals unterstreichen – moralinfrei gemeint: und dies bis zu dem Grade, daß jene Verdorbenheit gerade dort von mir am stärksten empfunden wird, wo man bisher am bewußtesten zur »Tugend«, zur »Göttlichkeit« aspirierte. Ich verstehe Verdorbenheit, man errät es bereits, im Sinne von décadence: meine Behauptung ist, daß alle Werte, in denen jetzt die Menschheit ihre oberste Wünschbarkeit zusammenfaßt, décadence-Werte sind.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 613 bzw. 1167

„Ich nenne ein Tier, eine Gattung, ein Individuum verdorben, wenn es seine Instinkte verliert, wenn es wählt, wenn es vorzieht, was ihm nachteilig ist. Eine Geschichte der »höheren Gefühle«, der »Ideale der Menschheit« – und es ist möglich, daß ich sie erzählen muß – wäre beinahe auch die Erklärung dafür, weshalb der Mensch so verdorben ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 613 bzw. 1167

„Das Leben selbst gilt mir als Instinkt für Wachstum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für Macht: wo der Wille zur Macht fehlt, gibt es Niedergang. Meine Behauptung ist, daß allen obersten Werten der Menschheit dieser Wille fehlt – daß Niedergangs-Werte, nihilistische Werte unter den heiligsten Namen die Herrschaft führen.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 613-614 bzw. 1167-1168

„Das Mitleiden kreuzt im ganzen großen das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der Selektion ist. Es erhält, was zum Untergange reif ist, es wehrt sich zugunsten der Enterbten und Verurteilten des Lebens, es gibt durch die Fülle des Mißratenen aller Art, das es im Leben festhält, dem Leben selbst einen düsteren und fragwürdigen Aspekt.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 614 bzw. 1168

„Man hat gewagt, das Mitleiden eine Tugend zu nennen (– in jeder vornehmen Moral gilt es als Schwäche –); man ist weitergegangen, man hat aus ihm die Tugend, den Boden und Ursprung aller Tugenden gemacht – nur freilich, was man stets im Auge behalten muß, vom Gesichtspunkt einer Philosophie aus, welche nihilistisch war, welche die Verneinung des Lebens auf ihr Schild schrieb.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 614 bzw. 1168

„Schopenhauer war in seinem Recht damit: durch das Mitleid wird das Leben verneint, verneinungswürdiger gemacht – Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus. Nochmals gesagt: dieser depressive und kontagiöse Instinkt kreuzt jene Instinkte, welche auf Erhaltung und Wert-Erhöhung des Lebens aus sind: er ist eben so als Multiplikator des Elends wie als Konservator alles Elenden ein Hauptwerkzeug zur Steigerung der décadence – Mitleiden überredet zum Nichts! .... Man sagt nicht »Nichts«: man sagt dafür »Jenseits«: oder »Gott«; oder »das wahre Leben«; oder Nirwana, Erlösung, Seligkeit .... Diese unschuldige Rhetorik aus dem Reich der religiös-moralischen Idiosynkrasie erscheint sofort viel weniger unschuldig, wenn man begreift, welche Tendenz hier den Mantel sublimer Worte um sich schlägt: die lebensfeindliche Tendenz.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 614-615 bzw. 1168-1169

„Schopenhauer war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid zur Tugend .... Aristoteles sah, wie man weiß, im Mitleiden einen krankhaften und gefährlichen Zustand, dem man gut täte, hier und da durch ein Purgativ beizukommen: er verstand die Tragödie als Purgativ. Vom Instinkte des Lebens aus müßte man in der Tat nach einem Mittel suchen, einer solchen krankhaften und gefährlichen Häufung des Mitleids, wie sie der Fall Schopenhauers (und leider auch unsre gesamte literarische und artistische décadence von St. Petersburg bis Paris, von Tolstoi bis Wagner) darstellt, einen Stich zu versetzen: damit sie platzt .... Nichts ist ungesunder, inmitten unsrer ungesunden Modernität, als das christliche Mitleid. Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer führen – das gehört zu uns, das ist unsre Art Menschenliebe, damit sind wir Philosophen, wir Hyperboreer!“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 615 bzw. 1169

„Wir leiten den Menschen nicht mehr vom »Geist«, von der »Gottheit« ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste Tier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit. Wir wehren uns andrerseits gegen eine Eitelkeit, die auch hier wieder laut werden möchte: wie als ob der Mensch die große Hinterabsicht der tierischen Entwicklung gewesen sei. Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung: ...: der Mensch ist, relativ genommen, das mißratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichsten abgeirrte – freilich, mit alledem, auch das interessanteste!“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 620 bzw. 1174

„Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christentume mit irgendeinem Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen (»Gott«, »Seele«, »Ich«, »Geist«, »der freie Wille« – oder auch »der unfreie«): lauter imaginäre Wirkungen (»Sünde«, »Erlösung«, »Gnade«, »Strafe«, »Vergebung der Sünde«). Ein Verkehr zwischen imaginären Wesen (»Gott«, »Geister«, »Seelen«); eine imaginäre Naturwissenschaft (anthropozentrisch; völliger Mangel des Begriffs der natürlichen Ursachen); eine imaginäre Psychologie (lauter Selbst-Mißverständnisse, Interpretationen angenehmer oder unangenehmer Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus, mit Hilfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie – »Reue«, »Gewissensbiß«, »Versuchung des Teufels«, »die Nähe Gottes«); eine imaginäre Teleologie (»das Reich Gottes«, »das Jüngste Gericht«, »das ewige Leben«).“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 621 bzw. 1175

„Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden, – es projiziert seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Wer reich ist, will abgeben; ein stolzes Volk braucht einen Gott, um zu opfern .... Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen Gott. – Ein solcher Gott muß nützen und schaden können, muß Freund und Feind sein können – man bewundert ihn im Guten wie im Schlimmen.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 622 bzw. 1176

„Die widernatürliche Kastration eines Gottes zu einem Gotte bloß des Guten läge hier außerhalb aller Wünschbarkeit. Man hat den bösen Gott so nötig als den guten: man verdankt ja die eigne Existenz nicht gerade der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit .... Was läge an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewalttat kennte? dem vielleicht nicht einmal die entzückenden ardeurs des Siegs und der Vernichtung bekannt wären? Man würde einen solchen Gott nicht verstehn: wozu sollte man ihn haben? – Freilich: wenn ein Volk zugrunde geht; wenn es den Glauben an Zukunft, seine Hoffnung auf Freiheit endgültig schwinden fühlt; wenn ihm die Unterwerfung als erste Nützlichkeit, die Tugenden der Unterworfenen als Erhaltungsbedingungen ins Bewußtsein treten, dann muß sich auch sein Gott verändern. Er wird jetzt Duckmäuser, furchtsam, bescheiden, rät zum »Frieden der Seele«, zum Nicht-mehr-hassen, zur Nachsicht, zur »Liebe« selbst gegen Freund und Feind. Er moralisiert beständig, er kriecht in die Höhle jeder Privattugend, wird Gott für jedermann, wird Privatmann, wird Kosmopolit .... Ehemals stellte er ein Volk, die Stärke eines Volkes, alles Aggressive und Machtdurstige aus der Seele eines Volkes dar: jetzt ist er bloß noch der gute Gott.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 622 bzw. 1176

„In der Tat, es gibt keine andre Alternative für Götter: entweder sind sie der Wille zur Macht – und so lange werden sie Volksgötter sein –, oder aber die Ohnmacht zur Macht – und dann werden sie notwendig gut.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 622 bzw. 1176

„Wo in irgendwelcher Form der Wille zur Macht niedergeht, gibt es jedesmal auch einen physiologischen Rückgang, eine décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten an ihren männlichsten Tugenden und Trieben, wird nunmehr notwendig zum Gott der Physiologisch-Zurückgezogenen, der Schwachen. Sie heißen sich selbst nicht die Schwachen, sie heißen sich »die Guten«.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 623 bzw. 1177

Verfall eines Gottes: Gott ward »Ding an sich«“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 624 bzw. 1178

„Mit meiner Verurteilung des Christentums möchte ich kein Unrecht gegen eine verwandte Religion begangen haben, die der Zahl der Bekenner nach sogar überwiegt: gegen den Buddhismus. Beide gehören als nihilistische Religionen zusammen – sie sind décadence-Religionen –, beide sind voneinander in der merkwürdigsten Weise getrennt. Daß man sie jetzt vergleichen kann, dafür ist der Kritiker des Christentums den indischen Gelehrten tief dankbar. – Der Buddhismus ist hundertmal realistischer als das Christentum – er hat die Erbschaft des objektiven und kühlen Probleme-Stellens im Leibe, er kommt nach einer Hunderte von Jahren dauernden philosophischen Bewegung; der Begriff »Gott« ist bereits abgetan, als er kommt. Der Buddhismus ist die einzige eigentlich positivistische Religion, die uns die Geschichte zeigt, auch noch in seiner Erkenntnistheorie (einem strengen Phänomenalismus –), er sagt nicht mehr »Kampf gegen die Sünde«, sondern, ganz der Wirklichkeit das Recht gebend, »Kampf gegen das Leiden«. Er hat – dies unterscheidet ihn tief vom Christentum – die Selbst-Betrügerei der Moral-Begriffe bereits hinter sich, – er steht, in meiner Sprache geredet, jenseits von Gut und Böse.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 625 bzw. 1179

„Die physiologischen Tatsachen, auf denen er ruht und die er ins Auge faßt, sind: einmal eine übergroße Reizbarkeit der Sensibilität, welche sich als raffinierte Schmerzfähigkeit ausdrückt, sodann eine Übergeistigung, ein allzulanges Leben in Begriffen und logischen Prozeduren, unter dem der Person-Instinkt zum Vorteil des »Unpersönlichen« Schaden genommen hat (– beides Zustände, die wenigstens einige meiner Leser, die »Objektiven«, gleich mir selbst, aus Erfahrung kennen weiden). Auf Grund dieser physiologischen Bedingungen ist eine Depression entstanden: gegen diese geht Buddha hygienisch vor. Er wendet dagegen das Leben im Freien an, das Wanderleben; die Mäßigung und die Wahl in der Kost; die Vorsicht gegen alle Spirituosa; die Vorsicht insgleichen gegen alle Affekte, die Galle machen, die das Blut erhitzen; keine Sorge, weder für sich, noch für andre. Er fordert Vorstellungen, die entweder Ruhe geben oder erheitern – er erfindet Mittel, die anderen sich abzugewöhnen. Er versteht die Güte, das Gütigsein als gesundheit-fördernd. Gebet ist ausgeschlossen, ebenso wie die Askese; kein kategorischer Imperativ, kein Zwang überhaupt, selbst nicht innerhalb der Klostergemeinschaft (– man kann wieder hinaus –).“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 625-626 bzw. 1179-1180

„Das alles wären Mittel, um jene übergroße Reizbarkeit zu verstärken. Eben darum fordert er auch keinen Kampf gegen Andersdenkende; seine Lehre wehrt sich gegen nichts mehr als gegen das Gefühl der Rache, der Abneigung, des ressentiment (– »nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende«: der rührende Refrain des ganzen Buddhismus...). Und das mit Recht: gerade diese Affekte wären vollkommen ungesund in Hinsicht auf die diätetische Hauptabsicht. Die geistige Ermüdung, die er vorfindet und die sich in einer allzugroßen »Objektivität« (das heißt Schwächung des Individual-Interesses, Verlust an Schwergewicht, an »Egoismus«) ausdrückt, bekämpft er mit einer strengen Zurückführung auch der geistigsten Interessen auf die Person. In der Lehre Buddhas wird der Egoismus Pflicht: das »eins ist not«, das »wie kommst du vom Leiden los« reguliert und begrenzt die ganze geistige Diät (– man darf sich vielleicht an jenen Athener erinnern, der der reinen »Wissenschaftlichkeit« gleichfalls den Krieg machte, an Sokrates, der den Personal-Egoismus auch im Reich der Probleme zur Moral erhob).“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 626 bzw. 1180

„Das Christentum will über Raubtiere Herr werden; sein Mittel ist, sie krank zu machen – die Schwächung ist das christliche Rezept zur Zähmung, zur »Zivilisation«. Der Buddhismus ist eine Religion für den Schluß und die Müdigkeit der Zivilisation, das Christentum findet sie noch nicht einmal vor – es begründet sie unter Umständen.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 628 bzw. 1182

Was ist jüdische, was ist christliche Moral? Der Zufall um seine Unschuld gebracht; das Unglück mit dem Begriff »Sünde« beschmutzt; das Wohlbefinden als Gefahr, als »Versuchung«; das physiologische Übelbefinden mit dem Gewissens-Wurm vergiftet.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 632 bzw. 1186

„Der Gottesbegriff gefälscht; der Moralbegriff gefälscht – die jüdische Priesterschaft blieb dabei nicht stehn. Man konnte die ganze Geschichte Israels nicht brauchen: fort mit ihr! – Diese Priester haben jenes Wunderwerk von Fälschung zustande gebracht, als deren Dokumente uns ein guter Teil der Bibel vorliegt: sie haben ihre eigne Volks-Vergangenheit mit einem Hohn ohnegleichen gegen jede Überlieferung, gegen jede historische Realität, ins Religiöse übersetzt, das heißt, aus ihr einen stupiden Heils-Mechanismus von Schuld gegen Javeh und Strafe, von Frömmigkeit gegen Javeh und Lohn gemacht. Wir würden diesen schmachvollsten Akt der Geschichts-Fälschung viel schmerzhafter empfinden, wenn uns nicht die kirchliche Geschichts- Interpretation von Jahrtausenden fast stumpf für die Forderungen der Rechtschaffenheit in historicis gemacht hätte. Und der Kirche sekundierten die Philosophen: die Lüge der »sittlichen Weltordnung« geht durch die ganze Entwicklung selbst der neueren Philosophie. .... Die Realität an Stelle dieser erbarmungswürdigen Lüge heißt: eine parasitische Art Mensch, die nur auf Kosten aller gesunden Bildungen des Lebens gedeiht, der Priester, mißbraucht den Namen Gottes: er nennt einen Zustand der Gesellschaft, in dem der Priester den Wert der Dinge bestimmt, »das Reich Gottes«; er nennt die Mittel, vermöge deren ein solcher Zustand erreicht oder aufrechterhalten wird, »den Willen Gottes«; er mißt, mit einem kaltblütigen Zynismus, die Völker, die Zeiten, die Einzelnen danach ab, ob sie der Priester-Übermacht nützten oder widerstrebten.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 632-633 bzw. 1186-1187

„Von nun an sind alle Dinge des Lebens so geordnet, daß der Priester überall unentbehrlich ist; in allen natürlichen Vorkommnissen des Lebens, bei der Geburt, der Ehe, der Krankheit, dem Tode, gar nicht vom »Opfer« (der Mahlzeit) zu reden, erscheint der heilige Parasit, um sie zu entnatürlichen – in seiner Sprache: zu »heiligen« .... Denn dies muß man begreifen: jede natürliche Sitte, jede natürliche Institution (Staat, Gerichtsordnung, Ehe, Kranken- und Armenpflege), jede vom Instinkt des Lebens eingegebne Forderung, kurz alles, was seinen Wert in sich hat, wird durch den Parasitismus des Priesters (oder der »sittlichen Weltordnung«) grundsätzlich wertlos, wert-widrig gemacht: es bedarf nachträglich einer Sanktion – eine wertverleihende Macht tut not, welche die Natur darin verneint, welche eben damit erst einen Wert schafft .... Der Priester entwertet, entheiligt die Natur: um diesen Preis besteht er überhaupt. – Der Ungehorsam gegen Gott, das heißt gegen den Priester, gegen »das Gesetz«, bekommt nun den Namen »Sünde«; die Mittel, sich wieder »mit Gott zu versöhnen«, sind, wie billig, Mittel, mit denen die Unterwerfung unter den Priester nur noch gründlicher gewährleistet ist: der Priester allein »erlöst« .... Psychologisch nachgerechnet, werden in jeder priesterlich organisierten Gesellschaft die »Sünden« unentbehrlich: sie sind die eigentlichen Handhaben der Macht, der Priester lebt von den Sünden, er hat nötig, daß »gesündigt« wird .... Oberster Satz: »Gott vergibt dem, der Buße tut« – auf deutsch: der sich dem Priester unterwirft.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 634 bzw. 1188

„Auf einem dergestalt falschen Boden, wo jede Natur, jeder Naturwert, jede Realität die tiefsten Instinkte der herrschenden Klasse wider sich hatte, wuchs das Christentum auf, eine Todfeindschafts-Form gegen die Realität, die bisher nicht übertroffen worden ist. Das »heilige Volk«, das für alle Dinge nur Priester-Werte, nur Priester-Worte übrig behalten hatte und mit einer Schluß-Folgerichtigkeit, die Furcht einflößen kann, alles, was sonst noch an Macht auf Erden bestand, als »unheilig«, als »Welt«, als »Sünde« von sich abgetrennt hatte – dies Volk brachte für seinen Instinkt eine letzte Formel hervor, die logisch war bis zur Selbstverneinung: es verneinte, als Christentum, noch die letzte Form der Realität, das »heilige Volk«, das »Volk der Ausgewählten«, die jüdische Realität selbst. Der Fall ist ersten Rangs: die kleine aufständische Bewegung, die auf den Namen des Jesus von Nazareth getauft wird, ist der jüdische Instinkt noch einmal – anders gesagt, der Priester-Instinkt, der den Priester als Realität nicht mehr verträgt, die Erfindung einer noch abgezogneren Daseinsform, einer noch unrealeren Vision der Welt ....“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 634-635 bzw. 1188-1189

„Dieser heilige Anarchist, der das niedere Volk, die Ausgestoßnen und »Sünder«, die Tschandala innerhalb des Judentums zum Widerspruch gegen die herrschende Ordnung aufrief – mit einer Sprache, falls den Evangelien zu trauen wäre, die auch heute noch nach Sibirien führen würde, war ein politischer Verbrecher, so weit eben politische Verbrecher in einer absurd-unpolitischen Gemeinschaft möglich waren. Dies brachte ihn ans Kreuz: der Beweis dafür ist die Aufschrift des Kreuzes. Er starb für seine Schuld – es fehlt jeder Grund dafür, so oft es auch behauptet worden ist, daß er für die Schuld andrer starb.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 635 bzw. 1189

Der Instinkt-Haß gegen die Realität .... Die Instinkt-Ausschließung aller Abneigung, aller Feindschaft, aller Grenzen und Distanzen im Gefühl .... Dies sind die zwei physiologischen Realitäten, auf denen, aus denen die Erlösungs-Lehre gewachsen ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 637-638 bzw. 1191-1192

„Der eine Gott und der eine Sohn Gottes: beides Erzeugnisse des Ressentiment.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 650 bzw. 1204

„Der Buddhismus verspricht nicht, sondern hält, das Christentum verspricht alles, aber hält nichts.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 649-650 bzw. 1203-204

„Der »frohen Botschaft« folgte auf dem Fuß die allerschlimmste: die des Paulus. In Paulus verkörpert sich der Gegensatz-Typus zum »frohen Botschafter«, das Genie im Haß, in der Vision des Hasses, in der unerbittlichen Logik des Hasses. Was hat dieser Dysangelist alles dem Hasse zum Opfer gebracht! Vor allem den Erlöser: er schlug ihn an sein Kreuz.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 650 bzw. 1204

„Wenn man das Schwergewicht des Lebens nicht ins Leben, sondern ins »Jenseits« verlegt – ins Nichts –, so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen. Die große Lüge von der Personal-Unsterblichkeit zerstört jede Vernunft, jede Natur im Instinkte – alles, was wohltätig, was lebenfördernd, was zukunftverbürgend in den Instinkten ist, erregt nunmehr Mißtrauen. So zu leben, daß es keinen Sinn mehr hat zu leben, das wird jetzt zum »Sinn« des Lebens. Wozu Gemeinsinn, wozu Dankbarkeit noch für Herkunft und Vorfahren, wozu mitarbeiten, zutrauen, irgendein Gesamtwohl fördern und im Auge haben? Ebenso viele »Versuchungen«, ebenso viele Ablenkungen vom »rechten Weg« – »eins ist not«. Daß jeder als »unsterbliche Seele« mit jedem gleichen Rang hat, daß in der Gesamtheit aller Wesen das »Heil« jedes Einzelnen eine ewige Wichtigkeit in Anspruch nehmen darf, daß kleine Mucker und Dreiviertels-Verrückte sich einbilden dürfen, daß um ihretwillen die Gesetze der Natur beständig durchbrochen werden – eine solche Steigerung jeder Art Selbstsucht ins Unendliche, ins Unverschämte kann man nicht mit genug Verachtung brandmarken. Und doch verdankt das Christentum dieser erbarmungswürdigen Schmeichelei vor der Personal-Eitelkeit seinen Sieg – gerade alles Mißratene, Aufständisch-Gesinnte, Schlechtweg-gekommne, den ganzen Auswurf und Abhub der Menschheit hat es damit zu sich überredet. Das »Heil der Seele« – auf deutsch: »die Welt dreht sich um mich« .... Das Gift der Lehre »gleiche Rechte für alle« – das Christentum hat es am grundsätzlichsten ausgesät; das Christentum hat jedem Ehrfurchts-und Distanz-Gefühl zwischen Mensch und Mensch, das heißt der Voraussetzung zu jeder Erhöhung, zu jedem Wachstum der Kultur einen Todkrieg aus den heimlichsten Winkeln schlechter Instinkte gemacht – es hat aus dem Ressentiment der Massen sich seine Hauptwaffe geschmiedet gegen uns, gegen alles Vornehme, Frohe, Hochherzige auf Erden, gegen unser Glück auf Erden. Die »Unsterblichkeit« jedem Petrus und Paulus zugestanden, war bisher das größte, das bösartigste Attentat auf die vornehme Menschlichkeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 651 bzw. 1205

Und unterschätzen wir das Verhängnis nicht, das vom Christentum aus sich bis in die Politik eingeschlichen hat! Niemand hat heute mehr den Mut zu Sonderrechten, zu Herrschaftsrechten, zu einem Ehrfurchtsgefühl vor sich und seinesgleichen – zu einem Pathos der Distanz. Unsre Politik ist krank an diesem Mangel an Mut! – Der Aristokratismus der Gesinnung wurde durch die Seelen-Gleichheits-Lüge am unterirdischsten untergraben; und wenn der Glaube an das »Vorrecht der Meisten« Revolutionen macht und machen wird – das Christentum ist es, man zweifle nicht daran, christliche Werturteile sind es, welche jede Revolution bloß in Blut und Verbrechen übersetzt! Das Christentum ist ein Aufstand alles Am-Boden-Kriechenden gegen das, was Höhe hat: das Evangelium der »Niedrigen« macht niedrig.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 651-652 bzw. 1205-1206

„Die Evangelien sind unschätzbar als Zeugnis für die bereits unaufhaltsame Korruption innerhalb der ersten Gemeinde.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 652 bzw. 1206

„Der Christ, diese ultima ratio der Lüge, ist der Jude noch einmal – dreimal selbst.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 652 bzw. 1206

„Indem sie Gott richten lassen, richten sie selber; indem sie Gott verherrlichen, verherrlichen sie sich selber ....“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 653 bzw. 1207

„Man lese die Evangelien als Bücher der Verführung mit Moral: die Moral wird von diesen kleinen Leuten mit Beschlag belegt – sie wissen, was es auf sich hat mit der Moral! Die Menschheit wird am besten genasführt mit der Moral!“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 653 bzw. 1207

„Paulus war der größte aller Apostel der Rache.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 655 bzw. 1209

„Hat man eigentlich die berühmte Geschichte verstanden, die am Anfang der Bibel steht – von der Höllenangst Gottes vor der Wissenschaft? Man hat sie nicht verstanden. Dies Priesterbuch par excellence beginnt, wie billig, mit der großen inneren Schwierigkeit des Priesters: er hat nur eine große Gefahr, folglich hat »Gott« nur eine große Gefahr.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 658 bzw. 1212

„Der alte Gott, ganz »Geist«, ganz Hoherpriester, ganz Vollkommenheit, lustwandelt in seinen Gärten: nur daß er sich langweilt. Gegen die Langeweile kämpfen Götter selbst vergebens. Was tut er? Er erfindet den Menschen – der Mensch ist unterhaltend. Aber siehe da, auch der Mensch langweilt sich. Das Erbarmen Gottes mit der einzigen Not, die alle Paradiese an sich haben, kennt keine Grenzen: er schuf alsbald noch andre Tiere. Erster Fehlgriff Gottes: der Mensch fand die Tiere nicht unterhaltend – er herrschte über sie, er wollte nicht einmal »Tier« sein. – Folglich schuf Gott das Weib. Und in der Tat, mit der Langeweile hatte es nun ein Ende – aber auch mit anderem noch! Das Weib war der zweite Fehlgriff Gottes. – »Das Weib ist seinem Wesen nach Schlange, Heva« – das weiß jeder Priester; »vom Weib kommt jedes Unheil in der Welt« – das weiß ebenfalls jeder Priester. »Folglich kommt von ihm auch die Wissenschaft«. .... Erst durch das Weib lernte der Mensch vom Baume der Erkenntnis kosten. – Was war geschehn? Den alten Gott ergriff eine Höllenangst. Der Mensch selbst war sein größter Fehlgriff geworden, er hatte sich einen Rivalen geschaffen, die Wissenschaft macht gottgleich, – es ist mit Priestern und Göttern zu Ende, wenn der Mensch wissenschaftlich wird! – Moral: die Wissenschaft ist das Verbotene an sich – sie allein ist verboten. Die Wissenschaft ist die erste Sünde, der Keim aller Sünde, die Erbsünde. Dies allein ist Moral. – »Du sollst nicht erkennen« – der Rest folgt daraus.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 658-659 bzw. 1212-1213

„Die Höllenangst Gottes verhinderte ihn nicht, klug zu sein. Wie wehrt man sich gegen die Wissenschaft? das wurde für lange sein Hauptproblem. Antwort: fort mit dem Menschen aus dem Paradiese! Das Glück, der Müßiggang bringt auf Gedanken – alle Gedanken sind schlechte Gedanken. Der Mensch soll nicht denken. – Und der »Priester an sich« erfindet die Not, den Tod, die Lebensgefahr der Schwangerschaft, jede Art von Elend, Alter, Mühsal, die Krankheit vor allem – lauter Mittel im Kampfe mit der Wissenschaft! Die Not erlaubt dem Menschen nicht, zu denken. Und trotzdem! entsetzlich! Das Werk der Erkenntnis türmt sich auf, himmelstürmend, götterandämmernd – was tun! – Der alte Gott erfindet den Krieg, er trennt die Völker, er macht, daß die Menschen sich gegenseitig vernichten (– die Priester haben immer den Krieg nötig gehabt ...). Der Krieg – unter anderem ein großer Störenfried der Wissenschaft! – Unglaublich! Die Erkenntnis, die Emanzipation vom Priester, nimmt selbst trotz Kriegen zu. – Und ein letzter Entschluß kommt dem alten Gotte: »der Mensch ward wissenschaftlich – es hilft nichts, man muß ihn ersäufen!«“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 659-660 bzw. 1213-1214

„Man hat mich verstanden. Der Anfang der Bibel enthält die ganze Psychologie des Priesters. – Der Priester kennt nur eine große Gefahr: das ist die Wissenschaft – der gesunde Begriff von Ursache und Wirkung. Aber die Wissenschaft gedeiht im ganzen nur unter glücklichen Verhältnissen – man muß Zeit, man muß Geist überflüssig haben, um zu »erkennen«. »Folglich muß man den Menschen unglücklich machen« – dies war zu jeder Zeit die Logik des Priesters. – Man errät bereits, was, dieser Logik gemäß, damit erst in die Welt gekommen ist – die »Sünde«. Der Schuld- und Strafbegriff, die ganze »sittliche Weltordnung« ist erfunden gegen die Wissenschaft – gegen die Ablösung des Menschen vom Priester. Der Mensch soll nicht hinaus-, er soll in sich hineinsehn; er soll nicht klug und vorsichtig, als Lernender, in die Dinge sehn, er soll überhaupt gar nicht sehn: er soll leiden. Und er soll so leiden, daß er jederzeit den Priester nötig hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 660 bzw. 1214

„Das Christentum steht auch im Gegensatz zu aller geistigen Wohlgeratenheit – es kann nur die kranke Vernunft als christliche Vernunft brauchen, es nimmt die Partei alles Idiotischen, es spricht den Fluch aus gegen den »Geist«, gegen die superbia des gesunden Geistes. Weil die Krankheit zum Wesen des Christentums gehört, muß auch der typisch-christliche Zustand, »der Glaube«, eine Krankheitsform sein, müssen alle geraden, rechtschaffnen, wissenschaftlichen Wege zur Erkenntnis von der Kirche als verbotene Wege abgelehnt werden. Der Zweifel bereits ist eine Sünde .... Der vollkommne Mangel an psychologischer Reinlichkeit beim Priester – im Blick sich verratend – ist eine Folgeerscheinung der décadence – man hat die hysterischen Frauenzimmer, andrerseits rachitisch angelegte Kinder darauf hin zu beobachten, wie regelmäßig Falschheit aus Instinkt, Lust zu lügen, um zu lügen, Unfähigkeit zu geraden Blicken und Schritten der Ausdruck von décadence ist. »Glaube« heißt Nicht-wissen-wollen, was wahr ist. Der Pietist, der Priester beiderlei Geschlechts, ist falsch, weil er krank ist: sein Instinkt verlangt, daß die Wahrheit an keinem Punkt zu Rechte kommt. »Was krank macht, ist gut; was aus der Fülle, aus dem Überfluß, aus der Macht kommt, ist böse«: so empfindet der Gläubige. Die Unfreiheit zur Lüge – daran errate ich jeden vorherbestimmten Theologen.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 664 bzw. 1218

„Man lasse sich nicht irreführen: große Geister sind Skeptiker. Zarathustra ist ein Skeptiker. Die Stärke, die Freiheit aus der Kraft und Überkraft des Geistes beweist sich durch Skepsis.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 666-667 bzw. 1220-1221

„Ein Geist, der Großes will, der auch die Mittel dazu will, ist mit Notwendigkeit Skeptiker. Die Freiheit von jeder Art Überzeugungen gehört zur Stärke, das Frei-Blicken-können. Die große Leidenschaft, der Grund und die Macht seines Seins, noch aufgeklärter, noch despotischer, als er selbst es ist, nimmt seinen ganzen Intellekt in Dienst; sie macht unbedenklich; sie gibt ihm Mut sogar zu unheiligen Mitteln; sie gönnt ihm unter Umständen Überzeugungen. Die Überzeugung als Mittel: vieles erreicht man nur mittelst einer Überzeugung. Die große Leidenschaft braucht, verbraucht Überzeugungen, sie unterwirft sich ihnen nicht – sie weiß sich souverän. – Umgekehrt: das Bedürfnis nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein, der Carlylismus, wenn man mir dies Wort nachsehn will, ist ein Bedürfnis der Schwäche. Der Mensch des Glaubens, der »Gläubige« jeder Art ist notwendig ein abhängiger Mensch – ein solcher, der sich nicht als Zweck, der von sich aus überhaupt nicht Zwecke ansetzen kann. Der »Gläubige« gehört sich nicht, er kann nur Mittel sein, er muß verbraucht werden, er hat jemand nötig, der ihn verbraucht. Sein Instinkt gibt einer Moral der Entselbstung die höchste Ehre: zu ihr überredet ihn alles, seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Jede Art Glaube ist selbst ein Ausdruck von Entselbstung, von Selbst-Entfremdung. Erwägt man, wie notwendig den allermeisten ein Regulativ ist, das sie von außen her bindet und fest macht, wie der Zwang, in einem höheren Sinn die Sklaverei, die einzige und letzte Bedingung ist, unter der der willensschwächere Mensch, zumal das Weib, gedeiht: so versteht man auch die Überzeugung, den »Glauben«. Der Mensch der Überzeugung hat in ihr sein Rückgrat. Viele Dinge nicht sehn, in keinem Punkte unbefangen sein, Partei sein durch und durch, eine strenge und notwendige Optik in allen Werten haben – das allein bedingt es, daß eine solche Art Mensch überhaupt besteht. Aber damit ist sie der Gegensatz, der Antagonist des Wahrhaftigen – der Wahrheit .... Dem Gläubigen steht es nicht frei, für die Frage »wahr« und »unwahr« überhaupt ein Gewissen zu haben: rechtschaffen sein an dieser Stelle wäre sofort sein Untergang. Die pathologische Bedingtheit seiner Optik macht aus dem Überzeugten den Fanatiker – Savonarola, Luther, Rousseau, Robespierre, Saint-Simon –, den Gegensatz-Typus des starken, des freigewordnen Geistes. Aber die große Attitüde dieser kranken Geister, dieser Epileptiker des Begriffs, wirkt auf die große Masse – die Fanatiker sind pittoresk, die Menschheit sieht Gebärden lieber, als daß sie Gründe hört.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 667-668 bzw. 1221-1222

„Einen Schritt weiter in der Psychologie der Überzeugung, des »Glaubens«. Es ist schon lange von mir zur Erwägung anheimgegeben worden, ob nicht die Überzeugungen gefährlichere Feinde der Wahrheit sind als die Lügen (Menschliches, Allzumenschliches I, Aphorismus 54 und 483). Diesmal möchte ich die entscheidende Frage tun: besteht zwischen Lüge und Überzeugung überhaupt ein Gegensatz? – Alle Welt glaubt es; aber was glaubt nicht alle Welt! – Eine jede Überzeugung hat ihre Geschichte, ihre Vorformen, ihre Tentativen und Fehlgriffe: sie wird Überzeugung, nachdem sie es lange nicht ist, nachdem sie es noch länger kaum ist. Wie? könnte unter diesen Embryonal-Formen der Überzeugung nicht auch die Lüge sein? – Mitunter bedarf es bloß eines Personen-Wechsels: im Sohn wird Überzeugung, was im Vater noch Lüge war. – Ich nenne Lüge: etwas nicht sehn wollen, das man sieht, etwas nicht so sehn wollen, wie man es sieht: ob die Lüge vor Zeugen oder ohne Zeugen statthat, kommt nicht in Betracht. Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt; das Belügen andrer ist relativ der Ausnahmefall. – Nun ist dies Nicht-sehn-wollen, was man sieht, dies Nicht-so-sehn-wollen, wie man es sieht, beinahe die erste Bedingung für alle, die Partei sind, in irgendwelchem Sinne: der Parteimensch wird mit Notwendigkeit Lügner.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 668 bzw. 1222

„Darf man sich noch darüber wundern, wenn, aus Instinkt, alle Parteien, auch die deutschen Historiker, die großen Worte der Moral im Munde haben – daß die Moral beinahe dadurch fortbesteht, daß der Parteimensch jeder Art jeden Augenblick sie nötig hat?“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 668-669 bzw. 1222-1223

„Es gibt Fragen, wo über Wahrheit und Unwahrheit dem Menschen die Entscheidung nicht zusteht; alle obersten Fragen, alle obersten Wert-Probleme sind jenseits der menschlichen Vernunft .... Die Grenzen der Vernunft begreifen – das erst ist wahrhaft Philosophie.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 669 bzw. 1223

„Der Mensch kann von sich nicht selber wissen, was gut und böse ist, darum lehrte ihn Gott seinen Willen. Moral: der Priester lügt nicht – die Frage »wahr« oder »unwahr« gibt es nicht in solchen Dingen, von denen Priester reden; diese Dinge erlauben gar nicht zu lügen. Denn um zu lügen, müßte man entscheiden können, was hier wahr ist. Aber das kann eben der Mensch nicht; der Priester ist damit nur das Mundstück Gottes. – Ein solcher Priester-Syllogismus ist durchaus nicht bloß jüdisch und christlich; das Recht zur Lüge und die Klugheit der »Offenbarung« gehört dem Typus Priester an, den décadence-Priestern so gut als den Heidentum-Priestern (– Heiden sind alle, die zum Leben ja sagen, denen »Gott« das Wort für das große Ja zu allen Dingen ist). – Das »Gesetz«, der »Wille Gottes«, das »heilige Buch«, die »Inspiration« – alles nur Worte für die Bedingungen, unter denen der Priester zur Macht kommt, mit denen er seine Macht aufrecht erhält – diese Begriffe finden sich auf dem Grunde aller Priester-Organisationen, aller priesterlichen oder philosophisch- priesterlichen Herrschaftsgebilde. Die »heilige Lüge«- dem Konfuzius, dem Gesetzbuch des Manu, dem Mohammed, der christlichen Kirche gemeinsam –: sie fehlt nicht bei Plato. »Die Wahrheit ist da«: dies bedeutet, wo nur es laut wird, der Priester lügt.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 669-670 bzw. 1223-1224

„Ich lese mit einem entgegengesetzten Gefühle das Gesetzbuch des Manu, ein unvergleichlich geistiges und überlegenes Werk, das mit der Bibel auch nur in einem Atem nennen eine Sünde wider den Geist wäre. Man errät sofort: es hat eine wirkliche Philosophie hinter sich, in sich, nicht bloß ein übelriechendes Judain von Rabbinismus und Aberglauben ....“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 670 bzw. 1224

„Man ertappt die Unheiligkeit der christlichen Mittel in flagranti, wenn man den christlichen Zweck einmal an dem Zweck des Manu-Gesetzbuches mißt – wenn man diesen größten Zweck-Gegensatz unter starkes Licht bringt. Es bleibt dem Kritiker des Christentums nicht erspart, das Christentum verächtlich zu machen. – Ein solches Gesetzbuch, wie das des Manu, entsteht wie jedes gute Gesetzbuch: es resümiert die Erfahrung, Klugheit und Experimental-Moral von langen Jahrhunderten, es schließt ab, es schafft nichts mehr. Die Voraussetzung zu einer Kodifikation seiner Art ist die Einsicht, daß die Mittel einer langsam und kostspielig erworbenen Wahrheit Autorität zu schaffen, grundverschieden von denen sind, mit denen man sie beweisen würde. Ein Gesetzbuch erzählt niemals den Nutzen, die Gründe, die Kasuistik in der Vorgeschichte eines Gesetzes: eben damit würde es den imperativischen Ton einbüßen, das »du sollst«, die Voraussetzung dafür, daß gehorcht wird. Das Problem liegt genau hierin. – An einem gewissen Punkte der Entwicklung eines Volks erklärt die einsichtigste, das heißt rück- und hinausblickendste Schicht desselben, die Erfahrung, nach der gelebt werden soll – das heißt kann –, für abgeschlossen. Ihr Ziel geht dahin, die Ernte möglichst reich und vollständig von den Zeiten des Experiments und der schlimmen Erfahrung heimzubringen. Was folglich vor allem jetzt zu verhüten ist, das ist das Noch-Fort-Experimentieren, die Fortdauer des flüssigen Zustands der Werte, das Prüfen, Wählen, Kritik-Üben der Werte in infinitum.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 671 bzw. 1225

„Ein Gesetzbuch nach Art des Manu aufstellen, heißt einem Volke fürderhin zugestehn, Meister zu werden, vollkommen zu werden – die höchste Kunst des Lebens zu ambitionieren. Dazu muß es unbewußt gemacht werden: dies der Zweck jeder heiligen Lüge. – Die Ordnung der Kasten, das oberste, das dominierende Gesetz, ist nur die Sanktion einer Natur-Ordnung, Natur-Gesetzlichkeit ersten Ranges, über die keine Willkür, keine »moderne Idee« Gewalt hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 672 bzw. 1226

„Es treten in jeder gesunden Gesellschaft, sich gegenseitig bedingend, drei physiologisch verschieden-gravitierende Typen auseinander, von denen jeder seine eigne Hygiene, sein eignes Reich von Arbeit, seine eigne Art Vollkommenheits-Gefühl und Meisterschaft hat. Die Natur, nicht Manu, trennt die vorwiegend Geistigen, die vorwiegend Muskel- und Temperaments-Starken und die weder im einen, noch im andern ausgezeichneten dritten, die Mittelmäßigen, voneinander ab – die letzteren als die große Zahl, die ersteren als die Auswahl. Die oberste Kaste – ich nenne sie die Wenigsten – hat als die vollkommne auch die Vorrechte der wenigsten: dazu gehört es, das Glück, die Schönheit, die Güte auf Erden darzustellen. Nur die geistigsten Menschen haben die Erlaubnis zur Schönheit, zum Schönen: nur bei ihnen ist Güte nicht Schwäche. Pulchrum est paucorum bominum: das Gute ist ein Vorrecht. Nichts kann ihnen dagegen weniger zugestanden werden als häßliche Manieren oder ein pessimistischer Blick, ein Auge, das verhäßlicht –, oder gar eine Entrüstung über den Gesamt-Aspekt der Dinge. Die Entrüstung ist das Vorrecht der Tschandala; der Pessimismus desgleichen. »Die Welt ist vollkommen« – so redet der Instinkt der Geistigsten, der jasagende Instinkt –: »die Unvollkommenheit, das Unter-uns jeder Art, die Distanz, das Pathos der Distanz, der Tschandala selbst gehört noch zu dieser Vollkommenheit.« Die geistigsten Menschen, als die Stärksten, finden ihr Glück, worin andre ihren Untergang finden würden: im Labyrinth, in der Härte gegen sich und andre, im Versuch; ihre Lust ist die Selbstbezwingung: der Asketismus wird bei ihnen Natur, Bedürfnis, Instinkt. Die schwere Aufgabe gilt ihnen als Vorrecht; mit Lasten zu spielen, die andre erdrücken, eine Erholung. Erkenntnis – eine Form des Asketismus. – Sie sind die ehrwürdigste Art Mensch: das schließt nicht aus, daß sie die heiterste, die liebenswürdigste sind. Sie herrschen, nicht weil sie wollen, sondern weil sie sind; es steht ihnen nicht frei, die zweiten zu sein. – Die zweiten: das sind die Wächter des Rechts, die Pfleger der Ordnung und der Sicherheit, das sind die vornehmen Krieger, das ist der König vor allem als die höchste Formel von Krieger, Richter und Aufrechterhalter des Gesetzes. Die zweiten sind die Exekutive der Geistigsten, das Nächste, was zu ihnen gehört, das was ihnen alles Grobe in der Arbeit des Herrschens abnimmt – ihr Gefolge, ihre rechte Hand, ihre beste Schüleschaft. – In dem allem, nochmals gesagt, ist nichts von Willkür, nichts »gemacht«; was anders ist, ist gemacht – die Natur ist dann zuschanden gemacht.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 672-673 bzw. 1226-1227

„Die Ordnung der Kasten, die Rangordnung, formuliert nur das oberste Gesetz des Lebens selbst; die Abscheidung der drei Typen ist nötig zur Erhaltung der Gesellschaft, zur Ermöglichung höherer und höchster Typen – die Ungleichheit der Rechte ist erst die Bedingung dafür, daß es überhaupt Rechte gibt. – Ein Recht ist ein Vorrecht. In seiner Art Sein hat jeder auch sein Vorrecht. Unterschätzen wir die Vorrechte der Mittelmäßigen nicht. Das Leben nach der Höhe zu wird immer härter – die Kälte nimmt zu, die Verantwortlichkeit nimmt zu.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 673 bzw. 1227

„Eine hohe Kultur ist eine Pyramide: sie kann nur auf einem breiten Boden stehn, sie hat zu allererst eine stark und gesund konsolidierte Mittelmäßigkeit zur Voraussetzung. Das Handwerk, der Handel, Ackerbau, die Wissenschaft, der größte Teil der Kunst, der ganze Inbegriff der Berufstätigkeit mit einem Wort, verträgt sich durchaus nur mit einem Mittelmaß im Können und Begehren; dergleichen wäre deplaziert unter Ausnahmen, der dazugehörige Instinkt widerspräche sowohl dem Aristokratismus als dem Anarchismus.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 673-674 bzw. 1227-1228

„Daß man ein öffentlicher Nutzen ist, ein Rad, eine Funktion, dazu gibt es eine Naturbestimmung: nicht die Gesellschaft, die Art Glück, deren die allermeisten bloß fähig sind, macht aus ihnen intelligente Maschinen. Für den Mittelmäßigen ist mittelmäßig sein ein Glück; die Meisterschaft in einem, die Spezialität ein natürlicher Instinkt. Es würde eines tieferen Geistes vollkommen unwürdig sein, in der Mittelmäßigkeit an sich schon einen Einwand zu sehn. Sie ist selbst die erste Notwendigkeit dafür, daß es Ausnahmen geben darf: eine hohe Kultur ist durch sie bedingt. Wenn der Ausnahme-Mensch gerade die Mittelmäßigen mit zarteren Fingern handhabt, als sich und seinesgleichen, so ist dies nicht bloß Höflichkeit des Herzens – es ist einfach seine Pflicht.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 674 bzw. 1228

„Wen hasse ich unter dem Gesindel von Heute am besten? Das Sozialisten-Gesindel, die Tschandala-Apostel, die den Instinkt, die Lust, das Genügsamkeits-Gefühl des Arbeiters mit seinem kleinen Sein untergraben – die ihn neidisch machen, die ihn Rache lehren .... Das Unrecht liegt niemals in ungleichen Rechten, es liegt im Anspruch auf »gleiche« Rechte. Was ist schlecht? Aber ich sagte es schon: alles, was aus Schwäche, aus Neid, aus Rache stammt. – Der Anarchist und der Christ sind einer Herkunft.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 674 bzw. 1228

„In der Tat, es macht einen Unterschied, zu welchem Zweck man lügt: ob man damit erhält oder zerstört. Man darf zwischen Christ und Anarchist eine vollkommne Gleichung aufstellen: ihr Zweck, ihr Instinkt geht nur auf Zerstörung.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 674 bzw. 1228

„Der Christ und der Anarchist: beide décadents, beide unfähig, anders als auflösend, vergiftend, verkümmernd, blutaussaugend zu wirken, beide der Instinkt des Todhasses gegen alles, was steht, was groß dasteht, was Dauer hat, was dem Leben Zukunft verspricht. Das Christentum war der Vampyr des Imperium Romanum – es hat die ungeheure Tat der Römer, den Boden für eine große Kultur zu gewinnen, die Zeit hat, über Nacht ungetan gemacht. – Versteht man es immer noch nicht? Das Imperium Romanum, das wir kennen, das uns die Geschichte der römischen Provinz immer besser kennen lehrt, dies bewunderungswürdigste Kunstwerk des großen Stils, war ein Anfang, sein Bau war berechnet, sich mit Jahrtausenden zu beweisen – es ist bis heute nie so gebaut, nie auch nur geträumt worden, in gleichem Maße sub specie aeterni zu bauen! – Diese Organisation war fest genug, schlechte Kaiser auszuhalten: der Zufall von Personen darf nichts in solchen Dingen zu tun haben – erstes Prinzip aller großen Architektur. Aber sie war nicht fest genug gegen die korrupteste Art Korruption, gegen den Christen. Dies heimliche Gewürm, das sich in Nacht, Nebel und Zweideutigkeit an alle Einzelnen heranschlich und jedem einzelnen den Ernst für wahre Dinge, den Instinkt überhaupt für Realitäten aussog, diese feige, femininische und zuckersüße Bande hat Schritt für Schritt die »Seelen« diesem ungeheuren Bau entfremdet – jene wertvollen, jene männlich-vornehmen Naturen, die in der Sache Roms ihre eigne Sache, ihren eignen Ernst, ihren eignen Stolz empfanden. Diese Mucker-Schleicherei, die Konventikel-Heimlichkeit, düstere Begriffe wie Hölle, wie Opfer des Unschuldigen, wie unio mystica im Bluttrinken, vor allem das langsam aufgeschürte Feuer der Rache, der Tschandala-Rache – das wurde Herr über Rom, dieselbe Art von Religion, der in ihrer Präexistenz-Form schon Epikur den Krieg gemacht hatte. Man lese Lukrez, um zu begreifen, was Epikur bekämpft hat, nicht das Heidentum, sondern »das Christentum«, will sagen die Verderbnis der Seelen durch den Schuld-, durch den Straf- und Unsterblichkeits-Begriff. – Er bekämpfte die unterirdischen Kulte, das ganze latente Christentum – die Unsterblichkeit zu leugnen war damals schon eine wirkliche Erlösung. – Und Epikur hätte gesiegt, jeder achtbare Geist im römischen Reich war Epikureer: da erschien Paulus. Paulus, der Fleisch-, der Genie-gewordne Tschandala-Haß gegen Rom, gegen »die Welt«, der Jude, der ewige Jude par excellence. Was er erriet, das war, wie man mit Hilfe der kleinen sektiererischen Christen-Bewegung abseits des Judentums einen »Weltbrand« entzünden könne, wie man mit dem Symbol »Gott am Kreuze« alles Unten-Liegende, alles Heimlich-Aufrührerische, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtriebe im Reich, zu einer ungeheuren Macht aufsummieren könne. »Das Heil kommt von den Juden.« – Das Christentum als Formel, um die unterirdischen Kulte aller Art, die des Osiris, der großen Mutter, des Mithras zum Beispiel, zu überbieten – und zu summieren: in dieser Einsicht besteht das Genie des Paulus. Sein Instinkt war darin so sicher, daß er die Vorstellungen, mit denen jene Tschandala-Religionen faszinierten, mit schonungsloser Gewalttätigkeit an der Wahrheit dem »Heilande« seiner Erfindung in den Mund legte, und nicht nur in den Mund – daß er aus ihm etwas machte, das auch ein Mithras-Priester verstehn konnte. Dies war sein Augenblick von Damaskus: er begriff, daß er den Unsterblichkeits-Glauben nötig hatte, um »die Welt« zu entwerten, daß der Begriff »Hölle« über Rom noch Herr wird – daß man mit dem »Jenseits« das Leben tötet. Nihilist und Christ: das reimt sich, das reimt sich nicht bloß.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 675-676 bzw. 1229-1230

„Die ganze Arbeit der antiken Welt umsonst: ich habe kein Wort dafür, das mein Gefühl über etwas so Ungeheures ausdrückt. – Und in Anbetracht, daß ihre Arbeit eine Vorarbeit war, daß eben erst der Unterbau zu einer Arbeit von Jahrtausenden mit granitnem Selbstbewußtsein gelegt war, der ganze Sinn der antiken Welt umsonst! Wozu Griechen? wozu Römer? – Alle Voraussetzungen zu einer gelehrten Kultur, alle wissenschaftlichen Methoden waren bereits da, man hatte die große, die unvergleichliche Kunst, gut zu lesen, bereits festgestellt – diese Voraussetzung zur Tradition der Kultur, zur Einheit der Wissenschaft; die Naturwissenschaft, im Bunde mit Mathematik und Mechanik, war auf dem allerbesten Wege – der Tatsachen-Sinn, der letzte und wertvollste aller Sinne, hatte seine Schulen, seine bereits Jahrhunderte alte Tradition! Versteht man das? Alles Wesentliche war gefunden, um an die Arbeit gehn zu können – die Methoden, man muß es zehnmal sagen, sind das Wesentliche, auch das Schwierigste, auch das, was am längsten die Gewohnheiten und Faulheiten gegen sich hat. Was wir heute, mit unsäglicher Selbstbezwingung – denn wir haben alle die schlechten Instinkte, die christlichen, irgendwie noch im Leibe – uns zurückerobert haben, den freien Blick vor der Realität, die vorsichtige Hand, die Geduld und den Ernst im Kleinsten, die ganze Rechtschaffenheit der Erkenntnis – sie war bereits da! vor mehr als zwei Jahrtausenden bereits! Und, dazu gerechnet, der gute, der feine Takt und Geschmack! Nicht als Gehirn-Dressur!“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 676-677 bzw. 1230-1231

Alles umsonst! Über Nacht bloß noch eine Erinnerung! – Griechen! Römer! die Vornehmheit des Instinkts, der Geschmack, die methodische Forschung, das Genie der Organisation und Verwaltung, der Glaube, der Wille zur Menschen-Zukunft, das große Ja zu allen Dingen als Imperium Romanum sichtbar, für alle Sinne sichtbar, der große Stil nicht mehr bloß Kunst, sondern Realität, Wahrheit, Leben geworden. – Und nicht durch ein Natur-Ereignis über Nacht verschüttet! Nicht durch Germanen und andre Schwerfüßler niedergetreten! Sondern von listigen, heimlichen, unsichtbaren, blutarmen Vampyren zuschanden gemacht! Nicht besiegt – nur ausgesogen! Die versteckte Rachsucht, der kleine Neid Herr geworden! Alles Erbärmliche, Ansich-Leidende, Von-schlechten-Gefühlen-Heimgesuchte, die ganze Ghetto-Welt der Seele mit einem Male obenauf!
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 677 bzw. 1231

„Man lese nur irgendeinen christlichen Agitator, den heiligen Augustin zum Beispiel, um zu begreifen, um zu riechen, was für unsaubere Gesellen damit obenauf gekommen sind. Man würde sich ganz und gar betrügen, wenn man irgendwelchen Mangel an Verstand bei den Führern der christlichen Bewegung voraussetzte – oh, sie sind klug, klug, bis zur Heiligkeit, diese Herren Kirchenväter! Was ihnen abgeht, ist etwas ganz anderes. Die Natur hat sie vernachlässigt – sie vergaß, ihnen eine bescheidne Mitgift von achtbaren, von anständigen, von reinlichen Instinkten mitzugeben. Unter uns, es sind nicht einmal Männer. Wenn der Islam das Christentum verachtet, so hat er tausendmal recht dazu: der Islam hat Männer zur Voraussetzung.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 677-678 bzw. 1231-1232

„Das Christentum hat uns um die Ernte der antiken Kultur gebracht, es hat uns später wieder um die Ernte der Islam-Kultur gebracht. Die wunderbare maurische Kultur-Welt Spaniens, uns im Grunde verwandter, zu Sinn und Geschmack redender als Rom und Griechenland, wurde niedergetreten (– ich sage nicht von was für Füßen –), warum? weil sie vornehmen, weil sie Männer-Instinkten ihre Entstehung verdankte, weil sie zum Leben ja sagte auch noch mit den seltnen und raffinierten Kostbarkeiten des maurischen Lebens! Die Kreuzritter bekämpften später etwas, vor dem sich in den Staub zu legen ihnen besser angestanden hätte – eine Kultur, gegen die sich selbst unser neunzehntes Jahrhundert sehr arm, sehr »spät« vorkommen dürfte. – Freilich, sie wollten Beute machen: der Orient war reich. Man sei doch unbefangen! Kreuzzüge – die höhere Seeräuberei, weiter nichts!“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 678 bzw. 1232

„An sich sollte es ja keine Wahl geben, angesichts von Islam und Christentum, so wenig als angesichts eines Arabers und eines Juden. Die Entscheidung ist gegeben; es steht niemandem frei, hier noch zu wählen. Entweder ist man ein Tschandala, oder man ist es nicht. »Krieg mit Rom aufs Messer! Friede, Freundschaft mit dem Islam«: so empfand, so tat jener große Freigeist, das Genie unter den deutschen Kaisern, Friedrich der Zweite? Wie? muß ein Deutscher erst Genie, erst Freigeist sein, um anständig zu empfinden? Ich begreife nicht, wie ein Deutscher je christlich empfinden konnte.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 678-679 bzw. 1232-1233

„Die Umwertung der christlichen Werte, der Versuch, mit allen Mitteln, mit allen Instinkten, mit allem Genie unternommen, die Gegen-Werte, die vornehmen Werte zum Sieg zu bringen.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 679 bzw. 1233

„Ich sehe eine Möglichkeit vor mir von einem vollkommen überirdischen Zauber und Farbenreiz – es scheint mir, daß sie in allen Schaudern raffinierter Schönheit erglänzt, daß eine Kunst in ihr am Werke ist, so göttlich, so teufelsmäßig-göttlich, daß man Jahrtausende umsonst nach einer zweiten solchen Möglichkeit durchsucht; ich sehe ein Schauspiel, so sinnreich, so wunderbar paradox zugleich, daß alle Gottheiten des Olymps einen Anlaß zu einem unsterblichen Gelächter gehabt hätten – Cesare Borgia als Papst. Versteht man mich? Wohlan, das wäre der Sieg gewesen, nach dem ich heute allein verlange –: damit war das Christentum abgeschafft! – Was geschah? Ein deutscher Mönch, Luther, kam nach Rom. Dieser Mönch, mit allen rachsüchtigen Instinkten eines verunglückten Priesters im Leibe, empörte sich in Rom gegen die Renaissance. Statt mit tiefster Dankbarkeit das Ungeheure zu verstehn, das geschehen war, die Überwindung des Christentums an seinem Sitz –, verstand sein Haß aus diesem Schauspiel nur seine Nahrung zu ziehn. Ein religiöser Mensch denkt nur an sich. – Luther sah die Verderbnis des Papsttums, während gerade das Gegenteil mit Händen zu greifen war: die alte Verderbnis, das peccatum originale, das Christentum saß nicht mehr auf dem Stuhl des Papstes! Sondern das Leben! Sondern der Triumph des Lebens! Sondern das große Ja zu allen hohen, schönen, verwegenen Dingen! Und Luther stellte die Kirche wieder her: er griff sie an .... Die Renaissance – ein Ereignis ohne Sinn, ein großes Umsonst!
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 679-680 bzw. 1233-1234

„Hiermit bin ich am Schluß und spreche mein Urteil. Ich verurteile das Christentum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Korruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Korruption gehabt. Die christliche Kirche ließ nichts mit ihrer Verderbnis unberührt, sie hat aus jedem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht. Man wage es noch, mir von ihren »humanitären« Segnungen zu reden! Irgendeinen Notstand abschaffen ging wider ihre tiefste Nützlichkeit: sie lebte von Notständen, sie schuf Notstände, um sich zu verewigen. Der Wurm der Sünde zum Beispiel: mit diesem Notstande hat erst die Kirche die Menschheit bereichert! – Die »Gleichheit der Seelen vor Gott«, diese Falschheit, dieser Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Prinzip der ganzen Gesellschafts-Ordnung geworden ist – ist christlicher Dynamit. »Humanitäre« Segnungen des Christentums! Aus der humanitas einen Selbst-Widerspruch, eine Kunst der Selbstschändung, einen Willen zur Lüge um jeden Preis, einen Widerwillen, eine Verachtung aller guten und rechtschaffnen Instinkte herauszuzüchten! Das wären mir Segnungen des Christentums! – Der Parasitismus als einzige Praxis der Kirche; mit ihrem Bleichsuchts-, ihrem »Heiligkeits«-Ideale jedes Blut, jede Liebe, jede Hoffnung zum Leben austrinkend; das Jenseits als Wille zur Verneinung jeder Realität; das Kreuz als Erkennungszeichen für die unterirdischste Verschwörung, die es je gegeben hat – gegen Gesundheit, Schönheit, Wohlgeratenheit, Tapferkeit, Geist, Güte der Seele, gegen das Leben selbst.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 680-681 bzw. 1234-1235

„Diese ewige Anklage des Christentums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur Wände gibt – ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen .... Ich heiße das Christentum den einen großen Fluch, die eine große innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist – ich heiße es den einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit ....“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 681 bzw. 1235

„Und man rechnet die Zeit nach dem dies nefastus, mit dem dies Verhängnis anhob – nach dem ersten Tag des Christentums! – Warum nicht lieber nach seinem letzten? – Nach heute? – Umwertung aller Werte!“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 681 bzw. 1235

„Gesetz wider das Christentum. Gegeben am Tage des Heils, am ersten Tage des Jahres Eins (- am 30. September 1888 der falschen Zeitrechnung). Todkrieg gegen das Laster: das Laster ist das Christentum. —   E r s t e r    S a t z .  -  Lasterhaft ist jede Art Widernatur. Die lasterhafteste Art Mensch ist der Priester: er lehrt die Widernatur. Gegen den Priester hat man nicht Gründe, man hat das Zuchthaus.   Z w e i t e r    S a t z .  -  Jede Teilnahme an einem Gottesdienste ist ein Attentat auf die öffentliche Sittlichkeit. Man soll härter gegen Protestanten als gegen Katholiken sein, härter gegen liberale Protestanten als gegen strenggläubige. Das Verbrecherische im Christ-sein nimmt in dem Maße zu, als man sich der Wissenschaft nähert. Der Verbrecher der Verbrecher ist folglich der Philosoph.   D r i t t e r    S a t z .  -  Die fluchwürdige Stätte, auf der das Christentum seine Basilisken-Eier gebrütet hat, soll dem Erdboden gleich gemacht werden und als verruchte Stelle der Erde der Schrecken aller Nachwelt sein. Man soll giftige Schlangen auf ihr züchten.   V i e r t e r    S a t z .  -  Die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff »unrein« ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.  F ü n f t e r    S a t z .  -  Mit einem Priester an einem Tisch essen stößt aus: man exkommuniziert sich damit aus der rechtschaffnen Gesellschaft. Der Priester ist unser Tschandala, - man soll ihn verfehmen, aushungern, in jede Art Wüste treiben.  S e c h s t e r    S a t z .  -  Man soll die »heilige« Geschichte mit dem Namen nennen, den sie verdient, als verfluchte Geschichte; man soll die Worte »Gott«, »Heiland«, »Erlöser«, »Heiliger« zu Schimpfworten, zu Verbrecher-Abzeichen benutzen.  S i e b e n t e r    S a t z .  -  Der Rest folgt daraus.“
Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke, 6. Abteilung, 3. Band, S. 252 (Anhang)

„Das letzte, was ich versprechen würde, wäre, die Menschheit zu »verbessern«. Von mir werden keine neuen Götzen aufgerichtet; die alten mögen lernen, was es mit tönernen Beinen auf sich hat. Götzen (mein Wort für »Ideale«) umwerfen – das gehört schon eher zu meinem Handwerk. Man hat die Realität in dem Grade um ihren Wert, ihren Sinn, ihre Wahrhaftigkeit gebracht, als man eine ideale Welt erlog. Die »wahre Welt« und die »scheinbare Welt« – auf deutsch: die erlogne Welt und die Realität. Die Lüge des Ideals war bisher der Fluch über die Realität, die Menschheit selbst ist durch sie bis in ihre untersten Instinkte hinein verlogen und falsch geworden – bis zur Anbetung der umgekehrten Werte, als die sind, mit denen ihr erst das Gedeihen, die Zukunft, das hohe Recht auf Zukunft verbürgt wäre.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 4

„Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann getan war. Aus einer langen Erfahrung, welche eine solche Wanderung im Verbotenen gab, lernte ich die Ursachen, aus denen bisher moralisiert und idealisiert wurde, sehr anders ansehn, als es erwünscht sein mag: die verborgene Geschichte der Philosophen, die Psychologie ihrer großen Namen kam für mich ans Licht. – Wieviel Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Wertmesser. Irrtum (– der Glaube ans Ideal –) ist nicht Blindheit, Irrtum ist Feigheit. Jede Errungenschaft, jeder Schritt vorwärts in der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich .... Ich widerlege die Ideale nicht, ich ziehe bloß Handschuhe vor ihnen an. Nitimur in vetitum: in diesem Zeichen siegt einmal meine Philosophie, denn man verbot bisher grundsätzlich immer nur die Wahrheit.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 4-5

„Hier redet kein »Prophet«, keiner jener schauerlichen Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht, die man Religionsstifter nennt. Man muß vor allem den Ton, der aus diesem Munde kommt, diesen halkyonischen Ton richtig hören, um dem Sinn seiner Weisheit nicht erbarmungswürdig unrecht zu tun. »Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen, Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt –«“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 5

„Die Feigen fallen von den Bäumen, sie sind gut und süß: und indem sie fallen, reißt ihnen die rote Haut. Ein Nordwind bin ich reifen Feigen. Also, gleich Feigen, fallen euch diese Lehren zu, meine Freunde: nun trinkt ihren Saft und ihr süßes Fleisch! Herbst ist es umher und reiner Himmel und Nachmittag.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 6

„Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht »gepredigt«, hier wird nicht Glauben verlangt: aus einer unendlichen Lichtfülle und Glückstiefe fällt Tropfen für Tropfen, Wort für Wort – eine zärtliche Langsamkeit ist das Tempo dieser Reden. Dergleichen gelangt nur zu den Auserwähltesten; es ist ein Vorrecht ohnegleichen, hier Hörer zu sein; es steht niemandem frei, für Zarathustra Ohren zu haben. Ist Zarathustra mit alledem nicht ein Verführer?. Aber was sagt er doch selbst, als er zum ersten Male wieder in seine Einsamkeit zurückkehrt? Genau das Gegenteil von dem, was irgendein »Weiser«, »Heiliger«, »Welt-Erlöser« und andrer décadent in einem solchen Falle sagen würde .... Er redet nicht nur anders, er ist auch anders.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 6

„Allein gehe ich nun, meine Jünger! Auch ihr geht nun davon und allein! So will ich es.Geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch: schämt euch seiner! Vielleicht betrog er euch. Der Mensch der Erkenntnis muß nicht nur seine Feinde lieben, er muß auch seine Freunde hassen können.Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen?Ihr verehrt mich: aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages umfällt? Hütet euch, daß euch nicht eine Bildsäule erschlage!Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen, aber was liegt an allen Gläubigen!Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So tun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben.Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 6-7

„Ein Arzt, der mich länger als Nervenkranken behandelte, sagte schließlich: »Nein! an Ihren Nerven liegt's nicht, ich selber bin nur nervös«.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 11

„Eine lange, allzulange Reihe von Jahren bedeutet bei mir Genesung – sie bedeutet leider auch zugleich Rückfall, Verfall, Periodik einer Art décadence. Brauche ich, nach alledem, zu sagen, daß ich in Fragen der décadence erfahren bin? Ich habe sie vorwärts und rückwärts buchstabiert. Selbst jene Filigran-Kunst des Greifens und Begreifens überhaupt, jene Finger für nuances, jene Psychologie des »Um-die-Ecke-sehns« und was sonst mir eignet, ward damals erst erlernt, ist das eigentliche Geschenk jener Zeit, in der alles sich bei mir verfeinerte, die Beobachtung selbst wie alle Organe der Beobachtung. Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werten, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewißheit des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts – das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgendworin wurde ich darin Meister. Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine »Umwertung der Werte« überhaupt möglich ist.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 11-12

„Abgerechnet nämlich, daß ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz. Mein Beweis dafür ist, unter anderem, daß ich instinktiv gegen die schlimmen Zustände immer die rechten Mittel wählte: während der décadent an sich immer die ihm nachteiligen Mittel wählt. Als summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Spezialität war ich décadent.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 12

„Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selber wieder gesund: die Bedingung dazu – jeder Physiologe wird das zugeben – ist, daß man im Grunde gesund ist. Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen; für einen typisch Gesunden kann umgekehrt Kranksein sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehrleben sein. So in der Tat erscheint mir jetzt jene lange Krankheits-Zeit: ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ich schmeckte alle guten und selbst kleinen Dinge, wie sie andre nicht leicht schmecken könnten – ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie. Denn man gebe acht darauf: die Jahre meiner niedrigsten Vitalität waren es, wo ich aufhörte, Pessimist zu sein: der Instinkt der Selbst-Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie der Armut und Entmutigung.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 12-13

„Meine Erfahrungen geben mir ein Anrecht auf Mißtrauen überhaupt hinsichtlich der sogenannten »selbstlosen« Triebe, der gesamten zu Rat und Tat bereiten »Nächstenliebe«. Sie gilt mir an sich als Schwäche, als Einzelfall der Widerstands-Unfähigkeit gegen Reize – das Mitleiden heißt nur bei décadents eine Tugend. Ich werfe den Mitleidigen vor, daß ihnen die Scham, die Ehrfurcht, das Zartgefühl vor Distanzen leicht abhanden kommt, daß Mitleiden im Handumdrehn nach Pöbel riecht und schlechten Manieren zum Verwechseln ähnlich sieht – daß mitleidige Hände unter Umständen geradezu zerstörerisch in ein großes Schicksal, in eine Vereinsamung unter Wunden, in ein Vorrecht auf schwere Schuld hineingreifen können. Die Überwindung des Mitleids rechne ich unter die vornehmen Tugenden: ich habe als »Versuchung Zarathustras« einen Fall gedichtet, wo ein großer Notschrei an ihn kommt, wo das Mitleiden wie eine letzte Sünde ihn überfallen, ihn von sich abspenstig machen will. Hier Herr bleiben, hier die Höhe seiner Aufgabe rein halten von den viel niedrigeren und kurzsichtigeren Antrieben, welche in den sogenannten selbstlosen Handlungen tätig sind, das ist die Probe, die letzte Probe vielleicht, die ein Zarathustra abzulegen hat -sein eigentlicher Beweis von Kraft.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 16-17

„Auch noch in einem anderen Punkte bin ich bloß mein Vater noch einmal und gleichsam sein Fortleben nach einem allzufrühen Tode. Gleich jedem, der nie unter seinesgleichen lebte und dem der Begriff »Vergeltung« so unzugänglich ist wie etwa der Begriff »gleiche Rechte«, verbiete ich mir in Fällen, wo eine kleine oder sehr große Torheit an mir begangen wird, jede Gegenmaßregel, jede Schutzmaßregel – wie billig, auch jede Verteidigung, jede »Rechtfertigung«. Meine Art Vergeltung besteht darin, der Dummheit so schnell wie möglich eine Klugheit nachzuschicken: so holt man sie vielleicht noch ein.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 17

„Die Freiheit vom Ressentiment, die Aufklärung über das Ressentiment – wer weiß, wie sehr ich zuletzt auch darin meiner langen Krankheit zu Dank verpflichtet bin!“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 18

„Kranksein ist eine Art Ressentiment selbst.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 18

„Das Ressentiment ist das Verbotene an sich für den Kranken – sein Böses: leider auch sein natürlichster Hang. – Das begriff jener tiefe Physiolog Buddha. Seine »Religion«, die man besser als eine Hygiene bezeichnen dürfte, um sie nicht mit so erbarmungswürdigen Dingen wie das Christentum ist, zu vermischen, machte ihre Wirkung abhängig von dem Sieg über das Ressentiment: die Seele davon frei machen – erster Schritt zur Genesung. »Nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende, durch Freundschaft kommt Feindschaft zu Ende«: das steht am Anfang der Lehre Buddhas – so redet nicht die Moral, so redet die Physiologie“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 18-19

„Wer den Ernst kennt, mit dem meine Philosophie den Kampf mit den Rach- und Nachgefühlen bis in die Lehre vom »freien Willen« hinein aufgenommen hat – der Kampf mit dem Christentum ist nur ein Einzelfall daraus –, wird verstehn, weshalb ich mein persönliches Verhalten, meine Instinkt-Sicherheit in der Praxis hier gerade ans Licht stelle. In den Zeiten der décadence verbot ich sie mir als schädlich; sobald das Leben wieder reich und stolz genug dazu war, verbot ich sie mir als unter mir.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 19

„Sich selbst wie ein Fatum nehmen, nicht sich »anders« wollen – das ist in solchen Zuständen die große Vernunft selbst.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 19

„Das Weib zum Beispiel ist rachsüchtig: das ist in seiner Schwäche bestimmt, so gut wie seine Reizbarkeit für fremde Not.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 20

Wenn ich dem Christenthum den Krieg mache, so steht dies mir zu, weil ich von dieser Seite aus keine Fatalitäten und Hemmungen erlebt habe, - die ernstesten Christen sind mir immer gewogen gewesen. Ich selber, ein Gegner des Christenthums de rigueur, bin ferne davon, es dem Einzelnen nachzutragen, was das Verhängniss von Jahrtausenden ist.
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 21-22

Darf ich noch einen letzten Zug meiner Natur anzudeuten wagen, der mir im Umgang mit Menschen keine kleine Schwierigkeit macht?  Mir eignet eine vollkommen unheimliche Reizbarkeit des Reinlichkeits-Instinkts, so daß ich die Nähe oder - was sage ich ?  - das Innerlichste, die »Eingeweide« jeder Seele physiologisch wahrnehme - rieche .... Ich habe an dieser Reizbarkeit psychologische Fühlhörner .... Das macht mir aus dem Verkehr mit Menschen keine kleine Gedulds-Probe; meine Humanität besteht nicht darin, mitzufühlen, wie der Mensch ist, sondern es auszuhalten, daß ich ihn mitfühle .... Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung. - Aber ich habe Einsamkeit nöthig, will sagen, Genesung, Rückkehr zu mir, den Athem einer freien leichten spielenden Luft .... Mein ganzer Zarathustra ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit, oder, wenn man mich verstanden hat, auf die Reinheit .... - Der Ekel am Menschen, am »Gesindel« war immer meine grösste Gefahr .... Will man die Worte hören, in denen Zarathustra von der Erlösung vom Ekel redet?
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 21-22

„Es ist mir gänzlich entgangen, inwiefern ich »sündhaft« sein sollte. Insgleichen fehlt mir ein zuverlässiges Kriterium dafür, was ein Gewissensbiß ist: nach dem, was man darüber hört, scheint mir ein Gewissensbiß nichts Achtbares.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 24

„Gott ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelikatesse gegen uns Denker –, im Grunde sogar bloß ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken!“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 25

„In der Tat, ich habe bis zu meinen reifsten Jahren immer nur schlecht gegessen – moralisch ausgedrückt »unpersönlich«, »selbstlos«, »altruistisch«, zum Heil der Köche und andrer Mitchristen. Ich verneinte zum Beispiel durch Leipziger Küche, gleichzeitig mit meinem ersten Studium Schopenhauers (1865), sehr ernsthaft meinen »Willen zum Leben«.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 25

„Es steht niemandem frei, überall zu leben ....“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 27-28

„Die Krankheit brachte mich erst zur Vernunft.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 29

„Die Skeptiker, der einzige ehrenwerte Typus unter dem so zwei- bis fünfdeutigen Volk der Philosophen!“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 30

„Ich selbst habe irgendwo gesagt: was war der größte Einwand gegen das Dasein bisher? Gott ....“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 32

Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süssen und leidenschaftlichen Musik. Er besaß jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommene nicht zu denken vermag ....
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 32

„Nicht der Zweifel, die Gewißheit ist das, was wahnsinnig macht.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 33

„Und zum Teufel, meine Herrn Kritiker! Gesetzt, ich hätte meinen Zarathustra auf einen fremden Namen getauft, zum Beispiel auf den von Richard Wagner, der Scharfsinn von zwei Jahrtausenden hätte nicht ausgereicht, zu erraten, daß der Verfasser von »Menschliches, Allzumenschliches« der Visionär des Zarathustra ist.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 33

„Hier, wo ich von den Erholungen meines Lebens rede, habe ich ein Wort nötig, um meine Dankbarkeit für das auszudrücken, was mich in ihm bei weitem am tiefsten und herzlichsten erholt hat. Dies ist ohne allen Zweifel der intimere Verkehr mit Richard Wagner gewesen. Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen billig; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle – der tiefen Augenblicke. Ich weiß nicht, was andre mit Wagner erlebt haben: über unsern Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 34

Alles erwogen, hätte ich meine Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnersche Musik. Denn ich war verurteilt zu Deutschen. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nötig. Wohlan, ich hatte Wagner nötig. Wagner ist das Gegengift gegen alles Deutsche par excellence – Gift, ich bestreite es nicht .... Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab – mein Kompliment, Herr von Bülow! –, war ich Wagnerianer. Die älteren Werke Wagners sah ich unter mir – noch zu gemein, zu »deutsch«. Aber ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Faszination, von einer gleich schauerlichen und süßen Unendlichkeit, wie der Tristan ist – ich suche in allen Künsten vergebens. Alle Fremdheiten Leonardo da Vincis entzaubern sich beim ersten Tone des Tristan. Dies Werk ist durchaus das non plus ultra Wagners; er erholte sich von ihm mit den Meistersingern und dem Ring. Gesünder werden – das ist ein Rückschritt bei einer Natur wie Wagner. Ich nehme es als Glück ersten Rangs, zur rechten Zeit gelebt und gerade unter Deutschen gelebt zu haben, um reif für dies Werk zu sein: so weit geht bei mir die Neugierde des Psychologen. Die Welt ist arm für den, der niemals krank genug für diese »Wollust der Hölle« gewesen ist: es ist erlaubt, es ist fast geboten, hier eine Mystiker-Formel anzuwenden. – Ich denke, ich kenne besser als irgend jemand das Ungeheure, das Wagner vermag, die fünfzig Welten fremder Entzückungen, zu denen niemand außer ihm Flügel hatte; und so wie ich bin, stark genug, um mir auch das Fragwürdigste und Gefährlichste noch zum Vorteil zu wenden und damit stärker zu werden, nenne ich Wagner den großen Wohltäter meines Lebens. Das, worin wir verwandt sind, daß wir tiefer gelitten haben, auch aneinander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsre Namen ewig wieder zusammenbringen ....
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 35-36

„Ich sage noch ein Wort für die ausgesuchtesten Ohren: was ich eigentlich von der Musik will. Daß sie heiter und tief ist, wie ein Nachmittag im Oktober. Daß sie eigen, ausgelassen, zärtlich, ein kleines süßes Weib von Niedertracht und Anmut ist.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 36

„Das Abwehren, das Nicht-heran-kommen-lassen ist eine Ausgabe – man täusche sich hierüber nicht –, eine zu negativen Zwecken verschwendete Kraft. Man kann, bloß in der beständigen Not der Abwehr, schwach genug werden, um sich nicht mehr wehren zu können.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 38

„Der Gelehrte gibt seine ganze Kraft im Ja- und Neinsagen, in der Kritik von bereits Gedachtem ab – er selber denkt nicht mehr. Der Instinkt der Selbstverteidigung ist bei ihm mürbe geworden; im anderen Falle würde er sich gegen Bücher wehren. Der Gelehrte – ein décadent. – Das habe ich mit Augen gesehn: begabte, reich und frei angelegte Naturen schon in den dreißiger Jahren »zuschanden gelesen«, bloß noch Streichhölzer, die man reiben muß, damit sie Funken – »Gedanken« geben. – Frühmorgens beim Anbruch des Tags, in aller Frische, in der Morgenröte seiner Kraft, ein Buch lesen – das nenne ich lasterhaft!“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 39

„An dieser Stelle ist nicht mehr zu umgehn, die eigentliche Antwort auf die Frage, wie man wird, was man ist, zu geben. Und damit berühre ich das Meisterstück in der Kunst der Selbsterhaltung – der Selbstsucht. Angenommen nämlich, daß die Aufgabe, die Bestimmung, das Schicksal der Aufgabe über ein durchschnittliches Maß bedeutend hinausliegt, so würde keine Gefahr größer sein, als sich selbst mit dieser Aufgabe zu Gesicht zu bekommen. Daß man wird, was man ist, setzt voraus, daß man nicht im entferntesten ahnt, was man ist. Aus diesem Gesichtspunkte haben selbst die Fehlgriffe des Lebens ihren eignen Sinn und Wert, die zeitweiligen Nebenwege und Abwege, die Verzögerungen, die »Bescheidenheiten«, der Ernst, auf Aufgaben verschwendet, die jenseits der Aufgabe liegen. Darin kommt eine große Klugheit, sogar die oberste Klugheit zum Ausdruck: wo nosce te ipsum das Rezept zum Untergang wäre, wird Sich-Vergessen, Sich-Mißverstehn, Sich-Verkleinern, –Verengern, – Vermittelmäßigen zur Vernunft selber. Moralisch ausgedrückt: Nächstenliebe, Leben für andere und anderes kann die Schutzmaßregel zur Erhaltung der härtesten Selbstigkeit sein. Dies ist der Ausnahmefall, in welchem ich, gegen meine Regel und Überzeugung, die Partei der »selbstlosen« Triebe nehme: sie arbeiten hier im Dienste der Selbstsucht, Selbstzucht. – Man muß die ganze Oberfläche des Bewußtseins – Bewußtsein ist eine Oberfläche – rein erhalten von irgendeinem der großen Imperative. Vorsicht selbst vor jedem großen Worte, jeder großen Attitüde! Lauter Gefahren, daß der Instinkt zu früh »sich versteht« – –. Inzwischen wächst und wächst die organisierende, die zur Herrschaft berufne »Idee« in der Tiefe – sie beginnt zu befehlen, sie leitet langsam aus Nebenwegen und Abwegen zurück, sie bereitet einzelne Qualitäten und Tüchtigkeiten vor, die einmal als Mittel zum Ganzen sich unentbehrlich erweisen werden – sie bildet der Reihe nach alle dienenden Vermögen aus, bevor sie irgend etwas von der dominierenden Aufgabe, von »Ziel«, »Zweck«, »Sinn« verlauten läßt. – Nach dieser Seite hin betrachtet ist mein Leben einfach wundervoll.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 39-40

„Es fehlt in meiner Erinnerung, daß ich mich je bemüht hätte – es ist kein Zug von Ringen in meinem Leben nachweisbar, ich bin der Gegensatz einer heroischen Natur. Etwas »wollen«, nach etwas »streben«, einen »Zweck«, einen »Wunsch« im Auge haben – das kenne ich alles nicht aus Erfahrung. Noch in diesem Augenblick sehe ich auf meine Zukunft – eine weite Zukunft! – wie auf ein glattes Meer hinaus: kein Verlangen kräuselt sich auf ihm. Ich will nicht im geringsten, daß etwas anders wird als es ist; ich selber will nicht anders werden. Aber so habe ich immer gelebt. Ich habe keinen Wunsch gehabt. Jemand, der nach seinem vierundvierzigsten Jahre sagen kann, daß er sich nie um Ehren, um Weiber, um Geld bemüht hat! – Nicht daß sie mir gefehlt hätten. So war ich zum Beispiel eines Tages Universitätsprofessor – ich hatte nie im entferntesten an dergleichen gedacht, denn ich war kaum 24 Jahre alt. So war ich zwei Jahr früher eines Tags Philolog: in dem Sinne, daß meine erste philologische Arbeit, mein Anfang in jedem Sinne, von meinem Lehrer Ritschl für sein »Rheinisches Museum« zum Druck verlangt wurde (Ritschl – ich sage es mit Verehrung – der einzige geniale Gelehrte, den ich bis heute zu Gesicht bekommen habe. Er besaß jene angenehme Verdorbenheit, die uns Thüringer auszeichnet und mit der sogar ein Deutscher sympathisch wird – wir ziehn selbst, um zur Wahrheit zu gelangen, noch die Schleichwege vor. Ich möchte mit diesen Worten meinen näheren Landsmann, den klugen Leopold von Ranke, durchaus nicht unterschätzt haben.).“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 40-41

„Alle Fragen der Politik, der Gesellschafts-Ordnung, der Erziehung sind dadurch bis in Grund und Boden gefälscht, daß man die schädlichsten Menschen für große Menschen nahm – daß man die »kleinen« Dinge, will sagen die Grundangelegenheiten des Lebens selber, verachten lehrte. Unsre jetzige Kultur ist im höchsten Grade zweideutig. Der deutsche Kaiser mit dem Papst paktierend, als ob nicht der Papst der Repräsentant der Todfeindschaft gegen das leben wäre!“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 42

„Wenn ich mich danach messe, was ich kann, nicht davon zu reden, was hinter mir drein kommt, ein Umsturz, ein Aufbau ohne gleichen, so habe ich mehr als irgendein Sterblicher den Anspruch auf das Wort Größe.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S.42

„Vergleiche ich mich nun mit den Menschen, die man bisher als erste Menschen ehrte, so ist der Unterschied handgreiflich. Ich rechne diese angeblich »Ersten« nicht einmal zu den Menschen überhaupt – sie sind für mich Ausschuß der Menschheit, Ausgeburten von Krankheit und rachsüchtigen Instinkten: sie sind lauter unheilvolle, im Grunde unheilbare Unmenschen, die am Leben Rache nehmen. Ich will dazu der Gegensatz sein: mein Vorrecht ist, die höchste Feinheit für alle Zeichen gesunder Instinkte zu haben.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 42

„Auch an der Einsamkeit leiden ist ein Einwand – ich habe immer nur an der »Vielsamkeit« gelitten.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 43

„In einer absurd frühen Zeit, mit sieben Jahren, wußte ich bereits, daß mich nie ein menschliches Wort erreichen würde: hat man mich je darüber betrübt gesehn?“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 43

„Meine Formel für die Größe am Menschen ist amor fati: daß man nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen –, sondern es lieben.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 43

„Ich selber bin noch nicht an der Zeit, einige werden posthum geboren.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 44

„Irgendwann wird man Institutionen nötig haben, in denen man lebt und lehrt, wie ich leben und lehren verstehe: vielleicht selbst, daß man dann auch eigene Lehrstühle zur Interpretation des Zarathustra errichtet. Aber es wäre ein vollkommner Widerspruch zu mir, wenn ich heute bereits Ohren und Hände für meine Wahrheiten erwartete: daß man heute nicht hört, daß man heute nicht von mir zu nehmen weiß, ist nicht nur begreiflich, es scheint mir selbst das Rechte. Ich will nicht verwechselt werden – dazu gehört, daß ich mich selber nicht verwechsle. – Nochmals gesagt, es ist wenig in meinem Leben nachweisbar von »bösem Willen«; auch von literarischem »bösen Willen« wüßte ich kaum einen Fall zu erzählen. Dagegen zuviel von reiner Torheit! Es scheint mir eine der seltensten Auszeichnungen, die jemand sich erweisen kann, wenn er ein Buch von mir in die Hand nimmt – ich nehme selbst an, er zieht dazu die Schuhe aus – nicht von Stiefeln zu reden. Als sich einmal der Doktor Heinrich von Stein ehrlich darüber beklagte, kein Wort aus meinem Zarathustra zu verstehn, sagte ich ihm, das sei in Ordnung: sechs Sätze daraus verstanden, das heißt: erlebt haben, hebe auf eine höhere Stufe der Sterblichen hinauf, als »moderne« Menschen erreichen könnten. Wie könnte ich, mit diesem Gefühle der Distanz, auch nur wünschen, von den »Modernen«, die ich kenne –, gelesen zu werden! – Mein Triumph ist gerade der umgekehrte, als der Schopenhauers war – ich sage »non legor, non legar«.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 44-45

„Nicht, daß ich das Vergnügen unterschätzen möchte, das mir mehrmals die Unschuld im Neinsagen zu meinen Schriften gemacht hat. Noch in diesem Sommer, zu einer Zeit, wo ich vielleicht mit meiner schwerwiegenden, zu schwer wiegenden Literatur den ganzen Rest von Literatur aus dem Gleichgewicht zu bringen vermöchte, gab mir ein Professor der Berliner Universität wohlwollend zu verstehn, ich sollte mich doch einer andren Form bedienen: so etwas lese niemand. – Zuletzt war es nicht Deutschland, sondern die Schweiz, die die zwei extremen Fälle geliefert hat. Ein Aufsatz des Dr. V. Widmann im »Bund«, über »Jenseits von Gut und Böse«, unter dem Titel »Nietzsches gefährliches Buch«, und ein Gesamt-Bericht über meine Bücher überhaupt seitens des Herrn Karl Spitteler, gleichfalls im »Bund«, sind ein Maximum in meinem Leben – ich hüte mich zu sagen wovon. Letzterer behandelte zum Beispiel meinen Zarathustra als höhere Stilübung, mit dem Wunsche, ich möchte später doch auch für Inhalt sorgen; Dr. Widmann drückte mir seine Achtung vor dem Mut aus, mit dem ich mich um Abschaffung aller anständigen Gefühle bemühe. – Durch eine kleine Tücke von Zufall war hier jeder Satz, mit einer Folgerichtigkeit, die ich bewundert habe, eine auf den Kopf gestellte Wahrheit: man hatte im Grunde nichts zu tun, als alle »Werte umzuwerten«, um, auf eine sogar bemerkenswerte Weise, über mich den Nagel auf den Kopf zu treffen – statt meinen Kopf mit einem Nagel zu treffen.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 45

„Wer etwas von mir verstanden zu haben glaubte, hatte sich etwas aus mir zurechtgemacht, nach seinem Bilde – nicht selten einen Gegensatz von mir, zum Beispiel einen »Idealisten«; wer nichts von mir verstanden hatte, leugnete, daß ich überhaupt in Betracht käme. – Das Wort »Übermensch« zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgeratenheit, im Gegensatz zu »modernen« Menschen, zu »guten« Menschen, zu Christen und andren Nihilisten – ein Wort, das im Munde eines Zarathustra, des Vernichters der Moral, ein sehr nachdenkliches Wort wird – ist fast überall mit voller Unschuld im Sinn derjenigen Werte verstanden worden, deren Gegensatz in der Figur Zarathustras zur Erscheinung gebracht worden ist: will sagen als »idealistischer« Typus einer höheren Art Mensch, halb »Heiliger«, halb »Genie. Andres gelehrtes Hornvieh hat mich seinethalben des Darwinismus verdächtigt; selbst der von mir so boshaft abgelehnte »Heroen-Kultus« jenes großen Falschmünzers wider Wissen und Willen, Carlyle's, ist darin wiedererkannt worden. Wem ich ins Ohr flüsterte, er solle sich eher nach einem Cesare Borgia als nach einem Parsifal umsehn, der traute seinen Ohren nicht.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 46

„Daß ich gegen Besprechungen meiner Bücher, insonderheit durch Zeitungen, ohne jedwede Neugierde bin, wird man mir verzeihen müssen. Meine Freunde, meine Verleger wissen das und sprechen mir nicht von dergleichen. In einem besondren Falle bekam ich einmal alles zu Gesicht, was über ein einzelnes Buch – es war »Jenseits von Gut und Böse« – gesündigt worden ist; ich hätte einen artigen Bericht darüber abzustatten. Sollte man es glauben, daß die »Nationalzeitung« ... allen Ernstes das Buch als ein »Zeichen der Zeit« zu verstehn wußte, als die echte rechte Junker-Philosophie, zu der es der »Kreuzzeitung« nur an Mut gebreche?“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 46-47

„Ich bin der Antiesel par excellence und damit ein welthistorisches Untier – ich bin, auf griechisch und nicht nur auf griechisch, der Antichrist.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 48

Daß aus meinen Schriften ein Psychologe redet, der nicht seinesgleichen hat, das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der ein guter Leser gelangt – ein Leser, wie ich ihn verdiene, der mich liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen.
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 51

„Das Weib ist unsäglich viel böser als der Mann, auch klüger; Güte am Weibe ist schon eine Form der Entartung. Bei allen sogenannten »schönen Seelen« gibt es einen physiologischen Übelstand auf dem Grunde – ich sage nicht alles, ich würde sonst medi-zynisch werden.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 52

„Der Kampf um gleiche Rechte ist sogar ein Symptom von Krankheit: jeder Arzt weiß das. – Das Weib, je mehr Weib es ist, wehrt sich ja mit Händen und Füßen gegen Rechte überhaupt: der Naturzustand, der ewige Krieg zwischen den Geschlechtern gibt ihm ja bei weitem den ersten Rang.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 52

„Hat man Ohren für meine Definition der Liebe gehabt? es ist die einzige, die eines Philosophen würdig ist. Liebe – in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 52-53

„Hat man meine Antwort auf die Frage gehört, wie man ein Weib kuriert – »erlöst«? Man macht ihm ein Kind. Das Weib hat Kinder nötig, der Mann ist immer nur Mittel: also sprach Zarathustra.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 53

„Emanzipation des Weibes« – das ist der Instinkthaß des mißratenen, das heißt gebäruntüchtigen Weibes gegen das wohlgeratene – der Kampf gegen den »Mann« ist immer nur Mittel, Vorwand, Taktik. Sie wollen, indem sie sich hinauf heben, als »Weib an sich«, als »höheres Weib«, als »Idealistin« von Weib, das allgemeine Rang-Niveau des Weibes herunterbringen; kein sichereres Mittel dazu als Gymnasial-Bildung, Hosen und politische Stimmvieh-Rechte. Im Grunde sind die Emanzipierten die Anarchisten in der Welt des »Ewig-Weiblichen«, die Schlechtweggekommenen, deren unterster Instinkt Rache ist. Eine ganze Gattung des bösartigsten »Idealismus« – der übrigens auch bei Männern vorkommt, zum Beispiel bei Henrik Ibsen, dieser typischen alten Jungfrau – hat das Ziel, das gute Gewissen, die Natur in der Geschlechtsliebe zu vergiften.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 53

„Und damit ich über meine in diesem Betracht ebenso honnette als strenge Gesinnung keinen Zweifel lasse, will ich noch einen Satz aus meinem Moral-Kodex gegen das Laster mitteilen: mit dem Wort Laster bekämpfe ich jede Art Widernatur oder, wenn man schöne Worte liebt, Idealismus. Der Satz heißt: »Die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff 'unrein' ist das Verbrechen selbst am Leben – ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens.«“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 53

Heraklit, in dessen Nähe überhaupt mir wärmer, mir wohler zumute wird als irgendwo sonst. Die Bejahung des Vergehens und Vernichtens, das Entscheidende in einer dionysischen Philosophie, das Jasagen zu Gegensatz und Krieg, das Werden, mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs »Sein« – darin muß ich unter allen Umständen das mir Verwandteste anerkennen, was bisher gedacht worden ist. Die Lehre von der »ewigen Wiederkunft«, das heißt vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustras könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. Zum mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 58-59

„Bis heute ist mir nichts fremder und unverwandter als die ganze europäische und amerikanische Spezies von »libres penseurs«. Mit ihnen als mit unverbesserlichen Flachköpfen und Hanswursten der »modernen Ideen« befinde ich mich sogar in einem tieferen Zwiespalt als mit irgendwem von ihren Gegnern. Sie wollen auch, auf ihre Art, die Menschheit »verbessern«, nach ihrem Bilde, sie würden gegen das, was ich bin, was ich will, einen unversöhnlichen Krieg machen, gesetzt daß sie es verstünden – sie glauben allesamt noch ans »Ideal« .... Ich bin der erste Immoralist.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 65

„»Menschliches, Allzumenschliches« ist das Denkmal einer Krisis. Es heißt sich ein Buch für freie Geister: fast jeder Satz darin drückt einen Sieg aus – ich habe mich mit demselben vom Unzugehörigen in meiner Natur freigemacht. Unzugehörig ist mir der Idealismus: der Titel sagt »wo ihr ideale Dinge seht, sehe ich – Menschliches, ach nur Allzumenschliches!«. .... Ich kenne den Menschen besser .... In keinem andren Sinne will das Wort »freier Geist« hier verstanden werden: ein freigewordner Geist, der von sich selber wieder Besitz ergriffen hat.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 68

Morgenröte .... Mit diesem Buche beginnt mein Feldzug gegen die Moral.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 75

„Die Frage nach der Herkunft der moralischen Werte ist deshalb für mich eine Frage ersten Ranges, weil sie die Zukunft der Menschheit bedingt. Die Forderung, man solle glauben, daß alles im Grunde in den besten Händen ist, daß ein Buch, die Bibel, eine endgültige Beruhigung über die göttliche Lenkung und Weisheit im Geschick der Menschheit gibt, ist, zurückübersetzt in die Realität, der Wille, die Wahrheit über das erbarmungswürdige Gegenteil davon nicht aufkommen zu lassen, nämlich, daß die Menschheit bisher in den schlechtesten Händen war, daß sie von den Schlechtweggekommenen, den Arglistig-Rachsüchtigen, den sogenannten »Heiligen«, diesen Weltverleumdern und Menschenschändern regiert worden ist. Das entscheidende Zeichen, an dem sich ergibt, daß der Priester (– eingerechnet die versteckten Priester, die Philosophen) nicht nur innerhalb einer bestimmten religiösen Gemeinschaft, sondern überhaupt Herr geworden ist, daß die décadence-Moral, der Wille zum Ende, als Moral an sich gilt, ist der unbedingte Wert, der dem Unegoistischen, und die Feindschaft, die dem Egoistischen überall zuteil wird. Wer über diesen Punkt mit mir uneins ist, den halte ich für infiziert. Aber alle Welt ist mit mir uneins. Für einen Physiologen läßt ein solcher Wert-Gegensatz gar keinen Zweifel. Wenn innerhalb des Organismus das geringste Organ in noch so kleinem Maße nachläßt, seine Selbsterhaltung, seinen Kraftersatz, seinen »Egoismus« mit vollkommner Sicherheit durchzusetzen, so entartet das Ganze. Der Physiologe verlangt Ausschneidung des entarteten Teils, er verneint jede Solidarität mit dem Entarteten, er ist am fernsten vom Mitleiden mit ihm. Aber der Priester will gerade die Entartung des Ganzen, der Menschheit: darum konserviert er das Entartende – um diesen Preis beherrscht er sie. Welchen Sinn haben jene Lügenbegriffe, die Hilfsbegriffe der Moral, »Seele«, »Geist«, »freier Wille«, »Gott«, wenn nicht den, die Menschheit physiologisch zu ruinieren? Wenn man den Ernst von der Selbsterhaltung, Kraftsteigerung des Leibes, das heißt des Lebens ablenkt, wenn man aus der Bleichsucht ein Ideal, aus der Verachtung des Leibes »das Heil der Seele« konstruiert, was ist das anderes, als ein Rezept zur décadence? – Der Verlust an Schwergewicht, der Widerstand gegen die natürlichen Instinkte, die »Selbstlosigkeit« mit einem Worte – das hieß bisher Moral. Mit der »Morgenröte« nahm ich zuerst den Kampf gegen die Entselbstungs-Moral auf.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 76-78

„Ein Vers, welcher die Dankbarkeit für den wunderbarsten Monat Januar ausdrückt, den ich erlebt habe – das ganze Buch ist ein Geschenk –, verrät zur Genüge, aus welcher Tiefe heraus hier die »Wissenschaft« fröhlich geworden ist:
Der du mit dem Flammenspeere // Meiner Seele Eis zerteilt, // Daß sie brausend nun zum Meere // Ihrer höchsten Hoffnung eilt: // Heller stets und stets gesunder, // Frei im liebevollsten Muß: – // Also preist sie deine Wunder, // Schönster Januarius!
Was hier »höchste Hoffnung« heißt, wer kann darüber im Zweifel sein, der als Schluß des vierten Buchs die diamantene Schönheit der ersten Worte des Zarathustra aufglänzen sieht? oder der die graniten Sätze am Ende des dritten Buchs liest, mit denen sich ein Schicksal für alle Zeiten zum ersten Male in Formen faßt?.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 79

„Ich erzähle nunmehr die Geschichte des Zarathustra. Die Grundkonzeption des Werks, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, die höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann –, gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: »6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit«. Ich ging an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgetürmten Block unweit Surlei machte ich halt. Da kam mir dieser Gedanke.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 81

„Den Vormittag stieg ich in südlicher Richtung auf der herrlichen Straße nach Zoagli hin in die Höhe, an Pinien vorbei und weitaus das Meer überschauend; des Nachmittags, so oft es nur die Gesundheit erlaubte, umging ich die ganze Bucht von Santa Margherita bis hinter nach Porto fino. Dieser Ort und diese Landschaft ist durch die große Liebe, welche Kaiser Friedrich der Dritte für sie fühlte, meinem Herzen noch näher gerückt; ich war zufällig im Herbst 1886 wieder an dieser Küste, als er zum letztenmal diese kleine vergessene Welt von Glück besuchte. – Auf diesen beiden Wegen fiel mir der ganze erste Zarathustra ein, vor allem Zarathustra selber, als Typus: richtiger, er überfiel mich.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 83

„Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, daß man Jahrtausende zurückgehn muß, um jemanden zu finden, der mir sagen darf »es ist auch die meine«.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 86

„Ich wollte nach Aquila, dem Gegenbegriff von Rom, aus Feindschaft gegen Rom gegründet, wie ich einen Ort dereinst gründen werde, die Erinnerung an einen Atheisten und Kirchenfeind comme il faut, an einen meiner Nächstverwandten, den großen Hohenstaufen-Kaiser Friedrich den Zweiten.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 86

„Das psychologische Problem im Typus des Zarathustra ist, wie der, welcher in einem unerhörten Grade Nein sagt, Nein tut, zu allem, wozu man bisher Ja sagte, trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes sein kann; wie der das Schwerste von Schicksal, ein Verhängnis von Aufgabe tragende Geist trotzdem der leichteste und jenseitigste sein kann – Zarathustra ist ein Tänzer –: wie der, welcher die härteste, die furchtbarste Einsicht in die Realität hat, welcher den »abgründlichsten Gedanken« gedacht hat, trotzdem darin keinen Einwand gegen das Dasein, selbst nicht gegen dessen ewige Wiederkunft findet – vielmehr einen Grund noch hinzu, das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein, »das ungeheure unbegrenzte Ja– und Amen-sagen«. »In alle Abgründe trage ich noch mein segnendes Jasagen«.Aber das ist der Begriff des Dionysos noch einmal.
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 90-91

„Für eine dionysische Aufgabe gehört die Härte des Hammers, die Lust selbst am Vernichten in entscheidender Weise zu den Vorbedingungen. Der Imperativ: »werdet hart!«, die unterste Gewißheit darüber, daß alle Schaffenden hart sind, ist das eigentliche Abzeichen einer dionysischen Natur.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 95

„Theologisch geredet – man höre zu, denn ich rede selten als Theologe – war es Gott selber, der sich als Schlange am Ende seines Tagewerks unter den Baum der Erkenntnis legte: er erholte sich so davon, Gott zu sein. Er hatte alles zu schön gemacht. Der Teufel ist bloß der Müßiggang Gottes an jedem siebenten Tage.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 97

Genealogie der Moral .... Die Wahrheit der ersten Abhandlung ist die Psychologie des Christentums: die Geburt des Christentums aus dem Geiste des Ressentiment, nicht, wie wohl geglaubt wird, aus dem »Geiste« – eine Gegenbewegung ihrem Wesen nach, der große Aufstand gegen die Herrschaft vornehmer Werte. Die zweite Abhandlung gibt die Psychologie des Gewissens: dasselbe ist nicht, wie wohl geglaubt wird, »die Stimme Gottes im Menschen« – es ist der Instinkt der Grausamkeit, der sich rückwärts wendet, nachdem er nicht mehr nach außen hin sich entladen kann. Die Grausamkeit als einer der ältesten und unwegdenkbarsten Kultur-Untergründe hier zum ersten Male ans Licht gebracht. Die dritte Abhandlung gibt die Antwort auf die Frage, woher die ungeheure Macht des asketischen Ideals, des Priester-Ideals, stammt, obwohl dasselbe das schädliche Ideal par excellence, ein Wille zum Ende, ein décadence-Ideal ist. Antwort: nicht, weil Gott hinter den Priestern tätig ist, was wohl geglaubt wird, sondern faute de mieux – weil es das einzige Ideal bisher war, weil es keinen Konkurrenten hatte. »Denn der Mensch will lieber noch das Nichts wollen als nicht wollen«. .... – Vor allem fehlte ein Gegen-Idealbis auf Zarathustra. – Man hat mich verstanden. Drei entscheidende Vorarbeiten eines Psychologen für eine Umwertung aller Werte. – Dies Buch enthält die erste Psychologie des Priesters.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 98-99

„Das, was Götze auf dem Titelblatt heißt, ist ganz einfach das, was bisher Wahrheit genannt wurde. Götzen-Dämmerung – auf deutsch: es geht zu Ende mit der alten Wahrheit.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 100

„Es gibt keine Realität, keine »Idealität«, die in dieser Schrift nicht berührt würde (– berührt: was für ein vorsichtiger Euphemismus!). Nicht bloß die ewigen Götzen, auch die allerjüngsten, folglich altersschwächsten. Die »modernen Ideen« zum Beispiel. Ein großer Wind bläst zwischen den Bäumen, und überall fallen Früchte nieder – Wahrheiten. Es ist die Verschwendung eines allzureichen Herbstes darin: man stolpert über Wahrheiten, man tritt selbst einige tot – es sind ihrer zu viele. Was man aber in die Hände bekommt, das ist nichts Fragwürdiges mehr, das sind Entscheidungen. Ich erst habe den Maßstab für »Wahrheiten« in der Hand, ich kann erst entscheiden. Wie als ob in mir ein zweites Bewußtsein gewachsen wäre, wie als ob sich in mir »der Wille« ein Licht angezündet hätte über die schiefe Bahn, auf der er bisher abwärts lief. Die schiefe Bahn – man nannte sie den Weg zur Wahrheit«. Es ist zu Ende mit allem »dunklen Drang«, der gute Mensch gerade war sich am wenigsten des rechten Wegs bewußt. Und allen Ernstes, niemand wußte vor mir den rechten Weg, den Weg aufwärts: erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen, Aufgaben, vorzuschreibende Wege der Kultur – ich bin deren froher Botschafter. Eben damit bin ich auch ein Schicksal.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 100-101

„Ich habe nie einen solchen Herbst erlebt, auch nie etwas der Art auf Erden für möglich gehalten – ein Claude Lorrain ins Unendliche gedacht, jeder Tag von gleicher unbändiger Vollkommenheit.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 102

„Wer zweifelt eigentlich daran, daß ich, als der alte Artillerist, der ich bin, es in der Hand habe, gegen Wagner mein schweres Geschütz aufzufahren? – Ich hielt alles Entscheidende in dieser Sache bei mir zurück – ich habe Wagner geliebt.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 103

„Dieser gerechte Sinn des deutschen Gaumens, der allem gleiche Rechte gibt – der alles schmackhaft findet. .... Ohne allen Zweifel, die Deutschen sind Idealisten. Als ich das letzte Mal Deutschland besuchte, fand ich den deutschen Geschmack bemüht, Wagner und dem Trompeter von Säckingen gleiche Rechte zuzugestehn; ich selber war Zeuge, wie man in Leipzig, zu Ehren eines der echtesten und deutschesten Musiker, im alten Sinne des Wortes deutsch, keines bloßen Reichsdeutschen, des Meister Heinrich Schütz einen Liszt-Verein gründete, mit dem Zweck der Pflege und Verbreitung listiger Kirchenmusik. Ohne allen Zweifel, die Deutschen sind Idealisten.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 104

„Jüngst machte ein Idioten-Urteil in historicis, ein Satz des zum Glück verblichenen ästhetischen Schwaben Vischer, die Runde durch die deutschen Zeitungen als eine »Wahrheit«, zu der jeder Deutsche ja sagen müsse: »Die Renaissance und die Reformation, beide zusammen machen erst ein Ganzes – die ästhetische Wiedergeburt und die sittliche Wiedergeburt.« – Bei solchen Sätzen geht es mit meiner Geduld zu Ende, und ich spüre Lust, ich fühle es selbst als Pflicht, den Deutschen einmal zu sagen, was sie alles schon auf dem Gewissen haben. Alle großen Kultur-Verbrechen von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen! Und immer aus dem gleichen Grunde, aus ihrer innerlichsten Feigheit vor der Realität, die auch die Feigheit vor der Wahrheit ist, aus ihrer bei ihnen Instinkt gewordenen Unwahrhaftigkeit, aus »Idealismus«. Die Deutschen haben Europa um die Ernte, um den Sinn der letzten großen Zeit, der Renaissance-Zeit, gebracht, in einem Augenblicke, wo eine höhere Ordnung der Werte, wo die vornehmen, die zum Leben jasagenden, die Zukunftverbürgenden Werte am Sitz der entgegengesetzten, der Niedergangs-Werte, zum Sieg gelangt waren – und bis in die Instinkte der dort Sitzenden hinein! Luther, dies Verhängnis von Mönch, hat die Kirche, und, was tausendmal schlimmer ist, das Christentum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unterlag. Das Christentum, diese Religion gewordene Verneinung des Willens zum Leben! Luther, ein unmöglicher Mönch, der, aus Gründen seiner »Unmöglichkeit«, die Kirche angriff und sie – folglich! – wieder herstellte. Die Katholiken hätten Gründe, Lutherfeste zu feiern, Lutherspiele zu dichten. Luther – und die »sittliche Wiedergeburt«! Zum Teufel mit aller Psychologie! – Ohne Zweifel, die Deutschen sind Idealisten.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 104

„Die Deutschen werden auch in meinem Falle wieder alles versuchen, um aus einem ungeheuren Schicksal eine Maus zu gebären. Sie haben sich bis jetzt an mir kompromittiert, ich zweifle, daß sie es in der Zukunft besser machen.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 106

„Man kommt beim Deutschen, beinahe wie beim Weibe, niemals auf den Grund, er hat keinen: das ist alles. Aber damit ist man noch nicht einmal flach. – Das, was in Deutschland »tief« heißt, ist genau diese Instinkt-Unsauberkeit gegen sich, von der ich eben rede: man will über sich nicht im klaren sein.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 107

„Das erste, woraufhin ich mir einen Menschen »nierenprüfe«, ist, ob er ein Gefühl für Distanz im Leibe hat, ob er überall Rang, Grad, Ordnung zwischen Mensch und Mensch sieht, ob er distinguiert: damit ist man gentilhomme; in jedem andren Fall gehört man rettungslos unter den weitherzigen, ach! so gutmütigen Begriff der canaille. Aber die Deutschen sind canaille – ach! sie sind so gutmütig. Man erniedrigt sich durch den Verkehr mit Deutschen: der Deutsche stellt gleich. Rechne ich meinen Verkehr mit einigen Künstlern, vor allem mit Richard Wagner ab, so habe ich keine gute Stunde mit Deutschen verlebt.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 108

„Niemand in Deutschland hat sich eine Gewissensschuld daraus gemacht, meinen Namen gegen das absurde Stillschweigen zu verteidigen, unter dem er vergraben lag: ein Ausländer, ein Däne war es, der zuerst dazu genug Feinheit des Instinkts und Mut hatte, der sich über meine angeblichen Freunde empörte. .... An welcher deutschen Universität wären heute Vorlesungen über meine Philosophie möglich, wie sie letztes Frühjahr der damit noch einmal mehr bewiesene Psycholog Dr. Georg Brandes in Kopenhagen gehalten hat?“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 109

„Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Kollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. – Und mit alledem ist nichts in mir von einem Religionsstifter – Religionen sind Pöbel-Affären, ich habe nötig, mir die Hände nach der Berührung mit religiösen Menschen zu waschen. Ich will keine »Gläubigen«, ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen. Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man mich eines Tags heilig spricht: man wird erraten, weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, daß man Unfug mit mir treibt. Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst. .... Vielleicht bin ich ein Hanswurst. .... Und trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem – denn es gab nichts Verlogneres bisher als Heilige – redet aus mir die Wahrheit. – Aber meine Wahrheit ist furchtbar: denn man hieß bisher die Lüge Wahrheit. – Umwertung aller Werte: das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 111

„Mein Los will, daß ich der erste anständige Mensch sein muß, daß ich mich gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden im Gegensatz weiß. Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadurch daß ich zuerst die Lüge als Lüge empfand – roch. Mein Genie ist in meinen Nüstern. Ich widerspreche, wie nie widersprochen worden ist, und bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes. Ich bin ein froher Botschafter, wie es keinen gab, ich kenne Aufgaben von einer Höhe, daß der Begriff dafür bisher gefehlt hat; erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen. Mit alledem bin ich notwendig auch der Mensch des Verhängnisses. Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Tal, wie dergleichen nie geträumt worden ist. Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt – sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an gibt es auf Erden große Politik.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 111-112

„Will man eine Formel für ein solches Schicksal, das Mensch wird? – Sie steht in meinem Zarathustra. – Und wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen, der muß ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen. Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische. Ich bin bei weitem der furchtbarste Mensch, den es bisher gegeben hat; dies schließt nicht aus, daß ich der wohltätigste sein werde. Ich kenne die Lust am Vernichten in einem Grade, die meiner Kraft zum Vernichten gemäß ist, – in beidem gehorche ich meiner dionysischen Natur, welche das Neintun nicht vom Jasagen zu trennen weiß. Ich bin der erste Immoralist: damit bin ich der Vernichter par excellence.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 112

„Man hat mich nicht gefragt, man hätte mich fragen sollen, was gerade in meinem Munde, im Munde des ersten Immoralisten der Name Zarathustra bedeutet: denn was die ungeheure Einzigkeit jenes Persers in der Geschichte ausmacht, ist gerade dazu das Gegenteil. Zarathustra hat zuerst im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge gesehn – die Übersetzung der Moral ins Metaphysische, als Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist sein Werk. Aber diese Frage wäre im Grunde bereits die Antwort. Zarathustra schuf diesen verhängnisvollsten Irrtum, die Moral: folglich muß er auch der erste sein, der ihn erkennt. Nicht nur, daß er hier länger und mehr Erfahrung hat als sonst ein Denker – die ganze Geschichte ist ja die Experimental-Widerlegung vom Satz der sogenannten »sittlichen Weltordnung« –: das Wichtigere ist, Zarathustra ist wahrhaftiger als sonst ein Denker. Seine Lehre, und sie allein, hat die Wahrhaftigkeit als oberste Tugend – das heißt den Gegensatz zur Feigheit des »Idealisten«, der vor der Realität die Flucht ergreift; Zarathustra hat mehr Tapferkeit im Leibe als alle Denker zusammengenommen. Wahrheit reden und gut mit Pfeilen schießen, das ist die persische Tugend. – Versteht man mich? .... Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz – in mich – das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 113

„Im Grunde sind es zwei Verneinungen, die mein Wort Immoralist in sich schließt. Ich verneine einmal einen Typus Mensch, der bisher als der höchste galt, die Guten, die Wohlwollenden, Wohltätigen; ich verneine andrerseits eine Art Moral, welche als Moral an sich in Geltung und Herrschaft gekommen ist – die décadence-Moral, handgreiflicher geredet, die christliche Moral. Es wäre erlaubt, den zweiten Widerspruch als den entscheidenderen anzusehn, da die Überschätzung der Güte und des Wohlwollens, ins große gerechnet, mir bereits als Folge der décadence gilt, als Schwäche-Symptom, als unverträglich mit einem aufsteigenden und jasagenden Leben: im Jasagen ist Verneinen und Vernichten Bedingung.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 113-114

„Ich bleibe zunächst bei der Psychologie des guten Menschen stehn. Um abzuschätzen, was ein Typus Mensch wert ist, muß man den Preis nachrechnen, den seine Erhaltung kostet – muß man seine Existenzbedingungen kennen. Die Existenz-Bedingung der Guten ist die Lüge –: anders ausgedrückt, das Nicht-sehn-Wollen um jeden Preis, wie im Grunde die Realität beschaffen ist, nämlich nicht derart, um jederzeit wohlwollende Instinkte herauszufordern, noch weniger derart, um sich ein Eingreifen von kurzsichtigen gutmütigen Händen jederzeit gefallen zu lassen. “
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 114

„In der großen Ökonomie des Ganzen sind die Furchtbarkeiten der Realität (in den Affekten, in den Begierden, im Willen zur Macht) in einem unausrechenbaren Maße notwendiger als jene Form des kleinen Glücks, die sogenannte »Güte«; man muß sogar nachsichtig sein, um der letzteren, da sie in der Instinkt-Verlogenheit bedingt ist, überhaupt einen Platz zu gönnen.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 114

„Ich werde einen großen Anlaß haben, die über die Maßen unheimlichen Folgen des Optimismus, dieser Ausgeburt der homines optimi, für die ganze Geschichte zu beweisen. Zarathustra, der erste, der begriff, daß der Optimist ebenso décadent ist wie der Pessimist und vielleicht schädlicher, sagt: gute Menschen reden nie die Wahrheit. Falsche Küsten und Sicherheiten lehrten euch die Guten; in Lügen der Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten. Die Welt ist zum Glück nicht auf Instinkte hin gebaut, daß gerade bloß gutmütiges Herdengetier darin sein enges Glück fände; zu fordern, daß alles »guter Mensch«, Herdentier, blauäugig, wohlwollend, »schöne Seele« – oder, wie Herr Herbert Spencer es wünscht, altruistisch werden solle, hieße dem Dasein seinen großen Charakter nehmen, hieße die Menschheit kastrieren und auf eine armselige Chineserei herunterbringen. – Und dies hat man versucht! Dies eben hieß man Moral. In diesem Sinne nennt Zarathustra die Guten bald »die letzten Menschen«, bald den »Anfang vom Ende«; vor allem empfindet er sie als die schädlichste Art Mensch, weil sie ebenso auf Kosten der Wahrheit als auf Kosten der Zukunft ihre Existenz durchsetzen.
Die Guten – die können nicht schaffen, die sind immer der Anfang vom Ende –
– sie kreuzigen den, der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die Zukunft, sie kreuzigen alle Menschen-Zukunft!
Die Guten – die waren immer der Anfang vom Ende ....
Und was auch für Schaden die Welt-Verleumder tun mögen, der Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 114-115

„Zarathustra, der erste Psycholog der Guten, ist – folglich – ein Freund der Bösen. Wenn eine décadence-Art Mensch zum Rang der höchsten Art aufgestiegen ist, so konnte dies nur auf Kosten ihrer Gegensatz-Art geschehn, der starken und lebensgewissen Art Mensch. Wenn das Herdentier im Glanze der reinsten Tugend strahlt, so muß der Ausnahme-Mensch zum Bösen heruntergewertet sein. Wenn die Verlogenheit um jeden Preis das Wort »Wahrheit« für ihre Optik in Anspruch nimmt, so muß der eigentlich Wahrhaftige unter den schlimmsten Namen wiederzufinden sein. Zarathustra läßt hier keinen Zweifel: er sagt, die Erkenntnis der Guten, der »Besten« gerade sei es gewesen, was ihm Grausen vor dem Menschen überhaupt gemacht habe; aus diesem Widerwillen seien ihm die Flügel gewachsen, »fortzuschweben in ferne Zukünfte« – er verbirgt es nicht, daß sein Typus Mensch, ein relativ übermenschlicher Typus, gerade im Verhältnis zu den Guten übermenschlich ist, daß die Guten und Gerechten seinen Übermenschen Teufel nennen würden.
Ihr höchsten Menschen, denen mein Auge begegnete, das ist mein Zweifel an euch und mein heimliches Lachen: ich rate, ihr würdet meinen Übermenschen – Teufel heißen!
So fremd seid ihr dem Großen mit eurer Seele, daß euch der Übermensch furchtbar sein würde in seiner Güte.
An dieser Stelle und nirgendswo anders muß man den Ansatz machen, um zu begreifen, was Zarathustra will: diese Art Mensch, die er konzipiert, konzipiert die Realität, wie sie ist: sie ist stark genug dazu –, sie ist ihr nicht entfremdet, entrückt, sie ist sie selbst, sie hat all deren Furchtbares und Fragwürdiges auch noch in sich, damit erst kann der Mensch Größe haben.
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 115-116

„Aber ich habe auch noch in einem andren Sinne das Wort Immoralist zum Abzeichen, zum Ehrenzeichen für mich gewählt; ich bin stolz darauf, dies Wort zu haben, das mich gegen die ganze Menschheit abhebt. Niemand noch hat die christliche Moral als unter sich gefühlt: dazu gehörte eine Höhe, ein Fernblick, eine bisher ganz unerhörte psychologische Tiefe und Abgründlichkeit. Die christliche Moral war bisher die Circe aller Denker – sie standen in ihrem Dienst. – Wer ist vor mir eingestiegen in die Höhlen, aus denen der Gifthauch dieser Art von Ideal – der Weltverleumdung! – emporquillt? Wer hat auch nur zu ahnen gewagt, daß es Höhlen sind? Wer war überhaupt vor mir unter den Philosophen Psycholog und nicht vielmehr dessen Gegensatz »höherer Schwindler«, »Idealist«? Es gab vor mir noch gar keine Psychologie. – Hier der Erste zu sein kann ein Fluch sein, es ist jedenfalls ein Schicksal: denn man verachtet auch als der Erste. Der Ekel am Menschen ist meine Gefahr.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 116-117

„Hat man mich verstanden? – Was mich abgrenzt, was mich beiseite stellt gegen den ganzen Rest der Menschheit, das ist, die christliche Moral entdeckt zu haben. Deshalb war ich eines Worts bedürftig, das den Sinn einer Herausforderung an jedermann enthält. Hier nicht eher die Augen aufgemacht zu haben, gilt mir als die größte Unsauberkeit, die die Menschheit auf dem Gewissen hat, als Instinkt gewordner Selbstbetrug, als grundsätzlicher Wille, jedes Geschehen, jede Ursächlichkeit, jede Wirklichkeit nicht zu sehen, als Falschmünzerei in psychologicis bis zum Verbrechen. Die Blindheit vor dem Christentum ist das Verbrechen par excellence – das Verbrechen am Leben. Die Jahrtausende, die Völker, die Ersten und die Letzten, die Philosophen und die alten Weiber – fünf, sechs Augenblicke der Geschichte abgerechnet, mich als siebenten – in diesem Punkte sind sie alle einander würdig. Der Christ war bisher das »moralische Wesen«, ein Kuriosum ohnegleichen – und, als »moralisches Wesen«, absurder, verlogner, eitler, leichtfertiger, sich selber nachteiliger als auch der größte Verächter der Menschheit es sich träumen lassen könnte. Die christliche Moral – die bösartigste Form des Willens zur Lüge ....“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 117-118

„Es ist nicht der Irrtum als Irrtum, was mich bei diesem Anblick entsetzt, nicht der jahrtausendelange Mangel an »gutem Willen«, an Zucht, an Anstand, an Tapferkeit im Geistigen, der sich in seinem Sieg verrät – es ist der Mangel an Natur, es ist der vollkommen schauerliche Tatbestand, daß die Widernatur selbst als Moral die höchsten Ehren empfing und als Gesetz, als kategorischer Imperativ, über der Menschheit hängen blieb! In diesem Maße sich vergreifen, nicht als Einzelner, nicht als Volk, sondern als Menschheit! .... Daß man die allerersten Instinkte des Lebens verachten lehrte; daß man eine »Seele«, einen »Geist« erlog, um den Leib zuschanden zu machen; daß man in der Voraussetzung des Lebens, in der Geschlechtlichkeit, etwas Unreines empfinden lehrt; daß man in der tiefsten Notwendigkeit zum Gedeihen, in der strengen Selbstsucht (– das Wort schon ist verleumderisch! –) das böse Prinzip sucht; daß man umgekehrt in den typischen Abzeichen des Niedergangs und der Instinkt-Widersprüchlichkeit, im »Selbstlosen«, im Verlust an Schwergewicht, in der »Entpersönlichung« und »Nächstenliebe« (– Nächstensucht!) den höheren Wert, was sage ich! den Wert an sich sieht! Wie! wäre die Menschheit selber in décadence? war sie es immer? – Was feststeht, ist, daß ihr nur Décadence-Werte als oberste Werte gelehrt worden sind. Die Entselbstungs-Moral ist die Niedergangs-Moral par excellence, die Tatsache, »ich gehe zugrunde« in den Imperativ übersetzt: »ihr sollt alle zugrunde gehn« – und nicht nur in den Imperativ! Diese einzige Moral, die bisher gelehrt worden ist, die Entselbstungs-Moral, verrät einen Willen zum Ende, sie verneint im untersten Grunde das Leben. – Hier bliebe die Möglichkeit offen, daß nicht die Menschheit in Entartung sei, sondern nur jene parasitische Art Mensch, die des Priesters, die mit der Moral sich zu ihren Wert-Bestimmern emporgelogen hat – die in der christlichen Moral ihr Mittel zur Macht erriet. Und in der Tat, das ist meine Einsicht: die Lehrer, die Führer der Menschheit, Theologen insgesamt, waren insgesamt auch décadents: daher die Umwertung aller Werte ins Lebensfeindliche, daher die Moral. Definition der Moral: Moral – die Idiosynkrasie von décadents, mit der Hinterabsicht, sich am Leben zu rächen – und mit Erfolg. Ich lege Wert auf diese Definition.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 118-119

„Die Entdeckung der christlichen Moral ist ein Ereignis, das nicht seinesgleichen hat, eine wirkliche Katastrophe. Wer über sie aufklärt, ist eine force majeure, ein Schicksal – er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm. Der Blitz der Wahrheit traf gerade das, was bisher am höchsten stand: wer begreift, was da vernichtet wurde, mag zusehn, ob er überhaupt noch etwas in den Händen hat. Alles, was bisher »Wahrheit« hieß, ist als die schädlichste, tückischste, unterirdischste Form der Lüge erkannt; der heilige Vorwand, die Menschheit zu »verbessern«, als die List, das Leben selbst auszusaugen, blutarm zu machen. Moral als Vampyrismus.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 119

„Wer die Moral entdeckt, hat den Unwert aller Werte mit entdeckt, an die man glaubt oder geglaubt hat; er sieht in den verehrtesten, in den selbst heilig gesprochnen Typen des Menschen nichts Ehrwürdiges mehr, er sieht die verhängnisvollste Art von Mißgeburten darin, verhängnisvoll, weil sie faszinierten.“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 119

„Der Begriff »Gott« erfunden als Gegensatz-Begriff zum Leben – in ihm alles Schädliche, Vergiftende, Verleumderische, die ganze Todfeindschaft gegen das Leben in eine entsetzliche Einheit gebracht! Der Begriff »Jenseits«, »wahre Welt« erfunden, um die einzige Welt zu entwerten, die es gibt – um kein Ziel, keine Vernunft, keine Aufgabe für unsre Erden-Realität übrigzubehalten? Der Begriff »Seele«, »Geist«, zuletzt gar noch »unsterbliche Seele«, erfunden, um den Leib zu verachten, um ihn krank – »heilig« – zu machen, um allen Dingen, die Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn entgegenzubringen! Statt der Gesundheit das »Heil der Seele« – will sagen eine folie circulaire zwischen Bußkrampf und Erlösungs-Hysterie! Der Begriff »Sünde« erfunden samt dem zugehörigen Folter-Instrument, dem Begriff »freier Wille«, um die Instinkte zu verwirren, um das Mißtrauen gegen die Instinkte zur zweiten Natur zu machen! Im Begriff des »Selbstlosen«, des »Sich-selbst-Verleugnenden« das eigentliche décadence-Abzeichen, das Gelocktwerden vom Schädlichen, das Seinen-Nutzen-nicht-mehr-finden-Können«, die Selbst-Zerstörung zum Wertzeichen überhaupt gemacht, zur »Pflicht«, zur »Heiligkeit«, zum »Göttlichen« im Menschen! Endlich – es ist das Furchtbarste – im Begriff des guten Menschen die Partei alles Schwachen, Kranken, Mißratnen, An-sich-selber-Leidenden genommen, alles dessen, was zugrunde gehn soll -, das Gesetz der Selektion gekreuzt, ein Ideal aus dem Widerspruch gegen den stolzen und wohlgeratenen, gegen den jasagenden, gegen den zukunftsgewissen, zukunftverbürgenden Menschen gemacht – dieser heißt nunmehr der Böse .... Und das alles wurde geglaubt als Moral!
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 119-120

„Hat man mich verstanden? —  D i o n y s o s   g e g e n   d e n   G e k r e u z i g t e n .“
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 120

„So sterben, wie ich ihn einst sterben sah –, den Freund, der Blitze und Blicke göttlich in meine dunkle Jugend warf: – mutwillig und tief, in der Schlacht ein Tänzer –, unter Kriegern der Heiterste, unter Siegern der Schwerste, auf seinem Schicksal ein Schicksal stehend, hart, nachdenklich, vordenklich –: erzitternd darob, daß er siegte, jauchzend darüber, daß er sterbend siegte –: befehlend, indem er starb, – und er befahl, daß man vernichte .... So sterben, wie ich ihn einst sterben sah: siegend, vernichtend ....“
Friedrich Nietzsche, Dionysos-Dithyramben, 1889, in: Werke III, S. 694 bzw. 1248

„Hier, wo zwischen Meeren die Insel wuchs, ein Opferstein jäh hinaufgetürmt, hier zündet sich unter schwarzem Himmel Zarathustra seine Höhenfeuer an, – Feuerzeichen für verschlagne Schiffer, Fragezeichen für solche, die Antwort haben. Diese Flamme mit weißgrauem Bauche – in kalte Fernen züngelt ihre Gier, nach immer reineren Höhen biegt sie den Hals – eine Schlange gerad aufgerichtet vor Ungeduld: dieses Zeichen stellte ich vor mich hin. Meine Seele selber ist diese Flamme: unersättlich nach neuen Fernen lodert aufwärts, aufwärts ihre stille Glut. Was floh Zarathustra vor Tier und Menschen? Was entlief er jäh allem festen Lande? Sechs Einsamkeiten kennt er schon –, aber das Meer selbst war nicht genug ihm einsam, die Insel ließ ihn steigen, auf dem Berg wurde er zur Flamme, nach einer siebenten Einsamkeit wirft er suchend jetzt die Angel über sein Haupt. Verschlagne Schiffer! Trümmer alter Sterne! Ihr Meere der Zukunft! Unausgeforschte Himmel! nach allem Einsamen werfe ich jetzt die Angel: gebt Antwort auf die Ungeduld der Flamme, fangt mir, dem Fischer auf hohen Bergen, meine siebente, letzte Einsamkeit!“
Friedrich Nietzsche, Dionysos-Dithyramben, 1889, in: Werke III, S. 699 bzw. 1253

„Schon im Sommer 1876, mitten in der Zeit der ersten Festspiele, nahm ich bei mir Abschied von Wagner.“
Friedrich Nietzsche, Nietzsche contra Wagner, 1889, S.20

„Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. .... Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden, denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 3

„Der hier das Wort nimmt, hat umgekehrt nichts bisher getan als sich zu besinnen: als ein Philosoph und Einsiedler aus Instinkt, der seinen Vorteil im Abseits, im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit fand; als ein Wage- und Versucher-Geist, der sich schon in jedes Labyrinth der Zukunft einmal verirrt hat; als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 3-4

„Denn man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunfts-Evangelium benannt sein will. »Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte« – mit dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum Ausdruck gebracht, in Absicht auf Prinzip und Aufgabe; eine Bewegung, welche in irgendeiner Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn aber voraussetzt, logisch und psychologisch; welche schlechterdings nur auf ihn und aus ihm kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr notwendig? Weil unsre bisherigen Werte selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn; weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik unsrer großen Werte und Ideale ist, – weil wir den Nihilismus erst erleben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Wert dieser »Werte« war .... Wir haben, irgendwann, neue Werte nötig.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 4

„Es ist ein Irrtum, auf »soziale Notstände« oder »physiologische Entartungen« oder gar auf Korruption hinzuweisen als Ursache des Nihilismus. Es ist die honnetteste, mitfühlendste Zeit. Not, seelische, leibliche, intellektuelle Not ist an sich durchaus nicht vermögend, Nihilismus (d.h. die radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Wünschbarkeit) hervorzubringen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 7

„Skepsis an der Moral ist das Entscheidende. Der Untergang der moralischen Weltauslegung, die kein Sanktion mehr hat, nachdem sie versucht hat, sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten, endet in Nihilismus. »Alles hat keinen Sinn« ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 7

„Die Undurchführbarkeit einer Welauslegung, der ungeheure Kraft gewidmet worden ist, erweckt das Mißtrauen, ob nicht alle Werteauslegungen falsch sind. Buddhistischer Zug, Sehensucht in's Nichts. (Der indische Buddhismus hat nicht eine grundmoralische Entwickelung hinter sich, deshalb ist bei ihm im Nihilismus nur unüberwundene Moral: Dasein als Strafe, Dasein als Irrtum kombiniert, der Irrtum also die Strafe- eine moralische Wertschätzung). Die philosophischen Versuche, den »moralischen Gott« zu überwinden (Hegel, Pantheismus). Überwindung der volkstümlichen Ideale: der Weise; der Heilige; der Dichter. Antagonismus von »wahr« und »schön« und »gut«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 8

„Die nihilistischen Konsequenzen der jetzigen Naturwissenschaft (neben ihren Versuchen ins Jenseitige zu entschlüpfen). Aus ihrem Betrieb folgt endlich eine Selbstzersetzung, eine Wendung gegen sich, eine Anti-Wissenschaftlichkeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 8

„Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins x.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 8

„Die nihilistischen Konsequenzen der politischen und volkswirtschaftlichen Denkweise, wo alle »Prinzipien« nachgerade zur Schauspielerei gehören: der Hauch von Mittelmäßigkeit, Erbärmlichkeit und Unaufrichtigkeit u.s.w.. Der Nationalismus. Der Anarchismus u.s.w.. Strafe. Es fehltv der erlösende Stand und Mensch, die Rechtfertiger.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 8

„Die nihilistischen Konsequenzen der Historie und der »praktischen Historiker«, d.h. der Romantiker. Die Stellung der Kunst: absulute Unorginalität ihrer Stellung in der modernen Welt. Ihre Verdüsterung. Goethes angebliches Olympiertum.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 9

„Die Kunst und die Vorbereitung des Nihilismus: Romantik (Wagners Nibelungen-Schluß).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 9

„Was bedeutet Nihilismus? Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel, es fehl die Antwort auf das »Warum«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 10

„Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werte, die man anerkennt, handelt, hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen. – Diese Einsicht ist ein Folge der großgezogenen »Wahrhaftigkeit«, somit selbst eine Folge des Glaubens an die Moral.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 10

„Unter den Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit : diese wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessierte Betrachtung - und jetzt wirkt die Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzutun, gerade als Stimulans.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 11

„Die obersten Werte, in deren Dienst der Mensch leben sollte, namentlich wenn sie sehr schwer und kostspielig über ihn verfügten, – diese sozialen Werte hat man zum Zweck ihrer Ton-Verstärkung, wie als ob sie Kommandos Gottes wären, als »Realität«, als »wahre« Welt, als Hoffnung und zukünftige Welt über dem Menschen aufgebaut. Jetzt, wo die mesquine Herkunft dieser Werte klar wird, scheint uns das All damit entwertet, »sinnlos« geworden, – aber das ist nur ein Zwischenzustand.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 11-12

„Die nihilistische Konsequenz (der Glaube an die Wertlosigkeit) als Folge der moralischen Wertschätzung: das Egoistische ist uns verleitet (selbst nach Einsicht in die Unmöglichkeit des Unegoistischen). Das Notwendige ist uns verleitet (selbst nach Einsicht in die Unmöglichkeit eines liberum arbitrium einer »intelligiblen Freiheit«). Wir sehen, daß wir die Sphäre, wohin wir unsere Werte gelegt haben nicht erreichen - damit hat die andre Sphäre, in der wir leben noch keineswegs an Wert gewonnen: im Gegenteil, wir sind müde, weil wir den Hauptantrieb verloren haben. »Umsonst bisher« .“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 12

Hinfall der kosmologischen Werte
A.
Der Nihilismus als psychologischer Zustand wird eintreten müssen, erstens, wenn wir einen »Sinn« in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: so daß der Sucher endlich den Mut verliert. Nihilismus ist dann das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des »Umsonst«, die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen – die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen .... Jener Sinn könnte gewesen sein: die »Erfüllung« eines sittlichen höchsten Kanons in allem Geschehen, die sittliche Weltordnung; oder die Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen; oder die Annäherung an einen allgemeinen Glücks-Zustand; oder selbst das Losgehen auf einen allgemeinen Nichts-Zustand – ein Ziel ist immer noch ein Sinn. Das Gemeinsame aller dieser Vorstellungsarten ist, daß ein Etwas durch den Prozeß selbst erreicht werden soll: – und nun begreift man, daß mit dem Werden nichts erzielt, nichts erreicht wird. .... Also die Enttäuschung über einen angeblichen Zweck des Werdens als Ursache des Nihilismus: sei es in Hinsicht auf einen ganz bestimmten Zweck, sei es, verallgemeinert, die Einsicht in das Unzureichende aller bisherigen Zweck-Hypothesen, die die ganze »Entwicklung« betreffen (– der Mensch nicht mehr Mitarbeiter, geschweige der Mittelpunkt des Werdens).
Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisierung, selbst eine Organisierung in allem Geschehen und unter allem Geschehen angesetzt hat: so daß in der Gesamtvorstellung einer höchsten Herrschafts-und Verwaltungsform die nach Bewunderung und Verehrung durstige Seele schwelgt (– ist es die Seele eines Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit und Realdialektik, um mit allem zu versöhnen ...). Eine Art Einheit, irgendeine Form des »Monismus«: und infolge dieses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeitsgefühl von einem ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit. . .... »Das Wohl des Allgemeinen fordert die Hingabe des einzelnen« ..., aber siehe da, es gibt kein solches Allgemeines! Im Grunde hat der Mensch den Glauben an seinen Wert verloren, wenn durch ihn nicht ein unendlich wertvolles Ganzes wirkt: d. h. er hat ein solches Ganzes konzipiert, um an seinen Wert glauben zu können.
Der Nihilismus als psychologischer Zustand hat noch eine dritte und letzte Form. Diese zwei Einsichten gegeben, daß mit dem Werden nichts erzielt werden soll und daß unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der einzelne völlig untertauchen darf wie in einem Element höchsten Wertes: so bleibt als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurteilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt. Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische Welt in sich schließt, – welche sich den Glauben an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt gibt man die Realität des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichweg zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten – aber erträgt diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will ....
– Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Wertlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff »Zweck«, noch mit dem Begriff »Einheit«, noch mit dem Begriff »Wahrheit« der Gesamtcharakter des Daseins interpretiert werden darf. Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht »wahr«, ist falsch ..., man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden .... Kurz: die Kategorien »Zweck«, »Einheit«, »Sein«, mit denen wir der Welt einen Wert eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen – und nun sieht die Welt wertlos aus ....
B.
Gesetzt, wir haben erkannt, inwiefern mit diesen drei Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns wertlos zu werden anfängt: so müssen wir fragen, woher unser Glaube an diese drei Kategorien stammt, – versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen den Glauben zu kündigen! Haben wir diese drei Kategorien entwertet, so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All zu entwerten.
– Resultat: Der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, – wir haben den Wert der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte Welt beziehen.
– Schluß-Resultat: Alle Werte, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen gesucht haben und endlich ebendamit entwertet haben, als sie sich als unanlegbar erwiesen – alle diese Werte sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projiziert in das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivität des Menschen: sich selbst als Sinn und Wertmaß der Dinge anzusetzen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 12-16

„Was ist ein Glaube? Wie entsteht er? Jeder Glaube ist ein Für-wahr-halten. Die extremste Form des Nihilismus wäre die Einsicht: daß jeder Glaube, jedes Für-wahr-halten notwenig falsch ist: weil es eine wahre Welt gar nicht gibt. Also: ein perspektivischer Schein, dessen Herkunft in uns liegt (insofern wir eine engere, verkürzte, vereinfachte Welt nötig haben). – Daß es das Maß der Kraft ist, wie sehr wir uns die Scheinbarkeit, die Notwendigkeit der Lüge eingestehen können, ohne zugrunde zu gehen. Insofern könnte Nihilismus, als Leugnung einer wahrhaften Welt, eines Seins, eine göttliche Denkweise sein. “
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 17

„Wenn wir »Enttäuschte« sind, so sind wir es nicht in Hinsicht auf das Leben: sondern, daß uns über die »Wünschbarkeiten« aller Art die Augen aufgegangen sind. Wir sehen mit einem spöttischen Ingrimm dem zu, was »Ideal« heißt: wir verachten uns nur darum, nicht zu jeder Stunde jene absurde Regung niederhalten zu können, welche »Idealismus« heißt. Die Verwöhnung ist stärker als der Ingrimm des Enttäuschten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 17

Inwiefern der Schopenhauersche Nihilismus immer noch die Folge des gleichen Ideals ist, welches den christlichen Theismus geschaffen hat. – Der Grad von Sicherheit in betreff der höchsten Wünschbarkeit, der höchsten Werte, der höchsten Vollkommenheit war so groß, daß die Philosophen davon wie von einer absoluten Gewißheit a priori ausgingen: »Gott« an der Spitze als gegebene Wahrheit. »Gott gleich zu werden«, »in Gott aufzugehn« – das waren jahrtausendelang die naivsten und überzeugendsten Wünschbarkeiten (– aber eine Sache, die überzeugt, ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß überzeugend. Anmerkung für Esel). – Man hat verlernt, jener Ansetzung von Idealen auch die Personen-Realität zuzugestehen; man ward atheistisch. Aber hat man eigentlich auf das Ideal verzichtet? – Die letzten Metaphysiker suchen im Grunde immer noch in ihm die wirkliche »Realität«, das »Ding an sich«, im Verhältnis zu dem alles andere nur scheinbar ist. Ihr Dogma ist, daß, weil unsre Erscheinungswelt so ersichtlich nicht der Ausdruck jenes Ideals ist, sie eben nicht »wahr« ist – und im Grunde nicht einmal auf jene metaphysische Welt als Ursache zurückführt. Das Unbedingte, sofern es jene höchste Vollkommenheit ist, kann unmöglich den Grund für alles Bedingte abgeben. Schopenhauer, der es anders wollte, hatte nötig, jenen metaphysischen Grund sich als Gegensatz zum Ideale zu denken, als »bösen, blinden Willen«: dergestalt konnte er dann »das Erscheinende« sein, das in der Welt der Erscheinung sich offenbart. Aber selbst damit gab er nicht jenes Absolutum von Ideal auf – er schlich sich durch .... (Kant schien die Hypothese der »intelligiblen Freiheit« nötig, um das ens perfectum von der Verantwortlichkeit für das So-und-So-sein dieser Welt zu entlasten, kurz um das Böse und das Übel zu erklären: eine skandalöse Logik bei einem Philosophen ...).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 17-18

„Jede rein moralische Wertsetzung (wie z.B. die buddhistische) endet mit Nihilismus: dies für Europa zu erwarten! Man glaubt mit einem Moralismus ohne religiösen Hintergrund auszukommen: aber damit ist der Weg zum Nihilismus notwendig. – In der Religion fehlt der Zwang, uns als wertsetzend zu betrachten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 19

„Die Frage des Nihlismus »wozu?« geht von der bisherigen Gewöhnung aus, vermöge deren das Ziel von außen her gestellt, gegeben, gefordert schien – nämlich durch irgend eine übermenschliche Autorität. Nachdem man verlernt hat, an diese zu glauben, sucht man doch nach alter Gewöhnung nach einer andern Autorität, welche unbedingt zu reden wüßte und Ziele und Aufgaben befehlen könnte. Die Autorität des Gewissens tritt jetzt in erste Linie (je mehr emanzipiert von der Theologie, um so imperativischer wird die Moral) als Schadenersatz für persönliche Autorität. Oder die Autorität der Vernunft. Oder der soziale Instinkt (die Herde). Oder die Historie mit einem immanenten Geist, welche ihr Ziel in sich hat und der man sich überlassen kann. Man möchte herumkommen um den Willen, um das Wollen eines Ziels, um das Risiko, sich selbst ein Ziel zu geben, man möchte die Verantwortung abwälzen (– man würde den Fatalismus akzeptieren). Endlich: Glück, und, mit einiger Tartüfferie, das Glück der meisten.
Man sagt sich:
1. ein bestimmtes Ziel ist gar nicht nötig,
2. ist gar nicht möglich vorherzusehen.
Gerade jetzt, wo der Wille in der höchsten Kraft nötig wäre, ist er am schwächsten und kleinmütigsten. Absolutes Mißtrauen gegen die organisatorische Kraft des Willens fürs Ganze.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 19-20

Der vollkommene Nihilist. – Das Auge des Nihilisten idealisiert ins Häßliche, übt Untreue gegen seine Erinnerungen –: es läßt sie fallen, sich entblättern; es schützt sie nicht gegen leichenblasse Verfärbungen, wie sie die Schwäche über Fernes und Vergangenes gießt. Und was er gegen sich nicht übt, das übt er auch gegen die ganze Vergangenheit der Menschheit nicht. – er läßt sie fallen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 20

„Der Nihilismus ist zweideutig:
A. Nihilismus als Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes: der aktive Nihilismus.
B. Nihilismus als Niedergang, als Rückgang der Macht des Geistes: der passive Nihilismus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 20

„Der Nihilismus ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das »Umsonst!«, und nicht nur der Glaube, daß alles wert ist zugrunde zu gehen: man legt Hand an, man richtet zugrunde .... Das ist, wenn man will, unlogisch: aber der Nihilist glaubt nicht an die Nötigung, logisch zu sein .... Es ist der Zustand starker Geister und Willen: und solchen ist es nicht möglich, bei dem Nein »des Urteils« stehen zu bleiben: – das Nein der Tat kommt aus ihrer Natur. Der Ver-Nichtsung durch das Urteil sekundiert die Ver-Nichtsung durch die Hand.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 21-22

Ursachen des Nihilismus:
1. Es fehlt die höhere Spezies, d. h. die, deren unerschöpfliche Fruchtbarkeit und Macht den Glauben an den Menschen aufrechterhält. (Man denke, was man Napoleon verdankt: fast alle höheren Hoffnungen dieses Jahrhunderts.)
2. die niedere Spezies (»Herde«, »Masse«, »Gesellschaft«) verlernt die Bescheidenheit und bauscht ihre Bedürfnisse zu kosmischen und metaphysischen Werten auf. Dadurch wird das ganze Dasein vulgarisiert: insofern nämlich die Masse herrscht, tyrannisiert sie die Ausnahmen, so daß diese den Glauben an sich verlieren und Nihilisten werden.
Alle Versuche, höhere Typen auszudenken, manquiert (»Romantik«; der Künstler, der Philosoph; gegen Carlyles Versuch, ihnen die höchsten Moralwerte zuzulegen). Widerstand gegen höhere Typen als Resultat. Niedergang und Unsicherheit aller höheren Typen. Der Kampf gegen das Genie (»Volkspoesie« usw.). Mitleid mit den Niederen und Leidenden als Maßstab für die Höhe der Seele.
Es fehlt der Philosoph, der Ausdeuter der Tat, nicht nur der Umdichter.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 22-23

„Der unvollständige Nihilismus, seine Formen: wir leben mitten drin. Die Versuche, dem Nihilismus zu entgehn, ohne die bisherigen Werte umzuwerten: bringen das Gegenteil hervor, verschärfen das Problem.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 23

„Die Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen müssen, zwei Jahrtausende lang Christen gewesen zu sein: wir verlieren das Schwergewicht, das uns leben ließ – wir wissen eine Zeitlang nicht, wo aus, noch ein. Wir stürzen jählings in die entgegengesetzten Wertungen, mit dem Maße von Energie, das eben eine solche extreme Überwertung des Menschen im Menschen erzeugt hat.
Jetzt ist alles durch und durch falsch, »Wort«, durcheinander, schwach oder überspannt:
a) man versucht eine Art von irdischer Lösung, aber im gleichen Sinne, in dem des schließlichen Triumphs von Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit (der Sozialismus: »Gleichheit der Person«);
b) man versucht ebenfalls das Moral-Ideal festzuhalten (mit dem Vorrang des Unegoistischen, der Selbst-Verleugnung, der Willens- Verneinung);
c) man versucht selbst das »Jenseits« festzuhalten: sei es auch nur als antilogisches x: aber man deutet es sofort so aus, daß eine Art metaphysischer Trost alten Stils aus ihm gezogen werden kann;
d) man versucht die göttliche Leitung alten Stils, die belohnende, bestrafende, erziehende, zum Besseren führende Ordnung der Dinge aus dem Geschehen herauszulesen;
e) man glaubt nach wie vor an Gut und Böse: so daß man den Sieg des Guten und die Vernichtung des Bösen als Aufgabe empfindet (– das ist englisch: typischer Fall der Flachkopf John Stuart Mill);
f) die Verachtung der »Natürlichkeit«, der Begierde, des ego: Versuch, selbst die höchste Geistigkeit und Kunst als Folge einer Entpersönlichung und als désintéressement zu verstehn;
g) man erlaubt der Kirche, sich immer noch in alle wesentlichen Erlebnisse und Hauptpunkte des Einzellebens einzudrängen, um ihnen Weihe, höheren Sinn zu geben: wir haben noch immer den »christlichen Staat«, die »christliche Ehe« –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 24-25

„Der moderne Pessimismus ist ein Ausdruck von der Nutzlosigkeit der modernen Welt, – nicht der Welt und des Daseins.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 27

„Das »Übergewicht von Leid über Lust« oder das Umgekehrte (der Hedonismus): diese beiden Lehren sind selbst schon Wegweiser zum Nihilismus .... Denn hier wird in beiden Fällen kein anderer letzter Sinn gesetzt als die Lust- oder Unlust-Erscheinung. Aber so redet eine Art Mensch, die es nicht mehr wagt, einen Willen, eine Absicht, einen Sinn zu setzen: – für jede gesunde Art Mensch mißt sich der Wert des Lebens schlechterdings nicht am Maße dieser Nebensachen. Und ein Übergewicht von Leid wäre möglich und trotzdem ein mächtiger Wille, ein Ja-sagen zum Leben; ein Nöthig-haben dieses Übergewichts. »Das Leben lohnt sich nicht«; »Resignation«, »warum sind die Tränen? ...« – eine schwächliche und sentimentale Denkweise.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 27-28

„Der philosophische Nihilist ist der Überzeugung, daß alles Geschehen sinnlos und umsonstig ist; und es sollte kein sinnloses und umsonstiges Sein geben. Aber woher dieses: Es sollte nicht? Aber woher nimmt man diesen »Sinn«, dieses Maß? – Der Nihilist meint im Grunde, der Hinblick auf ein solches ödes, nutzloses Sein wirke auf einen Philosophen unbefriedigend, öde, verzweifelt. Eine solche Einsicht widerspricht unserer feineren Sensibilität als Philosophen. Es läuft auf die absurde Wertung hinaus: der Charakter des Daseins müßte dem Philosophen Vergnügen machen, wenn anders es zurecht bestehen soll .... Nun ist leicht zu begreifen, daß Vergnügen und Unlust innerhalb des Geschehens nur den Sinn von Mitteln haben können: es bliebe übrig zu fragen, ob wir den »Sinn«, »Zweck« überhaupt sehen könnten, ob nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegenteils für uns unlösbar ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 28

Entwicklung des Pessimismus zum Nihilismus. – Entnatürlichung der Werte. Scholastik der Werte. Die Werte, losgelöst, idealistisch, statt das Tun zu beherrschen und zu führen, wenden sich verurteilend gegen das Tun. Gegensätze eingelegt an Stelle der natürlichen Grade und Ränge. Haß auf die Rangordnung. Die Gegensätze sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäß, weil leichter faßlich. Die verworfene Welt, angesichts einer künstlich erbauten »wahren, wertvollen«. – Endlich: man entdeckt, aus welchem Material man die »wahre Welt« gebaut hat: und nun hat man nur die verworfene übrig und rechnet jene höchste Enttäuschung mit ein auf das Konto ihrer Verwerflichkeit. Damit ist der Nihilismus da: man hat die richtenden Werte übrigbehalten – und nichts weiter! Hier entsteht das Problem der Stärke und der Schwäche:
1. die Schwachen zerbrechen daran;
2. die Stärkeren zerstören, was nicht zerbricht;
3. die Stärksten überwinden die richtenden Werte.
Das zusammen macht das tragische Zeitalter aus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 28-29

„Grundansicht über das Wesen der décadence: was man bisher als deren Ursachen angesehen hat, sind deren Folgen. Damit verändert sich die ganze Persprektive der moralischen Probleme. Der ganze Moral-Kampf gegen Laster, Luxus, Verbrechen, selbst Krankheit erscheint als Naivität, als überflüssig: – es gibt keine »Besserung« (gegen die Reue). Die décadence selbst ist nichts, was zu bekämpfen wäre: sie ist absolut notwendig und jeder Zeit und jedem Volk eigen. Was mit aller Kraft zu bekämpfen ist, das ist die Einschleppung des Kontagiums in die gesunden Teile des Organismus. Tut man das? Man tut das Gegenteil. Genau darum bemüht man sich seitens der Humanität. – Wir verhalten sich zu dieser biologischen Grundfrage die bisherigen obersten Werte? Die Philosophie, die Religion, die Moral, die Kunst u.s.w.. (Die Kur: z.B. Militarismus, von Napoleon an, der in der Zivilisation seine natürliche Feindin sah.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 31

„Was sich vererbt, das ist nicht die Krankheit, sondern die Krankhaftigkeit: die Unkraft im Widerstande gegen die Gefahr schädlicher Einwanderungen u.s.w., die gebrochene Widerstandskraft, moralisch ausgedrückt: die Resignation und Demut vor dem Feinde.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 35

Gesundheit und Krankheit sind nicht wesentlich Verschiedenes, wie es die ... Mediziner und ... einige Praktiker glauben. Man muß nicht distinkte Prinzipien oder Entitäten daraus machen, die sich um den lebenden Organismus streiten und aus ihm ihren Kampfplatz machen. Das ist albernes Zeug und Geschwätz, das zu nichts ... taugt. Tatsächlich gibt es zwischen diesen beiden Arten des Daseins nur Gradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonbie der normalen Phänomene konstituieren den krankhaften Zustand. So gut »das Böse« betrachtet werden kann als Übertreibung, Disharmonie, Disproportion, so gut kann »das Gute« eine Schutzdiät gegen die Gefahr der Übertreibung, Disharmonie und Disproportion sein.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 35

„Man will Schwäche: warum? ..., meistens, weil man notwendig schwach ist. – Die Schwächung als Aufgabe. ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 36

Theorie der Erschöpfung. – Das Laster, die Geisteskranken (resp. die Artisten...), die Verbrecher, die Anarchisten – das sind nicht die unterdrückten Klassen, sondern der Auswurf der bisherigen Gesellschaft aller Klassen .... Mit der Einsicht, daß alle unsre Stände durchdrungen sind von diesen Elementen, haben wir begriffen, daß die moderne Gesellschaft keine »Gesellschaft«, kein »Körper« ist, sondern ein krankes Konglomerat von Tschandalas – eine Gesellschaft, die die Kraft nicht mehr hat, zu exkretieren. Inwiefern durch das Zusammenleben seit Jahrhunderten die Krankhaftigkeit viel tiefer geht:
die moderne Tugend}als Krankheits-Formen,
die moderne Geistigkeit
unsre Wissenschaft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 39

Der Zustand der Korruption. – Die Zusammengehörigkeit aller Korruptions-Formen zu begreifen; und dabei nicht die christliche Korruption zu vergessen (Pascal als Typus); ebenso die sozialistisch-kommunistische Korruption (eine Folge der christlichen; -naturwissenschaftlich ist die höchste Sozietäts-Konzeption der Sozialisten die niedrigste in der Rangordnung der Sozietäten); die »Jenseits«-Korruption: wie als ob es außer der wirklichen Welt, der des Werdens, eine Welt des Seienden gäbe. Hier darf es keinen Vertrag geben: hier muß man ausmerzen, vernichten, Krieg führen, -man muß das christlich-nihilistische Wertmaß überall noch herausziehn und es unter jeder Maske bekämpfen .., z.B. aus der jetzigen Soziologie, aus der jetzigen Musik, aus dem jetzigen Pessimismus (- alles Formen des christlichen Wertideals -). Entweder eins oder das andere ist wahr: wahr, das heißt hier den Typus Mensch emporhebend. .... Der Priester, der Seelsorger, als verwerfliche Daseinsformen. Die gesamte Erziehung bisher hilflos, haltlos, ohne Schwergewicht, mit dem Widerspruch der Werte behaftet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 39-40

„Nicht die Natur ist unmoralisch, wenn sie ohne Mitleid für die Degenerierten ist: das Wachstum der physiologischen und moralischen Übel im menschlichen Geschlecht ist umgekehrt die Folge einer krankhaften und unnatürlichen Moral. Die Sensibilität der Mehrzahl der Menschen ist krankhaft und unnatürlich. Woran hängt es, daß die Menschheit korrupt ist in moralischer und physiologischer Beziehung? – Der Leib geht zugrunde, wenn ein Organ alteriert ist. Man kann nicht das Recht des Altruismus auf die Physiologie zurückführen, ebensowenig das Recht auf Hilfe, auf Gleichheit der Lose: das sind alles Prämien für die Degenerierten und Schlechtweggekommenen. Es gibt keine Solidarität in einer Gesellschaft, wo es unfruchtbare, unproduktive und zerstörerische Elemente gibt: die übrigens noch entartetere Nachkommen haben werden, als sie selbst sind.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 40

„Es gibt eine tiefe und vollkommen unbewußte wirkung der décadence selbst auf die Ideale der Wissenschaft: unsre ganze Soziologie ist der Beweis für diesen Satz. Ihr bleibt vorzuwerfen, daß sie nur das Verfalls-Gebilde der Sozietät aus Erfahrung kennt und unvermeidlich die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des soziologischen Urteils nimmt. Das niedersinkende Leben im jetzigen Europa formuliert in ihnen seine Gesellschafts-Ideale : sie sehen alle zum Verwechseln dem Ideal alter überlebter Rassen ähnlich. .... Der Herdeninstinkt sodann - eine jetzt souverän gewordene Macht - ist etwas Grundverschiedenes vom Instinkt einer aristokratischen Sozietät: und es kommt auf den Wert der Einheiten an, was die Summe zu bedeuten hat .... Unsre ganze Soziologie kennt gar keinen andern Instinkt als den der Herde, d.h. der summierten Nullen, - wo jede Null »gleiche Rechte« hat, wo es tugendhaft ist, Null zu sein .... Die Wertung, mit der heute die verschiedenen Formen der Sozietät beurteilt werden, ist ganz und gar eins mit jener, welche dem Frieden einen höheren Wert zuerteilt als dem Krieg: aber dies Urteil ist antibiologisch, ist selbst eine Ausgeburt der décadence des Lebens. .... Das Leben ist eine Folge des Kriegs, die Gesellschaft selbst ein Mittel zum Krieg. .... Herr Herbert Spencer ist als Biologe ein décadent, - er ist es auch als Moralist (er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswertes!!!).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 41

„Ich habe das Glück, nach ganzen Jahrtausenden der Verirrung und Verwirrung den Weg wiedergefunden zu haben, der zu einem Ja und einem Nein führt. Ich lehre das Nein zu allem, was schwach macht, was erschöpft. Ich lehre das Ja zu allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert, was das Gefühl der Kraft rechtfertigt. Man hat weder das eine noch das andre bisher gelehrt: man hat Tugend, Entselbstung, Mitleiden, man hat selbst Verneinung des Lebens gelehrt .... Dies sind alles Werthe der Erschöpften. Ein langes Nachdenken über die Physiologie der Erschöpfung zwang mich zu der Frage, wie weit die Urteile Erschöpfter in die Welt der Werte eingedrungen seien. Mein Ergebnis war so überraschend wie möglich, selbst für mich, der in mancher fremden Welt schon zu Hause war: ich fand alle obersten Werturteile, alle, die Herr geworden sind über die Menschheit, mindestens zahm gewordene Menschheit, zurückführbar auf die Urteile Erschöpfter. Unter den heiligsten Namen zog ich die zerstörerischen Tendenzen heraus; man hat Gott genannt, was schwächt, Schwäche lehrt, Schwäche infiziert ..., ich fand, daß der »gute Mensch« eine Selbstbejahungsform der décadence ist. Jene Tugend, von der noch Schopenhauer gelehrt hat, daß sie die oberste, die einzige und das Fundament aller Tugenden sei: eben jenes Mitleiden erkannte ich als gefährlicher als irgendein Laster. Die Auswahl in der Gattung, ihre Reinigung vom Abfall grundsätzlich kreuzen – das hieß bisher Tugend par excellence .... Man soll das Verhängnis in Ehren halten, das Verhöängnis, das zum Schwachen sagt »geh zugrunde!« Man hat es Gott genannt, daß man dem Verhängnis widerstrebte, – daß man die Menschheit verdarb und verfaulen machte .... Man soll den Namen Gottes nicht unnützlich führen .... Die Rasse ist verdorben – nicht durch ihre Laster, sondern ihre Ignoranz: sie ist verdorben, weil sie die Erschöpfung nicht als Erschöpfung verstand: die physiologischen Verwechslungen sind die Ursache alles Übels .... Die Tugend ist unser großes Mißverständnis. Problem: wie kamen die Erschöpften dazu, die Gesetze der Werte zu machen? Anders gefragt: wie kamen die zur Macht, die die Letzten sind? ... Erkenne die Geschichte! Wie kommt der Instinkt des Tieres Mensch auf den Kopf zu stehn? ...“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 41-43

„Extreme Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum durch extreme, aber umgekehrte. Und so ist der Glaube an die absolute Immoralität der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit der psychologisch-notwendige Affekt, wenn der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten ist. Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen »Sinn« im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation ging zugrunde: weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 43

„Daß dies »Umsonst!« der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Wertschätzungen steigert sich bis zur Frage: »sind nicht alle ›Werte‹ Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näherkommt?« Die Dauer, mit einem »Umsonst«, ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch, wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht ist, sich nicht foppen zu lassen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 43-44

„Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: »die ewige Wiederkehr«. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das »Sinnlose«) ewig! Europäische Form des Buddhismus: Energie des Wissens und der Kraft zwingt zu einem solchen Glauben. Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 44

„Da begreift man, daß hier ein Gegensatz zum Pantheismus angestrebt wird: denn »alles vollkommen, göttlich, ewig« zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die »ewige Wiederkunft«. Frage: ist mit der Moral auch diese pantheistische Ja-Stellung zu allen Dingen unmöglich gemacht? Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden. Hat es einen Sinn, sich einen Gott »jenseits von Gut und Böse« zu denken? Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß? – Das wäre der Fall, wenn etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht würde – und immer das Gleiche. Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Notwendigkeit hat: und er triumphierte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 44-45

„Aber sein Fall ist nur ein Einzel-Fall. Jeder Grundcharakterzug, der jedem Geschehen zugrunde liegt, der sich in jedem Geschehen ausdrückt, müßte, wenn er von einem Individuum als sein Grundcharakterzug empfunden würde, dieses Individuum dazu treiben, triumphierend jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gutzuheißen. Es käme eben darauf an, daß man diesen Grundcharakterzug bei sich als gut, wertvoll, mit Lust empfindet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 45

„Nun hat die Moral das Leben vor der Verzweiflung und dem Sprung ins Nichts bei solchen Menschen und Ständen geschützt, welche von Menschen vergewalttätigt und niedergedrückt wurden: denn die Ohnmacht gegen Menschen, nicht die Ohnmacht gegen die Natur, erzeugt die desperateste Verbitterung gegen das Dasein. Die Moral hat die Gewalthaber, die Gewalttätigen, die »Herren« überhaupt als die Feinde behandelt, gegen welche der gemeine Mann geschützt, das heißt zunächst ermutigt, gestärkt werden muß. Die Moral hat folglich am tiefsten hassen und verachten gelehrt, was der Grundcharakterzug der Herrschenden ist: ihren Willen zur Macht. Diese Moral abschaffen, leugnen, zersetzen: das wäre den bestgehaßten Trieb mit einer umgekehrten Empfindung und Wertung ansehen. Wenn der Leidende, Unterdrückte den Glauben verlöre, ein Recht zu seiner Verachtung des Willens zur Macht zu haben, so träte er in das Stadium der hoffnungslosen Desperation. Dies wäre der Fall, wenn dieser Zug dem Leben essentiell wäre, wenn sich ergäbe, daß selbst in jenem Willen zur Moral nur dieser »Wille zur Macht« verkappt sei, daß auch jenes Hassen und Verachten noch ein Machtwille ist. Der Unterdrückte sähe ein, daß er mit dem Unterdrücker auf gleichem Boden steht und daß er kein Vorrecht, keinen höheren Rang vor jenem habe.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 45-46

„Vielmehr umkehrt! Es gibt nichts am Leben, was Wert hat, außer dem Grade der Macht – gesetzt eben, daß Leben selbst der Wille zur Macht ist. Die Moral behütete die Schlechtweggekommenen vor Nihilismus, indem sie jedem einen unendlichen Wert, einen metaphysischen Wert beimaß und in eine Ordnung einreihte, die mit der der weltlichen Macht und Rangordnung nicht stimmt: sie lehrte Ergebung, Demut usw.. Gesetzt, daß der Glaube an diese Moral zugrunde geht, so würden die Schlechtweggekommenen ihren Trost nicht mehr haben – und zugrunde gehn.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 46

„Das Zugrunde-gehen präsentiert sich als ein Sich-zugrunde-richten, als ein instinktives Auslesen dessen, was zerstören muß. Symptome dieser Selbstzerstörung der Schlechtweggekommenen: die Selbstvivisektion, die Vergiftung, Berauschung, Romantik, vor allem die instinktive Nötigung zu Handlungen, mit denen man die Mächtigen zu Todfeinden macht (– gleichsam sich seine Henker selbst züchtend), der Wille zur Zerstörung als Wille eines noch tieferen Instinkts, des Instinkts der Selbstzerstörung, des Willens ins Nichts.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 46

„Nihilismus, als Symptom davon, daß die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben: daß sie zerstören, um zerstört zu werden, daß sie, von der Moral abgelöst, keinen Grund mehr haben, »sich zu ergeben« – daß sie sich auf den Boden des entgegengesetzten Prinzips stellen und auch ihrerseits Macht wollen, indem sie die Mächtigen zwingen, ihre Henker zu sein. Dies ist die europäische Form des Buddhismus, das Nein-tun, nachdem alles Dasein seinen »Sinn« verloren hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 47

„Die »Not« ist nicht etwa größer geworden: im Gegenteil! »Gott, Moral, Ergebung« waren Heilmittel, auf furchtbar tiefen Stufen des Elends: der aktive Nihilismus tritt bei relativ viel günstiger gestalteten Verhältnissen auf. Schon daß die Moral als überwunden empfunden wird, setzt einen ziemlichen Grad geistiger Kultur voraus; diese wieder ein relatives Wohlleben. Eine gewisse geistige Ermüdung, durch den langen Kampf philosophischer Meinungen bis zur hoffnungslosesten Skepsis gegen Philosophie gebracht, kennzeichnet ebenfalls den keineswegs niederen Stand jener Nihilisten. Man denke an die Lage, in der Buddha auftrat. Die Lehre der ewigen Wiederkunft würde gelehrte Voraussetzungen haben (wie die Lehre Buddhas solche hatte, zum Beispiel Begriff der Kausalität usw.).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 47

„Was heißt jetzt »schlechtweggekommen«? Vor allem physiologisch: nicht mehr politisch. Die ungesundeste Art Mensch in Europa (in allen Ständen) ist der Boden dieses Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut: nicht passiv auslöschen, sondern alles auslöschen machen, was in diesem Grade sinn- und ziellos ist: obwohl es nur ein Krampf, ein blindes Wüten ist bei der Einsicht, daß alles seit Ewigkeiten da war – auch dieser Moment von Nihilismus und Zerstörungslust. – Der Wert einer solchen Krisis ist, daß sie reinigt, daß sie die verwandten Elemente zusammendrängt und sich aneinander verderben macht, daß sie den Menschen entgegengesetzter Denkweisen gemeinsame Aufgaben zuweist – auch unter ihnen die schwächeren, unsichreren ans Licht bringend und so zu einer Rangordnung der Kräfte, vom Gesichtspunkt der Gesundheit, den Anstoß gibt: Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende. Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 47-48

„Welche werden sich als die Stärksten dabei erweisen? Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze nötig haben, die, welche einen guten Teil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehn, sondern lieben, die, welche vom Menschen mit einer bedeutenden Ermäßigung seines Wertes denken können, ohne dadurch klein und schwach zu werden: die Reichsten an Gesundheit, die den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten – Menschen, die ihrer Macht sicher sind und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentieren. – Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 48

Perioden des europäischen Nihilismus.
Die Periode der Unklarheit, der Tentativen aller Art, das Alte zu konservieren und das Neue nicht fahren zu lassen.
Die Periode der Klarheit: man begreift, daß Altes und Neues Grundgegensätze sind: die alten Werte aus dem niedergehenden, die neuen aus dem aufsteigenden Leben geboren –, daß alle alten Ideale lebensfeindliche Ideale sind (aus der décadence geboren und die décadence bestimmend, wie sehr auch im prachtvollen Sonntags-Aufputz der Moral). Wir verstehen das Alte und sind lange nicht stark genug zu einem Neuen.
Die Periode der drei großen Affekte: der Verachtung, des Mitleids, der Zerstörung.
Die Periode der Katastrophe: die Heraufkunft einer Lehre, welche die Menschen aussiebt ... welche die Schwachen zu Entschlüssen treibt und ebenso die Starken. –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 49

Zur Geschichte der modernen Verdüsterung.
Die Staats-Nomaden (Beamte usw.): ohne »Heimat« –.
Der Niedergang der Familie.
Der »gute Mensch« als Symptom der Erschöpfung.
Gerechtigkeit als Wille zur Macht (Züchtung).
Geilheit und Neurose.
Schwarze Musik: – die erquickliche Musik wohin?
Der Anarchist.
Menschenverachtung, Ekel.
Tiefste Unterscheidung: ob der Hunger oder der Überfluß schöpferisch wird? Ersterer erzeugt die Ideale der Romantik. –
Nordische Unnatürlichkeit.
Das Bedürfnis nach Alcoholica: die Arbeiter– »Not«.
Der philosophische Nihilismus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 51

„Das langsame Hervortreten und Emporkommen der mittleren und niederen Stände (eingerechnet der niederen Art Geist und Leib), welches schon vor der Französischen Revolution reichlich präludiert und ohne Revolution ebenfalls seinen Weg vorwärts gemacht hätte, – im ganzen also das Übergewicht der Herde über alle Hirten und Leithämmel – bringt mit sich:
1. Verdüsterung des Geistes (– das Beieinander eines stoischen und frivolen Anscheins von Glück, wie es vornehmen Kulturen eigen ist, nimmt ab; man läßt viele Leiden sehn und hören, welche man früher ertrug und verbarg);
2. die moralische Hypokrisie (eine Art, sich durch Moral auszeichnen zu wollen, aber durch die Herden-Tugenden: Mitleid, Fürsorge, Mäßigung und nicht durch solche, die außer dem Herden-Vermögen erkannt und gewürdigt werden);
3. eine wirkliche große Menge von Mitleiden und Mitfreude (das Wohlgefallen im großen Beieinander, wie es alle Herdentiere haben – »Gemeinsinn«, »Vaterland«, alles, wo das Individuum nicht in Betracht kommt).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 51-52

„Im großen gerechnet, ist in unsrer jetzigen Menschheit ein ungeheures Quantum von Humanität erreicht. Daß ies im allgemeinen nicvht empfunden wird, ist selber ein Beweis dafür: wir sind für die kleinen Notstände so empfindlich geworden, daß wir das, was erreicht ist, unbillig übersehen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 53

Der zweite Buddhismus. Die nihilistische Katastrophe, die mit der indischen Kultur ein Ende machte - Vorzeichen dafür: Das Überhandnehmen des Mitleids. Die geistige Übermüdung. Die Reduktion der Probleme auf Lust- und Unlust-Fragen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 54

„Was heute am tiefsten angegriffen ist, das ist der Instinkt und der Wille der Tradition: alle Institutionen, die diesem Instinkt ihre Herkunft verdanken, gehen dem modernen Geiste wider den Geschmack... Im Grunde denkt und tut man nichts, was nicht den Zweck verfolgte, diesen Sinn für Überlieferung mit den Wurzeln herauszureißen. Man nimmt die Tradition als Fatalität: man studiert sie, man erkennt sie an (als »Erblichkeit« –), aber man will sie nicht. Die Anspannung eines Willens über lange Zeitfernen hin, die Auswahl der Zustände und Wertungen, welche es machen, daß man über Jahrhunderte der Zukunft verfügen kann – das gerade ist im höchsten Maße antimodern. Woraus sich ergibt, daß die desorganisierenden Prinzipien unserem Zeitalter den Charakter geben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 54

Nihilistischer Zug.
a) In den Naturwissenschaften (»Sinnlosigkeit« –); Kausalismus, Mechanismus. Die »Gesetzmäßigkeit« ein Zwischenakt, ein Überbleibsel.
b) Insgleichen in der Politik: es fehlt einem der Glaube an sein Recht, die Unschuld; es herrscht die Lügnerei, die Augenblicks-Dienerei.
c) Insgleichen in der Volkswirtschaft: die Aufhebung der Sklaverei: Mangel eines erlösenden Standes, eines Rechtfertigers, – Heraufkommen des Anarchismus. »Erziehung«?
d) Insgleichen in der Geschichte: der Fatalismus, der Darwinismus; die letzten Versuche, Vernunft und Göttlichkeit hineinzudeuten, mißraten. Sentimentalität vor der Vergangenheit; man ertrüge keine Biographie! – (Der Phänomenalismus auch hier: Charakter als Maske; es gibt keine Tatsachen.)
e) Insgleichen in der Kunst: Romantik und ihr Gegenschlag (Widerwille gegen die romantischen Ideale und Lügen).Letzterer, moralisch, als Sinn größerer Wahrhaftigkeit, aber pessimistisch. Die reinen »Artisten« (gleichgültig gegen den Inhalt). (Beichtvater-Psychologie und Puritaner-Psychologie, zwei Formen der psychologischen Romantik: aber auch noch ihr Gegenschlag, der Versuch, sich rein artistisch zum »Menschen« zu stellen, – auch da wird noch nicht die umgekehrte Wertschätzung gewagt!)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 56-57

„Henrik Ibsen ist mir sehr deutlich geworden. Mit all seinem »Willen zur Wahrheit« hat er sich nicht von dem Moral-Illusionismus frei zu machen gewagt, welcher »Freiheit“ sagt und nicht sich eingestehen will, was Freiheit ist: die zweite Stufe in der Metamorphose des »Willens zur Macht« seitens derer, denen sie fehlt. In der ersten verlangt man Gerechtigkeit. Auch von Seiten derer, welche die Macht haben. Auf der zweiten sagt man »Freiheit«, d.h. man will loskommen von denen, welche die Macht haben. Auf der dritten sagt man »gleiche Rechte«, d.h. man will, so lange man noch nicht das Übergewicht hat, auch die Mitbewerber hindern, in der Macht zu wachsen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 63-64

Fortschritt. – Daß wir uns nicht täuschen! Die Zeit läuft vorwärts – wir möchten glauben, daß auch alles, was in ihr ist, vorwärts läuft, – daß die Entwicklung eine Vorwärts-Entwicklung ist .... Das ist der Augenschein, von dem die Besonnensten verführt werden. Aber das neunzehnte Jahrhundert ist kein Fortschritt gegen das sechzehnte: und der deutsche Geist von 1888 ist ein Rückschritt gegen den deutschen Geist von 1788 .... Die »Menschheit« avanciert nicht, sie existiert nicht einmal. Der Gesamt-Aspekt ist der einer ungeheuren Experimentier-Werkstätte, wo einiges gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches mißrät, wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt. Wie dürften wir verkennen, daß die Heraufkunft des Christentums eine décadence-Bewegung ist? .... Daß die deutsche Reformation eine Rekrudeszenz der christlichen Barbarei ist?... Daß die Revolution den Instinkt zur großen Organisation der Gesellschaft zerstört hat? .... Der Mensch ist kein Fortschritt gegen das Tier: der Kultur-Zärtling ist eine Mißgeburt im Vergleich zum Araber und Korsen; der Chinese ist ein wohlgeratener Typus, nämlich dauerfähiger, als der Europäer ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 65

„Die Denkweise Hegels ist von der Goetheschen nicht sehr entfernt: man höre Goethe über Spinoza. Wille zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens, um in seinem Anschauen und Ergründen Ruhe und Glück zu finden; Hegel sucht Vernunft überall,-vor der Vernunft darf man sich ergeben und bescheiden. Bei Goethe eine Art von fast freudigem und vertrauendem Fatalismus, der nicht revoltiert, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, im Glauben, daß erst in der Totalität Alles sich erlöst, als gut und gerechtfertigt erscheint.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 72

Gegen Rousseau. – Der Mensch ist leider nicht mehr böse genug; die Gegner Rousseaus, welche sagen, »der Mensch ist ein Raubtier«, haben leider nicht recht. Nicht die Verderbnis des Menschen, sondern seine Verzärtlichung und Vermoralisierung ist der Fluch. In der Sphäre, welche von Rousseau am heftigsten bekämpft wurde, war gerade die relativ noch starke und wohlgeratene Art Mensch (– die, welche noch die großen Affekte ungebrochen hatte: Wille zur Macht, Wille zum Genuß, Wille und Vermögen zu kommandieren). Man muß den Menschen des 18. Jahrhunderts mit dem Menschen der Renaissance vergleichen (auch dem des 17. Jahrhunderts in Frankreich), um zu spüren, worum es sich handelt: Rousseau ist ein Symptom der Selbstverachtung und der erhitzten Eitelkeit – beides Anzeichen, daß es am dominierenden Willen fehlt: er moralisiert und sucht die Ursache seiner Miserabilität als Rankune-Mensch in den herrschenden Ständen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 73

Rousseau: die Regel gründend auf das Gefühl; die Natur als Quelle der Gerechtigkeit; der Mensch vervollkommnet sich in dem Maße, in dem er sich der Natur nähert (– nach Voltaire in dem Maße, in dem er sich von der Natur entfernt). Dieselben Epochen für den einen die des Fortschritts der Humanität, für den andern Zeiten der Verschlimmerung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit. .... Bei Rousseau unzweifelhaft die Geistesstörung, bei Voltaire eine ungewöhnliche Gesundheit und Leichtigkeit. .... Romantik á la Rousseau: die Leidenschaft (» das souveräne Recht der Passion«), die »Natürlichkeit«; die Faszination der Verrücktheit (die Narrheit zur Größe gerechnet); die unsinnige Eitelkeit des Schwachen; die Pöbel-Rankune als Richterin (»in der Politik hat man seit hundert Jahren einen Kranken als Führer genommen«).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 74-76

„Die beiden großen Tentativen, die gemacht worden sin, das 18. Jahrhundert zu überwinden:
Napoleon, indem er den Mann, den Soldaten und den großen Kampf umd Macht wieder aufweckte – Europa als politische Einheit konzipierend;
Goethe, indem er eine europäische Kultur imaginierte, die die volle Erbschaft der schon erreichten Humanität macht.
Die deutsche Kultur dieses Jahrhunderts erweckt Mißtrauen – in der Musik fehlt jenes volle, erlösende und bindende Element Goethe –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 78

„Wagner resümiert die Romantik, die deutsche und die französische –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 79

„Grundsatz: es gibt etwas von Verfall in allem, was den modernen Menschen anzeigt: aber dicht neben der Krankheit stehen Anzeichen einer unerprobten Kraft und Mächtigkeit der Seele. Dieselben Gründe, welche die Verkleinerung der Menschen hervorbringen, treiben die Stärkeren und Seltneren bis hinauf zur Größe.
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 81

„Gesamt-Einsicht: der zweideutige Charakter unserer modernen Welt - eben dieselben Symptome können auf Niedergang und auf Stärke deuten. Und die Abzeichen der Stärke, der errungenen Mündigkeit könnten auf Grund überlieferter (zurückgebliebener) Gefühls-Abwerthung als Schwäche mißverstanden werden. Kurz, das Gefühl, als Wert-Gefühl, ist nicht auf der Höhe der Zeit. Verallgemeinert: Das Wertgefühl ist immer rückständig, es drückt Erhaltungs-, Wachstums-Beziehungen einer viel frühren Zeit aus: es kämpft gegen neue Daseins-Bedingungen an, aus denen es nicht gewachsen ist und die es nothwendig mißversteht, mißtrauisch ansehen lehrt usw.: es hemmt, es weckt Argwohn gegen das Neue ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 81

Das Problem des neunzehnten Jahrhunderts. Ob seine starke und schwache Seite zueinander gehören? Ob es aus einem Holze geschnitzt ist? Ob die Verschiedenheit seiner Ideale und deren Widerspruch in einem höheren Zwecke bedingt ist: als etwas Höheres – Denn es könnte die Vorbestimmung zur Größe sein, in diesem Maße in heftiger Spannung zu wachsen. Die Unzufriedenheit, der Nihilismus könnte ein gutes Zeichen sein.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 82

Gesamt-Einsicht. – Tatsächlich bringt jedes große Wachstum auchein ungeheures Abbröckeln und Vergehen mit sich: das Leiden, die Symptome des Niedergangs gehören in die Zeiten ungeheuren Vorwärtsgehens; jede fruchtbare und mächtige Bewegung der Menschheit hat zugleich eine nihilistische Bewegung mitgeschaffen. Es wäre unter Umständen das Anzeichen für ein einschneidendes und allerwesentliches Wachstum, für den Übergang in neue Daseinsbedingungen, daß die extremste Form des Pessimismus. der eigentliche Nihilismus, zur Welt käme. Dies habe ich begriffen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 82

„A.
Von einer vollen herzhaften Würdigung unsrer jetzigen Menschheit auszugehen: – sich nicht durch den Augenschein täuschen lassen: diese Menschheit ist weniger »effektvoll«, aber sie gibt ganz andere Garantien der Dauer, ihr Tempo ist langsamer, aber der Takt selbst ist viel reicher. Die Gesundheit nimmt zu, die wirklichen Bedingungen des starken Leibes werden erkannt und allmählich geschaffen, der »Asketismus« ironice –. Die Scheu vor Extremen, ein gewisses Zutrauen zum »rechten Weg«, keine Schwärmerei; ein zeitweiliges Sich-Einleben in engere Werte (wie »Vaterland«, wie »Wissenschaft« usw.). Dies ganze Bild wäre aber immer noch zweideutig: – es könnte eine aufsteigende oder aber eine absteigende Bewegung des Lebens sein.
B.
Der Glaube an den »Fortschritt« – – in der niederen Sphäre der Intelligenz erscheint er als aufsteigendes Leben: aber das ist Selbsttäuschung; in der höheren Sphäre der Intelligenz als absteigendes. Schilderung der Symptome. Einheit des Gesichtspunktes: Unsicherheit in betreff der Wertmaße. Furcht vor einem allgemeinen »Umsonst«. Nihilismus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 82-83

„Tatsächlich haben wir ein Gegenmittel gegen den ersten Nihilismus nicht mehr so nötig: das Leben ist nicht mehr dermaßen ungewiß, zufällig, unsinnig in unserem Europa. Eine solch ungeheure Potenzierung vom Wert des Menschen, vom Wert des Übels usw. ist jetzt nicht so nötig, wir ertragen eine bedeutende Ermäßigung dieses Wertes, wir dürfen viel Unsinn und Zufall einräumen: die erreichte Macht des Menschen erlaubt jetzt eine Herabsetzung der Zuchtmittel, von denen die moralische Interpretation das stärkste war. »Gott« ist eine viel zu extreme Hypothese.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 83

„Wenn irgend etwas unsere Vermenschlichung, einen wahren tatsächlichen Fortschritt bedeutet, so ist es,daß wir keine exzessiven Gegensätze, überhaupt keine Gegensätze mehr brauchen .... Wir dürfen die Sinne lieben, wir haben sie in jedem Grade vergeistigt und artistisch gemacht; wir haben ein Recht auf alle die Dinge, die am schlimmsten bisher verrufen waren.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 83-84

Die Umkehrung der Rangordnung. – Die frommen Falschmünzer, die Priester, werden unter uns zu Tschandalas: – sie nehmen die Stellung der Scharlatane, der Quacksalber, der Falschmünzer, der Zauberer ein: wir halten sie für Willens-Verderber, für die großen Verleumder und Rachsüchtigen des Lebens, für die Empörer unter den Schlechtweggekommenen. Wir haben aus der Dienstboten-Kaste, den Sudras, unsern Mittelstand gemacht, unser »Volk«, das, was die politische Entscheidung in den Händen hat. Dagegen ist der Tschandala von ehemals obenauf: voran die Gotteslästerer, die Immoralisten, die Freizügigen jeder Art, die Artisten, die Juden, die Spielleute – im Grunde alle verrufenen Menschenklassen –. Wir haben uns zu ehrenhaften Gedanken emporgehoben, mehr noch, wir bestimmen die Ehre auf Erden, die »Vornehmheit«... Wir alle sind heute die Fürsprecher des Lebens –. Wir Immoralisten sind heute die stärkste Macht: die großen andern Mächte brauchen uns... wir konstruieren die Welt nach unserm Bilde –. Wir haben den Begriff »Tschandala« auf die Priester, Jenseits-Lehrer und die mit ihnen verwachsene christliche Gesellschaft übertragen, hinzugenommen was gleichen Ursprungs ist, die Pessimisten, Nihilisten, Mitleids-Romantiker, Verbrecher, Lasterhaften – die gesamte Sphäre, wo der Begriff »Gott« als Heiland imaginiert wird .... Wir sind stolz darauf, keine Lügner mehr sein zu müssen, keine Verleumder, keine Verdächtiger des Lebens ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 84-85

Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts gegen das achtzehnte (– im Grunde führen wir guten Europäer einen Krieg gegen das achtzehnte Jahrhundert –):
1. »Rückkehr zur Natur« immer entschiedener im umgekehrten Sinne verstanden, als es Rousseau verstand; – weg vom Idyll und der Oper!
2. immer entschiedener antiidealistisch, gegenständlicher, furchtloser, arbeitsamer, maßvoller, mißtrauischer gegen plötzliche Veränderungen, antirevolutionär;
3. immer entschiedener die Frage der Gesundheit des Leibes der »der Seele« voranstellend: letztere als einen Zustand infolge der ersteren begreifend, diese mindestens als die Vorbedingung der Gesundheit der Seele.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 85

„Wenn irgend etwas erreicht ist, so ist es ein harmloseres Verhalten zu den Sinnen, eine freudigere, wohlwollendere, Goetheschere Stellung zur Sinnlichkeit; insgleichen eine stolzere Empfindung in betreff des Erkennens: so daß der »reine Tor« wenig glauben findet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 85

Die Vernatürlichung des Menschen im 19. Jahrhundert (das 18. Jahrhundert ist das der Eleganz, der Feinheit und der généreux sentiments). >Nicht „Rückkehr zur Natur“: denn es gab noch niemals eine natürliche Menschheit. Die Scholastik un- und widernatürlicher Werte ist die Regel, ist der Anfang; zur Natur kommt der Mensch nach langem Kampfe — er kehrt nie »zurück« .... Die Natur: d.h. es wagen, unmoralisch zu sein wie die Natur. Wir sind gröber, direkter, voller Ironie gegen genereuse Gefühle, selbst wenn wir ihnen unterliegen.
Natürlicher ist unsere erste Gesellschaft, die der Reichen, der Müßgen: man macht Jagd auseinander, die Geschlechtsliebe ist eine Art Sport, bei dem die Ehe ein Hindernis und einen Reiz abgiebt; man unterhält sich und lebt um des Vergnügens willen; man schätzt die körperlichen Vorzüge in erster Linie, man ist neugierig und gewagt.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Erkenntnis: wir haben die Libertinage des Geistes in aller Unschuld, wir hassen die pathetischen und hieratischen Manieren, wir ergötzen uns am Verbotensten, wir wüßten kaum noch ein Interesse der Erkenntnis, wenn wir uns auf dem Wege zu ihr zu langweilen hätten.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Moral. Prinzipien sind lächerlich geworden; niemand erlaubt sich ohne Ironie mehr von seiner „Pflicht“ zu reden. Aber man schätzt eine hilfreiche wohlwollende Gesinnung (– man sieht im Instinkt die Moral und dedaignirt den Rest. Außerdem ein paar Ehrenpunkts-Begriffe –).
Natürlicher ist unsere Stellung in politicis: wir sehen Probleme der Macht, des Quantums Macht gegen ein anderes Quantum. Wir glauben nicht an ein Recht, das nicht auf der Macht ruht, sich durchzusetzen: wir empfinden alle Rechte als Eroberungen.
Natürlicher ist unsere Schätzung großer Menschen und Dinge: wir rechnen die Leidenschaft als ein Vorrecht, wir finden nichts groß, wo nicht ein großes Verbrechen einbegriffen ist; wir konzipieren alles Groß-sein als ein Sich-außerhalb-stellen in Bezug auf Moral.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Natur: wir lieben sie nicht mehr um ihrer »Unschuld« »Vernunft« »Schönheit« willen, wir haben sie hübsch »verteufelt« und »verdummt«. Aber statt sie darum zu verachten, fühlen wir uns seitdem verwandter und heimischer in ihr. Sie aspirirt nicht zur Tugend: wir achten sie deshalb.
Natürlicher ist unsere Stellung zur Kunst: wir verlangen nicht von ihr die schönen Scheinlügen usw.; es herrscht der brutale Positivismus, welcher konstatiert, ohne sich zu erregen.
In summa: es gibt Anzeichen dafür, daß der Europäer des 19. Jahrhunderts sich weniger seiner Instinkte schämt; er hat einen guten Schritt dazu gemacht, sich einmal seine unbedingte Natürlichkeit d.h. seine Unmoralität einzugestehn, ohne Erbitterung: im Gegenteil, stark genug dazu, diesen Anblick allein noch auszuhalten. Dies klingt in gewissen Ohren, wie als ob die Korruption fortgeschritten wäre: und gewiß ist, daß der Mensch sich nicht der »Natur« angenähert hat, von der Rousseau redet, sondern einen Schritt weiter in der Zivilisation, welche er perhorreszierte. Wir haben uns verstärkt: wir sind dem 17. Jahrhundert wieder näher gekommen, dem Geschmack seines Endes namentlich ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 87-88

Kultur contra Zivilisation. – Die Höhepunkte der Kultur und der Zivilisation liegen auseinander: man soll sich über den abgründlichen Antagonismus von Kultur und Zivilisation nicht irreführen lassen. Die großen Momente der Kultur waren immer, moralisch geredet, Zeiten der Korruption; und wiederum waren die Epochen der gewollten und erzwungenen Tierzähmung des Menschen (»Zivilisation« –) Zeiten der Unduldsamkeit für die geistigsten und kühnsten Naturen. Zivilisation will etwas anderes, als Kultur will: vielleicht etwas Umgekehrtes ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 88-89

Wovor ich warne: die décadence-Instinkte nicht mit Humanität zu verwechseln: die auflösenden und notwendig zu décadence treibenden Mittel der Zivilisation nicht mit der Kultur zu verwechseln; die Libertinage, das Prinzip der »laisser aller«, nicht mit dem Willen zur Macht zu verwechseln (– er ist dessen Gegenprinzip).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 89

„Die unerledigten Probleme, die ich neu stelle: das Problem der Zivilisation, der Kampf zwischen Rousseau und Voltaire um 1760. Der Mensch wird tiefer, mißtrauischer, »unmoralischer«, stärker, sich-selbst-vertrauender – und insofern »natürlicher«: das ist »Fortschritt«. – Dabei legen sich, durch eine Art von Arbeitsteilung, die verböserten Schichten und die gemilderten, gezähmten auseinander: so daß die Gesamttatsache nicht ohne weiteres in die Augen springt .... Es gehört zur Stärke, zur Selbstbeherrschung und Faszination der Stärke, daß diese stärkeren Schichten die Kunst besitzen, ihre Verböserung als etwas Höheres empfinden zu machen. Zu jedem »Fortschritt« gehört eine Umdeutung der verstärkten Elemente ins »Gute«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 89

„Daß man den Menschen den Mut zu ihren Naturtrieben wiedergibt –.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 90

„Fortschritt zur »Natürlichkeit«: in allen politischen, auch im Verhältnis von Parteien, selbst von merkantilen oder Arbeiter- oder Unternehmer-Parteien. handelt es sich um Machtfragen –, »was man kann«, und erst daraufhin, was man soll.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 90

„Der Sozialismus – als die zu Ende gedachte Tyrannei der Geringsten und Dümmsten, der Oberflächlichen, der Neidischen und der Dreiviertels-Schauspieler – ist in der Tat die Schlußfolgerung der »modernen Ideen« und ihres latenten Anarchismus: aber in der lauen Luft eines demokratischen Wohlbefindens erschlafft das Vermögen, zu Schlüssen oder gar zum Schluß zu kommen. Man folgt, – aber man folgert nicht mehr. Deshalb ist der Sozialismus im Ganzen eine hoffnungslose, säuerliche Sache; und nichts ist lustiger anzusehen als der Widerspruch zwischen den giftigen und verzweifelten Gesichtern, welche heute die Sozialisten machen – und von was für erbärmlichen gequetschten Gefühlen legt gar ihr Stil Zeugnis ab! – und dem harmlosen Lämmer-Glück ihrer Hoffnungen und Wünschbarkeiten. Dabei kann es doch an vielen Orten Europas ihrerseits zu gelegentlichen Handstreichen und Überfällen kommen: dem nächsten Jahrhundert wird es hie und da gründlich im Leibe »rumoren,« und die Pariser Kommune, welche auch in Deutschland ihre Schutzredner und Fürsprecher hat (z.B. in dem philosophischen Grimassen-Schneider und Sumpfmolch E[ugen] D[ühring] in Berlin), war vielleicht nur eine leichtere Unverdaulichkeit gemessen an dem, was kommt. Trotzdem wird es immer zuviel Besitzende geben, als daß der Sozialismus mehr bedeuten könnte als einen Krankheits-Anfall: und diese Besitzenden sind wie Ein Mann Eines Glaubens »man muß etwas besitzen, um etwas zu sein.« Dies aber ist der älteste und gesündeste aller Instinkte: ich würde hinzufügen »man muß mehr haben wollen als man hat, um mehr zu werden.« So nämlich klingt die Lehre, welche allem, was lebt, durch das Leben selber gepredigt wird: die Moral der Entwicklung. Haben und mehr haben wollen, Wachstum mit einem Wort – das ist das Leben selber. In der Lehre des Sozialismus versteckt sich schlecht ein »Wille zur Verneinung des Lebens«; es müssen mißratene Menschen oder Rassen sein, welche eine solche Lehre ausdenken. In der Tat, ich wünschte, es würde durch einige große Versuche bewiesen, daß in einer sozialistischen Gesellschaft das Leben sich selber verneint, sich selber die Wurzeln abschneidet. Die Erde ist groß genug, und der Mensch immer noch unausgeschöpft genug, als daß mir eine derart praktische Belehrung und demonstratio ad absurdum, selbst wenn sie mit einem ungeheuren Aufwand von Menschenleben gewonnen und bezahlt würde, nicht wünschenswert erscheinen müßte. Immerhin, schon als unruhiger Maulwurf unter dem Boden einer in die Dummheit rollenden Gesellschaft wird der Sozialismus etwas Nützliches und Heilsames sein können: er verzögert den »Frieden auf Erden« und die gänzliche Vergutmütigung des demokratischen Herdentieres, er zwingt die Europäer, Geist, nämlich List und Vorsicht übrig zu behalten, den männlichen und kriegerischen Tugenden nicht gänzlich abzuschwören und einen Rest von Geist, von Klarheit, Trockenheit und Kälte des Geistes übrig zu behalten, – er schützt Europa einstweilen vor dem ihm drohenden marasmus femininus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 90-92

Die günstigstren Hemmungen und Remeduren der Modernität:
1. die allgemeine Wehrpflicht mit wirklichen Kriegen, bei denen der Spaß aufhört;
2. die nationale Borniertheit(vereinfachend, konzentrierend);
3. die verbesserte Ernährung (Fleisch);
4. die zunehmende Reinlichkeit und Gesundheit der Wohnstätten;
5. die Vorherrschaft der Physiologie über Theologie, Moralistik, Ökonomie und Politik;
6. die militärische Strende in der Forderung und Handhabung seiner »Schuldigkeit« (man lobt nicht mehr ...).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 92

„Die Verkleinerung und Regierbarkeit der Menschen wird als »Fortschritt« erstrebt!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 93

„All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben, will ich zurückfordern als Eigenthum und Erzeugnis des Menschen: als seine schönste Apologie. Der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott, als Liebe, als Macht: o über seine königliche Freigebigkeit, womit er die Dinge beschenkt hat, um sich zu verarmen und sich elend zu fühlen! Das ist seine größte Selbstlosigkeit, daß er bewunderte und anbetete und sich zu verbergen wußte, daß er es war, der das geschaffen hat, was er bewunderte. –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 99

„Der unfreie Wille bedarf eines fremden Willens.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 101

„Der Mensch hat alle seine starken und erstaunlichen Momente nicht gewagt, sich zuzurechnen, – er hat sie als »passiv«, als »erlitten«, als Überwältigungen konzipiert: die Religion ist eine Ausgeburt eines Zweifels an der Einheit der Person, eine altération der Persönlichkeit: insofern alles Große und Starke vom Menschen als übermenschlich, als fremd konzipiert wurde, verkleinerte sich der Mensch, – er legte die zwei Seiten, eine sehr erbärmliche und schwache und eine sehr starke und erstaunliche in zwei Sphären auseinander, hieß die erste »Mensch«, die zweite »Gott«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 101

„Er hat das immer fortgesetzt. Er hat, in der Periode der moralischen Idiosynkrasie seine hohen und sublimen Moral-Zustände nicht als »gewollt«, als »Werk« der Person ausgelegt. Auch der Christ legt seine Person in eine mesquine und schwache Fiktion, die er Mensch nennt, und eine andere, die er Gott (Erlöser, Heiland) nennt, auseinander.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 101-102

„Die Religion hat den Begriff »Mensch« erniedrigt; ihre extreme Konsequenz ist, daß alles Gute, Große, Wahre übermenschlich ist und nur durch eine Gnade geschenkt ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 102

„Ein Weg, den Menschen aus seiner Erniedrigung zu ziehen, welche der Abgang der hohen und starken Zustände, wie als fremder Zustände, mit sich brachte, war die Verwandtschafts-Theorie. Diese hohen und starken Zustände konnten wenigstens als Einwirkungen unserer Vorfahren ausgelegt werden, wir gehörten zueinander, solidarisch, wir wachsen in unseren eigenen Augen, indem wir nach uns bekannter Norm handeln.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 102

„Versuch, vornehmer Familien, die Religion mit ihrem Selbstgefühl auszugleichen. – Dasselbe tun die Dichter und Seher, sie fühlen sich stolz, gewürdigt und auserwählt zu sein zu solchem Verkehre, – sie legen Wert darauf, als Individuen gar nicht in Betracht zu kommen, bloße Mundstücke zu sein (Homer).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 102

„Schrittweises Besitz-ergreifen von seinen hohen und stolzen Zuständen, Besitz-ergreifen von seinen Handlungen und Werken. Ehedem glaubte man sich zu ehren, wenn man für die höchsten Dinge, die man tat, sich nicht verantwortlich wußte, sondern – Gott – die Unfreiheit des Willens galt als das, was einer Handlung einen höheren Wert verlieh: damals war ein Gott zu ihrem Urheber gemacht ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 102

„Die Priester sind die Schauspieler von irgend etwas Übermenschlichem, dem sie Sinnfälligkeit zu geben haben, sei es von Idealen, sei es von Göttern oder von Heilanden; darin finden sie ihren Beruf, dafür haben sie ihre Instinkte; um es so glaubwürdig wie möglich zu machen, müssen sie in der Anähnlichung so weit wie möglich gehen; ihre Schauspieler-Klugheit muß vor allem das gute Gewissen bei ihnen erzielen, mit Hilfe dessen erst wahrhaft überredet werden kann.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 103

„Der Priester will durchsetzen, daß er als höchster Typus des Menschen gilt, daß er herrscht, – auch noch über die, welche die Macht in den Händen haben, daß er unverletztlich ist, unangreifbar –, daß er die stärkste Macht in der Gemeinde ist, absolut nicht zu ersetzen und zu unterschätzen. Mittel: er allein ist der Wissende; er allein ist der Tugendhafte; er allein hat die höchste Herrschaft über sich; er allein ist in einem gewissen Sinne Gott und geht zurück in die Gottheit; er allein ist die Zwischenperson zwischen Gott und den andern; die Gottheit straft jeden Nachteil, jeden Gedanken wider einen Priester gerichtet. Mittel: die Wahrheit existiert. Es gibt nur eine Form, sie zu erlangen: Priester werden. Alles, was gut ist, in der Ordnung, in der Natur, in dem Herkommen, geht auf die Weisheit der Priester zurück. Das Heilige Buch ist ihr Werk. Die ganze Natur ist nur eine Ausführung der Satzungen darin. Es gibt keine andere Quelle des Guten als den Priester. Alle andere Art von Vortrefflichkeit ist rangverschieden von der des Priesters, z.B. die des Kriegers. Konsequenz: wenn der Priester der höchste Typus sein soll, so muß die Gradation zu seinen Tugenden die Wertgradation der Menschen ausmachen. Das Studium, die Entsinnlichung, das Nicht-Aktive, das Impassible, Affektlose, das Feierliche; – Gegensatz: die tiefste Gattung Mensch. Der Priester hat eine Art Moral gelehrt: um selbst als höchster Typus empfunden zu werden. Er konzipiert einen Gegensatz-Typus: den Tschandala. Diesen mit allen Mitteln verächtlich zu machen, gibt die Folie ab für die Kasten-Ordnung. – Die extreme Angst des Priesters vor der Sinnlichkeit ist zugleich bedingt durch die Einsicht, daß hier die Kasten-Ordnung (das heißt die Ordnung überhaupt) am schlimmsten bedroht ist .... Jede »freiere Tendenz« in puncto puncti (d.h.: hisnischtlich der Keuschheit; HB) wirft die Ehegesetzgebung über den Haufen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 103-104

„Der Philosoph als Weiter-Entwicklung des priesterlichen Typus: – hat dessen Erbschaft im Leibe; – ist, selbst noch als Rivale, genötigt, um dasselbe mit denselben Mitteln zu ringen wie der Priester seiner Zeit; – er aspiriert zur höchsten Autorität. Was gibt Autorität, wenn man nicht die physische Macht in den Händen hat (keine Heere, keine Waffen überhaupt ...)? Wie gewinnt man namentlich die Autorität über die, welche die physische Gewalt und die Autorität besitzen? (Sie konkurrieren mit der Ehrfurcht vor dem Fürsten, vor dem siegreichen Eroberer, dem weisen Staatsmann.) Nur indem sie den Glauben erwecken, eine höhere stärkere Gewalt in den Händen zu haben – Gott –. Es ist nichts stark genug: man hat die Vermittlung und die Dienste der Priester nötig. Sie stellen sich als unentbehrlich dazwischen: sie haben als Existenzbedingung nötig:
1. daß an die absolute Überlegenheit ihres Gottes, daß an ihren Gott geglaubt wird,
2. daß es keine andern, keine direkten Zugänge zu Gott gibt.
Die zweite Forderung allein schafft den Begriff der »Heterodoxie«; die erste den des »Ungläubigen« (d.h. der an einen andern Gott [oder gar keinen; HB] glaubt –).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 104-105

Kritik der heiligen Lüge. – Daß zu frommen Zwecken die Lüge erlaubt ist, das gehört zur Theorie aller Priesterschaften – wie weit es zu ihrer Praxis gehört, soll der Gegenstand dieser Untersuchung sein.
Aber auch die Philosophen, sobald sie mit priesterlichen Hinterabsichten die Leitung der Menschen in die Hand zu nehmen beabsichtigen, haben sofort auch sich ein Recht zur Lüge zurechtgemacht: Plato voran. Am großartigsten ist die doppelte durch die typischarischen Philosophen des Vedânta entwickelte: zwei Systeme, in allen Hauptpunkten widersprüchlich, aber aus Erziehungszwecken sich ablösend, ausfüllend, ergänzend. Die Lüge des einen soll einen Zustand schaffen, in dem die Wahrheit des andern erst hörbar wird ....
Wie weit geht die fromme Lüge der Priester und der Philosophen? – Man muß hier fragen, welche Voraussetzungen zur Erziehung sie haben, welche Dogmen sie erfinden müssen, um diesen Voraussetzungen genugzutun?
Erstens: sie müssen die Macht, die Autorität, die unbedingte Glaubwürdigkeit auf ihrer Seite haben.
Zweitens: sie müssen den ganzen Naturverlauf in Händen haben, so daß alles, was den einzelnen trifft, als bedingt durch ihr Gesetz erscheint.
Drittens: sie müssen auch einen weiter reichenden Machtbereich haben, dessen Kontrolle sich den Blicken ihrer Unterworfenen entzieht: das Strafmaß für das Jenseits, das »Nach-dem-Tode« – wie billig auch die Mittel, zur Seligkeit den Weg zu wissen.
– Sie haben den Begriff des natürlichen Verlaufs zu entfernen: da sie aber kluge und nachdenkliche Leute sind, so können sie eine Menge Wirkungen versprechen, natürlich als bedingt durch Gebete oder durch strikte Befolgung ihres Gesetzes. – Sie können insgleichen eine Menge Dinge verordnen, die absolut vernünftig sind, – nur daß sie nicht die Erfahrung, die Empirie als Quelle dieser Weisheit nennen dürfen, sondern eine Offenbarung oder die Folge »härtester Bußübungen«.
Die heilige Lüge bezieht sich also prinzipiell: (a) auf den Zweck der Handlung (– der Naturzweck, die Vernunft wird unsichtbar gemacht: ein Moral-Zweck, eine Gesetzeserfüllung, eine Gottesdienstlichkeit erscheint als Zweck –): (b) auf die Folge der Handlung (– die natürliche Folge wird als übernatürliche ausgelegt, und, um sichrer zu wirken, es werden unkontrollierbare andre, übernatürliche Folgen in Aussicht gestellt).
Auf diese Weise wird ein Begriff von Gut und Böse geschaffen, der ganz und gar losgelöst von dem Naturbegriff »nützlich«, »schädlich«, »lebenfördernd«, »lebenvermindernd« erscheint – er kann, insofern ein anderes Leben erdacht ist, sogar direkt feindselig dem Naturbegriff von Gut und Böse werden.
Auf diese Weise wird endlich das berühmte »Gewissen« geschaffen: eine innere Stimme, welche bei jeder Handlung nicht den Wert der Handlung an ihren Folgen mißt, sondern in Hinsicht auf die Absicht und Konformität dieser Absicht mit dem »Gesetz«.
Die heilige Lüge hat also 1. einen strafenden und belohnenden Gott erfunden, der exakt das Gesetzbuch der Priester anerkennt und exakt sie als seine Mundstücke und Bevollmächtigten in die Welt schickt; – 2. ein Jenseits des Lebens, in dem die große Straf-Maschine erst wirksam gedacht wird – zu diesem Zwecke die Unsterblichkeit der Seele; – 3. das Gewissen im Menschen, als das Bewußtsein davon, daß Gut und Böse feststeht – daß Gott selbst hier redet, wenn es die Konformität mit der priesterlichen Vorschrift anrät; – 4. die Moral als Leugnung alles natürlichen Verlaufs, als Reduktion alles Geschehens auf ein moralisch-bedingtes Geschehen, die Moralwirkung (d. h. die Straf- und Lohn-Idee) als die Welt durchdringend, als einzige Gewalt, als creator von allem Wechsel; – 5. die Wahrheit als gegeben, als geoffenbart, als zusammenfallend mit der Lehre der Priester: als Bedingung alles Heils und Glücks in diesem und jenem Leben.
In summa: womit ist die moralische Besserung bezahlt? – Aushängung der Vernunft, Reduktion aller Motive auf Furcht und Hoffnung (Strafe und Lohn); Abhängigkeit von einer priesterlichen Vormundschaft, von einer Formalien-Genauigkeit, welche den Anspruch macht, einen göttlichen Willen auszudrücken; die Einpflanzung eines »Gewissens«, welches ein falsches Wissen an Stelle der Prüfung und des Versuchs setzt: wie als ob es bereits feststünde, was zu tun und was zu lassen wäre – eine Art Kastration des suchenden und vorwärtsstrebenden Geistes; – in summa: die ärgste Verstümmelung des Menschen, die man sich vorstellen kann, angeblich als der »gute Mensch«.
In praxi ist die ganze Vernunft, die ganze Erbschaft von Klugheit, Feinheit, Vorsicht, welche die Voraussetzung des priesterlichen Kanons ist, willkürlich hinterdrein auf eine bloße Mechanik reduziert: die Konformität mit dem Gesetz gilt bereits als Ziel, als oberstes Ziel, das Leben hat keine Probleme mehr; – die ganze Welt-Konzeption ist beschmutzt mit der Strafidee; – das Leben selbst ist, mit Hinsicht darauf, das priesterliche Leben als das non plus ultra der Vollkommenheit darzustellen, in eine Verleumdung und Beschmutzung des Lebens umgedacht; – der Begriff »Gott« stellt eine Abkehr vom Leben, eine Kritik, eine Verachtung selbst des Lebens dar; – die Wahrheit ist umgedacht als die priesterliche Lüge, das Streben nach Wahrheit als Studium der Schrift, als Mittel, Theolog zu werden ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 105-108

Zur Kritik des Manu-Gesetzbuches. – Das ganze Buch ruht auf der heiligen Lüge. Ist es das Wohl der Menschheit, welches dieses ganze System inspiriert hat? Diese Art Mensch, welche an die Interessiertheit jeder Handlung glaubt, war sie interessiert oder nicht, dieses System durchzusetzen? Die Menschheit zu verbessern – woher ist diese Absicht inspiriert? Woher ist der Begriff des Bessern genommen? Wir finden eine Art Mensch, die priesterliche, die sich als Norm, als Spitze, als höchsten Ausdruck des Typus Mensch fühlt: von sich aus nimmt sie den Begriff des »Bessern«. Sie glaubt an ihre Überlegenheit, sie will sie auch in der Tat: die Ursache der heiligen Lüge ist der Wille zur Macht .... Aufrichtung der Herrschaft: zu diesem Zwecke die Herrschaft von Begriffen, welche in der Priesterschaft ein non plus ultra von Macht ansetzen. Die Macht durch die Lüge – in Einsicht darüber, daß man sie nicht physisch, militärisch besitzt .... Die Lüge als Supplement der Macht – ein neuer Begriff der »Wahrheit«. Man irrt sich, wenn man hier unbewußte und naive Entwicklung voraussetzt, eine Art Selbstbetrug... Die Fanatiker sind nicht die Erfinder solcher durchdachten Systeme der Unterdrückung .... Hier hat die kaltblütigste Besonnenheit gearbeitet; dieselbe Art Besonnenheit, wie sie ein Plato hatte, als er sich seinen »Staat« ausdachte. – »Man muß die Mittel wollen, wenn man das Ziel will« – über diese Politiker-Einsicht waren alle Gesetzgeber bei sich klar. Wir haben das klassische Muster als spezifisch arisch: wir dürfen also die bestausgestattete und besonnenste Art Mensch verantwortlich machen für die grundsätzlichste Lüge, die je gemacht worden ist .... Man hat das nachgemacht, überall beinahe: der arische Einfluß hat alle Welt verdorben ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 108-109

„Im arischen Gesetzbuch reinster Rasse, im Manu, ist ... „Priester-Geist“ schlimmer als irgendwo.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 109

„Die Entwicklung des jüdischen Priesterstaates ist nicht original: sie haben das Schema in Babylon kennengelernt: das Schema ist arisch. Wenn dasselbe später wieder, unter dem Übergewicht des germanischen Blutes, in Europa dominierte, so war dies dem Geiste der herrschenden Rasse gemäß: ein großer Atavismus. Das germanische Mittelalter war auf Wiederherstellung der arischen Kasten-Ordnung aus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 109

„Der Mohammedanismus hat wiederum vom Christentum gelernt: die Benutzung des »Jenseits« als Straf-Organ.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 109

„Das Schema eines unveränderlichen Gemeinwesens, mit Priestern an der Spitze – dieses älteste große Kultur-Produkt Asiens im Gebiete der Organisation – muß natürlich in jeder Beziehung zum Nachdenken und Nachmachen aufgefordert haben. – Noch Plato: aber vor allen die Ägypter.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 109-110

„Die Moralen und Religionen sind die Hauptmittel, mit denen man aus den Menschen gestalten kann, was einem beliebt: vorausgesetzt, daß man einen Überschuß von schaffenden Kräften hat und seinen Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 110

„Wie eine ja-sagende arische Religion, die Ausgeburt der herrschenden Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Manus. (Die Vergöttlichung des Machtgefühls im Brahmanen: interessant, daß es in der Krieger-Kaste entstanden und erst übergegangen ist auf die Priester.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 110

„Wie eine ja-sagende semitische Religion, die Ausgeburt der herrschenden Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Mohammeds, das alte Testament in den älteren Teilen. (Der Mohammedanismus, als eine Religion für Männer, hat eine tiefe Verachtung für die Sentimentalität und Verlogenheit des Christentums ..., einer Weibs-Religion, als welche er sie fühlt –.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 110

„Wie eine nein-sagende semitische Religion, die Ausgeburt der unterdrückten Klasse, aussieht: das neue Testament (– nach indisch-arischen Begriffen: eine Tschandala-Religion).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 110

„Wie eine nein-sagende arische Religion, gewachsen unter den herrschenden Ständen: der Buddhismus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 110

„Es ist vollkommen in Ordnung, daß wir keine Religion unterdrückter arischer Rassen haben: denn das ist ein Widerspruch: eine Herrenrasse ist obenauf oder geht zugrunde.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 110-111

„An sich hat eine Religion nichts mit der Moral zu tun: aber die beiden Abkömmlinge der jüdischen Religion sind beide wesentlich moralische Religionen – solche, die Vorschriften darüber geben, wie gelebt werden soll und mit Lohn und Strafe ihren Forderungen Gehör schaffen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 111

Heidnisch – christlich. – Heidnisch ist das Jasagen zum Natürlichen, das Unschuldsgefühl im Natürlichen, »die Natürlichkeit«. Christlich ist das Neinsagen zum Natürlichen, das Unwürdigkeits-Gefühl im Natürlichen, die Widernatürlichkeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 111

„»Unschuldig« ist z.B. Petronius: ein Christ hat im Vergleich mit diesem Glücklichen ein für allemal die Unschuld verloren. Da aber zuletzt auch der christliche Status bloß ein Naturzustand sein muß, sich aber nicht als solchen begreifen darf, so bedeutet »christlich« eine zum Prinzip erhobene Falschmünzerei der psychologischen Interpretation ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 111

„Der christliche Priester ist von Anfang an der Todfeind der Sinnlichkeit: man kann sich keinen größeren Gegensatz denken, als die unschuldig ahnungsvolle und feierliche Haltung, mit der z.B. in den ehrwürdigsten Frauenkulten Athens die Gegenwart der geschlechtlichen Symbole empfunden wurde. Der Akt der Zeugung ist das Geheimniß an sich in allen nicht-asketischen Religionen: eine Art Symbol der Vollendung und der geheimnißvollen Absicht, der Zukunft: der Wiedergeburt, Unsterblichkeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 111-112

„Die große Lüge in der Historie: als ob es die Verderbnis des Heidentums gewesen wäre, die dem Christentum die Bahn gemacht habe! Aber es war die Schwächung und Vermoralisierung des antiken Menschen! Die Umdeutung der Naturtriebe in Laster war schon vorhergegangen!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 112

Buddha gegen den „Gekreuzigten“. – Innerhalb der nihilistischen Bewegung darf man immer noch die christliche und die buddhistische scharf auseinander halten: die buddhistische drückt einen schönen Abend aus, eine vollendete Süßigkeit und Milde, – es ist Dankbarkeit gegen alles, was hinten liegt, mit eingerechnet, es fehlt die Bitterkeit, die Enttäuschung, die Rancune: zuletzt, die hohe geistige Liebe, das Raffinement des physiologischen Widerspruchs ist hinter ihm, auch davon ruht es aus: aber von diesem hat es noch seine geistige Glorie und Sonnenuntergangs-Gluth. (– Herkunft aus den obersten Kasten –.) – Die christliche Bewegung ist eine Degenerescenz-Bewegung aus Abfalls- und Ausschuß-Elementen aller Art: sie drückt nicht den Niedergang einer Rasse aus, sie ist von Anfang an eine Aggregat-Bildung aus sich zusammendrängenden und sich suchenden Krankheits-Gebilden .… Sie ist deshalb nicht national, nicht rassebedingt: sie wendet sich an die Enterbten von überall; sie hat die Ranküne auf dem Grunde gegen alle Wohlgeratene und Herrschende, sie braucht ein Symbol, welches den Fluch auf die Wohlgeratenen und Herrschenden darstellt .... Sie steht im Gegensatz auch zu aller geistigen Bewegung, zu aller Philosophie: sie nimmt die Partei der Idioten und spricht einen Fluch gegen den Geist aus. Ranküne gegen die Begabten, Gelehrten, Geistig-Unabhängigen: sie erräth in ihnen das Wohlgeratene, das Herrschaftliche.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 113-114

„Im Buddhismus überwiegt dieser Gedanke: »Alle Begierden, alles, was Affekt, was Blut macht, zieht zu Handlungen fort« – nur insofern wird gewarnt vor dem Bösen. Denn Handeln – das hat keinen Sinn, Handeln hält im Dasein fest: alles Dasein aber hat keinen Sinn. Sie sehen im Bösen den Antrieb zu etwas Unlogischem: zur Bejahung von Mitteln, deren Zweck man verneint. Sie suchen nach einem Wege zum Nichtsein, und deshalb perhorreszieren sie alle Antriebe seitens der Affekte. Z.B. ja nicht sich rächen! ja nicht feind sein! – Der Hedonismus der Müden gibt hier die höchsten Wertmaße ab. Nichts ist dem Buddhisten ferner als der jüdische Fanatismus eines Paulus: nichts würde mehr seinem Instinkt widerstreben als diese Spannung, Flamme, Unruhe des religiösen Menschen, vor allem jene Form der Sinnlichkeit, welche das Christentum mit dem Namen der »Liebe« geheiligt hat. Zu alledem sind es die gebildeten und sogar übergeistigten Stände, die im Buddhismus ihre Rechnung finden: eine Rasse, durch einen jahrhundertelangen Philosophen-Kampf abgesotten und müde ge macht, nicht aber unterhalb aller Kultur wie die Schichten, aus denen das Christentum entsteht... Im Ideal des Buddhismus erscheint das Loskommen auch von Gut und Böse wesentlich: es wird da eine raffinierte Jenseitigkeit der Moral ausgedacht, die mit dem Wesen der Vollkommenheit zusammenfällt, unter der Voraussetzung, daß man auch die guten Handlungen bloß zeitweilig nötig hat, bloß als Mittel, -nämlich um von allem Handeln loszukommen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 114-115

„Das Christentum ist ein naiver Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung, mitten aus dem eigentlichen Herde des Ressentiments heraus... aber durch Paulus zu einer heidnischen Mysterienlehre umgedreht, welche endlich sich mit der ganzen staatlichen Organisation vertragen lernt... und Kriege führt, verurteilt, foltert, schwört, haßt. Paulus geht von dem Mysterien-Bedürfnis der großen, religiös-erregten Menge aus: er sucht ein Opfer, eine blutige Phantasmagorie, die den Kampf aushält mit den Bildern der Geheimkulte: Gott am Kreuze, das Bluttrinken, die unio mystica mit dem »Opfer«. Er sucht die Fortexistenz (die selige, entsühnte Fortexistenz der Einzelseele) als Auferstehung in Kausalverbindung mit jenem Opfer zu bringen (nach dem Typus des Dionysos, Mithras, Osiris). Er hat nötig, den Begriff Schuld und Sünde in den Vordergrund zu bringen, nicht eine neue Praxis (wie sie Jesus selbst zeigte und lehrte), sondern einen neuen Kultus, einen neuen Glauben, einen Glauben an eine wundergleiche Verwandlung (»Erlösung« durch den Glauben). Er hat das große Bedürfnis der heidnischen Welt verstanden und aus den Tatsachen vom Leben und Tode Christi eine vollkommen willkürliche Auswahl gemacht, alles neu akzentuiert, überall das Schwergewicht verlegt... er hat prinzipiell das ursprüngliche Christentum annulliert .... Das Attentat auf Priester und Theologen mündete, dank dem Paulus, in eine neue Priesterschaft und Theologie – einen herrschenden Stand, auch eine Kirche. Das Attentat auf die übermäßige Wichtigtuerei der »Person« mündete in den Glauben an die »ewige Person« (in die Sorge ums »ewige Heil« ...), in die paradoxeste Übertreibung des Personal-Egoismus. Das ist der Humor der Sache, ein tragischer Humor: Paulus hat gerade das im großen Stile wieder aufgerichtet, was Christus durch sein Leben annulliert hatte. Endlich, als die Kirche fertig ist, nimmt sie sogar das Staats-Dasein unter ihre Sanktion.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 119-120

„Die Kirche ist exakt das, wogegen Jesus gepredigt hat – und wogegen er seine Jünger kämpfen lehrte.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 120

„Ein Gott für unsere Sünden gestorben; eine Erlösung durch den Glauben; eine Wiederauferstehung nach dem Tode – das sind alles Falschmünzereien des eigentlichen Christentums, für die man jenen unheilvollen Querkopf (Paulus) verantwortlich machen muß. Das vorbildliche Leben besteht in der Liebe und Demut; in der Herzens-Fülle, welche auch den Niedrigsten nicht ausschließt; in der förmlichen Verzichtleistung auf das Recht-behalten-wollen, auf Verteidigung, auf Sieg im Sinne des persönlichen Triumphes; im Glauben an die Seligkeit hier, auf Erden, trotz Not, Widerstand und Tod; in der Versöhnlichkeit, in der Abwesenheit des Zornes, der Verachtung; nicht belohnt werden wollen; niemandem sich verbunden haben; die geistlich-geistigste Herrenlosigkeit; ein sehr stolzes Leben unter dem Willen zum armen und dienenden Leben. Nachdem die Kirche die ganze christliche Praxis sich hatte nehmen lassen und ganz eigentlich das Leben im Staate, jene Art Leben, welche Jesus bekämpft und verurteilt hatte, sanktioniert hatte, mußte sie den Sinn des Christentums irgendwo anders hin legen: in den Glauben an unglaubwürdige Dinge, in das Zeremoniell von Gebeten, Anbetung, Festen usw. Der Begriff »Sünde«, »Vergebung«, »Strafe«, »Belohnung« – alles ganz unbeträchtlich und fast ausgeschlossen vom ersten Christentum – kommt jetzt in den Vordergrund. Ein schauderhafter Mischmasch von griechischer Philosophie und Judentum; der Asketismus; das beständige Richten und Verurteilen; die Rangordnung usw..“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 120-121

„Das Christentum hat von vornherein das Symbolische in Kruditäten umgesetzt:
1. der Gegensatz »wahres Leben« und »falsches« Leben: mißverstanden als »Leben diesseits« und »Leben jenseits«;
2. der Begriff »ewiges Leben« im Gegensatz zum Personal-Leben der Vergänglichkeit als »Personal-Unsterblichkeit«;
3. die Verbrüderung durch gemeinsamen Genuß von Speise und Trank nach hebräisch-arabischer Gewohnheit als »Wunder der Transsubstantiation«;
4. die »Auferstehung –« als Eintritt in das »wahre Leben«, als »wiedergeboren«; daraus: eine historische Eventualität, die irgendwann nach dem Tode eintritt;
5. die Lehre vom Menschensohn als dem »Sohn Gottes«, das Lebensverhältnis zwischen Mensch und Gott; daraus: die »zweite Person der Gottheit« – gerade das weggeschafft: das Sohnverhältnis jedes Menschen zu Gott, auch des niedrigsten;
6. die Erlösung durch den Glauben (nämlich daß es keinen anderen Weg zur Sohnschaft Gottes gibt als die von Christus gelehrte Praxis des Lebens) umgekehrt in den Glauben, daß man an irgendeine wunderbare Abzahlung der Sünde zu glauben habe, welche nicht durch den Menschen, sondern durch die Tat Christi bewerkstelligt ist: Damit mußte »Christus am Kreuze« neu gedeutet werden. Dieser Tod war an sich durchaus nicht die Hauptsache ..., er war nur ein Zeichen mehr, wie man sich gegen die Obrigkeit und Gesetze der Welt zu verhalten habe – nicht sich wehren .... Darin lag das Vorbild.
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 121-122

„Man muß das „Kreuz“ empfinden wie Goethe.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 128

Zum psychologischen Problem des Christentums.Die treibende Kraft bleibt: das Ressentiment, der Volksaufstand, der Aufstand der Schlechtweggekommenen. (Mit dem Buddhismus steht es anders: er ist nicht geboren aus einer Ressentiment-Bewegung. Er bekämpft dasselbe, weil es zum Handeln antreibt). Diese Friedenspartei begreift, daß Verzichtleisten auf Feindseligkeit in Gedanken und Tat eine Unterscheidungs- und Erhaltungsbedingung ist. Hierin liegt die psychologische Schwierigkeit, welche verhindert hat, daß man das Christentum verstand: der Trieb, der es schuf, erzwingt eine grundsätzliche Bekämpfung seiner selber. Nur als Friedens- und Unschuldspartei hat diese Aufstandsbewegung eine Möglichkeit auf Erfolg: sie muß siegen durch die extreme Milde, Süßigkeit, Sanftmut, ihr Instinkt begreift das –. Kunststück: den Trieb, dessen Ausdruck man ist, leugnen, verurteilen, das Gegenstück dieses Triebes durch die Tat und das Wort beständig zur Schau tragen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 130

„Genauso so, wie die Priesterschaft die ganze Geschichte Israels verfälscht hatte, so wurde nochmals der Versuch gemacht, überhaupt die Geschichte der Menschheit hier umzufälschen, damit das Christentum als sein kardinalstes Ereignis erscheinen könne. Diese Bewegung konnte nur auf dem Boden des Judentums entstehen: dessen Haupttat war, Schuld und Unglück zu verflechten und alle Schuld auf Schuld an Gott zu reduzieren: davon ist das Christentum die zweite Potenz.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 133

„Das Christentum zog die letzte Konsequenz dieser Bewegung: auch im jüdischen Priestertum empfand es noch die Kaste, den Privilegierten, den Vornehmen – es strich den Priester aus. – Der Christ ist der Tschandala, der den Priester ablehnt .... der Tschandala, der sich selbst erlöst .... Deshalb ist die französische Revolution die Tochter und Fortsetzerin des Christentums ..., sie hat den Instinkt gegen die Kaste, gegen die Vornehmen, gegen die letzten Privilegien.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 134

„Die tiefe Verachtung, mit der der Christ in der vornehm gebliebenen antiken Welt behandelt wurde, gehört ebendahin, wohin heute noch die Instinkt-Abneigung gegen den Juden gehört: es ist der Haß der freien und selbstbewußten Stände gegen die, welche sich durchdrücken und schüchterne, linkische Gebärden mit einem unsinnigen Selbstgefühl verbinden. Das Neue Testament ist das Evangelium einer gänzlich unvornehmen Art Mensch; ihr Anspruch, mehr Wert zu haben, ja allen Wert zu haben, hat in der Tat etwas Empörendes – auch heute noch.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 134-135

„Der Buddhist handelt anders als der Nichtbuddhist; der Christ handelt wie alle Welt und hat ein Christentum der Zeremonien und Stimungen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 137

„Das Christentum nimmt den Kampf nur auf, der schon gegen das klassische Ideal, gegen die vornehme Religion bestand. Tatsächlich ist diese ganze Umbildung eine Übersetzung in die Bedürfnisse und das Verständnis-Niveau der damaligen religiösen Masse: jener Masse, welche an Isis, Mithras, Dionysos, die »große Mutter« glaubte und welche von einer Religion verlangte: 1. die Jenseits-Hoffnung, 2. die blutige Phantasmagorie des Opfertiers (das Mysterium), 3. die erlösende Tat, die heilige Legende, 4. den Asketismus, die Weltverneinung, die abergläubische »Reinigung«, 5. die Hierarchie, eine Form der Gemeindebildung. Kurz: das Christentum paßt sich an das schon bestehende, überall eingewachsene Anti-Heidentum an, an die Kulte, welche von Epikur bekämpft worden sind ..., genauer, an die Religionen der niederen Masse, der Frauen, der Sklaven, der nicht-vornehmen Stände.
Wir haben also als Mißverständnis:
1. die Unsterblichkeit der Person;
2. die angebliche andere Welt;
3. die Absurdität des Strafbegriffs und Sühnebegriffs im Zentrum der Daseins-Interpretation;
4. die Entgöttlichung des Menschen statt seiner Vergöttlichung, die Aufreißung der tiefsten Kluft, über die nur das Wunder, nur die Prostration der tiefsten Selbstverachtung hinweghilft;
5. die ganze Welt der verdorbenen Imagination und des krankhaften Affekts, statt der liebevollen, einfältigen Praxis, statt eines auf Erden erreichbaren buddhistischen Glückes;
6. eine kirchliche Ordnung mit Priesterschaft, Theologie, Kultus, Sakrament; kurz, alles das, was Jesus von Nazareth bekämpft hatte;
7. das Wunder in allem und jedem, der Aberglaube: während gerade das Auszeichnende des Judentums und des ältesten Christentums sein Widerwille gegen das Wunder ist, seine relative Rationalität.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 139-140

„Dies war die verhängnisvollste Art Größenwahn, die bisher auf Erden dagewesen ist: – wenn diese verlogenen kleinen Mißgeburten von Muckern anfangen, die Worte »Gott«, »Jüngstes Gericht«, »Wahrheit«, »Liebe«, »Weisheit«, »Heiliger Geist« für sich in Anspruch zu nehmen und sich damit gegen »die Welt« abzugrenzen, wenn diese Art Mensch anfängt, die Werte nach sich umzudrehen, wie als ob sie der Sinn, das Salz, das Maß und Gewicht vom ganzen Rest wären: so sollte man ihnen Irrenhäuser bauen und nichts weiter tun. Daß man sie verfolgte, das war eine antike Dummheit großen Stils: damit nahm man sie zu ernst, damit machte man aus ihnen einen Ernst. Das ganze Verhängnis war dadurch ermöglicht, daß schon eine verwandte Art von Größenwahn in der Welt war, der jüdische (– nachdem einmal die Kluft zwischen den Juden und den Christen-Juden auf – gerissen, mußten die Christen-Juden die Prozedur der Selbsterhaltung, welche der jüdische Instinkt erfunden hatte, nochmals und in einer letzten Steigerung zu ihrer Selbsterhaltung anwenden –); andererseits dadurch, daß die griechische Philosophie der Moral alles getan hatte, um einen Moral-Fanatismus selbst unter Griechen und Römern vorzubereiten und schmackhaft zu machen... Plato, die große Zwischenbrücke der Verderbnis, der zuerst die Natur in der Moral nicht verstehen wollte, der bereits die griechischen Götter mit seinem Begriff »gut« entwertet hatte, der bereits jüdisch – angemuckert war (– in Ägypten?).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 143

„Diese kleinen Herdentier-Tugenden führen ganz und gar nicht zum »ewigen Leben«: sie dergestalt in Szene setzen, und sich mit ihnen, mag sehr klug sein, aber für den, der hier noch seine Augen auf hat, bleibt es trotz alledem das lächerlichste aller Schauspiele. Man verdient ganz und gar nicht ein Vorrecht auf Erden und im Himmel, wenn man es zur Vollkommenheit einer kleinen, lieben Schafsmäßigkeit gebracht hat; man bleibt damit, günstigenfalls, immer bloß ein kleines, liebes, absurdes Schaf mit Hörnern – vorausgesetzt, daß man nicht vor Eitelkeit platzt und durch richterliche Attitüden skandalisiert. Die ungeheure Farben-Verklärung, mit der hier die kleinen Tugenden illuminiert werden – wie als Widerglanz göttlicher Qualitäten! Die natürliche Absicht und Nützlichkeit jeder Tugend grundsätzlich verschwiegen; sie ist nur in Hinsicht auf ein göttliches Gebot, ein göttliches Vorbild wertvoll, nur in Hinsicht auf jenseitige und geistliche Güter. (Prachtvoll: als ob sichs ums »Heil der Seele« handelte: aber es war ein Mittel, um es hier mit möglichst viel schönen Gefühlen »auszuhalten«.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 144

„Der Krieg gegen die Vornehmen und Mächtigen, wie er im Neuen Testament geführt wird, ist ein Krieg wie der des Reineke und mit gleichen Mitteln: nur immer in priesterlicher Salbung und in entschiedener Ablehnung, um seine eigne Schlauheit zu wissen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 150

„Das Evangelium: die Nachricht, daß den Niedrigen und Armen ein Zugang zum Glück offensteht, – daß man nichts zu tun hat als sich von der Institution, der Tradition, der Bevormundung der oberen Stände loszumachen: insofern ist die Heraufkunft des Christentums nichts weiter als die typische Sozialisten-Lehre. Eigentum, Erwerb, Vaterland, Stand und Rang, Tribunale, Polizei, Staat, Kirche, Unterricht, Kunst, Militärwesen: alles ebenso viele Verhinderungen des Glücks, Irrtümer, Verstrickungen, Teufelswerke, denen das Evangelium das Gericht ankündigt – alles typisch für die Sozialisten-Lehre. Im Hintergründe der Aufruhr, die Explosion eines aufgestauten Widerwillens gegen die »Herren«, der Instinkt dafür, wie viel Glück nach so langem Drucke schon im Frei-sich-fühlen liegen könnte... (Meistens ein Symptom davon, daß die unteren Schichten zu menschenfreundlich behandelt worden sind, daß sie ein ihnen verbotenes Glück bereits auf der Zunge schmecken .... Nicht der Hunger erzeugt Revolutionen, sondern daß das Volk en mangeant Appetit bekommen hat ....)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 150-151

„Das Christentum ist jeden Augenblick noch möglich. Es ist an keines der unverschämten Dogmen gebunden, welche sich mit seinem Namen geschmückt haben: es braucht weder die Lehre vom persönlichen Gott, noch von der Sünde, noch von der Unsterblichkeit, noch von der Erlösung, noch vom Glauben; es hat schlechterdings keine Metaphysik nötig, noch weniger den Asketismus, noch weniger eine christliche »Naturwissenschaft«. Das Christentum ist eine Praxis, keine Glaubenslehre. Es sagt uns wie wir handeln, nicht was wir glauben sollen. Wer jetzt sagte »ich will nicht Soldat sein«, »ich kümmere mich nicht um die Gerichte«, »die Dienste der Polizei werden von mir nicht in Anspruch genommen«, »ich will nichts tun, was den Frieden in mir selbst stört: und wenn ich daran leiden muß, nichts wird mehr mir den Frieden erhalten als Leiden« – der wäre Christ.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 152

Zur Geschichte des Christentums. – Fortwährende Veränderung des Milieus: die christliche Lehre verändert damit fortwährend ihr Schwergewicht .... Die Begünstigung der Niederen und kleinen Leute .... Die Entwicklung der Caritas .... Der Typus »Christ« nimmt schrittweise alles wieder an, was er ursprünglich negierte (in dessen Negation er bestand –). Der Christ wird Bürger, Soldat, Gerichtsperson, Arbeiter, Handelsmann, Gelehrter, Theolog, Priester, Philosoph, Landwirt, Künstler, Patriot, Politiker, »Fürst« ..., er nimmt alle Tätigkeiten wieder auf, die er abgeschworen hat (– die Selbstverteidigung, das Gerichthalten, das Strafen, das Schwören, das Unterscheiden zwischen Volk und Volk, das Geringschätzen, das Zürnen ...). Das ganze Leben des Christen ist endlich genau das Leben, von dem Christus die Loslösung predigte .... Die Kirche gehört so gut zum Triumph des Antichristlichen, wie der moderne Staat, der moderne Nationalismus .... Die Kirche ist die Barbarisierung des Christentums.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 153

„Über das Christentum Herr geworden: der Judaismus (Paulus); der Platonismus (Augustin); die Mysterienkulte (Erlösungslehre, Sinnbild des »Kreuzes«); der Asketismus (– Feindschaft gegen die »Natur«, »Vernunft«, »Sinne«, – Orient...).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 153

„Das Christentum als eine Entnatürlichung der Herdentier-Moral: unter absolutem Mißverständnis und Selbstverblendung. Die Demokratisierung ist eine natürlichere Gestalt derselben, eine weniger verlogene. Tatsache: die Unterdrückten, die Niedrigen, die ganze große Menge von Sklaven und Halbsklaven wollen zur Macht.
Erste Stufe: sie machen sich frei – sie lösen sich aus, imaginär zunächst, sie erkennen sich untereinander an, sie setzen sich durch.
Zweite Stufe: sie treten in Kampf, sie wollen Anerkennung, gleiche Rechte, »Gerechtigkeit«.
Dritte Stufe: sie wollen die Vorrechte (– sie ziehen die Vertreter der Macht zu sich hinüber).
Vierte Stufe: sie wollen die Macht allein, und sie haben sie ....
Im Christentum sind drei Elemente zu unterscheiden:
a) die Unterdrückten aller Art,
b) die Mittelmäßigen aller Art,
c) die Unbefriedigten und Kranken aller Art.
Mit dem ersten Element kämpft es gegen die politisch Vornehmen und deren Ideal; mit dem zweiten Element gegen die Ausnahmen und Privilegierten (geistig, sinnlich –) jeder Art; mit dem dritten Element gegen den Natur-Instinkt der Gesunden und Glücklichen. Wenn es zum Siege kommt, so tritt das zweite Element in den Vordergrund; denn dann hat das Christentum die Gesunden und Glücklichen zu sich überredet (als Krieger für seine Sache), insgleichen die Mächtigen (als interessiert wegen der Überwältigung der Menge), – und jetzt ist es der Herden-Instinkt, die in jedem Betracht wertvolle Mittelmaß-Natur, die ihre höchste Sanktion durch das Christentum bekommt. Diese Mittelmaß-Natur kommt endlich so weit sich zum Bewußtsein (– gewinnt den Mut zu sich –), daß sie auch politisch sich die Macht zugesteht .... Die Demokratie ist das vernatürlichte Christentum: eine Art »Rückkehr zur Natur«, nachdem es durch eine extreme Antinatürlichkeit von der entgegengesetzten Wertung überwunden werden konnte. – Folge: das aristokratische Ideal entnatürlicht sich nunmehr (»der höhere Mensch«, »vornehm«, »Künstler«, »Leidenschaft«, »Erkenntnis«; Romantik als Kultus der Ausnahme, Genie usw.).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 154-155

„Krieg gegen das christliche Ideal, gegen die Lehre von der »Seligkeit« und dem »Heil« als Ziel des Lebens, gegen die Suprematie der Einfältigen, der reinen Herzen, der Leidenden und Mißglückten. Wann und wo hat je ein Mensch, der in Betracht kommt, jenem christlichen Ideal ähnlich gesehen? Wenigstens für solche Augen, wie sie ein Psycholog und Nierenprüfer haben muß! – man blättere alle Helde Plutarchs durch.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 156

„Wir haben das christliche Ideal wieder hergestellt: es bleibt übrig, seinen Wert zu bestimmen:
1. Welche Werte werden durch dasselbe negiert? Was enthält das Gegensatz-Ideal? – Stolz, Pathos der Distanz, die große Verantwortung, den Übermut, die prachtvolle Animalität, die kriegerischen und eroberungslustigen Instinkte, die Vergöttlichung der Leidenschaft, der Rache, der List, des Zorns, der Wollust, des Abenteuers, der Erkenntnis –; das vornehme Ideal wird negiert: Schönheit, Weisheit, Macht, Pracht und Gefährlichkeit des Typus Mensch: der Ziele setzende, der »zukünftige« Mensch (– hier ergibt sich die Christlichkeit als Schlußolgerung des Judentums –).
2. Ist es realisierbar? – Ja, doch klimatisch bedingt, ähnlich wie das indische. Beiden fehlt die Arbeit. – Es löst heraus aus Volk, Staat, Kultur-Gemeinschaft, Gerichtsbarkeit, es lehnt den Unterricht, das Wissen, die Erziehung zu guten Manieren, den Erwerb, den Handel ab... es löst alles ab, was den Nutzen und Wert des Menschen ausmacht – es schließt ihn durch eine Gefühls-Idiosynkrasie ab. Unpolitisch, antinational, weder aggressiv noch defensiv, – nur möglich innerhalb des festgeordnetsten Staats- und Gesellschaftslebens, welches diese heiligen Parasiten auf allgemeine Unkosten wuchern läßt ....
3. Es bleibt eine Konsequenz des Willens zur Lust – und zu nichts weiter! Die »Seligkeit« gilt als etwas, das sich selbst beweist, das keine Rechtfertigung mehr braucht, – alles übrige (die Art leben und leben lassen) ist nur Mittel zum Zweck ....
Aber das ist niedrig gedacht: die Furcht vor dem Schmerz, vor der Verunreinigung, vor der Verderbnis selbst als ausreichendes Motiv, alles fahren zu lassen .... Dies ist eine arme Denkweise, Zeichen einer erschöpften Rasse; man soll sich nicht täuschen lassen. (»Werdet wie die Kinder« –. Die verwandte Natur: Franz von Assisi, neurotisch, epileptisch, Visionär, wie Jesus.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 157-158

„Der höhere Mensch unterscheidet sich von dem niederen in Hinsicht auf die Furchtlosigkeit und die Herausforderung des Unglücks: es ist ein Zeichen von Rückgang, wenn eudämonistische Wertmaße als oberste zu gelten anfangen (– physiologische Ermüdung, Willens- Verarmung–). Das Christentum mit seiner Perspektive auf »Seligkeit« ist eine typische Denkweise für eine leidende und verarmte Gattung Mensch. Eine volle Kraft will schaffen, leiden, untergehn: ihr ist das christliche Mucker-Heil eine schlechte Musik und hieratische Gebärden ein Verdruß.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 158

„Gott schuf den Menschen glücklich, müßig, unschuldig und unsterblich: unser wirkliches Leben ist ein falsches, abgefallenes, sündhaftes Dasein, eine Straf-Existenz .... Das Leiden, der Kampf, die Arbeit, der Tod werden als Einwände und Fragezeichen gegen das Leben abgeschätzt, als etwas Unnatürliches, etwas, das nicht dauern soll; gegen das man Heilmittel braucht – und hat! .... Die Menschheit hat von Adam an bis jetzt sich in einem unnormalen Zustande befunden: Gott selbst hat seinen Sohn für die Schuld Adams hergegeben, um diesem unnormalen Zustande ein Ende zu machen: der natürliche Charakter des Lebens ist ein Fluch; Christus gibt dem, der an ihn glaubt, den Normal-Zustand zurück: er macht ihn glücklich, müßig und unschuldig. – Aber die Erde hat nicht angefangen, fruchtbar zu sein ohne Arbeit; die Weiber gebären nicht ohne Schmerzen Kinder; die Krankheit hat nicht aufgehört; die Gläubigsten befinden sich hier so schlecht wie die Ungläubigsten. Nur daß der Mensch vom Tode und von der Sünde befreit ist – Behauptungen, die keine Kontrolle zulassen –, das hat die Kirche um so bestimmter behauptet. »Er ist frei von Sünde« – nicht durch sein Tun, nicht durch einen rigorosen Kampf seinerseits, sondern durch die Tat der Erlösung freigekauft – folglich vollkommen, unschuldig, paradiesisch .... Das wahre Leben nur ein Glaube (d. h. ein Selbstbetrug, ein Irrsinn). Das ganze ringende, kämpfende, wirkliche Dasein voll Glanz und Finsternis nur ein schlechtes, falsches Dasein: von ihm erlöst werden ist die Aufgabe. »Der Mensch unschuldig, müßig, unsterblich, glücklich« – diese Konzeption der »höchsten Wünschbarkeit« ist vor allem zu kritisieren. Warum ist die Schuld, die Arbeit, der Tod, das Leiden (und, christlich geredet, die Erkenntnis ...) wider die höchste Wünschbarkeit? – Die faulen christlichen Begriffe »Seligkeit«, »Unschuld«, »Unsterblichkeit« – – – .“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 159-160

„Es fehlt der exzentrische Begriff der »Heiligkeit«, – »Gott« und »Mensch« sind nicht auseinandergerissen. Das »Wunder« fehlt – es gibt gar nicht jene Sphäre: die einzige, die in Betracht kommt, ist die »geistliche« (d.h. symbolisch-psychologische). Als décadence: Seitenstück zum »Epikureismus«... Das Paradies, nach griechischem Begriff, auch nur der »Garten Epikurs«. Es fehlt die Aufgabe in einem solchen Leben: – es will nichts; – eine Form der »epikurischen Götter«; – es fehlt aller Grund, noch Ziele zu setzen, – Kinder zu haben: – Alles ist erreicht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 160

„Der Kampf gegen die brutalen Instinkte ist ein anderer, als der Kampf gegen die krankhaften Instinkte; es lann selbst ein MIttel sein, um über die Brutalität Herr zu werden, krank zu machen. Die psychologische Behandlung im Christentum läuft oft darauf hinaus, aus einem Vieh ein krankes und folglich zahmes Tier zu machen. Der Kampf gegen rohe und wüste Naturen muß ein Kampf mit Mitteln sein, die auf sie wirken: die abergläubischen Mittel sind unersetzlich und unerläßlich ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 180

„Unser Zeitalter ist in einem gewissen Sinne reif (nämlich dekadent), wie es die Zeit Buddhas war .... Deshalb ist eine Christlichkeit ohne die absurden Dogmen möglich (die widerlichen Ausgeburten des antiken Hybridismus).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 180

„Gesetzt selbst, daß ein Gegenbeweis des christlichen Glaubens nicht geführt werden könnte, hielt Pascal doch in Hinsicht auf eine furchtbare Möglichkeit, daß er dennoch wahr sei, es für klug im höchsten Sinne, Christ zu sein. Heute findet man, zum Zeichen, wie sehr das Christentum an Furchtbarkeit eingebüßt hat, jenen andern Versuch seiner Rechtfertigung, daß selbst, wenn er ein Irrtum wäre, man zeitlebens doch den großen Vorteil und Genuß dieses Irrtums habe: – es scheint also, daß gerade um seiner beruhigenden Wirkungen willen dieser Glaube aufrechterhalten werden solle – also nicht aus Furcht vor einer drohenden Möglichkeit, vielmehr aus Furcht vor einem Leben, dem ein Reiz abgeht. Diese hedonische Wendung, der Beweis aus der Lust, ist ein Symptom des Niedergangs: er ersetzt den Beweis aus der Kraft, aus dem, was an der christlichen Idee Erschütterung ist, aus der Furcht. Tatsächlich nähert sich in dieser Umdeutung das Christentum der Erschöpfung: man begnügt sich mit einem opiatischen Christentum, weil man weder zum Suchen, Kämpfen, Wagen, Alleinstehen-wollen die Kraft hat noch zum Pascalismus, zu dieser grüblerischen Selbstverachtung, zum Glauben an die menschliche Unwürdigkeit, zur Angst des »Vielleicht-Verurteilten«. Aber ein Christentum, das vor allem kranke Nerven beruhigen soll, hat jene furchtbare Lösung eines »Gottes am Kreuze« überhaupt nicht nötig: weshalb im stillen überall der Buddhismus in Europa Fortschritte macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 180-171

„Damit, daß das Christentum die Lehre von der Uneigennützigkeit und Liebe in den Vordergrund gerückt hat, hat es durchaus noch nicht das Gattungs-Interesse für höherwertig angesetzt als das Individual-Interesse. Seine eigentlich historische Wirkung, das Verhängnis von Wirkung bleibt umgekehrt gerade die Steigerung des Egoismus, des Individual-Egoismus bis ins Extrem (– bis zum Extrem der Individual-Unsterblichkeit). Der einzelne wurde durch das Christentum so wichtig genommen, so absolut gesetzt, daß man ihn nicht mehr opfern konnte: aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer .... Vor Gott wurden alle »Seelen« gleich: aber das ist gerade die gefährlichste aller möglichen Wertschätzungen! Setzt man die einzelnen gleich, so stellt man die Gattung in Frage, so begünstigt man eine Praxis, welche auf den Ruin der Gattung hinausläuft: das Christentum ist das Gegenprinzip gegen die Selektion. Wenn der Entartende und Kranke (»der Christ«) so viel Wert haben soll wie der Gesunde (»der Heide«), oder gar noch mehr, nach Pascals Urteil über Krankheit und Gesundheit, so ist der natürliche Gang der Entwicklung gekreuzt und die Unnatur zum Gesetz gemacht .... Diese allgemeine Menschenliebe ist in praxi die Bevorzugung alles Leidenden, Schlechtweggekommenen, Degenerierten: sie hat tatsächlich die Kraft, die Verantwortlichkeit, die hohe Pflicht, Menschen zu opfern, heruntergebracht und abgeschwächt. Es blieb nach dem Schema des christlichen Wertmaßes nur noch übrig, sich selbst zu opfern: aber dieser Rest von Menschenopfer, den das Christentum konzedierte und selbst anriet, hat, vom Standpunkte der Gesamt-Züchtung aus, gar keinen Sinn. Es ist für das Gedeihen der Gattung gleichgültig, ob irgendwelche einzelne sich selbst opfern (– sei es in mönchischer und asketischer Manier oder, mit Hilfe von Kreuzen, Scheiterhaufen und Schafotten, als »Märtyrer« des Irrtums). Die Gattung braucht den Untergang der Mißratenen, Schwachen, Degenerierten: aber gerade an sie wendete sich das Christentum, als konservierende Gewalt; sie steigerte noch jenen an sich schon so mächtigen Instinkt der Schwachen, sich zu schonen, sich zu erhalten, sich gegenseitig zu halten. Was ist die »Tugend« und »Menschenliebe« im Christentum, wenn nicht eben diese Gegenseitigkeit der Erhaltung, diese Solidarität der Schwachen, diese Verhinderung der Selektion? Was ist der christliche Altruismus, wenn nicht der Massen-Egoismus der Schwachen, welcher errät, daß, wenn alle füreinander sorgen, jeder einzelne am längsten erhalten bleibt? .... Wenn man eine solche Gesinnung nicht als eine extreme Unmoralität, als ein Verbrechen am Leben empfindet, so gehört man zur kranken Bande und hat selber deren Instinkte... Die echte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten der Gattung – sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christentum heißt, will gerade durchsetzen, daß niemand geopfert wird ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 174-176

Nichts wäre nützlicher und mehr zu fördern als ein konsequenter Nihilismus der Tat. – So wie ich alle Phänomene des Christenthums, des Pessimismus verstehe, so drücken sie aus: »wir sind reif, nicht zu sein; für uns ist es vernünftig, nicht zu sein«. Diese Sprache der »Vernunft« wäre in diesem Falle auch die Sprache der selektiven Natur. Was über alle Begriffe dagegen zu verurteilen ist, das ist die zweideutige und feige Halbheit einer Religion, wie die des Christenthums: deutlicher, der Kirche: welche, statt zum Tode und zur Selbstvernichtung zu ermutigen, alles Mißrathene und Kranke schützt und sich selbst fortpflanzen macht. – Problem: mit was für Mitteln würde eine strenge Form des großen kontagiösen Nihilism erzielt werden: eine solche, welche, mit wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, den freiwilligen Tod lehrt und übt ... (und nicht das schwächliche Fortvegetieren mit Hinsicht auf eine falsche Postexistenz –). Man kann das Christentum nicht genug verurteilen, weil es den Wert einer solchen reinigenden großen Nihilismus-Bewegung, wie sie vielleicht im Gange war, durch den Gedanken der unsterblichen Privat-Person entwertet hat: insgleichen durch die Hoffnung auf Auferstehung: kurz, immer durch ein Abhalten von der Tat des Nihilismus, dem Selbstmord .... Es substituirte den langsamen Selbstmord; allmählich ein kleines armes aber dauerhaftes Leben; allmählich ein ganz gewöhnliches bürgerliches mittelmäßiges Leben usw..“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 176-177

Die christlichen Moral-Quacksalber. – Mitleid und Verachtung folgen sich in schnellem Wechsel, und mitunter bin ich empört, wie beim Anblick eines schnöden Verbrechens. Hier ist der Irrtum zur Pflicht gemacht – zur Tugend –, der Fehlgriff ist Handgriff geworden, der Zerstörer-Instinkt systematisiert als »Erlösung«; hier wird aus jeder Operation eine Verletzung, eine Ausschneidung selbst von Organen, deren Energie die Voraussetzung jeder Wiederkehr der Gesundheit ist. Und bestenfalls wird nicht geheilt, sondern nur eine Symptomen-Reihe des Übels in eine andere eingetauscht... Und dieser gefährliche Unsinn, das System der Schändung und Verschneidung des Lebens gilt als heilig, als unantastbar; in seinem Dienste leben, Werkzeug dieser Heilkunst sein, Priester sein hebt heraus, macht ehrwürdig, macht heilig und unantastbar selbst. Nur die Gottheit kann die Urheberin dieser höchsten Heilkunst sein: nur als Offenbarung ist die Erlösung begreiflich, als Akt der Gnade, als unverdientestes Geschenk, das der Kreatur gemacht ist.
Erster Satz: die Gesundheit der Seele wird als Krankheit angesehen, mißtrauisch ....
Zweiter Satz: die Voraussetzungen für ein starkes und blühendes Leben, die starken Begehrungen und Leidenschaften, gelten als Einwände gegen ein starkes und blühendes Leben.
Dritter Satz: Alles, woher dem Menschen Gefahr droht, alles, was über ihn Herr werden und ihn zugrunde richten kann, ist böse, ist verwerflich – ist mit der Wurzel aus seiner Seele auszureißen.
Vierter Satz: der Mensch, ungefährlich gemacht, gegen sich und andre, schwach, niedergeworfen in Demut und Bescheidenheit, seiner Schwäche bewußt, der »Sünder«, – das ist der wünschbarste Typus, der, welchen man mit einiger Chirurgie der Seele auch herstellen kann ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 177-178

„Wogegen ich protestiere? Daß man nicht diese kleine Mittelmäßigkeit, dieses Gleichgewicht einer Seele, welche nicht die großen Antriebe der großen Krafthäufungen kennt, als etwas Hohes nimmt, womöglich gar als Maß des Menschen. Bacon von Verulam sagt: Infimarum virtutum apud vulgus laus est, mediarum admiratio, suprematum sensus nullus. Das Christentum aber gehört, als Religion, zum vulgus: es hat für die höchste Gattung virtus keinen Sinn.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 178

„Sehen wir, was »der echte Christ« mit alledem anfängt, was seinem Instinkte sich widerrät: – die Beschmutzung und Verdächtigung des Schönen, des Glänzenden, des Reichen, des Stolzen, des Selbstgewissen, des Erkennenden, des Mächtigen – in summa der ganzen Kultur: seine Absicht geht dahin, ihr das gute Gewissen zu nehmen ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 178

„Man hat bisher das Christentum immer auf eine falsche, und nicht bloß schüchterne Weise angegriffen. Solange man nicht die Moral des Christentums als Kapitalverbrechen am Leben empfindet, haben dessen Verteidiger gutes Spiel. Die Frage der bloßen »Wahrheit« des Christentums – sei es in Hinsicht auf die Existenz seines Gottes oder die Geschichtlichkeit seiner Entstehungslegende, gar nicht zu reden von der christlichen Astronomie und Naturwissenschaft – ist eine ganz nebensächliche Angelegenheit, solange die Wertfrage der christlichen Moral nicht berührt ist. Taugt die Moral des Christentums etwas oder ist sie eine Schändung und Schmach trotz aller Heiligkeit der Verführungskünste? Es gibt Schlupfwinkel jeder Art für das Problem von der Wahrheit; und die Gläubigsten können zuletzt sich der Logik der Ungläubigsten bedienen, um sich ein Recht zu schaffen, gewisse Dinge als unwiderlegbar zu affirmieren – nämlich als jenseits der Mittel aller Widerlegung (– dieser Kunstgriff heißt sich heute »Kantischer Kritizismus«).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 179

„Man soll es dem Christentum nie vergeben, daß es solche Menschen wie Pascal zugrunde gerichtet hat. Man soll nie aufhören, eben dies am Christentum zu bekämpfen, daß es den Willen dazu hat, gerade die stärksten und vornehmsten Seelen zu zerbrechen. Man soll sich nie Frieden geben, solange dies eine noch nicht in Grund und Boden zerstört ist: das Ideal vom Menschen, welches vom Christentum erfunden worden ist, seine Forderungen an den Menschen, sein Nein und sein Ja in Hinsicht auf den Menschen. Der ganze absurde Rest von christlicher Fabel, Begriffs-Spinneweberei und Theologie geht uns nichts an; er könnte noch tausendmal absurder sein, und wir würden nicht einen Finger gegen ihn aufheben. Aber jenes Ideal bekämpfen wir, das mit seiner krankhaften Schönheit und Weibs- Verführung, mit seiner heimlichen Verleumder-Beredsamkeit allen Feigheiten und Eitelkeiten müdgewordner Seelen zuredet – und die Stärksten haben müde Stunden –, wie als ob alles das, was in solchen Zuständen am nützlichsten und wünschbarsten scheinen mag, Vertrauen, Arglosigkeit, Anspruchslosigkeit, Geduld, Liebe zu seinesgleichen, Ergebung, Hingebung an Gott, eine Art Abschirrung und Abdankung seines ganzen Ichs, auch an sich das Nützlichste und Wünschbarste sei; wie als ob die kleine bescheidene Mißgeburt von Seele, das tugendhafte Durchschnittstier und Herdenschaf Mensch nicht nur den Vorrang vor der stärkeren, böseren, begehrlicheren, trotzigeren, verschwenderischeren und darum hundertfachgefährdeteren Art Mensch habe, sondern geradezu für den Menschen überhaupt das Ideal, das Ziel, das Maß, die höchste Wünschbarkeit abgebe. Diese Aufrichtung eines Ideals war bis her die unheimlichste Versuchung, welcher der Mensch ausgesetzt war: denn mit ihm drohte den stärker geratenen Ausnahmen und Glücksfällen von Mensch, in denen der Wille zur Macht und zum Wachstum des ganzen Typus Mensch einen Schritt vorwärts tut, der Untergang; mit seinen Werten sollte das Wachstum jener Mehr-Menschen an der Wurzel angegraben werden, welche um ihrer höheren Ansprüche und Aufgaben willen freiwillig auch ein gefährlicheres Leben (ökonomisch ausgedrückt: Steigerung der Unternehmer-Kosten ebenso sehr wie der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens) in den Kauf nehmen. Was wir am Christentum bekämpfen? Daß es die Starken zerbrechen will, daß es ihren Mut entmutigen, ihre schlechten Stunden und Müdigkeiten ausnützen, ihre stolze Sicherheit in Unruhe und Gewissensnot verkehren will, daß es die vornehmen Instinkte giftig und krankzumachen versteht, bis sich ihre Kraft, ihr Wille zur Macht rückwärts kehrt, gegen sich selber kehrt – bis die Starken an den Ausschweifungen der Selbstverachtung und der Selbstmißhandlung zugrunde gehen: jene schauerliche Art des Zugrundegehens, deren berühmtestes Beispiel Pascal abgibt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 179-181

„Versuch, über Moral zu denken, ohne unter ihrem Zauber zu stehen, mißtrauisch gegen die Überlistung ihrer schönen Gebärden und Blicke. Eine Welt, die wir verehren können, die unserem anbetenden Triebe gemäß ist – die sich fortwährend beweist – durch Leitung des einzelnen und allgemeinen –: dies ist die christliche Anschauung, aus der wir alle stammen. Durch ein Wachstum an Schärfe, Mißtrauen, Wissenschaftlichkeit (auch durch einen höher gerichteten Instinkt der Wahrhaftigkeit, also unter wieder christlichen Einwirkungen) ist diese Interpretation uns immer mehr unerlaubt geworden. Feinster Ausweg: der Kantische Kritizismus. Der Intellekt stritt sich selbst das Recht ab sowohl zur Interpretation in jenem Sinne als auch zur Ablehnung der Interpretation in jenem Sinne. Man begnügt sich mit einem Mehr von Vertrauen und Glauben, mit einem Verzichtleisten auf alle Beweisbarkeit seines Glaubens, mit einem unbegreiflichen und überlegenen »Ideal« (Gott) die Lücke auszufüllen. Der Hegelsche Ausweg, im Anschluß an Plato, ein Stück Romantik und Reaktion, zugleich das Symptom des historischen Sinns, einer neuen Kraft: der »Geist« selbst ist das »sich enthüllende und verwirklichende Ideal«: im »Prozeß«, im »Werden« offenbart sich ein immer Mehr von diesem Ideal, an das wir glauben –, also das Ideal verwirklicht sich, der Glaube richtet sich auf die Zukunft, in der er seinem edlen Bedürfnisse nach anbeten kann. Kurz,
1. Gott ist uns unerkennbar und unnachweisbar (Hintersinn der erkenntnis-theoretischen Bewegung);
2. Gott ist nachweisbar, aber als etwas Werdendes, und wir gehören dazu, eben mit unsrem Drang zum Idealen (Hintersinn der historisierenden Bewegung).
Man sieht: es ist niemals die Kritik an das Ideal selbst gerückt, sondern nur an das Problem, woher der Widerspruch gegen dasselbe kommt, warum es noch nicht erreicht oder warum es nicht nachweisbar im kleinen und großen ist. Es macht den größten Unterschied: ob man aus der Leidenschaft heraus, aus einem Verlangen heraus, diesen Notstand als Notstand fühlt oder ob man ihn mit der Spitze des Gedankens und einer gewissen Kraft der historischen Imagination gerade noch als Problem erreicht. Abseits von der religiös-philosophischen Betrachtung finden wir dasselbe Phänomen: der Utilitarismus (der Sozialismus, der Demokratismus) kritisiert die Herkunft der moralischen Wertschätzungen, aber er glaubt an sie, ebenso wie der Christ. (Naivität, als ob Moral übrigbliebe, wenn der sanktionierende Gott fehlt! Das Jenseits« absolut notwendig, wenn der Glaube an Moral aufrechterhalten werden soll.) Grundproblem: woher diese Allgewalt des Glaubens? des Glaubens an die Moral? (– der sich auch darin verrät, daß selbst die Grundbedingungen des Lebens zugunsten der Moral falsch interpretiert werden: trotz Kenntnis der Tierwelt und Pflanzenwelt. Die »Selbsterhaltung«; darwinistische Perspektive auf Versöhnung altruistischer und egoistischer Prinzipien.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 182-184

„Die Frage nach der Herkunft unsrer Wertschätzungen und Gütertafeln fällt ganz und gar nicht mit deren Kritik zusammen, wie so oft geglaubt wird: so gewiß auch die Einsicht in irgendeine pudenda origo für das Gefühl eine Wertverminderung der so entstandnen Sache mit sich bringt und gegen dieselbe eine kritische Stimmung und Haltung vorbereitet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 184

„Was sind unsre Wertschätzungen und moralischen Gütertafeln selber wert? Was kommt bei ihrer Herrschaft heraus? Für wen? in bezug worauf? – Antwort: für das Leben. Aber was ist Leben? Hier tut also eine neue, bestimmtere Fassung des Begriffs »Leben« not. Meine Formel dafür lautet: Leben ist Wille zur Macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 184

Was bedeutet das Wertschätzen selbst? weist es auf eine andere, metaphysische Welt zurück oder hinab? (wie noch Kant glaubte, der vor der großen historischen Bewegung steht.) Kurz: wo ist es entstanden? Oder ist es nicht »entstanden«? – Antwort: das moralische Wertschätzen ist eine Auslegung, eine Art zu interpretieren. Die Auslegung selbst ist ein Symptom bestimmter physiologischer Zustände, ebenso eines bestimmten geistigen Niveaus von herrschenden Urteilen: Wer legt aus? – Unsre Affekte.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 184

„Alle Tugenden physiologische Zustände: .... Alle Tugenden sind eigentlich verfeinerte Leidenschaften und erhöhte Zustände.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 184-185

„Ich verstehe unter »Moral« ein System von Wertschätzungen, welches mit den Lebensbedingungen eines Wesens sich berührt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 185

„Ehemals sagte man von jeder Moral: »an ihren Früchten solt ihr sie erkennen«. Ich sage von jeder Moral: »Sie ist eine Frucht, an der ich den Boden erkenne, aus dem sie wuchs.« “
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 185

„Mein Versuch, die moralischen Urteile als Symptome und Zeichensprachen zu verstehen, in denen sich Vorgänge des physiologischen Gedeihens oder Mißratens, ebenso das Bewußtsein von Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen verraten, – eine Interpretations-Weise vom Werte der Astrologie, Vorurteile, denen Instinkte soufflieren (von Rassen, Gemeinden, von verschiedenen Stufen, wie Jugend oder Verwelken usw.).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 185

„Angewendet auf die speziell christlich-europäische Moral: unsere moralischen Urteile sind Zeichen von Verfall, von Unglauben an das Leben, eine Vorbereitung des Pessimismus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 185

Mein Hauptsatz: es gibt keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Interpretation dieser Phänomene. Diese Interpretation selbst ist außermoralischen Ursprungs.
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 185-186

„Was bedeutet es, daß wir einen Widerspruch in das Dasein hineininterpretiert haben? – Entscheidende Wichtigkeit: hinter allen andern Wertschätzungen stehen kommandierend jene moralischen Wertschätzungen. Gesetzt, sie fallen fort, wonach messen wir dann? Und welchen Wert haben dann Erkenntnis usw., usw.???“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 186

„Einsicht: bei aller Wertschätzung handelt es sich um eine bestimmte Perspektive: Erhaltung des Individuums, einer Gemeinde, einer Rasse, eines Staates, einer Kirche, eines Glaubens, einer Kultur. – Vermöge des Vergessens, daß es nur ein perspektivisches Schätzen gibt, wimmelt alles von widersprechenden Schätzungen und folglich von widersprechenden Antrieben in einem Menschen. Das ist der Ausdruck der Erkrankung am Menschen im Gegensatz zum Tiere, wo alle vorhandenen Instinkte ganz bestimmten Aufgaben genügen. Dies widerspruchsvolle Geschöpf hat aber an seinem Wesen eine große Methode der Erkenntnis: er fühlt viele Für und Wider, er erhebt sich zur Gerechtigkeit – zum Begreifen jenseits des Gut- und Böse-Schätzens. Der weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen, der gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch hat: und zwischeninnen seine großen Augenblicke grandiosen Zusammenklangs – der hohe Zufall auch in uns! Eine Art planetarischer Bewegung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 186

„»Wollen« ist gleich Zweck-Wollen. »Zweck« enthält eine Wertschätzung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 187

„Umfang der moralischen Wertschätzungen: sie sind fast in jedem Sinneseindruck mitspielend. Die Welt ist uns gefärbt dadurch.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 187

„Wir haben die Zwecke und die Werte hineingelegt: wir haben eine ungeheure latente Kraftmasse dadurch in uns: aber in der Vergleichung der Werte ergibt sich, daß Entgegengesetztes als wertvoll galt, daß viele Gütertafeln existierten (also nichts »an sich« wertvoll).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 187

„Bei der Analyse der einzelnen Gütertafeln ergab sich ihre Aufstellung als die Aufstellung von Existenzbedingungen beschränkter Gruppen (und oft irrtümlicher): zur Erhaltung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 187

„Bei der Betrachtung der jetzigen Menschen ergab sich, daß wir sehr verschiedene Werturteile handhaben, und daß keine schöpferische Kraft mehr darin ist – die Grundlage: »die Bedingung der Existenz« fehlt dem moralischen Urteile jetzt. Es ist viel überflüssiger, es ist lange nicht so schmerzhaft. – Es wird willkürlich. Chaos.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 187

„Wer schafft das Ziel, das über der Menschheit stehen bleibt und auch über dem einzelnen? Ehemals wollte man mit der Moral erhalten: aber niemand will jetzt mehr erhalten, es ist nichts daran zu erhalten. Also eine versuchende Moral: sich ein Ziel geben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 187

„Was ist das Kriterium der moralischen Handlung? 1. ihre Uneigennützigkeit, 2. ihre Allgemeingültigkeit usw. Aber das ist Stuben-Moralistik. Man muß die Völker studieren und zusehn, was jedesmal das Kriterium ist, und was sich darin ausdrückt: ein Glaube »ein solches Verhalten gehört zu unseren ersten Existenz-Bedingungen«. Unmoralisch heißt »untergang-bringend«. Nun sind alle diese Gemeinschaften, in denen diese Sätze gefunden wurden, zugrunde gegangen: einzelne dieser Sätze sind immer von neuem unterstrichen worden, weil jede neu sich bildende Gemeinschaft sie – wieder nötig hatte, z.B. »Du sollst nicht stehlen«. Zu Zeiten, wo das Gemeingefühl für die Gesellschaft (z.B. im imperium Romanum) nicht verlangt werden konnte, warf sich der Trieb aufs »Heil der Seele«, religiös gesprochen: oder »das größte Glück«, philosophisch geredet. Denn auch die griechischen Moral-Philosophen empfanden nicht mehr mit ihrer poliV.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 188

„Das Problem der Moral sehen und zeigen – das scheint mir die neue Aufgabe und Hauptsache. Ich bestreite. daß das in der bisherigen Morlaphilosophie geschehen ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 188

„Wie falsch, wie verlogen war die Menschheit immer über die Grundtatsachen ihrer inneren Welt! Hier kein Auge zu haben, hier den Mund halten und den Mund auftun ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 188

„Es fehlt das Wissen und Bewußtsein davon, welche Umdrehungen bereits das moralische Urteil durchgemacht hat und wie wirklich mehrere Male schon im gründlichsten Sinne »Böse« auf »Gut« umgetauft worden ist. Auf eine dieser Verschiebungen habe ich mit dem Worte »Sittlichkeit der Sitte« hingewiesen. Auch das Gewissen hat seine Sphäre vertauscht: es gab einen Herden-Gewissensbiß.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 189

   „A. Moral als Werk der Unmoralität.
1. Damit moralische Werte zur Herrschaft kommen, müssen lauter unmoralische Kräfte und Affekte helfen.
2. Die Entstehung moralischer Werte ist das Werk unmoralischer Affekte und Rücksichten.
    B. Moral als Werk des Irrtums.
    C. Moral mit sich selbst allgemach im Widerspruch.
Vergeltung. – Wahrhaftigkeit, Zweifel, epoch, Richten. »Unmoralität« des Glaubens an die Moral.
Die Schritte:
1. absolute Herrschaft der Moral; alle biologischen Erscheinungen nach ihr gemessen und gerichtet.
2. Versuch einer Identifikation von Leben und Moral (Symptom einer erwachten Skepsis: Moral soll nicht mehr als Gegensatz gefühlt werden); mehrere Mittel, selbst ein transzendenter Weg.
3. Entgegensetzung von Leben und Moral: Moral vom Leben aus gerichtet und verurteilt.
    D. Inwiefern die Moral dem Leben schädlich war:
a) dem Genuß des Lebens, der Dankbarkeit gegen das Leben usw.,
b) der Verschönerung, Veredelung des Lebens,
c) der Erkenntnis des Lebens,
d) der Entfaltung des Lebens, insofern es die höchsten Erscheinungen desselben mit sich selbst zu entzweien suchte.
    E. Gegenrechnung: ihre Nützlichkeit für das Leben.
1. die Moral als Erhaltungsprinzip von größeren Ganzen, als Einschränkung der Glieder: nützlich für das »Werkzeug«.
2. die Moral als Erhaltungsprinzip im Verhältnis zur inneren Gefährdung des Menschen durch Leidenschaften; nützlich für den »Mittelmäßigen«.
3. die Moral als Erhaltungsprinzip gegen die lebenvernichtenden Einwirkungen tiefer Not und Verkümmerung: nützlich für den »Leidenden«.
4. die Moral als Gegenprinzip gegen die furchtbare Explosion der Mächtigen: nützlich für den »Niedrigen«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 189-190

„Denken wir nicht gering von dem, was ein paar Jahrtausende Moral unserm Geiste angezüchtet haben!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 190

„Zwei Typen der Moral sind nicht zu verwechseln: eine Moral, mit der sich der gesund gebliebene Instinkt gegen die beginnende décadence wehrt – und eine andere Moral, mit der eben diese décadence sich formuliert, rechtfertigt und selber abwärts führt. Die erstere pflegt stoisch, hart, tyrannisch zu sein (– der Stoizismus selbst war eine solche Hemmschuh-Moral); die andere ist schwärmerisch, sentimental, voller Geheimnisse, sie hat die Weiber und »schönen Gefühle« für sich (– das erste Christentum war eine solche Moral).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 190-191

Meine Absicht, die absolute Homogenität in allem Geschehen zu zeigen und die Anwendung der moralischen Unterscheidung nur als perspektivisch bedingt; zu zeigen, wie alles das, was moralisch gelobt wird, wesensgleich mit allem Unmoralischen ist und nur, wie jede Entwicklung der Moral, mit unmoralischen Mitteln und zu unmoralischen Zwecken ermöglicht worden ist –; wie umgekehrt alles, was als unmoralisch in Verruf ist, ökonomisch betrachtet, das Höhere und Prinzipiellere ist, und wie eine Entwicklung nach größerer Fülle des Lebens notwendig auch den Fortschritt der Unmoralität bedingt. »Wahrheit« der Grad, in dem wir uns die Einsicht in diese Tatsache gestatten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 193-194

„Zuletzt sei man ohne Sorge: man braucht nämlich sehr viel Moralität, um in dieser feinen Weise unmoralisch zu sein; ich will ein Gleichnis gebrauchen: Ein Physiologe, der sich für eine Krankheit interessiert“, und ein Kranker, der von ihr geheilt werden soll, haben nicht das gleiche Interesse. Nehmen wir einmal an, daß jene Krankheit die Moral ist – denn sie ist eine Krankheit – und daß wir Europäer deren Kranke sind: was für eine feine Qual und Schwierigkeit wird entstehen, wenn wir Europäer nun zugleich auch deren neugierige Beobachter und Physiologen sind! Werden wir auch nur ernsthaft wünschen, von der Moral loszukommen? Werden wir es wollen? Abgesehen von der Frage, ob wir es können? Ob wir »geheilt« werden können?
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 194

Wessen Wille zur Macht ist die Moral? – Das Gemeinsame in der Geschichte Europas seit Sokrates ist der Versuch, die moralischen Werte zur Herrschaft über alle anderen Werte zu bringen; so daß sie nicht nur Führer und Richter des Lebens sein sollen, sondern auch
1. der Erkenntnis,
2. der Künste,
3. der staatlichen und gesellschaftlichen Bestrebungen.
»Besserwerden« als einzige Aufgabe, alles übrige dazu Mittel (oder Störung, Hemmung, Gefahr; folglich bis zur Vernichtung zu bekämpfen ...). – Eine ähnliche Bewegung in China. Eine ähnliche Bewegung in Indien.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 194

„Was bedeutet dieser Wille zur Macht seitens der moralischen Werte , der in den ungeheuren Entwicklungen sich bisher auf der Erde abgespielt hat? Antwort: drei Mächte sind hinter ihm versteckt:
1. der Instinkt der Herde gegen die Starken und Unabhängigen;
2. der Instinkt der Leidenden und Schlechtweggekommenen gegen die Glücklichen;
3. der Instinkt der Mittelmäßigen gegen die Ausnahmen. –
Ungeheurer Vorteil dieser Bewegung, wieviel Grausamkeit, Falschheit und Borniertheit auch in ihr mitgeholfen hat ( : denn die Geschichte vom Kampf der Moral mit den Grundinstinkten des Lebens ist selbst die größte Immoralität, die bisher auf Erden dagewesen ist ...).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 195

„Die großen Dekadenz-Religionen rechnen immer auf die Unterstützung durch die Herde.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 200

„Meine Philosophie ist auf Rangordnung gerichtet, nicht auf eine individualistische Moral. Der Sinn der Herde soll in der Herde herrschen, – aber nicht über sie hinausgreifen: die Führer der Herde bedürfen einer grundverschiedenen Wertung ihrer eignen Handlungen, insgleichen die Unabhängigen, oder die »Raubtiere« usw..“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 203

„Es ist eine Entnatürlichung der Moral, daß man die Handlung abtrennt vom Menschen; daß man den Haß oder die Verachtung gegen die »Sünde« wendet; daß man glaubt, es gäbe Handlungen, welche an sich gut oder schlecht sind. Wiederherstellung der »Natur«: eine Handlung an sich ist vollkommen leer an Wert: es kommt alles darauf an, wer sie tut. Ein und dasselbe »Verbrechen« kann in einem Fall das höchste Vorrecht, im andern das Brandmal sein. Tatsächlich ist es die Selbstsucht der Urteilenden, welche eine Handlung, resp. ihren Täter, auslegt im Verhältnis zum eigenen Nutzen oder Schaden (– oder im Verhältniß zur Ähnlichkeit oder Nicht-verwandtschaft mit sich.) “
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 206-207

„Wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbstkreuzigung von zwei Jahrtausenden: darin ist unsre längste Übung, unsre Meisterschaft vielleicht, unser Raffinement in jedem Fall; wir haben die natürlichen Hänge mit dem bösen Gewissen verschwistert. Ein umgekehrter Versuch wäre möglich: die unnatürlichen Hänge, ich meine die Neigungen zum Jenseitigen, Sinnwidrigen, Denkwidrigen, Naturwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesamt Welt-Verleumdungs-Ideale waren, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 208

Moralistischer Naturalismus: Rückführung des scheinbar emanzipierten, übernatürlichen Moralwertes auf seine »Natur«: d.h. auf die natürliche Immoralität, auf die natürliche »Nützlichkeit« usw.. Ich darf die Tendenz dieser Betrachtungen als moralistischen Naturalismus bezeichnen: meine Aufgabe ist, die scheinbar emanzipierten und naturlos gewordnen Moralwerte in ihre Natur zurückzuübersetzen – d.h. in ihre natürliche »Immoralität«.
– NB. Vergleich mit der jüdischen »Heiligkeit« und ihrer Naturbasis: ebenso steht es mit dem souverän gemachten Sittengesetz, losgelöst von seiner Natur (– bis zum Gegensatz zur Natur –). Schritte der ntnatürlichung der Moral (sogenannten »Idealisierung«:
als Weg zum Individual-Glück,
als Folge der Erkenntnis,
als kategorischer Imperativ,
als Weg zur Heiligung,
als Verneinung des Willens zum Leben.
(Die schrittweise Lebensfeindlichkeit der Moral.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zs. 215ur Macht, S. 210-211

„Nun wird kein Philosoph darüber in Zweifel sein, was der Typus der Vollkommenheit in der Politik ist; nämlich der Macchiavellismus. Aber der Macchiavellismus pur ... ist übermenschlich, göttlich, transzendent, er wird von Menschen nie erreicht, höchstens gestreift. Auch in dieser engeren Art von Politik, in der Politik der Tugend, scheint das Ideal nie erreicht worden zu sein. Auch Plato hat es nur gestreift. Man entdeckt, gesetzt daß man Augen für versteckte Dinge hat, selbst noch an den unbefangensten und bewußtesten Moralisten (– und das ist ja der Name für solche Politiker der Moral, für jede Art Begründer neuer Moral-Gewalten), Spuren davon, daß auch sie der menschlichen Schwäche ihren Tribut gezollt haben. Sie alle aspirierten, zum mindesten in ihrer Ermüdung, auch für sich selbst zur Tugend: erster und kapitaler Fehler eines Moralisten,—als welcher Immoralist der Tat zu sein hat. Daß er gerade das nicht scheinen darf, ist eine andere Sache. Oder vielmehr ist es nicht eine andere Sache: es gehört eine solche grundsätzliche Selbstverleugnung (moralisch ausgedrückt, Verstellung) mit hinein in den Kanon des Moralisten und seiner eigensten Pflichtenlehre: ohne sie wird er niemals zu seiner Art Vollkommenheit gelangen. Freiheit von der Moral, auch von der Wahrheit, um jenes Zieles willen, das jedes Opfer aufwiegt: Herrschaft der Moral – so lautet jener Kanon. Die Moralisten haben die Attitüde der Tugend nötig, auch die Attitüde der Wahrheit; ihr Fehler beginnt erst, wo sie der Tugend nachgeben, wo sie die Herrschaft über die Tugend verlieren, wo sie selbst moralisch werden, wahr werden. Ein großer Moralist ist, unter anderem, notwendig auch ein großer Schauspieler; seine Gefahr ist, daß seine Verstellung unversehens Natur wird, wie es sein Ideal ist, sein esse und sein operari auf eine göttliche Weise auseinander zu halten; Alles, was er tut, muß er sub specie boni tun,—sein hohes, fernes, anspruchsvolles Ideal! Ein göttliches Ideal! Und in der Tat geht die Rede, daß der Moralist damit kein geringeres Vorbild nachahmt als Gott selbst: Gott, diesen größten Immoralisten der That den es giebt, der aber nichtsdestoweniger zu bleiben versteht, was er ist, der gute Gott.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 213-215

„Mit der Tugend selbst gründet man nicht die Herrschaft der Tugend; mit der Tugend selbst verzichtet man auf Macht, verliert den Willen zur Macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 215

„Der Sieg eines moralischen Ideals wird durch dieselben »unmoralischen« Mittel errungen wie jeder Sieg: gewalt, Lüge, verleumdung, Ungerechtigkeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 215

„Die Moral ist gerade so »unmoralisch« wie jedwedes andre Ding auf Erden; die Moralität selbst ist eine Form der Unmoralität.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 215

Die Moral in der Wertung von Rassen und Ständen. – In Anbetracht, daß Affekte und Grundtriebe bei jeder Rasse und bei jedem Stande etwas von ihren Existenzbedingungen ausdrücken (– zum mindesten von den Bedingungen, unter denen sie die längste Zeit sich durchgesetzt haben), heißt verlangen, daß sie »tugendhaft« sind:
daß sie ihren Charakter wechseln, aus der Haut fahren und ihre Vergangenheit auswischen:
heißt, daß sie aufhören sollen, sich zu unterscheiden:
heißt, daß sie in Bedürfnissen und Ansprüchen sich anähnlichen sollen – deutlicher: daß sie zugrunde gehn.
Der Wille zu einer Moral erweist sich somit als die Tyrannei jener Art, der diese eine Moral auf den Leib geschnitten ist, über andere Arten: es ist die Vernichtung oder die Uniformierung zugunsten der herrschenden (sei es, um ihr nicht mehr furchtbar zu sein, sei es, um von ihr ausgenutzt zu werden). »Aufhebung der Sklaverei« – angeblich ein Tribut an die »Menschenwürde«, in Wahrheit eine Vernichtung einer grundverschiedenen Spezies (– Untergrabung ihrer Werte und ihres Glücks –). Worin eine gegnerische Rasse oder ein gegnerischer Stand seine Stärke hat, das wird ihm als sein Bösestes, Schlimmstes ausgelegt: denn damit schadet er uns (– seine »Tugenden« werden verleumdet und umgetauft). Es gilt als Einwand gegen Mensch und Volk, wenn er uns schadet: aber von seinem Gesichtspunkt aus sind wir ihm erwünscht, weil wir solche sind, von denen man Nutzen haben kann. Die Forderung der »Vermenschlichung« (welche ganz naiv sich im Besitz der Formel »was ist menschlich?« glaubt) ist eine Tartüfferie, unter der sich eine ganz bestimmte Art Mensch zur Herrschaft zu bringen sucht: genauer, ein ganz bestimmter Instinkt, der Herden-Instinkt. – »Gleichheit der Menschen«: was sich verbirgt unter der Tendenz, immer mehr Menschen als Menschen gleichzusetzen. Die »Interessiertheit« in Hinsicht auf die gemeine Moral. (Kunstgriff: die großen Begierden Herrschsucht und Habsucht zu Protektoren der Tugend zu machen.) Inwiefern alle Art Geschäftsmänner und Habsüchtige, alles, was Kredit geben und in Anspruch nehmen muß, es nötig hat, auf gleichen Charakter und gleichen Wertbegriff zu dringen: der Welt-Handel und -Austausch jeder Art erzwingt und kauft sich gleichsam die Tugend. Insgleichen der Staat und jede An Herrschaft in Hinsicht auf Beamte und Soldaten; insgleichen die Wissenschaft, um mit Vertrauen und Sparsamkeit der Kräfte zu arbeiten. – Insgleichen die Priesterschaft. – Hier wird also die gemeine Moral erzwungen, weil mit ihr ein Vorteil errungen wird; und um sie zum Sieg zu bringen, wird Krieg und Gewalt geübt gegen die Unmoralität – nach welchem »Rechte«? Nach gar keinem Rechte: sondern gemäß dem Selbsterhaltungsinstinkt. Dieselben Klassen bedienen sich der Immoralität, wo sie ihnen nützt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 217-219

„Moralinfreie Tugend ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 221

„Die Begierde vergrößert das, was man haben will; sie wächst selbst durch Nichterfüllung, – die größten Ideen sind die, welche die heftigste und längste Begierde geschaffen hat. Wir legen den Dingen immer mehr Wert bei, je mehr unsre Begierde nach ihnen wächst: wenn die »moralischen Werte« die höchsten Werte geworden sind, so verrät dies, daß das moralische Ideal das unerfüllteste gewesen ist (– insofern es galt als Jenseits alles Leids, als Mittel der Seligkeit). Die Menschheit hat mit immer wachsender Brunst nur Wolken umarmt: sie hat endlich ihre Verzweiflung, ihr Unvermögen »Gott« genannt ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 231

„Die Naivität in Hinsicht auf die letzten »Wünschbarkeiten«, – während amn das »Warum«“ des Menschen nicht kennt.
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 231

Was ist die Falschmünzerei an der Moral? – Sie gibt vor, etwas zu wissen, nämlich was »gut und böse« sei. Das heißt wissen wollen, wozu der Mensch da ist, sein Ziel, seine Bestimmung zu kennen. Das heißt wissen wollen, daß der Mensch ein Ziel, eine Bestimmung habe.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 231

„Daß die Menschheit eine Gesamtaufgabe zu lösen habe, daß sie als Ganzes irgendeinem Ziel entgegenlaufe, diese sehr unklare und willkürliche Vorstellung ist noch sehr jung. Vielleicht wird man sie wieder los, bevor sie eine »fixe Idee« wird... Sie ist kein Ganzes, diese Menschheit: sie ist eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprozessen, – sie hat nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein Alter. Sondern die Schichten liegen durcheinander und übereinander – und in einigen Jahrtausenden kann es immer noch jüngere Typen Mensch geben, als wir sie heute nachweisen können. Die décadence andererseits gehört zu allen Epochen der Menschheit: überall gibt es Auswurf- und Verfalls-Stoffe, es ist ein Lebensprozeß selbst, das Ausscheiden der Niedergangs- und Abfalls- Gebilde.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 232

„Unter der Gewalt des christlichen Vorurteils gab es diese Frage gar nicht: der Sinn lag in der Errettung der einzelnen Seele; das Mehr oder Weniger in der Dauer der Menschheit kam nicht in Betracht. Die besten Christen wünschten, daß es möglichst bald ein Ende habe; – über das, was dem einzelnen not tue, gab es keinen Zweifel .... Die Aufgabe stellte sich jetzt für jeden einzelnen, wie in irgendwelcher Zukunft für einen Zukünftigen: der Wert, Sinn, Umkreis der Werte war fest, unbedingt, ewig, eins mit Gott .... Das, was von diesem ewigen Typus abwich, war sündlich, teuflisch, verurteilt .... Das Schwergewicht des Wertes lag für jede Seele in sich selber: Heil oder Verdammnis! Das Heil der ewigen Seele! Extremste Form der Verselbstung .... Für jede Seele gab es nur eine Vervollkommnung; nur ein Ideal; nur einen Weg zur Erlösung... Extremste Form der Gleichberechtigung, angeknüpft an eine optische Vergrößerung der eigenen Wichtigkeit bis ins Unsinnige .... Lauter unsinnig wichtige Seelen, mit entsetzlicher Angst um sich selbst gedreht ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 232-233

„Nun glaubt kein Mensch mehr an diese absurde Wichtigtuerei: und wir haben unsere Weisheit durch ein Sieb der Verachtung geseiht. Trotzdem bleibt unerschüttert die optische Gewöhnung, einen Wert des Menschen in der Annäherung an einen idealen Menschen zu suchen: man hält im Grunde sowohl die Verselbstungs-Perspektive als die Gleichberechtigung vor dem Ideal aufrecht. In summa: man glaubt zu wissen, was, in Hinsicht auf den idealen Menschen, die letzte Wünschbarkeit sei .... Dieser Glaube ist aber nur die Folge einer ungeheuren Verwöhnung durch das christliche Ideal: als welches man, bei jeder vorsichtigen Prüfung des »idealen Typus«, sofort wieder herauszieht. Man glaubt,
erstens, zu wissen, daß die Annäherung an einen Typus wünschbar ist;
zweitens, zu wissen, welcher Art dieser Typus ist;
drittens, daß jede Abweichung von diesem Typus ein Rückgang, eine Hemmung, ein Kraft- und Machtverlust des Menschen ist ...
Zustände träumen, wo dieser vollkommene Mensch die ungeheure Zahlen-Majorität für sich hat: höher haben es auch unsre Sozialisten, selbst die Herren Utilitarier nicht gebracht. – Damit scheint ein Ziel in die Entwicklung der Menschheit zu kommen: jedenfalls ist der Glaube an einen Fortschritt zum Ideal die einzige Form, in der eine Art Ziel in der Menschheits-Geschichte heute gedacht wird. In summa: man hat die Ankunft des »Reiches Gottes« in die Zukunft verlegt, auf die Erde, ins Menschliche, – aber man hat im Grunde den Glauben an das alte Ideal festgehalten ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 233-234

Verstecktere Formen des Kultus des christlichen Moral-Ideals. – Der weichliche und feige Begriff »Natur«, der von den Naturschwärmern auf-gebracht ist (– abseits von allen Instinkten für das Furchtbare, Unerbittliche und Zynische auch der »schönsten« Aspekte), eine Art Versuch, jene moralisch-christliche »Menschlichkeit« aus der Natur herauszulesen, – der Rousseausche Naturbegriff, wie als ob »Natur« Freiheit, Güte, Unschuld, Billigkeit, Gerechtigkeit, Idyll sei, – immer Kultus der christlichen Moral im Grunde. – Stellen zu sammeln, was eigentlich die Dichter verehrt haben, z.B. am Hochgebirge usw.. – Was Goethe an ihr haben wollte, – warum er Spinoza verehrte –. Vollkommene Unwissenheit der Voraussetzung dieses Kultus .... Der weichliche und feige Begriff »Mensch« á la Comte und Stuart Mill, womöglich gar Kultus-Gegenstand .... Es ist immer wieder der Kultus der christlichen Moral unter einem neuen Namen .... Die Freidenker, z.B. Guyau. Der weichliche und feige Begriff »Kunst«, als Mitgefühl für alles Leidende, Schlechweggekommene (selbst die Historie, z.B. Thierrys): es ist immer wieder der Kultus des christlichen Moral-Ideals. Und nun gar das ganze sozialistische Ideal: nichts als ein tölpelhaftes Mißverständnis jenes christlichen Moral-Ideals.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 234

Die Herkunft des Ideals. Untersuchung des Bodens, auf dem es wächst.
A. Von den »ästhetischen« Zuständen ausgehen, wo die Welt voller, runder, vollkommener gesehen wird –: das heidnische Ideal: darin die Selbstbejahung vorherrschend (man gibt ab –). Der höchste Typus: das klassische Ideal – als Ausdruck eines Wohlgeratenseins aller Hauptinstinkte. Darin wieder der höchste Stil: der große Stil. Ausdruck des »Willens zur Macht« selbst. Der am meisten gefürchtete Instinkt wagt sich zu bekennen.
B. Von Zuständen ausgehen, wo die Welt leerer, blässer, verdünnter gesehen wird, wo die »Vergeistigung« und Unsinnlichkeit den Rang des Vollkommnen einnimmt, wo am meisten das Brutale, Tierisch-Direkte, Nächste vermieden wird (– man rechnet ab, man wählt –): der »Weise«, »der Engel«, priesterlich = jungfräulich = unwissend, physiologische Charakteristik solcher Idealisten –: das anämische Ideal. Unter Umständen kann es das Ideal solcher Naturen sein, welche das erste, das heidnische darstellen (: so sieht Goethe in Spinoza seinen »Heiligen«).
C. Von Zuständen ausgehen, wo wir die Welt absurder, schlechter, ärmer, täuschender empfinden, als daß wir in ihr noch das Ideal vermuten oder wünschen (– man negiert, man vernichtet –): die Projektion des Ideals in das Wider-Natürliche, Wider-Tatsächliche, Wider-Logische; der Zustand dessen, der so urteilt (– die »Verarmung« der Welt als Folge des Leidens: man nimmt, man gibt nicht mehr –): das widernatürliche Ideal.
(Das christliche Ideal ist ein Zwischengebilde zwischen dem zweiten und dritten, bald mit dieser, bald mit jener Gestalt überwiegend.)
Die drei Ideale:
A. Entweder eine Verstärkung des Lebens (– heidnisch), oder
B. eine Verdünnung des Lebens (– anämisch), oder
C. eine Verleugnung des Lebens (– widernatürlich). Die »Vergöttlichung« gefühlt: in der höchsten Fülle – in der zartesten Auswahl – in der Verachtung und Zerstörung des Lebens.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 234-236

A. Der konsequente Typus. Hier wird begriffen, daß man auch das Böse nicht hassen dürfe, daß man ihm nicht widerstehen dürfe, daß man auch nicht gegen sich selbst Krieg führen dürfe; daß man das Leiden, welches eine solche Praxis mit sich bringt, nicht nur hinnimmt; daß man ganz und gar in den positiven Gefühlen lebt; daß man die Partei der Gegner nimmt in Wort und Tat; daß man durch eine Superfötation der friedlichen, gütigen, versöhnlichen, hilf- und liebreichen Zustände den Boden der anderen Zustände verarmt ..., daß man eine fortwährende Praxis nötig hat. Was ist hier erreicht? – Der buddhistische Typus oder die vollkommene Kuh. Dieser Standpunkt ist nur möglich, wenn kein moralischer Fanatismus herrscht, d. h. wenn das Böse nicht um seiner selbst willen gehaßt wird, sondern nur, weil es den Weg abgibt zu Zuständen, welche uns wehtun (Unruhe, Arbeit, Sorge, Verwicklung, Abhängigkeit).Dies der buddhistische Standpunkt: hier wird nicht die Sünde gehaßt, hier fehlt der Begriff »Sünde«.
B. Der inkonsequente Typus. Man führt Krieg gegen das Böse, – man glaubt, daß der Krieg um des Guten willen nicht die moralische und Charakter-Konsequenz habe, die sonst der Krieg mit sich bringt (und derentwegen man ihn als böse verabscheut). Tatsächlich verdirbt ein solcher Krieg gegen das Böse viel gründlicher als irgendeine Feindseligkeit von Person zu Person; und gewöhnlich schiebt sich sogar »die Person« als Gegner, wenigstens imaginär, wieder ein (der Teufel, die bösen Geister usw.). Das feindselige Verhalten, Beobachten, Spionieren gegen alles, was in uns schlimm ist und schlimmen Ursprungs sein könnte, endet mit der gequältesten und unruhigsten Verfassung: so daß jetzt »Wunder«, Lohn, Ekstase, Jenseitigkeits-Lösung wünschbar werden .... Der christliche Typus: oder der vollkommene Mucker.
C. Der stoische Typus. Die Festigkeit, die Selbstbeherrschung, das Unerschütterliche, der Friede als Unbeugsamkeit eines langen Willens – die tiefe Ruhe, der Verteidigungszustand, die Burg, das kriegerische Mißtrauen – die Festigkeit der Grundsätze; die Einheit von Wille und Wissen; die Hochachtung vor sich. Einsiedler-Typus. Der vollkommene »Hornochs«.
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 236-237

„Ein Ideal, das sich durchsetzen oder noch behaupten will, sucht sich zu stützen
a) durch eine untergeschobene Herkunft,
b) durch eine angebliche Verwandtschaft mit schon bestehenden mächtigen Idealen,
c) durch die Schauder des Geheimnisses, wie als ob hier eine undiskutierbare Macht rede,
d) durch Verleumdung seiner gegnerischen Ideale,
e) durch eine lügnerische Lehre des Vorteils, den es mit sich bringt, z.B. Glück, Seelenruhe, Frieden oder auch die Beihilfe eines mächtigen Gottes usw. – Zur Psychologie des Idealisten: Carlyle, Schiller, Michelet.
Hat man alle Defensiv- und Schutz-Maßregeln aufgedeckt, mit denen ein Ideal sich erhält: ist es damit widerlegt? Es hat die Mittel angewendet, durch die alles Lebendige lebt und wächst – sie sind allesamt »unmoralisch«. Meine Einsicht: alle die Kräfte und Triebe, vermöge deren es Leben und Wachstum gibt, sind mit dem Banne der Moral belegt: Moral als Instinkt der Verneinung des Lebens. Man muß die Moral vernichten, um das Leben zu befreien.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 237-238

Tendenz der Moral-Entwicklung. – Jeder wünscht, daß keine andere Lehre und Schätzung der Dinge zur Geltung komme außer einer solchen, bei der er selbst gut wegkommt. Grundtendenz folglich der Schwachen und Mittelmäßigen aller Zeiten, die Stärkeren schwächer zu machen, herunterzuziehen: Hauptmittel das moralische Urteil. Das Verhalten des Stärkeren gegen den Schwächeren wird gebrandmarkt; die höheren Zustände des Stärkeren bekommen schlechte Beinamen. Der Kampf der vielen gegen die wenigen, der Gewöhnlichen gegen die Seltenen, der Schwachen gegen die Starken –: eine seiner feinsten Unterbrechungen ist die, daß die Ausgesuchten, Feinen, Anspruchsvolleren sich als die Schwachen präsentieren und die gröberen Mittel der Macht von sich weisen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 238-239

„1. Der angeblich reine Erkenntnistrieb aller Philosophen ist kommandiert durch ihre Moral– »Wahrheiten«, – ist nur scheinbar unabhängig ....
2. Die »Moralwahrheiten« »so soll gehandelt werden« sind bloße Bewußtseins-Formen eines müdewerdenden Instinkts »so und so wird bei uns gehandelt«. Das »Ideal« soll einen Instinkt wiederherstellen, stärken; es schmeichelt dem Menschen, gehorsam zu sein, wo er nur Automat ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 239

Moral als Verführungsmittel. – »Die Natur ist gut, denn ein weiser und guter Gott ist ihre Ursache. Wem fällt also die Verantwortung für die »Verderbnis der Menschen« zu? Ihren Tyrannen und Verführern, den herrschenden Ständen – man muß sie vernichten« –; die Logik Rousseaus (vgl. die Logik Pascals, welcher den Schluß auf die Erbsünde macht). Man vergleiche die verwandte Logik Luthers. In beiden Fällen wird ein Vorwand gesucht, ein unersättliches Rachebedürfnis als moralisch – religiöse Pflicht einzuführen. Der Haß gegen den regierenden Stand sucht sich zu heiligen ... (die »Sündhaftigkeit Israels«: Grundlage für die Machtstellung der Priester). Man vergleiche die verwandte Logik des Paulus. Immer ist es die Sache Gottes, unter der diese Reaktionen auftreten, die Sache des Rechts, der Menschlichkeit usw..“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 239

„Der »gute Mensch«. Oder: die Hemiplegie der Tugend. – Für jede starke und Natur gebliebene Art Mensch gehört Liebe und Haß, Dankbarkeit und Rache, Güte und Zorn, Ja-tun und Nein-tun zueinander. Man ist gut, um den Preis, daß man auch böse zu sein weiß; man ist böse, weil man sonst nicht gut zu sein verstünde. Woher nun jene Erkrankung und ideologische Unnatur, welche diese Doppelheit ablehnt – welche als das Höhere lehrt, nur halbseitig tüchtig zu sein? Woher die Hemiplegie der Tugend, die Erfindung des guten Menschen? ... Die Forderung geht dahin, daß der Mensch sich an jenen Instinkten verschneide, mit denen er feind sein kann, schaden kann, zürnen kann, Rache heischen kann... Diese Unnatur entspricht dann jener dualistischen Konzeption eines bloß guten und eines bloß bösen Wesens (Gott, Geist, Mensch), in ersterem alle positiven, in letzterem alle negativen Kräfte, Absichten, Zustände summierend. – Eine solche Wertungsweise glaubt sich damit »idealistisch«; sie zweifelt nicht daran, eine höchste Wünschbarkeit in der Konzeption »des Guten« angesetzt zu haben. Geht sie auf ihren Gipfel, so denkt sie sich einen Zustand aus, wo alles Böse annulliert ist und wo in Wahrheit nur die guten Wesen übriggeblieben sind. Sie hält es also nicht einmal für ausgemacht, daß jener Gegensatz von Gut und Böse sich gegenseitig bedinge; umgekehrt, letzteres soll verschwinden und ersteres soll übrigbleiben, das eine hat ein Recht zu sein, das andere sollte gar nicht da sein .... Was wünscht da eigentlich?
Man hat sich zu allen Zeiten und sonderlich zu den christlichen Zeiten viel Mühe gegeben, den Menschen auf diese halbseitige Tüchtigkeit, auf den »Guten« zu reduzieren: noch heute fehlt es nicht an kirchlich Verbildeten und Geschwächten, denen diese Absicht mit der »Vermenschlichung« überhaupt oder mit dem »Willen Gottes« oder mit dem »Heil der Seele« zusammenfällt. Hier wird als wesentliche Forderung gestellt, daß der Mensch nichts Böses tue, daß er unter keinen Umständen schade, schaden wolle. Als Weg dazu gilt: die Verschneidung aller Möglichkeit zur Feindschaft, die Aushängung aller Instinkte des Ressentiments, der »Frieden der Seele« als chronisches Übel.
Diese Denkweise, mit der ein bestimmter Typus Mensch gezüchtet wird, geht von einer absurden Voraussetzung aus: sie nimmt das Gute und das Böse als Realitäten, die mit sich im Widerspruch sind (nicht als komplementäre Wertbegriffe, was die Wahrheit wäre), sie rät die Partei des Guten zu nehmen, sie verlangt, daß der Gute dem Bösen bis in die letzte Wurzel entsagt und widerstrebt – sie verneint tatsächlich damit das Leben, welches in allen seinen Instinkten sowohl das Ja wie das Nein hat. Nicht daß sie dies begriffe: sie träumt umgekehrt davon, zur Ganzheit, zur Einheit, zur Stärke des Lebens zurückzukehren: sie denkt es sich als Zustand der Erlösung, wenn endlich der eignen innern Anarchie, der Unruhe zwischen jenen entgegengesetzten Wert-Antrieben ein Ende gemacht wird. – Vielleicht gab es bisher keine gefährlichere Ideologie, keinen größeren Unfug in psychologicis als diesen Willen zum Guten: man zog den widerlichsten Typus, den unfreien Menschen groß, den Mucker; man lehrte, eben nur als Mucker sei man auf dem rechten Wege zur Gottheit, nur ein Mucker-Wandel sei ein göttlicher Wandel.
Und selbst hier noch behält das Leben recht – das Leben, welches das Ja nicht vom Nein zu trennen weiß –: was hilft es, mit allen Kräften den Krieg für böse zu halten, nicht schaden, nicht Neintun zu wollen! man führt doch Krieg! man kann gar nicht anders! Der gute Mensch, der dem Bösen entsagt hat, behaftet, wie es ihm wünschbar scheint mit jener Hemiplegie der Tugend, hört durchaus nicht auf, Krieg zu führen, Feinde zu haben, nein zu sagen, nein zu tun. Der Christ zum Beispiel haßt die »Sünde«! – und was ist ihm nicht alles »Sünde«! Gerade durch jenen Glauben an einen Moral-Gegensatz von Gut und Böse ist ihm die Welt vom Hassenswerten, vom Ewigzu-Bekämpfenden übervoll geworden. »Der Gute« sieht sich wie umringt vom Bösen und unter dem beständigen Ansturm des Bösen, er verfeinert sein Auge, er entdeckt unter all seinem Dichten und Trachten noch das Böse: und so endet er, wie es folgerichtig ist, damit, die Natur für böse, den Menschen für verderbt, das Gutsein als Gnade (das heißt als menschenunmöglich) zu verstehen. In summa: er verneint das Leben, er begreift, wie das Gute als oberster Wert das Leben verurteilt .... Damit sollte seine Ideologie von Gut und Böse ihm als widerlegt gelten. Aber eine Krankheit widerlegt man nicht. Und so konzipiert er ein anderes Leben!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 241-244

Zur Kritik des guten Menschen. – Rechtschaffenheit, Würde, Pflichtgefühl, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Geradheit, gutes Gewissen, – sind wirklich mit diesen wohlklingenden Worten Eigenschaften um ihrer selbst willen bejaht und gutgeheißen? oder sind hier an sich wertindifferente Eigenschaften und Zustände nur unter irgendwelchen Gesichtspunkt gerückt, wo sie Wert bekommen? Liegt der Wert dieser Eigenschaften in ihnen oder in dem Nutzen, Vorteil, der aus ihnen folgt (zu folgen scheint, zu folgen erwartet wird)? Ich meine hier natürlich nicht einen Gegensatz von ego und alter in der Beurteilung: die Frage ist, ob die Folgen es sind, sei es für den Träger dieser Eigenschaften, sei es für die Umgebung, Gesellschaft, »Menschheit«, derentwegen diese Eigenschaften Wert haben sollen: oder ob sie an sich selbst Wert haben .... Anders gefragt: ist es die Nützlichkeit, welche die entgegengesetzten Eigenschaften verurteilen, bekämpfen, verneinen heißt (– Unzuverlässigkeit, Falschheit, Verschrobenheit, Selbst-Ungewißheit, Unmenschlichkeit –)? Ist das Wesen solcher Eigenschaften oder nur die Konsequenz solcher Eigenschaften verurteilt? – Anders gefragt: wäre es wünschbar, daß Menschen die ser zweiten Eigenschaften nicht existieren? – Das wird jedenfalls geglaubt .... Aber hier steckt der Irrtum, die Kurzsichtigkeit, die Borniertheit des Winkel-Egoismus. Anders ausgedrückt: wäre es wünschbar, Zustände zu schaffen, in denen der ganze Vorteil auf Seiten der Rechtschaffenen ist – so daß die entgegengesetzten Naturen und Instinkte entmutigt würden und langsam ausstürben? Dies ist im Grunde eine Frage des Geschmacks und der Ästhetik: wäre es wünschbar, daß die »achtbarste«, d.h. langweiligste Spezies Mensch übrigbliebe? die Rechtwinkligen, die Tugendhaften, die Biedermänner, die Braven, die Geraden, die »Hornochsen«? Denkt man sich die ungeheure Überfülle der »Anderen« weg: so hat sogar der Rechtschaffene nicht einmal mehr ein Recht auf Existenz: er ist nicht mehr nötig, – und hier begreift man, daß nur die grobe Nützlichkeit eine solche unausstehliche Tugend zu Ehren gebracht hat. Die Wünschbarkeit liegt vielleicht gerade auf der umgekehrten Seite: Zustände schaffen, bei denen der »rechtschaffene Mensch« in die bescheidne Stellung eines »nützlichen Werkzeugs« herabgedrückt wird – als das »ideale Herdentier«, bestenfalls Herden-Hirt: kurz, bei denen er nicht mehr in die obere Ordnung zu stehen kommt: welche andere Eigenschaften verlangt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 244-246

Der »gute Mensch« als Tyrann. – Die Menschheit hat immer denselben Fehler wiederholt: daß sie aus einem Mittel zum Leben einen Maßstab des Lebens gemacht hat; daß sie – statt in der höchsten Steigerung des Lebens selbst, im Problem des Wachstums und der Erschöpfung, das Maß zu finden – die Mittel zu einem ganz bestimmten Leben zum Ausschluß aller anderen Formen des Lebens, kurz zur Kritik und Selektion des Lebens benutzt hat. D.h. der Mensch liebt endlich die Mittel um ihrer selbst willen und vergißt sie als Mittel: so daß sie jetzt als Ziele ihm ins Bewußtsein treten, als Maßstäbe von Zielen... d.h. eine bestimmte Spezies Mensch behandelt ihre Existenzbedingungen als gesetzlich aufzuerlegende Bedingungen, als »Wahrheit«, »Gut«, »Vollkommen«: sie tyrannisiert .... Es ist eine Form des Glaubens, des Instinkts, daß eine Art Mensch nicht die Bedingtheit ihrer eignen Art, ihre Relativität im Vergleich zu anderen einsieht Wenigstens scheint es zu Ende zu sein mit einer Art Mensch (Volk, Rasse), wenn sie tolerant wird, gleiche Rechte zugesteht und nicht mehr daran denkt, Herr sein zu wollen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 246

„Bescheiden, fleißig, wohlwollend, mäßig: so wollt ihr den Menschen? den guten Menschen? Aber mich dünkt das nur der ideale Sklave, der Sklave der Zukunft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 247

Die Metamorphosen der Sklaverei; ihre Verkleidung unter religiöse Mäntel; ihre Verklärung durch die Moral.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 247

Der ideale Sklave (der »gute« Mensch). – Wer sich nicht als »Zweck« ansetzen kann, noch überhaupt von sich aus Zwecke ansetzen kann, der gibt der Moral der Entselbstung die Ehre – instinktiv. Zu ihr überredet ihn alles: seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Und auch der Glaube ist eine Entselbstung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 247

„Ich habe dem bleichsüchtigen Christen-Ideale den Krieg erklärt (samt dem, was ihm nahe verwandt ist), nicht in der Absicht, es zu vernichten, sondern nur um seiner Tyrannei ein Ende zu setzen und Platz frei zu bekommen für neue Ideale, für robustere Ideale .... Die Fortdauer des christlichen Ideals gehört zu den wünschenswertesten Dingen, die es gibt: und schon um der Ideale willen, die neben ihm und vielleicht über ihm sich geltend machen wollen, – sie müssen Gegner, starke Gegner haben, um stark zu werden. – So brauchen wir Immoralisten die Macht der Moral: unser Selbsterhaltungstrieb will, daß unsre Gegner bei Kräften bleiben, – er will nur Herr über sie werden.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 248-249

Egoismus und sein Problem! Die christliche Verdüsterung in Larochefoucauld, welcher ihn überall herauszog und damit den Wert der Dinge und Tugenden vermindert glaubte! Dem entgegen suchte ich zunächst zu beweisen, daß es gar nichts anderes geben könne als Egoismus, – daß den Menschen, bei denen das ego schwach und dünn wird, auch die Kraft der großen Liebe schwach wird, – daß die Liebendsten vor allem es aus Stärke ihres ego sind, – daß Liebe ein Ausdruck von Egoismus ist usw. Die falsche Wertschätzung zielt in Wahrheit auf das Interesse
1. derer, denen genützt, geholfen wird, der Herde;
2. enthält sie einen pessimistischen Argwohn gegen den Grund des Lebens;
3. möchte sie die prachtvollsten und wohlgeratensten Menschen verneinen; Furcht;
4. will sie den Unterliegenden zum Rechte verhelfen gegen die Sieger;
5. bringt sie eine universale Unehrlichkeit mit sich, und gerade bei den wertvollsten Menschen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 249

Ursprung der Moralwerte. – Der Egoismus ist so viel wert, als der physiologisch wert ist, der ihn hat. Jeder Einzelne ist die ganze Linie der Entwicklung noch (und nicht nur, wie ihn die Moral auffaßt, etwas das mit der Geburt beginnt):
Stellt er das Aufsteigen der Linie Mensch dar, so ist sein Wert in der Tat außerordentlich; und die Sorge um Erhaltung und Begünstigung seines Wachstums darf extrem sein. (Es ist die Sorge um die in ihm verheißene Zukunft, welche dem wohlgeratenen Einzelnen ein so außerordentliches Recht auf Egoismus gibt).
Stellt er die absteigende Linie dar, den Verfall, die chronische Erkrankung: so kommt ihm wenig Wert zu: und die erste Billigkeit ist, daß er so wenig als möglich Platz, Kraft und Sonnenschein den Wohlgeratenen wegnimmt. In diesem Falle hat die Gesellschaft die Niederhaltung des Egoismus (– der mitunter absurd, krankhaft, aufrührerisch sich äußert –) zur Aufgabe: handle es sich nun um Einzelne oder um ganze verkommende verkümmerte Volks-Schichten. Eine Lehre und Religion der »Liebe«, der Niederhaltung der Selbstbejahung, des Duldens, Tragens, Helfens, der Gegenseitigkeit in Tat und Wort kann innerhalb solcher Schichten vom höchsten Werte sein, selbst mit den Augen der Herrschenden gesehn: denn sie hält die Gefühle der Rivalität, des Ressentiment, des Neides nieder, die allzu natürlichen Gefühle der Schlechtweggekommenen, – sie vergöttlicht ihnen selbst unter dem Ideal der Demut und des Gehorsams das Sklave-sein, das Beherrschtwerden, das Armsein, das Kranksein, das Unten-stehn. Hieraus ergibt sich, warum die herrschenden Klassen oder Rassen und Einzelnen jeder Zeit den Kultus der Selbstlosigkeit, das Evangelium der Niedrigen, den »Gott am Kreuze« aufrecht erhalten haben.
Das Übergewicht einer altruistischen Wertungsweise ist die Folge eines Instinktes für Mißraten-sein. Das Werturteil auf unterstem Grunde sagt hier: »ich bin nicht viel wert«: ein bloß physiologisches Werturteil, noch deutlicher: das Gefühl der Ohnmacht, der Mangel der großen bejahenden Gefühle der Macht (in Muskeln, Nerven, Bewegungszentren). Dies Werturteil übersetzt sich, je nach der Kultur dieser Schichten, in ein moralisches oder religiöses Urteil ( – die Vorherrschaft religiöser und moralischer Urteile ist immer ein Zeichen niedriger Kultur – ): es sucht sich zu begründen, aus Sphären, woher ihnen der Begriff »Wert« überhaupt bekannt ist. Die Auslegung, mit der der christliche Sünder sich zu verstehen glaubt, ist ein Versuch, den Mangel an Macht und Selbstgewißheit berechtigt zu finden: er will lieber sich schuldig finden, als umsonst sich schlecht fühlen: an sich ist es ein Symptom von Verfall, Interpretationen dieser Art überhaupt zu brauchen. In andern Fällen sucht der Schlechtweggekommene den Grund dafür nicht in seiner »Schuld« (wie der Christ), sondern in der Gesellschaft: der Sozialist, der Anarchist, der Nihilist, indem sie ihr Dasein als etwas empfinden, an dem jemand schuld sein soll, ist damit immer noch der Nächstverwandte des Christen, der auch das Sich-schlecht-Befinden und Mißraten besser zu ertragen glaubt, wenn er jemanden gefunden hat, den er dafür verantwortlich machen kann. Der Instinkt der Rache und des Ressentiment erscheint hier in beiden Fällen als Mittel, es auszuhalten, als Instinkt der Selbsterhaltung: ebenso wie die Bevorzugung der altruistischen Theorie und Praxis. Der Haß gegen den Egoismus, sei es gegen den eigenen, wie beim Christen, sei es gegen den fremden, wie beim Sozialisten, ergibt sich dergestalt als ein Werturteil unter der Vorherrschaft der Rache; andrerseits als eine Klugheit der Selbsterhaltung Leidender durch Steigerung ihrer Gegenseitigkeits- und Solidaritätsgefühle .... Zuletzt ist, wie schon angedeutet, auch jene Entladung des Ressentiment im Richten, Verwerfen, Bestrafen des Egoismus (des eigenen oder eines fremden) noch ein Instinkt der Selbsterhaltung bei Schlechtweggekommenen. In summa: der Kultus des Altruismus ist eine spezifische Form des Egoismus, die unter bestimmten physiologischen Voraussetzungen regelmäßig auftritt.
Wenn der Sozialist mit einer schönen Entrüstung »Gerechtigkeit«, »Recht«, »gleiche Rechte« verlangt, so steht er nur unter dem Druck seiner ungenügenden Kultur, welche nicht zu begreifen weiß, warum er leidet: andrerseits macht er sich ein Vergnügen damit; befände er sich besser, so würde er sich hüten, so zu schreien: er fände dann anderswo sein Vergnügen. Dasselbe gilt vom Christen: »die Welt« wird von ihm verurteilt, verleumdet, verflucht – er nimmt sich selbst nicht aus. Aber das ist kein Grund, sein Geschrei ernst zu nehmen. In beiden Fällen sind wir immer noch unter Kranken, denen es wohltut, zu schreien, denen die Verleumdung eine Erleichterung ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 252-255

Die Verinnerlichung des Menschen. – Die Verinnerlichung entsteht, indem mächtige Triebe, denen mit Einrichtung des Friedens und der Gesellschaft die Entladung nach außen versagt wird, sich nach innen zu schadlos zu halten suchen, im Bunde mit der Imagination. Das Bedürfnis nach Feindschaft, Grausamkeit, Rache, Gewaltsamkeit wendet sich zurück, »tritt zurück«; im Erkennenwollen ist Habsucht und Erobern: im Künstler tritt die zurückgetretene Verstellungs- und Lügenkraft auf; die Triebe werden zu Dämonen umgeschaffen, mit denen es Kampf gibt usw.,“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 255-256

„Der Mächtige lügt immer.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 257

„Schopenhauer hat die hohe Intellektualität als Loslösung vom Willen ausgelegt; er hat das Frei-werden von den Moral-Vorurteilen, welches in der Entfesselung des großen Geistes liegt, die typische Unmoralität des Genies, nicht sehen wollen, er hat künstlich das, was er allein ehrte, den moralischen Wert der »Entselbstung«, auch als Bedingung der geistigsten Tätigkeit, des »Objektiv«-Blickens, angesetzt. »Wahrheit«, auch in der Kunst, tritt hervor nach Abzug des Willens .... Quer durch alle moralische Idiosynkrasie hindurch sehe ich eine grundverschiedene Wertung: solche absurde Auseinandertrennung von »Genie« und Willens-Welt der Moral und Immoral kenne ich nicht. Der moralische Mensch ist eine niedrigere Spezies als der unmoralische, eine schwächere; ja – er ist der Moral nach ein Typus, nur nicht sein eigener Typus; eine Kopie, eine gute Kopie bestenfalls, – das Maß seines Wertes liegt außer ihm. Ich schätze den Menschen nach dem Quantum Macht und Fülle seines Willens: nicht nach dessen Schwächung und Auslöschung; ich betrachte eine Philosophie, welche die Verneinung des Willens lehrt, als eine Lehre der Herunterbringung und der Verleumdung .... Ich schätze die Macht eines Willens danach, wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vorteil umzuwandeln weiß; ich rechne dem Dasein nicht seinen bösen und schmerzhaften Charakter zum Vorwurf an, sondern bin der Hoffnung, daß es einst böser und schmerzhafter sein wird als bisher .... Die Spitze des Geistes, die Schopenhauer imaginierte, war, zur Erkenntnis zu kommen, daß alles keinen Sinn hat, kurz, zu erkennen, was instinktiv der gute Mensch schon tut .... Er leugnet, daß es höhere Arten Intellekt geben könne, – er nahm seine Einsicht als ein non plus ultra. Hier ist die Geistigkeit tief unter die Güte geordnet; ihr höchster Wert (als Kunst z.B.) wäre es, die moralische Umkehr anzuraten, vorzubereiten: absolute Herrschaft der Moralwerte. – Neben Schopenhauer will ich Kant charakterisieren: nichts Griechisches, absolut widerhistorisch (Stelle über die französische Revolution) und Moral-Fanatiker (Goethes Stelle über das Radikal-Böse). Auch bei ihm im Hintergrund die Heiligkeit .... Ich brauche eine Kritik des Heiligen .... Hegels Wert. »Leidenschaft«. Krämer-Philosophie des Herrn Spencer: vollkommene Abwesenheit eines Ideals, außer dem des mittleren Menschen. Instinkt-Grundsatz aller Philosophen und Historiker und Psychologen: es muß alles, was wertvoll ist in Mensch, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Religion, Technik, bewiesen werden als moralisch-wertvoll, moralisch-bedingt, in Ziel, Mittel und Resultat. Alles verstehen in Hinsicht auf den obersten Wert: z.B. Rousseaus Frage in betreff der Zivilisation »wird durch sie der Mensch besser?« – eine komische Frage, da das Gegenteil auf der Hand liegt und eben das ist, was zugunsten der Zivilisation redet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 259-260

„Mein Schlußsatz ist: daß der wirkliche Mensch einen viel höheren Wert darstellt als der wünschbare Mensch irgendeines bisherigen Ideals: daß alle »Wünschbarkeiten« in Hinsicht auf den Menschen gefährliche Ausschweifungen waren, mit denen eine einzelne Art von Mensch ihre Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen über der Menschheit als Gesetz aufhängen möchte; daß jede zur Herrschaft gebrachte »Wünschbarkeit“ solchen Ursprungs bis jetzt den Wert des Menschen, seine Kraft, seine Zukunftsgwißheit herabgedrückt hat; daß die Armseligkeit und Winkel-Intellektualität des Menschen sich am meisten bloßstellt, auch heute noch, wenn er wünscht;daß die Fähigkeit des Menschen, Werte anzusetzen, bisher zu niedrig entwickelt war, um dem tatsächlichen, nicht bloß »wünschbaren« Werte des Menschen gerecht zu werden; daß das Ideal bis jetzt die eigentlich welt- und mensch-verleumdende Kraft, der Gifthauch über der Realität, die große Verführung zum Nichts war ....
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 265

„Maßstab, wonach der Wert der moralischen Wertschätzungen zu bestimmen ist. Die übersehene Grundtatsache: Widerspruch zwischen dem »Moralischer-werden« und der Erhöhung und Verstärkung des Typus Mensch. Homo natura. Der »Wille zur Macht«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 265

„Die Moralwerte als Scheinwerte, verglichen mit den physiologischen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 265

„»Die Krankheit macht den Menschen besser«: diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, gibt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: gibt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die »Verbesserung des Menschen«, im großen betrachtet, z.B. die unleugbare Milderung, Vermenschlichung, Vergutmütigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends – ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißratens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat »die Krankheit« den Europäer »besser gemacht«? Oder anders gefragt: ist unsre Moralität – unsre moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen möge, – der Ausdruck eines physiologischen Rückgangs? .... Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo »der Mensch« sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben nur an Mut oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: »je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so ›unmoralischer‹ wird er auch«. Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden teurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften fordern – die Vermenschlichung, die »Verbesserung«, die wachsende »Zivilisierung« des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und »jeder jedermanns Krankenpfleger« wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten »Frieden auf Erden«! Aber auch so wenig »Wohlgefallen aneinander«! So wenig Schönheit, Übermut, Wagnis, Gefahr! So wenig »Werke«, um derentwillen es sich lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine »Taten« mehr! Alle großen Werke und Taten, welche stehngeblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden, – waren sie nicht alle im tiefsten Verstande große Unmoralitäten?
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 268-269

„Man muß sehr unmoralisch sein, um durch die Tat Moral zu machen .... Die Mittel der Moralisten sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden sind; wer den Mut nicht zur Unmoralität der Tat hat, taugt zu allem übrigen, er taugt nicht zum Moralisten“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 270

„Man muß sehr unmoralisch sein, um durch die Tat Moral zu machen... Die Mittel der Moralisten sind die furchtbarsten Mittel, die je gehandhabt worden sind; wer den Mut nicht zur Unmoralität der Tat hat, taugt zu allem übrigen, er taugt nicht zum Moralisten“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 270

„Der Mensch, eingesperrt in einen eisernen Käfig von Irrtümern, eine Karikatur des Menschen geworden, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig, voller Haß auf die Antriebe zum Leben, voller Mißtrauen gegen alles, was schön und glücklich ist am Leben, ein wandelndes Elend: diese künstliche, willkürliche, nachträgliche Mißgeburt, welche die Priester aus ihrem Boden gezogen haben, den »Sünder«: wie werden wir es erlangen, dieses Phänomen trotz alledem zu rechtfertigen?
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 271

„Um billig von der Moral zu denken, müssen wir zwei zoologische Begriffe an ihre Stelle setzen: Zähmung der Bestie und Züchtung einer bestimmten Art. Die Priester gaben zu allen Zeiten vor, daß sie »bessern» wollen .... Aber wir andern lachen, wenn ein Tierbändiger von seinen »gebesserten« Tieren reden wollte. Die Zähmung der Bestie wird in den meisten Fällen durch eine Schädigung der Bestie erreicht: auch der moralische Mensch ist kein besserer Mensch, sondern nur ein geschwächter. Aber er ist weniger schädlich.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 271

„Was ich mit aller Kraft deutlich zu machen wünsche:
a) daß es keine schlimmere Verwechslung gibt, als wenn man Züchtung mit Zähmung verwechselt: was man getan hat .... Die Züchtung ist, wie ich sie verstehe, ein Mittel der ungeheuren Kraft-Aufspeicherung der Menschheit, so daß die Geschlechter auf der Arbeit ihrer Vorfahren fortbauen können – nicht nur äußerlich, sondern innerlich, organisch aus ihnen herauswachsend, ins Stärkere ....
b) daß es eine außerordentliche Gefahr gibt, wenn man glaubt, daß die Menschheit als Ganzes fortwüchse und stärker würde, wenn die Individuen schlaff, gleich, durchschnittlich werden .... Menschheit ist ein Abstraktum: das Ziel der Züchtung kann auch im einzelnsten Falle immer nur der stärkere Mensch sein (– der ungezüchtete ist schwach, vergeuderisch, unbeständig –).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 271-272

„Das sind meine Forderungen an euch – sie mögen euch schlecht genug zu Ohren gehen –: daß ihr die moralischen Wertschätzungen selbst einer Kritik unterziehen sollt. Daß ihr dem moralischen Gefühls-Impuls, welcher hier Unterwerfung und nicht Kritik verlangt, mit der Frage: »warum Unterwerfung?« Halt gebieten sollt. Daß ihr dies Verlangen nach einem »Warum?«, nach einer Kritik der Moral, eben als eure jetzige Form der Moralität selbst ansehen sollt, als die sublimste Art von Moralität, die euch und eurer Zeit Ehre macht. Daß eure Redlichkeit, euer Wille, euch nicht zu betrügen, sich selbst ausweisen muß: »warum nicht? – Vor welchem Forum?«“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 272

„Die drei Behauptungen:
Das Unvornehme ist das Höhere (Protest des »gemeinen Mannes«);
das Widernatürliche ist das Höhere (Protest der Schlechtweggekommenen);
das Durchschnittliche ist das Höhere (Protest der Herde, der »Mittleren«).
In der Geschichte der Moral drückt sich also ein Wille zur Macht aus, durch den bald die Sklaven und Unterdrückten, bald die Mißratenen und An-sich-Leidenden, bald die Mittelmäßigen den Versuch machen, die ihnen günstigsten Werturteile durchzusetzen. Insofern ist das Phänomen der Moral vom Standpunkt der Biologie aus höchst bedenklich. Die Moral hat sich bisher entwickelt auf Unkosten: der Herrschenden und ihrer spezifischen Instinkte, der Wohlgeratenen und schönen Naturen, der Unabhängigen und Privilegierten in irgendeinem Sinne. Die Moral ist also eine Gegenbewegung gegen die Bemühungen der Natur, es zu einem höheren Typus zu bringen. Ihre Wirkung ist; Mißtrauen gegen das Leben überhaupt (insofern dessen Tendenzen als »unmoralisch« empfunden werden) – Sinnlosigkeit, Widersinn (insofern die obersten Werte als im Gegensatz zu den obersten Instinkten empfunden werden) – Entartung und Selbstzerstörung der »höheren Naturen«, weil gerade in ihnen der Konflikt bewußt wird.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 272-273

„Welche Werte bisher obenauf waren.
Moral als oberster Wert, in allen Phasen der Philosophie (selbst bei den Skeptikern). Resultat: diese Welt taugt nichts, es muß eine »wahre Welt« geben. Was bestimmt hier eigentlich den obersten Wert? Was ist eigentlich Moral? Der Instinkt der décadence, es sind die Erschöpften und Enterbten, die auf diese Weise Rache nehmen und die Herren machen .... Historischer Nachweis: die Philosophen immer décadents, immer im Dienst der nihilistischen Religionen. Der Instinkt der décadence, der als Wille zur Macht auftritt. Vorführung seines Systems der Mittel: absolute Unmoralität der Mittel. Gesamteinsicht: die bisherigen obersten Werte sind ein Spezialfall des Willens zur Macht; die Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoralität.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 273-274

„Warum die gegnerischen Werte immer unterlagen
1. Wie war das eigentlich möglich? Frage: warum unterlag das Leben, die physiologische Wohlgeratenheit überall? Warum gab es keine Philosophie des Ja, keine Religion des Ja? .... Die historischen Anzeichen solcher Bewegungen: Die heidnische Religion. Dionysos gegen den »Gekreuzigten«. Die Renaissance. Die Kunst.
2. Die Starken und die Schwachen: die Gesunden und die Kranken; die Ausnahme und die Regel. Es ist kein Zweifel, wer der Stärkere ist .... Gesamtaspekt der Geschichte: Ist der Mensch damit eine Ausnahme in der Geschichte des Lebens? – Einsprache gegen den Darwinismus. Die Mittel der Schwachen, um sich oben zu erhalten, sind Instinkte, sind »Menschlichkeit« geworden, sind »Institutionen« ....
3. Nachweis dieser Herrschaft in unsern politischen Instinkten, in unsern sozialen Werturteilen, in unsern Künsten, in unsrer Wissenschaft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 274

„Die Niedergangs-Instinkte sind Herr über die Aufgangs-Instinkte geworden .... Der Wille zum Nichts ist Herr geworden über den Willen zum Leben! – Ist das wahr? ist nicht vielleicht eine größere Garantie des Lebens, der Gattung in diesem Sieg der Schwachen und Mittleren? – ist es vielleicht nur ein Mittel in der Gesamtbewegung des Lebens, eine Tempo-Verzögerung? eine Notwehr gegen etwas noch Schlimmeres? – Gesetzt, die Starken wären Herr, in allem, und auch in den Wertschätzungen geworden: ziehen wir die Konsequenz, wie sie über Krankheit, Leiden, Opfer denken würden! Eine Selbstverachtung der Schwachen wäre die Folge: sie würden suchen, zu verschwinden und sich auszulöschen. Und wäre dies vielleicht wünschenswert? – und möchten wir eigentlich eine Welt, in der die Nachwirkung der Schwachen, ihre Feinheit, Rücksicht, Geistigkeit, Biegsamkeit fehlte?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 274-275

„Wir haben zwei »Willen zur Macht« im Kampfe gesehn (im Spezialfall: wir hatten ein Prinzip, dem einen recht zu geben, der bisher unterlag, und dem, der bisher siegte, unrecht zu geben): wir haben die »wahre Welt« als eine »erlogene Welt« und die Moral als eine Form der Unmoralität erkannt. Wir sagen nicht: »der Stärkere hat unrecht«. Wir haben begriffen, was bisher den obersten Wert bestimmt hat und warum es Herr geworden ist über die gegnerische Wertung –: es war numerisch stärker. Reinigen wir jetzt die gegnerische Wertung von der Infektion und Halbheit, von der Entartung, in der sie uns allen bekannt ist. Wiederherstellung der Natur: moralinfrei.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 275

Moral ein nützlicher Irrtum, deutlicher, in Hinsicht auf die größten und vorurteilsfreiesten ihrer Förderer, eine notwendig erachtete Lüge.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 275

„Man darf sich die Wahrheit bis so weit zugestehn, als man bereits erhöht genug ist, um nicht mehr die Zwangsschule des moralischen Irrtums nötig zu haben. – Falls man das Dasein moralisch beurteilt, degoutiert es. Man soll nicht falsche Personen erfinden, z.B. nicht sagen »die Natur ist grausam«. Gerade einzusehen, daß es kein solches Zentralwesen der Verantwortlichkeit gibt, erleichtert!
Entwicklung der Menschheit.
A. Macht über die Natur zu gewinnen und dazu eine gewisse Macht über sich. (Die Moral war nötig, um den Menschen durchzusetzen im Kampf mit Natur und »wildem Tier«.)
B. Ist die Macht über die Natur errungen, so kann man diese Macht benutzen, um sich selbst frei weiterzubilden: Wille zur Macht als Selbsterhöhung und Verstärkung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 276

„Moral als Illusion der Gattung, um den einzelnen anzutreiben, sich der Zukunft zu opfern: scheinbar ihm selbst einen unendlichen Wert zugestehend, so daß er mit diesem Selbstbewußtsein andere Seiten seiner Natur tyrannisiert und niederhält und schwer mit sich zufrieden ist. Tiefste Dankbarkeit für das, was die Moral bisher geleistet hat: aber jetzt nur noch ein Druck, der zum Verhängnis werden würde! Sie selbst zwingt als Redlichkeit zur Moralverneinung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 276

„Inwiefern die Selbstvernichtung der Moral noch ein Stück ihrer eigenen Kraft ist. Wir Europäer haben das Blut solcher in uns, die für ihren Glauben gestorben sind; wir haben die Moral furchtbar und ernst genommen, und es ist nichts, was wir ihr nicht irgendwie geopfert haben. Andrerseits: unsre geistige Feinheit ist wesentlich durch Gewissens-Vivisektion erreicht worden. Wir wissen das »Wohin?« noch nicht, zu dem wir getrieben werden, nachdem wir uns dergestalt von unsrem alten Boden abgelöst haben. Aber dieser Boden selbst hat uns die Kraft angezüchtet, die uns jetzt hinaustreibt in die Ferne, ins Abenteuer, durch die wir ins Uferlose, Unerprobte, Unentdeckte hinausgestoßen werden – es bleibt uns keine Wahl, wir müssen Eroberer sein, nachdem wir kein Land mehr haben, wo wir heimisch sind, wo wir »erhalten« möchten. Ein verborgenes Ja treibt uns dazu, das stärker ist als alle unsre Neins. Unsre Stärke selbst duldet uns nicht mehr im alten morschen Boden: wir wagen uns in die Weite, wir wagen uns daran: die Welt ist noch reich und unentdeckt, und selbst Zugrundegehn ist besser als halb und giftig werden. Unsre Stärke selbst zwingt uns aufs Meer, dorthin, wo alle Sonnen bisher untergegangen sind: wir wissen um eine neue Welt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 276-277

„Zunächst tut die absolute Skepsis gegen alle überlieferten Begriffe not (wie sie vielleicht schon einmal ein Philosoph besessen hat – Plato natürlich –, denn er hat das Gegenteil gelehrt).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 279

„Gegen die erkenntnistheoretischen Dogmen tief mißtrauisch, liebte ich es, bald aus diesem, bald aus jenem Fenster zu blicken, hütete mich, mich darin festzusetzen, hielt sie für schädlich, – und zuletzt: ist es wahrscheinlich, daß ein Werkzeug seine eigene Tauglichkeit kritisieren kann?? – Worauf ich achtgab, war vielmehr, daß niemals eine erkenntnistheoretische Skepsis oder Dogmatik ohne Hintergedanken entstanden ist, – daß sie einen Wert zweiten Ranges hat, sobald man erwägt, was im Grunde zu dieser Stellung zwang. Grundeinsicht: sowohl Kant als Hegel, als Schopenhauer – sowohl die skeptisch-epochistische Haltung als die historisierende, als die pessimistische – sind moralischen Ursprungs. Ich sah niemanden, der eine Kritik der moralischen Wertgefühle gewagt hätte: und den spärlichen Versuchen, zu einer Entstehungsgeschichte dieser Gefühle zu kommen (wie bei den englischen und deutschen Darwinisten) wandte ich bald den Rücken. Wie erklärt sich Spinozas Stellung, seine Verneinung und Ablehnung der moralischen Werturteile? (Es war eine Konsequenz seiner Theodizee!)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 280-281

„Durch moralische Hinterabsichten ist der Gang der Philosophie bisher am meisten aufgehalten worden. “
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 281

„Man hat zu allen Zeiten die »schönen Gefühle« für Argumente genommen, den »gehobenen Busen« für den Blasebalg der Gottheit, die Überzeugung als »Kriterium der Wahrheit«, das Bedürfnis des Gegners als Fragezeichen zur Weisheit: diese Falschheit, Falschmünzerei geht durch die ganze Geschichte der Philosophie. Die achtbaren, aber nur spärlichen Skeptiker abgerechnet, zeigt sich nirgends ein Instinkt von intellektueller Rechtschaffenheit. Zuletzt hat noch Kant in aller Unschuld diese Denker-Korruption mit dem Begriff »praktische Vernunft« zu verwissenschaftlichen gesucht: er erfand eigens eine Vernunft dafür, in welchen Fällen man sich nicht um die Vernunft zu kümmern brauche: nämlich wenn das Bedürfnis des Herzens, wenn die Moral, wenn die »Pflicht« redet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 281-282

Hegel: seine populäre Seite die Lehre vom Krieg und den großen Männern. Das Recht ist bei dem Siegreichen: er stellt den Fortschritt der Menschheit dar. Versuch, die Herrschaft der Moral aus der Geschichte zu beweisen.
Kant: ein Reich der moralischen Werte, uns entzogen, unsichtbar, wirklich.
Hegel: eine nachweisbare Entwicklung, Sichtbarwerdung des moralischen Reiches.
Wir wollen uns weder auf die Kantische noch Hegelsche Manier betrügen lassen – wir glauben nicht mehr, wie sie, an die Moral und haben folglich auch keine Philosophien zu gründen, damit die Moral recht behalte. Sowohl der Kritizismus als der Historizismus hat für uns nicht darin seinen Reiz – nun, welchen hat er denn?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 282

„Die Bedeutung der deutschen Philosophie (Hegel): einen Pantheismus auszudenken, bei dem das Böse, der Irrtum und das Leid nicht als Argumente gegen Göttlichkeit empfunden werden. Diese grandiose Initiative ist mißbraucht worden von den vorhandenen Mächten (Staat usw.), als sei damit die Vernünftigkeit des gerade Herrschenden sanktioniert.
Schopenhauer erscheint dagegen als hartnäckiger Moral-Mensch, welcher endlich, um mit seiner moralischen Schätzung recht zu behalten, zum Welt-Verneiner wird. Endlich zum »Mystiker«.
Ich selbst habe eine ästhetische Rechtfertigung versucht: wie ist die Häßlichkeit der Welt möglich? – Ich nahm den Willen zur Schönheit, zum Verharren in gleichen Formen, als ein zeitweiliges Erhaltungs- und Heilmittel: fundamental aber schien mir das ewig-Schaffende als das ewig-Zerstören-Müssende gebunden an den Schmerz. Das Häßliche ist die Betrachtungsform der Dinge unter dem Willen, einen Sinn, einen neuen Sinn in das Sinnlos-gewordene zu legen: die angehäufte Kraft, welche den Schaffenden zwingt, das Bisherige als unhaltbar, mißraten, verneinungswürdig, als häßlich zu fühlen!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 282-283

Meine erste Lösung: die dionysische Weisheit. Lust an der Vernichtung des Edelsten und am Anblick, wie er schrittweise ins Verderben gerät: als Lust am Kommenden, Zukünftigen, welches triumphiert über das vorhandene noch so Gute. Dionysisch: zeitweilige Identifikation mit dem Prinzip des Lebens (Wollust des Märtyrers einbegriffen).
Meine Neuerungen. – Weiter-Entwicklung des Pessimismus: der Pessimismus des Intellekts; die moralische Kritik, Auflösung des letzten Trostes. Erkenntnis der Zeichen des Verfalls: umschleiert durch Wahn jedes starke Handeln; die Kultur isoliert, ist ungerecht und dadurch stark.
1. Mein Anstreben gegen den Verfall und die zunehmende Schwäche der Persönlichkeit. Ich suchte ein neues Zentrum.
2. Unmöglichkeit dieses Strebens erkannt.
3. Darauf ging ich weiter in der Bahn der Auflösung – darin fand ich für einzelne neue Kraftquellen. Wir müssen Zerstörer sein! – – Ich erkannte, daß der Zustand der Auflösung, in der einzelne Wesen sich vollenden können wie nie – ein Abbild und Einzelfall des allgemeinen Daseins ist. Gegen die lähmende Empfindung der allgemeinen Auflösung und Unvollendung hielt ich die ewige Wiederkunft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 283-284

„Die deutsche Philosophie als Ganzes – Leibniz, Kant, Hegel, Schopenhauer, um die Großen zu nennen – ist die gründlichste Art Romantik und Heimweh, die es bisher gab: das Verlangen nach dem Besten, was jemals war. Man ist nirgends mehr heimisch, man verlangt zuletzt nach dem zurück, wo man irgendwie heimisch sein kann, weil man dort allein heimisch sein möchte: und das ist die griechische Welt! Aber gerade dorthin sind alle Brücken abgebrochen – ausgenommen die Regenbogen der Begriffe! Und die führen überallhin, in alle Heimaten und »Vaterländer«, die es für Griechen-Seelen gegeben hat! Freilich: man muß sehr leicht, sehr dünn sein, um über diese Brücken zu schreiten! Aber welches Glück liegt schon in diesem Willen zur Geistigkeit, fast zur Geisterhaftigkeit! Wie ferne ist man damit von »Druck und Stoß«, von der mechanischen Tölpelei der Naturwissenschaften, von dem Jahrmarkts-Lärme der »modernen Ideen«! Man will zurück, durch die Kirchenväter zu den Griechen, aus dem Norden nach dem Süden, aus den Formeln zu den Formen; man genießt noch den Ausgang des Altertums, das Christentum, wie einen Zugang zu ihm, wie ein gutes Stück alter Welt selber, wie ein glitzerndes Mosaik antiker Begriffe und antiker Werturteile. Arabesken, Schnörkel, Rokoko scholastischer Abstraktionen – immer noch besser, nämlich feiner und dünner, als die Bauern- und Pöbel-Wirklichkeit des europäischen Nordens, immer noch ein Protest höherer Geistigkeit gegen den Bauernkrieg und Pöbel-Aufstand, der über den geistigen Geschmack im Norden Europas Herr geworden ist und welcher an dem großen »ungeistigen Menschen«, an Luther, seinen Anführer hatte: – in diesem Betracht ist deutsche Philosophie ein Stück Gegenreformation, sogar noch Renaissance, mindestens Wille zur Renaissance, Wille fortzufahren in der Entdeckung des Altertums, in der Aufgrabung der antiken Philosophie, vor allem der Vorsokratiker – der bestverschüt teten aller griechischen Tempel! Vielleicht, daß man einige Jahrhunderte später urteilen wird, daß alles deutsche Philosophieren darin seine eigentliche Würde habe, ein schrittweises Wiedergewinnen des antiken Bodens zu sein, und daß jeder Anspruch auf »Originalität« kleinlich und lächerlich klinge im Verhältnis zu jenem höheren Anspruche der Deutschen, das Band, das zerrissen schien, neu gebunden zu haben, das Band mit den Griechen, dem bisher höchst gearteten Typus »Mensch«. Wir nähern uns heute allen jenen grundsätzlichen Formen der Weltauslegung wieder, welche der griechische Geist in Anaximander, Heraklit, Parmenides, Empedokles, Demokrit und Anaxagoras erfunden hat, – wir werden von Tag zu Tag griechischer, zuerst, wie billig, in Begriffen und Wertschätzungen, gleichsam als gräzisierende Gespenster: aber dereinst hoffentlich auch mit unserem Leibe! Hierin liegt (und lag von jeher) meine Hoffnung für das deutsche Wesen!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 284-286

Theorie und Praxis. – Verhängnisvolle Unterscheidung, wie als ob es einen eignen Erkenntnistrieb gebe, der, ohne Rücksicht auf Fragen des Nutzens und Schadens, blindlings auf die Wahrheit losgehe: und dann, davon abgetrennt, die ganze Welt der praktischen Interessen .... Dagegen suche ich zu zeigen, welche Instinkte hinter all diesen reinen Theoretikern tätig gewesen sind – wie sie allesamt fatalistisch im Bann ihrer Instinkte auf etwas losgingen, das für sie »Wahrheit« war, für sie und nur für sie. Der Kampf der Systeme, samt dem der erkenntnistheoretischen Skrupel, ist ein Kampf ganz bestimmter Instinkte (Formen der Vitalität, des Niedergangs, der Stände, der Rassen usw.). Der sogenannte Erkenntnistrieb ist zurückzuführen auf einen Aneignungs– und Überwältigungstrieb: diesem Triebe folgend haben sich die Sinne, das Gedächtnis, die Instinkte usw. entwickelt. Die möglichst schnelle Reduktion der Phänomene, die Ökonomie, die Akkumulation des erworbenen Schatzes an Erkenntnis (d.h. angeeigneter und handlich gemachter Welt) .... Die Moral ist deshalb eine so kuriose Wissenschaft, weil sie im höchsten Grade praktisch ist: so daß die reine Erkenntnisposition, die wissenschaftliche Rechtschaffenheit sofort preisgegeben wird, sobald die Moral ihre Antworten fordert. Die Moral sagt: ich brauche manche Antworten – Gründe, Argumente; Skrupel mögen hinterdrein kommen, oder auch nicht –. »Wie soll gehandelt werden?« – Denkt man nun nach, daß man mit einem souverän entwickelten Typus zu tun hat, von dem seit unzähligen Jahrtausenden »gehandelt« worden ist, und alles Instinkt, Zweckmäßigkeit, Automatismus, Fatalität geworden ist, so kommt einem die Dringlichkeit dieser Moral – Frage sogar ganz komisch vor. »Wie soll gehandelt werden?« – Moral war immer ein Mißverständnis: tatsächlich wollte eine Art, die ein Fatum so und so zu handeln im Leibe hatte, sich rechtfertigen, indem sie ihre Norm als Universalnorm aufdekretieren wollte . .... »Wie soll gehandelt werden?« ist keine Ursache, sondern eine Wirkung. Die Moral folgt, das Ideal kommt am Ende. – Andrerseits verrät das Auftreten der moralischen Skrupel (anders ausgedrückt: das Bewußtwerden der Werte, nach denen man handelt) eine gewisse Krankhaftigkeit; starke Zeiten und Völker reflektieren nicht über ihr Recht, über Prinzipien zu handeln, über Instinkt und Vernunft. Das Bewußtwerden ist ein Zeichen davon, daß die eigentliche Moralität, d. h. Instinkt – Gewißheit des Handelns, zum Teufel geht .... Die Moralisten sind, wie jedesmal, daß eine neue Bewußtseins – Welt geschaffen wird, Zeichen einer Schädigung, Verarmung, Desorganisation. – Die Tief – Instinktiven haben eine Scheu vor dem Logisieren der Pflichten: unter ihnen findet man pyrrhonistische Gegner der Dialektik und der Erkennbarkeit überhaupt .... Eine Tugend wird mit »um« widerlegt ....
Thesis: das Auftreten der Moralisten gehört in die Zeiten, wo es zu Ende geht mit der Moralität.
Thesis: der Moralist ist ein Auflöser der moralischen Instinkte, so sehr er deren Wiederhersteller zu sein glaubt.
Thesis: das, was den Moralisten tatsächlich treibt, sind nicht moralische Instinkte, sondern die Instinkte der décadence, übersetzt in die Formeln der Moral (– er empfindet das Unsicherwerden der Instinkte als Korruption).
Thesis: die Instinkte der décadence, die durch die Moralisten über die Instinkt – Moral starker Rassen und Zeiten Herr werden wollen, sind
1. die Instinkte der Schwachen und Schlechtweggekommenen;
2. die Instinkte der Ausnahmen, der Solitären, der Ausgelösten, des abortus im Hohen und Geringen;
3. die Instinkte der Habituell – Leidenden, welche eine noble Auslegung ihres Zustandes brauchen und deshalb so wenig als möglich Physiologen sein dürfen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 287-290

„Das Erscheinen der griechischen Philosophen von Sokrates an ist ein Symptom der decadence; die antihellenischen Instinkte kommen oben auf. .. Noch ganz hellenisch ist der »Sophist« – eingerechnet Anaxagoras, Demokrit, die großen Ionier – ; aber als Übergangsform. Die Polis verliert ihren Glauben an die Einzigkeit ihrer Kultur, an ihr Herren – Recht über jede andere Polis. .... Man tauscht die Kultur, d.h. »die Götter« aus, – man verliert dabei den Glauben an das Allein – Vorrecht des deus autochthonus. Das Gut und Böse verschiedener Abkunft mischt sich: die Grenze zwischen Gut und Böse verwischt sich. .... Das ist der »Sophist« ... Der »Philosoph« dagegen ist die Reaktion: er will die alte Tugend. Er sieht die Gründe des Verfalls im Verfall der Institutionen, er will alte Institutionen; er sieht den Verfall im Verfall der Autorität: er sucht nach neuen Autoritäten (Reise ins Ausland, in fremde Literaturen, in exotische Religionen. ...); – er will die ideale Polis, nachdem der Begriff »Polis« sich überlebt hatte ( ungefähr wie die Juden sich als »Volk« festhielten, nachdem sie in Knechtschaft gefallen waren). Sie interessieren sich für alle Tyrannen: sie wollen die Tugend mit force majeure wiederherstellen. Allmählich wird alles Echthellenische verantwortlich gemacht für den Verfall (und Plato ist genau so undankbar gegen Perikles, Homer, Tragödie, Rhetorik, wie die Propheten gegen David und Saul). Der Niedergang von Griechenland wird als Einwand gegen die Grundlagen der hellenischen Kultur verstanden: Grundirrtum der Philosophen – . Schluß: die griechische Welt geht zugrunde. Ursache: Homer, der Mythos, die antike Sittlichkeit usw.. Die antihellenische Entwicklung des philosophen-Werturteils: – das Ägyptische (»Leben nach dem Tode« als Gericht ...); – das Semitische (die »Würde des Weisen«, der »Scheich«) ; – die Pythagoreer, die unterirdischen Kulte, das Schweigen, die Jenseits-Furchtmittel, die Mathematik: religiöse Schätzung, eine Art Verkehr mit dem kosmischen All; – das Priesterliche, Asketische, Transzendente; – die Dialektik, – ich denke, es ist eine abscheuliche und pedantische Begriffsklauberei schon in Plato ? – Niedergang des guten geistigen Geschmacks: man empfindet das Häßliche und Klappemde aller direkten Dialektik bereits nicht mehr. Nebeneinander gehen die beiden décadence-Bewegungen und Extreme: a) die üppige, liebenswürdig – boshafte, prunk – und kunstliebende décadence und b) die Verdüsterung des religiös – moralischen Pathos, die stoische Selbst-Verhärtung, die platonische Sinnen-Verleumdung, die Vorbereitung des Bodens für das Christentum.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 293-294

„Wie weit die Verderbnis der Psychologen durch die Moral – Idiosynkrasie geht: – niemand der alten Philosophen hat den Mut zur Theorie des »unfreien Willens« gehabt (d.h. zu einer die Moral negierenden Theorie); – niemand hat den Mut gehabt, das Typische der Lust, jeder Art Lust (»Glück«) zu definieren als Gefühl der Macht: denn die Lust an der Macht galt als unmoralisch; – niemand hat den Mut gehabt, die Tugend als eine Folge der Unmoralität (eines Machtwillens) im Dienste der Gattung (oder der Rasse oder der Polis) zu begreifen (denn der Machtwille galt als Unmoralität). Es kommt in der ganzen Entwicklung der Moral keine Wahrheit vor: alle Begriffs – Elemente, mit denen gearbeitet wird, sind Fiktionen; alle Psychologica, an die man sich hält, sind Fälschungen; alle Formen der Logik, welche man in dies Reich der Lüge einschleppt, sind Sophismen. Was die Moral – Philosophen selbst auszeichnet, das ist die vollkommene Absenz jeder Sauberkeit, jeder Selbstzucht des Intellekts: sie halten »schöne Gefühle« für Argumente: ihr »geschwellter Busen« dünkt ihnen der Blasebalg der Gottheit .... Die Moral – Philosophie ist die skabröse Periode in der Geschichte des Geistes. Das erste große Beispiel: unter dem Namen der Moral, als Patronat der Moral ein unerhörter Unfug ausgeübt, tatsächlich eine décadence in jeder Hinsicht. Man kann nicht streng genug darauf insistieren, daß die großen griechischen Philosophen die décadence jedweder griechischen Tüchtigkeit repräsentieren und kontagiös machen .... Diese gänzlich abstrakt gemachte »Tugend« war die größte Verführung, sich selbst abstrakt zu machen: d.h. sich herauszulösen. Der Augenblick ist sehr merkwürdig: die Sophisten streifen an die erste Kritik der Moral, die erste Einsicht über die Moral: – sie stellen die Mehrheit (die lokale Bedingtheit) der moralischen Werturteile nebeneinander; – sie geben zu verstehen, daß jede Moral sich dialektisch rechtfertigen lasse: d. h. sie erraten, wie alle Begründung einer Moral notwendig sophistisch sein muß – ein Satz, der hinterdrein im allergrößten Stil durch die antiken Philosophen von Plato an (bis Kant) bewiesen worden ist; – sie stellen die erste Wahrheit hin, daß eine »Moral an sich«, ein »Gutes an sich« nicht existiert, daß es Schwindel ist, von »Wahrheit« auf diesem Gebiete zu reden.
Wo war nur die intellektuelle Rechtschaffenheit damals?
Die griechische Kultur der Sophisten war aus allen griechischen Instinkten herausgewachsen; sie gehört zur Kultur der Perikleischen Zeit, so notwendig wie Plato nicht zu ihr gehört: sie hat ihre Vorgänger in Heraklit, in Demokrit, in den wissenschaftlichen Typen der alten Philosophie; sie hat in der hohen Kultur des Thukydides z.B. ihren Ausdruck. Und – sie hat schließlich recht bekommen: jeder Fortschritt der erkenntnistheoretischen und moralistischen Erkenntnis hat die Sophisten restituiert .... Unsre heutige Denkweise ist in einem hohen Grade heraklitisch, demokritisch und protagoreisch ..., es genügte zu sagen, daß sie protagoreisch sei: weil Protagoras die beiden Stücke Heraklit und Demokrit in sich zusammennahm. (Plato: ein großer Cagliostro – man denke, wie ihn Epikur beurteilte; wie ihn Timon, der Freund Pyrrhos, beurteilte. – – Steht vielleicht die Rechtschaffenheit Platos außer Zweifel? ... Aber wir wissen zum mindesten, daß er als absolute Wahrheit gelehrt wissen wollte, was nicht einmal bedingt ihm als Wahrheit galt: nämlich die Sonder – Existenz und Sonder – Unsterblichkeit der »Seelen«.).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 294-296

„Die Sophisten sind nichts weiter als Realisten: sie formulieren die allen gang und gäben Werte und Praktiken zum Rang der Werte, – sie haben den Mut, den alle starken Geister haben, um ihre Unmoralität zu wissen .... Glaubt man vielleicht, daß diese kleinen griechischen Freistädte, welche sich vor Wut und Eifersucht gern aufgefressen hätten, von menschenfreundlichen und rechtschaffenen Prinzipien geleitet wurden? Macht man vielleicht dem Thukydides einen Vorwurf aus seiner Rede, die er den athenischen Gesandten in den Mund legt, als sie mit den Meliern über Untergang oder Unterwerfung verhandeln? Inmitten dieser entsetzlichen Spannung von Tugend zu reden war nur vollendeten Tartüffs möglich – oder Abseits – Gestellten, Einsiedlern, Flüchtlingen und Auswanderern aus der Realität .... Alles Leute, die negierten, um selber leben zu können. – Die Sophisten waren Griechen: als Sokrates und Plato die Partei der Tugend und Gerechtigkeit nahmen, waren sie Juden oder ich weiß nicht was –. Die Taktik Grotes zur Verteidigung der Sophisten ist falsch: er will sie zu Ehrenmännern und Moral – Standarten erheben – aber ihre Ehre war, keinen Schwindel mit großen Worten und Tugenden zu treiben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 296-297

„Die große Vernunft in aller Erziehung zur Moral war immer, daß man hier die Sicherheit eines Instinkts zu erreichen suchte: so daß weder die gute Absicht, noch die guten Mittel als solche erst ins Bewußtsein traten. So wie der Soldat exerziert, so sollte der Mensch handeln lernen. In der Tat gehört dieses Unbewußtsein zu jeder Art Vollkommenheit: selbst noch der Mathematiker handhabt seine Kombinationen unbewußt .... Was bedeutet nun die Reaktion des Sokrates, welcher die Dialektik als Weg zur Tugend anempfahl und sich darüber lustig machte, wenn die Moral sich nicht logisch zu rechtfertigen wußte? .... Aber eben das Letztere gehört zu ihrer Güte, – ohne Unbewußtheit taugt sie nichts! .... Scham erregen war ein notwendiges Attribut des Vollkommenen! .... Es bedeutet exakt die Auflösung der griechischen Instinkte, als man die Beweisbarkeit als Voraussetzung der persönlichen Tüchtigkeit in der Tugend voranstellte. Es sind selbst Typen der Auflösung, alle diese großen “Tugendhaften” und Wortemacher .... In praxi bedeutet es, daß die moralischen Urteile aus ihrer Bedingtheit, aus der sie gewachsen sind und in der allein sie Sinn haben, aus ihrem griechischen und griechisch – politischen Grund und Boden ausgerissen werden und, unter dem Anschein von Sublimierung, entnatürlicht werden. Die großen Begriffe »gut«, »gerecht« werden losgemacht von den Voraussetzungen, zu denen sie gehören: und als freigewordne »Ideen« Gegenstände der Dialektik. Man sucht hinter ihnen eine Wahrheit, man nimmt sie als Entitäten oder als Zeichen von Entitäten: man erdichtet eine Welt, wo sie zu Hause sind, wo sie herkommen .... In summa: der Unfug ist auf seiner Spitze bereits bei Plato .... Und nun hatte man nötig, auch den abstrakt – vollkommenen Menschen hinzu zu erfinden: – gut, gerecht, weise, Dialektiker—kurz die Vogelscheuche des antiken Philosophen, eine Pflanze, aus jedem Boden losgelöst; eine Menschlichkeit ohne alle bestimmten regulierenden Instinkte; eine Tugend, die sich mit Gründen »beweist«. Das vollkommen absurde »Individuum« an sich! die Unnatur höchsten Rangs .... Kurz, die Entnatürlichung der Moralwerte hatte zur Konsequenz, einen entartenden Typus des Menschen zu schaffen – »den Guten«, »den Glücklichen«, »den Weisen«. Sokrates ist ein Moment der tiefsten Perversität in der Geschichte der Werte.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 297-298

Sokrates. – Dieser Ummschlag des Geschmacks zugunsten der Dialektik ist ein großes Fragezeichen. Was geschah eigentlich? Sokrates ... kam mit ihm über einen vornehmeren Geschmack, den Geschmack der Vornehmen, zum Sieg: – der Pöbel kam mit der Dialektik zum Sieg. Vor Sokrates lehnte man seitens aller guten Gesellschaft die dialektische Manier ab; man glaubte, daß sie bloßstellte; man warnte die Jugend vor ihr. Wozu diese Etalage von Gründen? Wozu eigentlich beweisen? Gegen andere hatte man die Autorität. Man befahl: das genügte. Unter sich, inter pares, hat man das Herkommen, auch eine Autorität: und, zu guter Letzt, man »verstand sich«! Man fand gar keinen Platz für Dialektik. Auch mißtraute man solchem offnen Präsentieren seiner Argumente. Alle honnetten Dinge halten ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist etwas Unanständiges darin, alle fünf Finger zu zeigen. Was sich »beweisen« läßt, ist wenig wert. – Daß Dialektik Mißtrauen erregt, daß sie wenig überredet, das weiß übrigens der Instinkt der Redner aller Parteien. Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt. Dialektik kann nur eine Notwehr sein. Man muß in der Not sein, man muß sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker, Reineke Fuchs war es, Sokrates war es. Man hat ein schonungsloses Werkzeug in der Hand. Man kann mit ihr tyrannisieren. Man stellt bloß, indem man siegt. Man überläßt seinem Opfer den Nachweis, kein Idiot zu sein. Man macht wütend und hilflos, während man selber kalte, triumphierende Vernünftigkeit bleibt, man depotenziert die Intelligenz seines Gegners. Die Ironie des Dialektikers ist eine Form der Pöbel-Rache: die Unterdrückten haben ihre Ferozität in den kalten Messerstichen des Syllogismus. .... Bei Plato, als bei einem Menschen der überreizbaren Sinnlichkeit und Schwärmerei, ist der Zauber des Bgriffs so groß geworden,d aß er unwillkürlich den Begriff als eine Idealform verehrte und vergötterte. Dialektik-Trunkenheit: als das Bewußtsein, mit ihr eine Herrschaft über sich auszuüben – – als Werkzeug des Machtwillens.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 298-300

„Ich suche zu begreifen, aus welchen partiellen und idiosynkratischen Zuständen das sokratische Prtoblem ableitbar ist: seine Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück. Mit diesem Absurdum von Identitätslehre hat er bezaubert: die antike Philosophie kam nicht wieder davon los .... Absoluter Mangel an objektivem Interesse: Haß gegen die Wissenschaft: Idiosynkrasie, sich selbst als Problem zu fühlen. Akustische Halluzinationen bei Sokrates: morbides Element. Mit Moral sich abgeben widersteht am meisten, wo der Geist reich und unabhängig ist. Wie kommt es, daß Sokrates Moral-Monoman ist? – Alle »praktische« Philosophie tritt in Notlagen sofort in den Vordergrund. Moral und Religion als Hauptinteressen sind Notstands-Zeichen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 300-301

„Die décadence verrät sich in dieser Präokkupation des »Glücks« (d.h. des »Heils der Seele«, d.h. seinen Zustand als Gefahr empfinden). Ihr Fanatismus des Interesses für »Glück« zeigt die Pathologie des Untergrundes: es war ein Lebensinteresse. Vernünftig sein oder zugrunde gehn war die Alternative, vor der sie alle standen. Der Moralismus der griechischen Philosophen zeigt, daß sie sich in Gefahr fühlten ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 302

„Die antiken Philosophen bekämpfen alles, was berauscht, – was die absolute Kälte und Neutralität des Bewußtseins beeinträchtigt .... Sie waren konsequent, auf Grund ihrer falschen Voraussetzung: daß Bewußtsein der hohe, der oberste Zustand sei, die Voraussetzung der Vollkommenheit, – wäheend das Gegenteil wahr ist. – – –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 303

„Die antiken Philosophen waren die größten Stümper der Praxis, weil sie sich theoretisch verurteilten, zur Stümperei .... In praxi lief alles auf Schauspielrei hinaus: – und wer dahinter kam, Pyrrho z.B., urteilte wie jedermann, nämlich: daß in der Güte und Rechtschaffenheit die »kleinen Leute« den Philosohen weit über sind. Alle tieferen Naturen des Altertums haben Ekel an den Philosophen der Tugend gehabt; man sah Streithämmel und Schauspieler in ihnen. (Urteil über Plato: seitens Epikurs, seitens Pyrrhos).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 303

„Die eigentlichen Philosophen der Griechen sind die vor Sokrates (– mit Sokrates verändert sich etwas).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 305

„Ich sehe nur noch Eine originale Figur in dem Kommenden: eine Spätling, aber notwendig den letzten, – den NIhilisten Pyrrho: – er hat den Instinkt gegen alles Das, was inzwischen obenauf gekommen war, die Sokratiker, Platon den Artisten-Optimismus Heraklits. (Pyyrho greift über Protagoras zu Demokrit zurück ...).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 305

„Die weise Müdigkeit: Pyrrho. Unter den Niedrigen leben, niedrig. Kein Stolz. Auf die gemeine Art leben; ehren und glauben, was alle glauben. Auf der Hut gegen Wissenschaft und Geist, auch alles, was bläht .... Einfach: unbeschreiblich geduldig, unbekümmert, mild; apaqeia, mehr noch prauths. Ein Buddhist für Griechenland, zwischen dem Tumult der Schulen aufgewachsen; spät gekommen; ermüdet; der Protest des Müden gegen den Eifer der Dialektiker; der Unglaube des Müden an die Wichtigkeit aller Dinge. Er hat Alexander gesehn, er hat die indischen Büßer gesehn. Auf solche Späte und Raffinierte wirkt alles Niedrige, alles Arme, alles Idiotische selbst verführerisch. Das narkotisiert: das macht ausstrecken (Pascal). Sie empfinden andrerseits, mitten im Gewimmel und verwechselt mit jedermann, ein wenig Wärme: sie haben Wärme nötig, diese Müden .... Den Widerspruch überwinden; kein Wettkampf; kein Wille zur Auszeichnung: die griechischen Instinkte verneinen. (Pyrrho lebte mit seiner Schwester zusammen, die Hebamme war.) Die Weisheit verkleiden, daß sie nicht mehr auszeichnet; ihr einen Mantel von Armut und Lumpen geben; die niedrigsten Verrichtungen tun: auf den Markt gehn und Milchschweine verkaufen .... Süßigkeit; Helle; Gleichgültigkeit; keine Tugenden, die Gebärden brauchen: sich auch in der Tugend gleichsetzen: letzte Selbstüberwindung, letzte Gleichgültigkeit. Pyrrho, gleich Epikur, zwei Formen der griechischen décadence: verwandt im Haß gegen die Dialektik und gegen alle schauspielerischen Tugenden – beides zusammen hieß damals Philosophie –; absichtlich das, was sie lieben, niedrig achtend; die gewöhnlichen, selbst verachteten Namen dafür wählend; einen Zustand darstellend, wo man weder krank, noch gesund, noch lebendig, noch tot ist .... Epikur naiver, idyllischer, dankbarer; Pyrrho gereister, verlebter, nihilistischer .... Sein Leben war ein Protest gegen die große Identitätslehre (Glück = Tugend = Erkenntnis). Das rechte Leben fördert man nicht durch Wissenschaft: Weisheit macht nicht »weise« .... Das rechte Leben will nicht Glück, sieht ab von Glück.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 305-307

„Der Kampf gegen Sokrates, Plato, die sämtlichen sokratischen Schulen geht von dem tiefen Instinkt aus, daß man den Menschen nicht besser macht, wenn man ihm die Tugend als beweisbar, als gründefordernd darstellt... Zuletzt ist es die mesquine Tatsache, daß der agonale Instinkt alle diese gebornen Dialektiker dazu zwang, ihre Personal-Fähigkeit als oberste Eigenschaft zu verherrlichen und alles übrige Gute als bedingt durch sie darzustellen. Der antiwissenschaftliche Geist dieser ganzen »Philosophie«: sie will recht behalten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 309

„Das ist außerordentlich. Wir finden von Anfang der griechischen Philosophie an einen Kampf gegen die Wissenschaft, mit den Mitteln einer Erkenntnistheorie, resp. Skepsis: und wozu? Immer zugunsten der Moral. (Der Haß gegen die Physiker und Ärzte). Sokrates, Aristipp, die Megariker, die Cyniker, Epikur, Pyrrho – General-Ansturm gegen die Erkenntnis zugunsten der Moral .... (Haß auch gegen die Dialektik). Es bleibt ein Problem: sie nähern sich der Sophistik, um die Wissenschaft loszuwerden Andererseits sind die Physiker alle so weit unterjocht, um das Schema der Wahrheit, des wahren Seins in ihre Fundamente aufzunehmen: z.B. das Atom, die 4 Elemente (Juxtaposition eines Seienden, um die Vielheit und Veränderung zu erklären –). Verachtung gelehrt gegen die Objektivität des Interesses: Rückkehr zu dem praktischen Interesse, zur Personal-Nützlichkeit aller Erkenntnis .... Der Kampf gegen die Wissenschaft richtet sich gegen
1) deren Pathos (Objektivität),
2) deren Mittel (d.h. gegen deren Nützlichkeit),
3) deren Resultate (als kindisch).
Es ist derselbe Kampf, der später wieder von Seiten der Kirche, im Namen der Frömmigkeit geführt wird: : sie erbt das ganze antike Rüstzeug zum Kampfe. Die Erkenntnistheorie spielt dabei dieselbe Rolle, wie bei Kant, wie bei den Indern .... Man will sich nicht drum zu bekümmern haben: man will die Hand behalten für seinen »Weg«. Wogegen wehren sie sich eigentlich? Gegen die Verbindlichkeit, gegen die Gesetzlichkeit, gegen die Nötigung, Hand in Hand zu gehen –: ich glaube, man nennt das Freiheit .... Darin drückt sich décadence aus: der Instinkt der Solidarität ist so entartet, daß die Solidarität als Tyrannei empfunden wird: sie wollen keine Autorität, keine Solidarität, keine Einordnung in Reih und Glied zu unedler Langsamkeit der Bewegung. Sie hassen das Schrittweise, das Tempo der Wissenschaft, sie hassen das Nicht-anlangen-Wollen, den langen Atem, die Personal-Indifferenz des wissenschaftlichen Menschen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 309-310

„Im Grunde ist die Moral gegen die Wissenschaft feindlich gesinnt: schon Sokrates war dies – und zwar deshalb, weil die Wissenschaft Dinge als wichtig nimmt, welche mit »gut« und »böse« nichts zu schaffen haben, folglich dem Gefühl für »gut« und »böse« Gewicht nehmen. Die Moral nämlich will, daß ihr der ganze Mensch und seine gesamte Kraft zu Diensten sei: sie hält es für die Verschwendung eines solchen, der zum Verschwenden nicht reich genug ist, wenn der Mensch sich ernstlich um Pflanzen und Sterne kümmert. Deshalb ging in Griechenland, als Sokrates die Krankheit des Moralisierens in die Wissenschaft eingeschleppt hatte, es geschwinde mit der Wissenschaftlichkeit abwärts; eine Höhe, wie die in der Gesinnung eines Demokrit, Hippokrates und Thukydides, ist nicht zum zweiten Male erreicht worden.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 310-311

„Der Wahn, der glücklich macht, ist verderblicher als der, welcher direkt schlimme Folgen hat: letzterer schärft, macht mißtrauisch, reinigt die Vernunft, ersterer schläfert sie ein ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 315

„Die psychologischen Verwechslungen: – das Verlangen nach Glauben – verwechselt mit dem »Willen zur Wahrheit« (z.B. bei Carlyle). Aber ebenso ist das Verlangen nach Unglauben verwechselt worden mit dem »Willen zur Wahrheit« (– ein Bedürfnis, loszukommen von einem Glauben, aus hundert Gründen: Recht zu bekommen gegen irgendwelche »Gläubigen«). Was inspiriert die Skeptiker? Der Haß gegen die Dogmatiker – oder ein Ruhe-Bedürfnis, eine Müdigkeit, wie bei Pyrrho. Die Vorteile, welche man von der Wahrheit erwartete, waren die Vorteile des Glaubens an sie: – an sich nämlich könnte ja die Wahrheit durchaus peinlich, schädlich, verhängnisvoll sein –. Man hat die »Wahrheit« auch nur wieder bekämpft, als man Vorteile sich vom Siege versprach – z.B. Freiheit von den herrschenden Gewalten. Die Methodik der Wahrheit ist nicht aus Motiven der Wahrheit gefunden worden, sondern aus Motiven der Macht, des Überlegen-sein-wollens. Womit beweist sich die Wahrheit? Mit dem Gefühl der erhöhten Macht – mit der Nützlichkeit – mit der Unentbehrlichkeit – kurz mit Vorteilen (nämlich Voraussetzungen, welcher Art die Wahrheit beschaffen sein sollte, um von uns anerkannt zu werden). Aber das ist ein Vorurteil: ein Zeichen, daß es sich gar nicht um Wahrheit handelt .... Was bedeutet z.B. der »Wille zur Wahrheit« bei den Goncourts? bei den Naturalisten? – Kritik der »Objektivität«. Warum erkennen: warum nicht lieber sich täuschen? .... Was man wollte, war immer der Glaube – und nicht die Wahrheit .... Der Glaube wird durch entgegengesetzte Mittel geschaffen als die Methodik der Forschung –: er schließt letztere selbst aus –.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 316-317

„Nicht Theorie und Praxis trennen!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 319

„Daß nichts von dem wahr ist, was ehemals als wahr galt –. Was als unheilig, verboten, verächtlich, verhängnisvoll ehemals verachtet wurde –: alle diese Blumen wachsen heute am lieblichen Pfade der Wahrheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 320

„Diese ganze Moral geht uns nichts mehr an: es ist kein Begriff darin, der noch Achtung verdiente. Wir haben sie überlebt .... Unser Kriterium der Wahrheit ist durchaus nicht die Moralität: wir widerlegen eine Behauptung damit, daß wir sie als abhängig von der Moral, als inspiriert durch edle Gefühle beweisen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 320

„Der Mensch sucht nach einem Prinzip, von wo aus er den Menschen verachten kann, – er erfindet eine Welt, um diese Welt verleumden und beschmutzen zu können: tatsächlich greift er jedesmal nach dem Nichts und konstruiert das Nichts zum »Gott«, zur »Wahrheit« und jedenfalls zum Richter und Verurteiler dieses Seins ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 321

„Was blieb ihnen übrig, als, je mehr sie das Dasein begriffen, um so mehr zu ihm nein zu sagen? ..... Dieses Dasein ist unmoralisch .... Und dieses Leben ruht auf unmoralischen Voraussetzungen: und alle Moral verneint das Leben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 322

„Schaffen wir die wahrte Welt ab: und um dies zu könne, haben wir die bisherigen obersten Werte anzuschaffen, die Moral .... Es genügt nachzuweisen, daß auch die Moral unmoralisch ist, in dem Sinne, in welchem das Unmoralische bis jetzt verurteilt worden sit. Ist auf diese Weise die Tyrannei der bisherigen Werte gebrochen, haben wir die »wahre Welt« abgeschafft, so wird eine neue Ordnung der Werte von selbst folgen müssen..“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 322

„Die scheinbare Welt und die erlogene Welt – ist der Gegensatz. Letztere hieß bisher die »wahre Welt«, die »Wahrheit«, »Gott«. Diese haben wir abzuschaffen.
Logik meiner Konzeption:
1. Moral als oberster Wert (Herrin über alle Phasen der Philosophie, selbst der Skeptiker). Resultat: diese Welt taugt nichts, sie ist nicht die »wahre Welt«.
2. Was bestimmt hier den obersten Wert? Was ist eigentlich Moral? – Der Instinkt der décadence; es sind die Erschöpften und Enterbten, die auf diese Weise Rache nehmen. Historischer Nachweis: die Philosophen sind immer décadents ... im Dienste der nihilistischen Religionen.
3. Der Instinkt der décadence, der als Wille zur Macht auftritt. Beweis: die absolute Unmoralität der Mittel in der ganzen Geschichte der Moral.
Gesamteinsicht: die bisherigen höchsten Werte sind ein Spezialfall des Willens zur Macht; die Moral selbst ist ein Spezialfall der Unmoralität.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 322-323

„Prinzipielle Neuerungen:
An Stelle der »moralischen Werte« lauter naturalistische Werte. Vernatürlichung der Moral.
An Stelle der »Soziologie« eine Lehre von den Herrschaftsgebilden.
An Stelle der »Gesellschaft« den Kultur-Komplex, als mein Vorzugs-Interesse (gleichsam als Ganzes, bezüglich in seinen Teilen).
An Stelle der »Erkenntnistheorie« eine Perspektiven-Lehre der Affekte (wozu eine Hierarchie der Affekte gehört: die transfigurierten Affekte, deren höhere Ordnung, deren »Geistigkeit«).
An Stelle von »Metaphysik« und Religion die Ewige Wiederkunftslehre (diese als Mittel der Züchtung und Auswahl).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 323-324

„Meine Vorbereiter:
Schopenhauer: Inwiefern ich den Pessimismus vertiefte und durch Erfindung seines höchsten Gegensatzes erst ganz mir zum Gefühl brachte.
Sodann: die höheren Europäer, Vorläufer der großen Politik.
Sodann: die Griechen und ihre Entstehung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 324

„Ich nannte meine unbewußten Arbeiter und Vorbereiter. Wo aber dürfte ich mit einiger Hoffnung nach meiner Art von Philosophen selber, zum mindesten nach meinem Bedürfnis neuer Philosophen suchen? Dort allein, wo eine vornehme Denkweise herrscht, eine solche, welche an Sklaverei und an viele Grade der Hörigkeit als an die Voraussetzung jeder höheren Kultur glaubt; wo eine schöpferische Denkweise herrscht, welche nicht der Welt das Glück der Ruhe, den »Sabbat aller Sabbate« als Ziel setzt und selber im Frieden das Mittel zu neuen Kriegen ehrt; eine der Zukunft Gesetze vorschreibende Denkweise, welche um der Zukunft willen sich selber und alles Gegenwärtige hart und tyrannisch behandelt; eine unbedenkliche, »unmoralische« Denkweise, welche die guten und die schlimmen Eigenschaften des Menschen gleichermaßen ins Große züchten will, weil sie sich die Kraft zutraut, beide an die rechte Stelle zu setzen, – an die Stelle, wo sie beide einander not tun. Aber wer also heute nach Philosophen sucht, welche Aussicht hat er, zu finden, was er sucht? Ist es nicht wahrscheinlich, daß er, mit der besten Diogenes-Laterne suchend, umsonst tags- und nachtsüber herumläuft? Das Zeitalter hat die umgekehrten Instinkte: es will vor allem und zuerst Bequemlichkeit; es will zu zweit Öffentlichkeit und jenen großen Schauspieler-Lärm, jenes große Bumbum, welches seinem Jahrmarkts-Geschmacke entspricht; es will zu dritt, daß jeder mit tiefster Untertänigkeit vor der größten aller Lügen – diese Lüge heißt »Gleichheit der Menschen« – auf dem Bauche liegt, und ehrt ausschließlich die gleichmachenden, gleichstellenden Tugenden. Damit aber ist es der Entstehung des Philosophen, wie ich ihn verstehe, von Grund aus entgegengerichtet, ob es schon in aller Unschuld sich ihm förderlich glaubt. In der Tat, alle Welt jammert heute darüber, wie schlimm es früher die Philosophen gehabt hätten, eingeklemmt zwischen Scheiterhaufen, schlechtes Gewissen und anmaßliche Kirchenväter-Weisheit: die Wahrheit ist aber, daß eben darin immer noch günstigere Bedingungen zur Erziehung einer mächtigen, umfänglichen, verschlagenen und verwegen-wagenden Geistigkeit gegeben waren als in den Bedingungen des heutigen Lebens. Heute hat eine andere Art von Geist, nämlich der Demagogen-Geist, der Schauspieler-Geist, vielleicht auch der Biber- und Ameisen-Geist des Gelehrten für seine Entstehung günstige Bedingungen. Aber um so schlimmer sieht es schon mit den höheren Künstlern: gehen sie denn nicht fast alle an innerer Zuchtlosigkeit zugrunde? Sie werden nicht mehr von außen her, durch die absoluten Werttafeln einer Kirche oder eines Hofes, tyrannisiert: so lernen sie auch nicht mehr ihren »inneren Tyrannen« großziehen, ihren Willen. Und was von den Künstlern gilt, gilt in einem höheren und verhängnisvolleren Sinne von den Philosophen. Wo sind denn heute freie Geister? Man zeige mir doch heute einen freien Geist!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 324-326

„Ich verstehe unter »Freiheit des Geistes« etwas sehr Bestimmtes: hundertmal den Philosophen und andern Jüngern der »Wahrheit« durch Strenge gegen sich überlegen sein, durch Lauterkeit und Mut, durch den unbedingten Willen, nein zu sagen, wo das Nein gefährlich ist – ich behandle die bisherigen Philosophen als verächtliche libertins unter der Kapuze des Weibes »Wahrheit«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 326

„Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19. Jahrhundert auszeichnet, sonder der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 329

„Ich halte die Phänomenalität auch der inneren Welt fest: Alles, was uns bewußt wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert, ausgelegt, – der wirkliche Vorgang der inneren »Wahrnehmung«, die Kausalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, zwischen Subjekt und Objekt ist uns absolut verborgen ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 332

„Es gibt weder »Geist«, noch Vernunft, noch Denken, noch Bewußtsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: Alles Fiktionen, die unbrauchbar sind. Es handelt sich nicht um »Subjekt und Objekt«, sondern um eine bestimmte Tierart, welche nur unter einer gewissen relativen Richtigkeit, vor allem Regelmäßigkeit ihrer Wahrnehmungen (so daß sie Erfahrung kapitalisieren kann) gedeiht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 336

„Durch das Denken wird das Ich gesetzt; aber bisher glaubte man wie das Volk, im »Ich denke« liege etwas von Unmittelbar-Gewissem, und dieses »Ich« sei die gegebene Ursache des Denkens, nach deren Analogie wir alle sonstigen ursächlichen Verhältnisse verstünden. Wie sehr gewohnt und unentbehrlich jetzt jene Fiktion auch sein mag – das allein beweist noch nichts gegen ihre Erdichtetheit: es kann ein Glaube Lebensbedingung und trotzdem falsch sein.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 337-338

„Daß aber ein Glaube, so notwendig er ist zur Erhaltung von Wesen, nichts mit der Wahrheit zu tun hat, erkennt man z.B. selbst daran, daß wir an Zeit, Raum und Bewegung glauben müssen, ohne uns gezwungen zu fühlen, hier absolute Realität zuzugestehen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 340

„Alles, was als »Einheit« ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer kompliziert: wir haben immer nur einen Anschein von Einheit. Das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 341

„Die Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrunde liegt. Eine Art Aristokratie von »Zellen«, in denen die Herrschaft ruht? Gewiß von pares, welche miteinander ans Regieren gewöhnt sind und zu befehlen verstehen?
Meine Hypothesen:
Das Subjekt als Vielheit.
Der Schmerz intellektuell und abhängig vom Urteil »schädlich«: projiziert.
Die Wirkung immer »unbewußt«: die erschlossene und vorgestellte Ursache wird projiziert, folgt der Zeit nach.
Die Lust ist eine Art des Schmerzes.
Die einzige Kraft, die es gibt, ist gleicher Art wie die des Willens: ein Kommandieren an andere Subjekte, welche sich daraufhin verändern.
Die beständige Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des Subjekts. »Sterbliche Seele«.
Die Zahl als perspektivische Form.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 341-342

„Der Glaube an den Leib ist fundamentaler als der Glaube an die Seele: letzterer ist entstanden aus der unwissenschaftlichen Betrachtung der Agonien des Leibes (etwas, das ihn verläßt. Glaube an die Wahrheit des Traumes –).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 342

Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 343

„Es ist unwahrscheinlich, daß unser »Erkennen« weiter reichen sollte, als es knapp zur Erhaltung des Lebens ausreicht. Die Morphologie zeigt uns, wie die Sinne und die Nerven sowie das Gehirn sich entwickeln im Verhältnis zur Schwierigkeit der Ernährung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 343

„»Der Sinn für Wahrheit« muß, wenn die Moralität des »Du sollst nicht lügen« abgewiesen ist, sich vor einem andern Forum legitimieren – als Mittel der Erhaltung von Mensch, als Macht-Wille. Ebenso unsre Liebe zum Schönen: ist ebenfalls der gestaltende Wille. Beide Sinne stehen beieinander; der Sinn für das Wirkliche ist das Mittel, die Macht in die Hand zu bekommen, um die Dinge nach unserem Belieben zu gestalten. Die Lust am Gestalten und Umgestalten – eine Urlust! Wir können nur eine Welt begreifen, die wir selber gemacht haben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 344

„Die bestgeglaubten apriorischen »Wahrheiten« sind für mich – Annahmen bis auf weiteres, z.B. das Gesetz der Kausalität, sehr gut eingeübte Gewöhnungen des Glaubens, so einverleibt, daß nicht daran glauben das Geschlecht zugrunde richten würde. Aber sind es deswegen Wahrheiten? Welcher Schluß! Als ob die Wahrheit damit bewiesen würde, daß der Mensch bestehen bleibt!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 344

„Die Sinneswahrnehmungen nach »außen« projiziert: »innen« und »außen« – da kommandiert der Leib –? Dieselbe gleichmachende und ordnende Kraft, welche im Idioplasma waltet, waltet auch beim Einverleiben der Außenwelt: unsere Sinneswahrnehmungen sind bereits das Resultat dieser Anähnlichung und Gleichsetzung in bezug auf alle Vergangenheit in uns; sie folgen nicht sofort auf den »Eindruck«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 345

„Unsere Wahrnehmungen, wie wir sie verstehen: d. i. die Summe aller der Wahrnehmungen, deren Bewußtwerden uns und dem ganzen organischen Prozesse vor uns nützlich und wesentlich war: also nicht alle Wahrnehmungen überhaupt (z. B. nicht die elektrischen); das heißt: wir haben Sinne nur für eine Auswahl von Wahrnehmungen – solcher, an denen uns gelegen sein muß, um uns zu erhalten. Bewußtsein ist so weit da, als Bewußtsein nützlich ist. Es ist kein Zweifel, daß alle Sinneswahrnehmungen gänzlich durchsetzt sind mit Werturteilen (nützlich und schädlich – folglich angenehm oder unangenehm). Die einzelne Farbe drückt zugleich einen Wert für uns aus (obwohl wir es uns selten oder erst nach langem, ausschließlichem Einwirken derselben Farbe eingestehen, z.B. Gefangene im Gefängnis oder Irre). So auch reagieren Insekten auf verschiedene Farben anders: einige lieben diese, andere jene, z.B. Ameisen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 346-347

„Erst Bilder – zu erklären, wie Bilder im Geiste entstehen. Dann Worte, angewendet auf Bilder. Endlich Begriffe, erst möglich, wenn es Worte gibt – ein Zusammenfassen vieler Bilder unter etwas Nicht-Anschauliches, sondern Hörbares (Wort). Das kleine bißchen Emotion, welches beim »Wort« entsteht, also beim Anschauen ähnlicher Bilder, für die ein Wort da ist – diese schwache Emotion ist das Gemeinsame, die Grundlage des Begriffes. Daß schwache Empfindungen als gleich angesetzt werden, als dieselben empfunden werden, ist die Grundtatsache. Also die Verwechslung zweier ganz benachbarter Empfindungen in der Konstatierung dieser Empfindungen; – wer aber konstatiert? Das Glauben ist das Uranfängliche schon in jedem Sinnes-Eindruck: eine Art Ja-sagen erste intellektuelle Tätigkeit! Ein »Für-wahr-halten« im Anfange! Also zu erklären: wie ein »Für-wahr-halten« entstanden ist! Was liegt für eine Sensation hinter »wahr«?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 347

„Die Wertschätzung »ich glaube, daß das und das so ist«, als Wesen der »Wahrheit«. In den Wertschätzungen drücken sich Erhaltungs– und Wachstums-Bedingungen aus. Alle unsre Erkenntnisorgane und Sinne sind nur entwickelt in Hinsicht auf Erhaltungs-und Wachstums-Bedingungen. Das Vertrauen zur Vernunft und ihren Kategorien, zur Dialektik, also die Wertschätzung der Logik, beweist nur die durch Erfahrung bewiesene Nützlichkeit derselben für das Leben: nicht deren »Wahrheit«. Daß eine Menge Glauben da sein muß; daß geurteilt werden darf; daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werte fehlt: – das ist Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens. Also daß etwas für wahr gehalten werden muß, ist notwendig, – nicht, daß etwas wahr ist. »Die wahre und die scheinbare Welt« – dieser Gegensatz wird von mir zurückgeführt auf Wertverhältnisse. Wir haben unsere Erhaltungs-Bedingungen projiziert als Prädikate des Seins überhaupt. Daß wir in unserm Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen, daraus haben wir gemacht, daß die »wahre« Welt keine wandelbare und werdende, sondern eine seiende ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 348

„Ursprünglich Chaos der Vorstellungen. Die Vorstellungen, die sich miteinander vertrugen, blieben übrig, die größte Zahl ging zugrunde – und geht zugrunde.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 348

Zur Entstehung der Logik. – Der fundamentale Hang, gleichzusetzen, gleichzusehen wird modifiziert, im Zaum gehalten durch Nutzen und Schaden, durch den Erfolg: es bildet sich eine Anpassung aus, ein milderer Grad, in dem er sich befriedigen kann, ohne zu gleich das Leben zu verneinen und in Gefahr zu bringen. Dieser ganze Prozeß ist ganz entsprechend jenem äußeren, mechanischen (der sein Symbol ist), daß das Plasma fortwährend, was es sich aneignet, sich gleichmacht und in seine Formen und Reihen einordnet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 349

„Gleichheit und Ähnlichkeit.
1. Das gröbere Organ sieht viele scheinbare Gleichheit;
2. der Geist will Gleichheit, d.h. einen Sinneneindruck subsumieren unter eine vorhandene Reihe: ebenso wie der Körper Unorganisches sich assimiliert.
Zum Verständnis der Logik:
der Wille zur Gleichheit ist der Wille zur Macht – der Glaube, daß etwas so und so sei (das Wesen des Urteils), ist die Folge eines Willens, es soll so viel als möglich gleich sein.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 349

„Die Logik ist geknüpft an die Bedingung: gesetzt, es gibt identische Fälle. Tatsächlich, damit logisch gedacht und geschlossen werde, muß diese Bedingung erst als erfüllt fingiert werden. Das heißt: der Wille zur logischen Wahrheit kann erst sich vollziehen, nachdem eine grundsätzliche Fälschung alles Geschehens angenommen ist. Woraus sich ergibt, daß hier ein Trieb waltet, der beider Mittel fähig ist, zuerst der Fälschung und dann der Durchführung seines Gesichtspunktes: die Logik stammt nicht aus dem Willen zur Wahrheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 349-350

„Die erfinderische Kraft, welche Kategorien erdichtet hat, arbeitete im Dienst des Bedürfnisses, nämlich von Sicherheit, von schneller Verständlichkeit auf Grund von Zeichen und Klängen, von Abkürzungsmitteln: – es handelt sich nicht um metaphysische Wahrheiten bei »Substanz«, »Subjekt«, »Objekt«, »Sein«, »Werden«. – Die Mächtigen sind es, welche die Namen der Dinge zum Gesetz gemacht haben, und unter den Mächtigen sind es die größten Abstraktions-Künstler, die die Kategorien geschaffen haben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 350

„Eine Moral, eine durch lange Erfahrung und Prüfung erprobte, bewiesene Lebensweise kommt zuletzt als Gesetz zum Bewußtsein, als dominierend .... Und damit tritt die ganze Gruppe verwandter Werte und Zustände in sie hinein: sie wird ehrwürdig, unangreifbar, heilig, wahrhaft; es gehört zu ihrer Entwicklung, daß ihre Herkunft vergessen wird .... Es ist ein Zeichen, daß sie Herr geworden ist .... Ganz dasselbe könnte geschehen sein mit den Kategorien der Vernunft: dieselben könnten, unter vielem Tasten und Herumgreifen, sich bewährt haben durch relative Nützlichkeit .... Es kam ein Punkt, wo man sie zusammenfaßte, sich als Ganzes zum Bewußtsein brachte – und wo man sie befahl, d.h. wo sie wirkten als befehlend .... Von jetzt ab galten sie als a priori, als jenseits der Erfahrung, als unabweisbar. Und doch drücken sie vielleicht nichts aus, als eine bestimmte Rassen- und Gattungs-Zweckmäßigkeit, – bloß ihre Nützlichkeit ist ihre »Wahrheit«“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 350-351

„Nicht »erkennen«, sondern schematisieren, – dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserm praktischen Bedürfnis genugtut. In der Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien ist das Bedürfnis maßgebend gewesen: das Bedürfnis, nicht zu »erkennen«, sondern zu subsumieren, zu schematisieren, zum Zweck der Verständigung, der Berechnung .... (Das Zurechtmachen, das Ausdichten zum Ähnlichen, Gleichen, – derselbe Prozeß, den jeder Sinneseindruck durchmacht, ist die Entwicklung der Vernunft!) Hier hat nicht eine präexistente »Idee« gearbeitet: sondern die Nützlichkeit, daß nur, wenn wir grob und gleichgemacht die Dinge sehen, sie für uns berechenbar und handlich werden .... Die Finalität in der Vernunft ist eine Wirkung, keine Ursache: bei jeder anderen Art Vernunft, zu der es fortwährend Ansätze gibt, mißrät das Leben, – es wird Unübersichtlich –, zu ungleich –. Die Kategorien sind »Wahrheiten« nur in dem Sinne, als sie lebenbedingend für uns sind: wie der Euklidische Raum eine solche bedingende »Wahrheit« ist. (An sich geredet: da niemand die Notwendigkeit, daß es gerade Menschen gibt, aufrechterhalten wird, ist die Vernunft, so wie der Euklidische Raum, eine bloße Idiosynkrasie bestimmter Tierarten, und eine neben vielen anderen ...). Die subjektive Nötigung, hier nicht widersprechen zu können, ist eine biologische Nötigung: der Instinkt der Nützlichkeit, so zu schließen wie wir schließen, steckt uns im Leibe, wir sind beinahe dieser Instinkt .... Welche Naivität aber, daraus einen Beweis zu ziehen, daß wir damit eine »Wahrheit an sich« besäßen!... Das Nicht-widersprechen-können beweist ein Unvermögen, nicht eine »Wahrheit«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 351-352

„Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine »Notwendigkeit« aus, sondern nur ein Nichtvermögen. Wenn, nach Aristoteles, der Satz vom Widerspruch der gewisseste aller Grundsätze ist, wenn er der letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführungen zurückgehn, wenn in ihm das Prinzip aller anderen Axiome liegt: um so strenger sollte man erwägen, was er im Grunde schon an Behauptungen voraussetzt. Entweder wird mit ihm etwas in betreff des Wirklichen, Seienden behauptet, wie als ob man es anderswoher bereits kennte; nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zugesprochen werden können. Oder der Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen werden sollen. Dann wäre Logik ein Imperativ, nicht zur Erkenntnis des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt, die uns wahr heißen soll. Kurz, die Frage steht offen: sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maßstäbe und Mittel, um Wirkliches, den Begriff »Wirklichkeit«, für uns erst zu schaffen? .... Um das erste bejahen zu können, müßte man aber, wie gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht der Fall ist. Der Satz enthält also kein Kriterium der Wahrheit, sondern einen Imperativ über das, was als wahr gelten soll. Gesetzt, es gäbe ein solches sich-selbst-identisches A gar nicht, wie es jeder Satz der Logik (auch der Mathematik) voraussetzt, das A wäre bereits eine Scheinbarkeit, so hätte die Logik eine bloß scheinbare Welt zur Voraussetzung. In der Tat glauben wir an jenen Satz unter dem Eindruck der unendlichen Empirie, welche ihn fortwährend zu bestätigen scheint. Das »Ding« – das ist das eigentliche Substrat zu A; unser Glaube an Dinge ist die Voraussetzung für den Glauben an die Logik. Das A der Logik ist wie das Atom eine Nachkonstruktion des »Dinges« .... Indem wir das nicht begreifen und aus der Logik ein Kriterium des wahren Seins machen, sind wir bereits auf dem Wege, alle jene Hypostasen: Substanz, Prädikat, Objekt, Subjekt, Aktion usw. als Realitäten zu setzen: das heißt eine metaphysische Welt zu konzipieren, das heißt eine »wahre Welt« (– diese ist aber die scheinbare Welt noch einmal ...). Die ursprünglichsten Denkakte, das Bejahen und Verneinen, das Für-wahr-halten und Nicht-für-wahr-halten, sind, insofern sie nicht nur eine Gewohnheit, sondern ein Recht voraussetzen, überhaupt für wahr zu halten oder für unwahr zu halten, bereits von einem Glauben beherrscht, daß es für uns Erkenntnis gibt, daß Urteilen wirklich die Wahrheit treffen könne: – kurz, die Logik zweifelt nicht, etwas vom An-sich-Wahren aussagen zu können (nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zukommen können). Hier regiert das sensualistische grobe Vorurteil, daß die Empfindungen uns Wahrheiten über die Dinge lehren – daß ich nicht zu gleicher Zeit von ein und demselben Dinge sagen kann, es ist hart und es ist weich. (Der instinktive Beweis »ich kann nicht zwei entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben« – ganz grob und falsch). Das begriffliche Widerspruchs-Verbot geht von dem Glauben aus, daß wir Begriffe bilden können, daß ein Begriff das Wesen eines Dinges nicht nur bezeichnet, sondern faßt... Tatsächlich gilt die Logik (wie die Geometrie und Arithmetik) nur von fingierten Wesenheiten, die wir geschaffen haben. Logik ist der Versuch, nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger: uns formulierbar, berechenbar zu machen ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 352-354

„Die Annahme des Seienden ist nötig, um denken und schließen zu können: die Logik handhabt nur Formeln für Gleichbleibendes. Deshalb wäre diese Annahme noch ohne Beweiskraft für die Realität: »das Seiende« gehört zu unsrer Optik. Das »Ich« als seiend (– durch Werden und Entwicklung nicht berührt). Die fingierte Welt von Subjekt, Substanz, »Vernunft« usw. ist nötig –: eine ordnende, vereinfachende, fälschende, künstlich-trennende Macht ist in uns. »Wahrheit« ist Wille, Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen: – die Phänomene aufreihen auf bestimmte Kategorien. Hierbei gehen wir vom Glauben an das »An-sich« der Dinge aus (wir nehmen die Phänomene als wirklich). Der Charakter der werdenden Welt als unformulierbar, als »falsch«, als »sich-widersprechend«. Erkenntnis und Werden schließen sich aus. Folglich muß »Erkenntnis« etwas anderes sein: es muß ein Wille zum Erkennbar-machen vorangehen, eine Art Werden selbst muß die Täuschung des Seienden schaffen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 354-355

„Wenn unser »Ich« uns das einzige Sein ist, nach dem wir alles Sein machen oder verstehen: sehr gut! Dann ist der Zweifel sehr am Platze, ob hier nicht eine perspektivische Illusion vorliegt – die scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt. Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure Vielfachheit; es ist methodisch erlaubt, das besser studierbare reichere Phänomen zum Leitfaden für das Verständnis des ärmeren zu benutzen. Endlich: gesetzt, alles ist Werden, so ist Erkenntnis nur möglich auf Grund des Glaubens an Sein.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 355

„Wenn es »nur ein Sein gibt, das Ich« und nach seinem Bilde alle andern »Seienden« gemacht sind – wenn schließlich der Glaube an das »Ich« mit dem Glauben an die Logik, d. h. metaphysische Wahrheit der Vernunft-Kategorien steht und fällt: wenn andrerseits das Ich sich als etwas Werdendes erweist: so – ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 355

„Die fortwährenden Übergänge erlauben nicht, von »Individuum« usw. zu reden; die »Zahl« der Wesen ist selber im Fluß. Wir würden nichts von Zeit und nichts von Bewegung wissen, wenn wir nicht, in grober Weise, »Ruhendes« neben Bewegtem zu sehen glaubten. Ebensowenig von Ursache und Wirkung, und ohne die irrtümliche Konzeption des »leeren Raumes« wären wir gar nicht zur Konzeption des Raums gekommen. Der Satz von der Identität hat als Hintergrund den »Augenschein«, daß es gleiche Dinge gibt. Eine werdende Welt könnte im strengen Sinne nicht »begriffen«, nicht »erkannt« werden; nur insofern der »begreifende« und »erkennende« Intellekt eine schon geschaffene grobe Welt vorfindet, gezimmert aus lauter Scheinbarkeiten, aber fest geworden, insofern diese Art Schein das Leben erhalten hat – nur insofern gibt es etwas wie »Erkenntnis«: d. h. ein Messen der früheren und der jüngeren Irrtümer aneinander.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 355-356

Zur »logischen Scheinbarkeit«. – Der Begriff »Individuum« und »Gattung« gleichermaßen falsch und bloß augenscheinlich. »Gattung« drückt nur die Tatsache aus, daß eine Fülle ähnlicher Wesen zu gleicher Zeit hervortreten und daß das Tempo im Weiterwachsen und Sich-Verändern eine lange Zeit verlangsamt ist: so daß die tatsächlichen kleinen Fortsetzungen und Zuwachse nicht sehr in Betracht kommen (– eine Entwicklungsphase, bei der das Sich-entwickeln nicht in die Sichtbarkeit tritt, so daß ein Gleichgewicht erreicht scheint und die falsche Vorstellung ermöglicht wird, hier sei ein Ziel erreicht – und es habe ein Ziel in der Entwicklung gegeben ...). Die Form gilt als etwas Dauerndes und deshalb Wertvolleres; aber die Form ist bloß von uns erfunden; und wenn noch so oft »dieselbe Form erreicht wird«, so bedeutet das nicht, daß es dieselbe Form ist, -sondern es erscheint immer etwas Neues – und nur wir, die wir vergleichen, rechnen das Neue, insofern es Altem gleicht, zusammen in die Einheit der »Form«. Als ob ein Typus erreicht werden sollte und gleichsam der Bildung vorschwebe und innewohne. Die Form, die Gattung, das Gesetz, die Idee, der Zweck – hier wird überall der gleiche Fehler gemacht, daß einer Fiktion eine falsche Realität untergeschoben wird: wie als ob das Geschehen irgendwelchen Gehorsam in sich trage, – eine künstliche Scheidung im Geschehen wird da gemacht zwischen dem, was tut, und dem, wonach das Tun sich richtet (aber das was und das wonach sind nur angesetzt aus einem Gehorsam gegen unsre metaphysisch-logische Dogmatik: kein »Tatbestand«). Man soll diese Nötigung, Begriffe, Gattungen, Formen, Zwecke, Gesetze zu bilden (»eine Welt der identischen Fälle«) nicht so verstehen, als ob wir damit die wahre Welt zu fixieren imstande wären; sondern als Nötigung, uns eine Welt zurechtzumachen, bei der unsre Existenz ermöglicht wird: – wir schaffen damit eine Welt, die berechenbar, vereinfacht, verständlich usw. für uns ist. Diese selbe Nötigung besteht in der Sinnen-Aktivität, welche der Verstand unterstützt – durch Vereinfachen, Vergröbern, Unterstreichen und Ausdichten, auf dem alles »Wiedererkennen«, alles Sich-verständlich-machen-können beruht. Unsre Bedürfnisse haben unsre Sinne so präzisiert, daß die »gleiche Erscheinungswelt« immer wiederkehrt und dadurch den Anschein der Wirklichkeit bekommen hat. Unsre subjektive Nötigung, an die Logik zu glauben, drückt nur aus, daß wir, längst bevor uns die Logik selber zum Bewußtsein kam, nichts getan haben als ihre Postulate in das Geschehen hineinlegen: jetzt finden wir sie in dem Geschehen vor –, wir können nicht mehr anders – und vermeinen nun, diese Nötigung verbürge etwas über die »Wahrheit«. Wir sind es, die das »Ding«, das »gleiche Ding«, das Subjekt, das Prädikat, das Tun, das Objekt, die Substanz, die Form geschaffen haben, nachdem wir das Gleichmachen, das Grob- und Einfach-machen am längsten getrieben haben. Die Welt erscheint uns logisch, weil wir sie erst logisiert haben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 356-358

Grundlösung. – Wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe. Die Sprache ist auf die allernaivsten Vorurteile hin gebaut. Nun lesen wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir nur in der sprachlichen Form denken – somit die »ewige Wahrheit« der »Vernunft« glauben (z. B. Subjekt, Prädikat usw.). Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange tun wollen, wir langen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn. Das vernünftige Denken ist ein Interpretieren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 358

„Das, was bewußt wird, steht unter kausalen Beziehungen, die uns ganz und gar vorenthalten sind – die Aufeinanderfolge von Gedanken, Gefühlen, Ideen im Bewußtsein drückt nichts darüber aus, daß diese Folge eine kausale Folge ist: es ist aber scheinbar so, im höchsten Grade. Auf diese Scheinbarkeit hin haben wir unsere ganze Vorstellung von Geist, Vernunft, Logik usw. gegründet (– das gibt es alles nicht: es sind fingierte Synthesen und Einheiten) und diese wieder in die Dinge, hinter die Dinge projiziert! Gewöhnlich nimmt man das Bewußtsein selbst als Gesamt-Sensorium und oberste Instanz; indessen, es ist nur ein Mittel der Mitteilbarkeit: es ist im Verkehr entwickelt, und in Hinsicht auf Verkehrs- Interessen . .... »Verkehr« hier verstanden auch von den Einwirkungen der Außenwelt und den unsererseits dabei nötigen Reaktionen; ebenso wie von unseren Wirkungen nach außen. Es ist nicht die Leitung, sondern ein Organ der Leitung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 359-360

„Das theologische Vorurteil bei Kant, sein unbewußter Dogmatismus, seine moralistische Perspektive als herrschend, lenkend, befehlend. Das proton pseudos: wie ist die Tatsache der Erkenntnis möglich? ist die Erkenntnis überhaupt eine Tatsache? was ist Erkenntnis? Wenn wir nicht wissen, was Erkenntnis ist, können wir unmöglich die Frage beantworten, ob es Erkenntnis gibt. – Sehr schön! Aber wenn ich nicht schon »weiß«, ob es Erkenntnis gibt, geben kann, kann ich die Frage »was ist Erkenntnis« vernünftigerweise gar nicht stellen. Kant glaubt an die Tatsache der Erkenntnis: es ist eine Naivität, was er will: die Erkenntnis der Erkenntnis! »Erkenntnis ist Urteil!« Aber Urteil ist ein Glaube, daß etwas so und so ist! Und nicht Erkenntnis! »Alle Erkenntnis besteht in synthetischen Urteilen« mit dem Charakter der Allgemeingültigkeit (die Sache verhält sich in allen Fällen so und nicht anders), mit dem Charakter der Notwendigkeit (das Gegenteil der Behauptung kann nie stattfinden). Die Rechtmäßigkeit im Glauben an die Erkenntnis wird immer vorausgesetzt: so wie die Rechtmäßigkeit im Gefühl des Gewissensurteils vorausgesetzt wird. Hier ist die moralische Ontologie das herrschende Vorurteil.
Also der Schluß ist:
1. es gibt Behauptungen, die wir für allgemeingültig und notwendig halten;
2. der Charakter der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit kann nicht aus der Erfahrung stammen;
3. folglich muß er ohne Erfahrung, anderswoher sich begründen und eine andere Erkenntnisquelle haben!
(Kant schließt:
1. es gibt Behauptungen, die nur unter gewisser Bedingung gültig sind;
2. diese Bedingung ist, daß sie nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen Vernunft stammen.)
Also: die Frage ist, woher unser Glaube an die Wahrheit solcher Behauptungen seine Gründe nimmt? Nein, woher er seine Ursache hat! Aber die Entstehung eines Glaubens, einer starken Überzeugung ist ein psychologisches Problem: und eine sehr begrenzte und enge Erfahrung bringt oft einen solchen Glauben zuwege! Er setzt bereits voraus, daß es nicht nur »data a posteriori« gibt, sondern auch data a priori, »vor der Erfahrung«. Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit könne nie durch Erfahrung gegeben werden: womit ist denn nun klar, daß sie ohne Erfahrung überhaupt da sind?
Es gibt keine einzelnen Urteile!
Ein einzelnes Urteil ist niemals »wahr«, niemals Erkenntnis; erst im Zusammenhang, in der Beziehung von vielen Urteilen ergibt sich eine Bürgschaft. Was unterscheidet den wahren und den falschen Glauben? Was ist Erkenntnis? Er »weiß« es, das ist himmlisch!
Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit können nie durch Erfahrung gegeben werden! Also unabhängig von der Erfahrung, vor aller Erfahrung! Diejenige Einsicht, die a priori stattfindet, also unabhängig von aller Erfahrung aus der bloßen Vernunft, »eine reine Erkenntnis«! »Die Grundsätze der Logik, der Satz der Identität und des Widerspruchs, sind reine Erkenntnisse, weil sie aller Erfahrung vorausgehen.« – Aber das sind gar keine Erkenntnisse! sondern regulative Glaubensartikel.
Um die Apriorität (die reine Vernunftmäßigkeit) der mathematischen Urteile zu begründen, muß der Raum begriffen werden als eine Form der reinen Vernunft. Hume hatte erklärt: »es gibt gar keine synthetischen Urteile a priori.« Kant sagt: doch! die mathematischen! Und wenn es also solche Urteile gibt, gibt es vielleicht auch Metaphysik, eine Erkenntnis der Dinge durch die reine Vernunft! Mathematik wird möglich unter Bedingungen, unter denen Metaphysik nie möglich ist. Alle menschliche Erkenntnis ist entweder Erfahrung oder Mathematik.
Ein Urteil ist synthetisch: d. h. es verknüpft verschiedene Vorstellungen. Es ist a priori: d.h. jene Verknüpfung ist eine allgemeingültige und notwendige, die nie durch sinnliche Wahrnehmung, sondern nur durch reine Vernunft gegeben sein kann. Soll es synthetische Urteile a priori geben, so wird die Vernunft imstande sein müssen, zu verknüpfen: das Verknüpfen ist eine Form. Die Vernunft muß formgebende Vermögen besitzen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 362-365

„Das Urteilen ist unser ältester Glaube, unser gewohntestes Für-Wahr- oder Für-Unwahr-halten, ein Behaupten oder Leugnen, eine Gewißheit, daß etwas so und nicht anders ist, ein Glaube, hier wirklich »erkannt« zu haben – was wird in allen Urteilen als wahr geglaubt?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 365

„Was sind Prädikate? – Wir haben Veränderungen an uns nicht als solche genommen, sondern als ein »An-sich«, das uns fremd ist, das wir nur »wahrnehmen«: und wir haben sie nicht als ein Geschehen, sondern als ein Sein gesetzt, als »Eigenschaft« – und ein Wesen hinzuerfunden, an dem sie haften, d. h. wir haben die Wirkung als Wirkendes angesetzt und das Wirkende als Seiendes. Aber auch noch in dieser Formulierung ist der Begriff »Wirkung« willkürlich: denn von jenen Veränderungen, die an uns vorgehen und von denen wir bestimmt glauben, nicht selbst die Ursache zu sein, schließen wir nur, daß sie Wirkungen sein müssen: nach dem Schluß: »zu jeder Veränderung gehört ein Urheber«; – aber dieser Schluß ist schon Mythologie: er trennt das Wirkende und das Wirken. Wenn ich sage »der Blitz leuchtet«, so habe ich das Leuchten einmal als Tätgkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponiert, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr bleibt, ist und nicht »wird«. – Das Geschehen als Wirken anzusetzen: und die Wirkung als Sein: das ist der doppelte Irrtum, oder Interpretation, deren wir uns schuldig machen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 365

Das Urteil – das ist der Glaube: »Dies und dies ist so.« Also steckt im Urteil das Geständnis, einem »identischen Fall« begegnet zu sein: es setzt also Vergleichung voraus, mit Hilfe des Gedächtnisses. Das Urteil schafft es nicht, daß ein identischer Fall da zu sein scheint. Vielmehr es glaubt einen solchen wahrzunehmen; es arbeitet unter der Voraussetzung, daß es überhaupt identische Fälle gibt. Wie heißt nun jene Funktion, die viel älter, früher arbeitend sein muß, welche an sich ungleiche Fälle ausgleicht und verähnlicht? Wie heißt jene zweite, welche auf Grund dieser ersten usw.. »Was gleiche Empfindungen erregt, ist gleich«: wie aber heißt das, was Empfindungen gleich macht, als gleich »nimmt«? – Es könnte gar keine Urteile geben, wenn nicht erst innerhalb der Empfindungen eine Art Ausgleichung geübt wäre: Gedächtnis ist nur möglich mit einem beständigen Unterstreichen des schon Gewohnten, Erlebten. – Bevor geurteilt wird, muß der Prozeß der Assimilation schon getan sein: also liegt auch hier eine intellektuelle Tätigkeit vor, die nicht ins Bewußtsein fällt, wie beim Schmerz infolge einer Verwundung. Wahrscheinlich entspricht allen organischen Funktionen ein inneres Geschehen, also ein Assimilieren, Ausscheiden, Wachsen usw.. Wesentlich: vom Leib ausgehen und ihn als Leitfaden zu benutzen. Er ist das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt. Der Glaube an den Leib ist besser festgestellt als der Glaube an den Geist. »Eine Sache mag noch so stark geglaubt werden: darin liegt kein Kriterium der Wahrheit.« Aber was ist Wahrheit? Vielleicht eine Art Glaube, welche zur Lebensbedingung geworden ist? Dann freilich wäre die Stärke ein Kriterium, z. B. in betreff der Kausalität.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 366

„Die logische Bestimmtheit, Durchsichtigkeit als Kriterium der Wahrheit (»omne illud verum est, quod clare et distincte percipitur«, Descartes); damit ist die mechanische Welt-Hypothese erwünscht und glaublich. Aber das ist eine grobe Verwechslung: wie simplex sigillum veri. Woher weiß man das, daß die wahre Beschaffenheit der Dinge in diesem Verhältnis zu unserm Intellekt steht? – Wäre es nicht anders? Daß die ihm am meisten das Gefühl von Macht und Sicherheit gebende Hypothese am meisten von ihm bevorzugt, geschätzt und folglich als wahr bezeichnet wird? – Der Intellekt setzt sein freiestes und stärkstes Vermögen und Können als Kriterium des Wertvollsten, folglich Wahren ....
»Wahr«:
von seiten des Gefühls aus –: was das Gefühl am stärksten erregt (»Ich«);
von seiten des Denkens aus –: was dem Denken das größte Gefühl von Kraft gibt;
von seiten des Tastens, Sehens, Hörens aus –: wobei am stärksten Widerstand zu leisten ist.
Also die höchsten Grade in der Leistung erwecken für das Objekt den Glauben an dessen »Wahrheit«, das heißt Wirklichkeit. Das Gefühl der Kraft, des Kampfes, des Widerstandes überredet dazu, daß es etwas gibt, dem hier widerstanden wird.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 367

„Das Kriterium der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 367

„»Wahrheit«: das bezeichnet innerhalb meiner Denkweise nicht notwendig einen Gegensatz zum Irrtum, sondern in den grundsätzlichsten Fällen nur eine Stellung verschiedner Irrtümer zueinander: etwa daß der eine älter, tiefer als der andere ist, vielleicht sogar unausrottbar, insofern ein organisches Wesen unserer Art nicht ohne ihn leben könnte; während andere Irrtümer uns nicht dergestalt als Lebensbedingungen tyrannisieren, vielmehr, gemessen an solchen »Tyrannen«, beseitigt und »widerlegt« werden können. Eine Annahme, die unwiderlegbar ist, – warum sollte sie deshalb schon »wahr« sein? Dieser Satz empört vielleicht die Logiker, welche ihre Grenzen als Grenzen der Dinge ansetzen: aber diesem Logiker- Optimismus habe ich schon lange den Krieg erklärt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 367-368

„Alles, was einfach ist, ist bloß imaginär, ist nicht »wahr«. Was aber wirklich, was wahr ist, ist weder Eins noch auch nur reduzierbar auf Eins.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 368

Was ist Wahrheit? – Inertia; die Hypothese, bei welcher Befriedigung entsteht: geringster Verbrauch von geistiger Kraft usw.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 368

„Erster Satz.
Die leichtere Denkweise siegt über die schwierigere – als Dogma: simplex sigillum veri. – Dico: daß die Deutlichkeit etwas für Wahrheit ausweisen soll, ist eine vollkommne Kinderei ....
Zweiter Satz.
Die Lehre vom Sein, vom Ding, von lauter festen Einheiten ist hundertmal leichter als die Lehre vom Werden, von der Entwicklung ....
Dritter Satz.
Die Logik war als Erleichterung gemeint: als Ausdrucksmittel – nicht als Wahrheit .... Später wirkte sie als Wahrheit ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 368-369

„Parmenides hat gesagt: »man denkt das nicht, was nicht ist«; – wir sind am andern Ende und sagen: »was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 369

„Es gibt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen –: und folglich gibt es vielerlei »Wahrheiten«, und folglich gibt es keine Wahrheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 369

„Wenn der Charakter des Daseins falsch sein sollte – das wäre nämlich möglich –, was wäre dann die Wahrheit, alle unsere Wahrheit? .... Eine gewissenlose Umfälschung des Falschen? Eine höhere Potenz des Falschen?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 369

„In einer Welt, die wesentlich falsch ist, wäre Wahrhaftigkeit eine widernatürliche Tendenz: eine solche könnte nur Sinn haben als Mittel zu einer besonderen höheren Potenz von Falschheit. Damit eine Welt des Wahren, Seienden fingiert werden konnte, mußte zuerst der Wahrhaftige geschaffen sein (eingerechnet, daß ein solcher sich »wahrhaftig« glaubt). Einfach, durchsichtig, mit sich nicht im Widerspruch, dauerhaft, sich gleichbleibend, ohne Falte, Volte, Vorhang, Form: ein Mensch derart konzipiert eine Welt des Seins als »Gott« nach seinem Bilde. Damit Wahrhaftigkeit möglich ist, muß die ganze Sphäre des Menschen sehr sauber, klein und achtbar sein: es muß der Vorteil in jedem Sinne auf seiten des Wahrhaftigen sein. – Lüge, Tücke, Verstellung müssen Erstaunen erregen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 369-370

„Die Zunahme der »Verstellung« gemäß der aufwärtssteigenden Rangordnung der Wesen. In der anorganischen Welt scheint sie zu fehlen – Macht gegen Macht, ganz roh –, in der organischen beginnt die List; die Pflanzen sind bereits Meister in ihr. Die höchsten Menschen wie Cäsar, Napoleon (Stendhals Wort über ihn), insgleichen die höheren Rassen (Italiener [? HB]), die Griechen (Odysseus); die tausendfältigste Verschlagenheit gehört ins Wesen der Erhöhung des Menschen .... Problem des Schauspielers. Mein Dionysos-Ideal .... Die Optik aller organischen Funktionen, aller stärksten Lebensinstinkte: die irrtumwollende Kraft in allem Leben; der Irrtum als Voraussetzung selbst des Denkens. Bevor »gedacht« wird, muß schon »gedichtet« worden sein; das Zurechtbilden zu identischen Fällen, zur Scheinbarkeit des Gleichen ist ursprünglicher als das Erkennen des Gleichen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 370

„Ich glaube an den absoluten Raum als Substrat der Kraft: diese begrenzt und gestaltet. Die Zeit ewig. Aber an sich gibt es nicht Raum noch Zeit. »Veränderungen« sind nur Erscheinungen (oder Sinnes-Vorgänge für uns); wenn wir zwischen diesen noch so regelmäßige Wiederkehr ansetzen, so ist damit nichts begründet als eben diese Tatsache, daß es immer so geschehen ist. Das Gefühl, daß das post hoc ein propter hoc ist, ist leicht als Mißverständnis abzuleiten; es ist begreiflich. Aber Erscheinungen können nicht »Ursachen« sein!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 370-371

„»Subjekt«, »Objekt«, »Prädikat« – diese Trennungen sind gemacht und werden jetzt wie Schemata übergestülpt über alle anscheinenden Tatsachen. Die falsche Grundbeobachtung ist, daß ich glaube, ich bin's, der etwas tut, etwas leidet, der etwas »hat«, der eine Eigenschaft »hat«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 371-372

„In jedem Urteile steckt der ganze, volle, tiefe Glaube an Subjekt und Prädikat oder an Ursache und Wirkung (nämlich als die Behauptung“, daß jede Wirkung Tätigkeit sei und daß jede Tätigkeit einen Täter voraussetzt); und dieser letztere Glaube sit sogar nur ein Einzelfall des ersteren, so daß als Grundglaube der Glaube ürbigbleibt: es gibt Subjekte, alles, was geschieht, verhält sich prädikativ zur irgendwelchem Subjekte.
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 372

„Ehemals sah man in allem Geschehen Absichten, dies ist unsere älteste Gewohnheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 372

„»Ursache« kommt gar nicht vor: von einigen Fällen, wo sie uns gegeben schien und wo wir aus uns sie projiziert haben zum Verständnis des Geschehens, ist die Selbsttäuschung nachgewiesen. Unser »Verständnis eines Geschehens« bestand darin, daß wir ein Subjekt erfanden, welches verantwortlich wurde dafür, daß etwas geschah und wie es geschah. Wir haben unser Willens-Gefühl, unser »Freiheits«-Gefühl, unser Verantwortlichkeits-Gefühl und unsre Absicht zu einem Tun in den Begriff »Ursache« zusammengefaßt: causa efficiens und causa finalis ist in der Grundkonzeption eins.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 373

„Wir meinten, eine Wirkung sei erklärt, wenn ein Zustand aufgezeigt würde, dem sie bereits inhäriert. Tatsächlich erfinden wir alle Ursachen nach dem Schema der Wirkung: letztere ist uns bekannt... Umgekehrt sind wir außerstande, von irgendeinem Dinge vorauszusagen, was es »wirkt«. Das Ding, das Subjekt, der Wille, die Absicht – alles inhäriert der Konzeption »Ursache«. Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas verändert hat. Selbst noch das Atom ist ein solches hinzugedachtes »Ding« und »Ursubjekt«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 373-374

„Aus einer notwendigen Reihenfolge von Zuständen folgt nicht deren Kausal-Verhältnis (– das hieße deren wirkende Vermögen von 1 auf 2, auf 3, auf 4, auf 5 springen machen). Es gibt weder Ursachen, noch Wirkungen. Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt nichts. Wenn ich den Muskel von seinen »Wirkungen« getrennt denke, so habe ich ihn negiert.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 374

„In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch bewirkend. Causa ist ein Vermögen zu wirken, hinzuerfunden zum Geschehen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 374

Die Kausalitäts-Interpretation eine Täuschung .... Ein »Ding« ist die Summe seiner Wirkungen, synthetisch gebunden durch einen Begriff, Bild. Tatsächlich hat die Wissenschaft den Begriff Kausalität seines Inhalts entleert und ihn übrigbehalten zu einer Gleichnisformel, bei der es im Grunde gleichgültig geworden ist, auf welcher Seite Ursache oder Wirkung. Es wird behauptet, daß in zwei Komplex-Zuständen (Kraftkonstellationen) die Quanten Kraft gleich blieben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 374

„Die Berechenbarkeit eines Geschehens liegt nicht darin, daß eine Regel befolgt wurde, oder einer Notwendigkeit gehorcht wurde, oder ein Gesetz von Kausalität von uns in jedes Geschehen projiziert wurde –: sie liegt in der Wiederkehr »identischer Fälle«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 374-375

„Es gibt nicht, wie Kant meint, einen Kausalitäts-Sinn. Man wundert sich, man ist beunruhigt, man will etwas Bekanntes, woran man sich halten kann .... Sobald im Neuen uns etwas Altes aufgezeigt wird, sind wir beruhigt. Der angebliche Kausalitäts-Instinkt ist nur die Furcht vor dem Ungewohnten und der Versuch, in ihm etwas Bekanntes zu entdecken, – ein Suchen nicht nach Ursachen, sondern nach Bekanntem.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 375

Zur Bekämpfung des Determinismus und der Teleologie. – Daraus, daß etwas regelmäßig erfolgt und berechenbar erfolgt, ergibt sich nicht, daß es notwendig erfolgt. .... Die »mechanische Notwendgkeit« ist kein Tatbestand: wir erst haben sie in das Geschehen hineininterpretiert. .... Der Zwang ist in den Dingen gar nicht nachweisbar: die Regel beweist nur, daß daß ein und dasselbe Geschehen nicht auch ein anderes Geschehen ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 375

„Erst dadurch, daß wir Subjekte, »Täter« in die Dinge hineingedeutet haben, entsteht der Anschein, daß alles Geschehen die Folge von einem auf Subjekte ausgeübten Zwange ist, – ausgeübt von wem? wiederum von einem »Täter«. Ursache und Wirkung – ein gefährlicher Begriff, solange man ein Etwas denkt, das verursacht, und ein Etwas, auf das gewirkt wird.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 375

„Die Notwendigkeit ist kein Tatbestand, sondern eine Interpretation.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 376

„Hat man begriffen, daß das »Subjekt« nichts ist, das wirkt, sondern nur eine Fiktion, so folgt vielerlei.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 376

„ Wir haben nur nach dem Vorbilde des Subjekts die Dinglichkeit erfunden und in den Sensations-Wirrwarr hineininterpretiert. Glauben wir nicht mehr an das wirkende Subjekt, so fällt auch der Glaube an wirkende Dinge, an Wechselwirkung, Ursache und Wirkung zwischen jenen Phänomenen, die wir Dinge nennen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 376

„Geben wir das wirkende Subjekt auf, so auch das Objekt, auf das gewirkt wird. “
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 376

„Geben wir den Begriff »Subjekt« und »Objekt« auf, dann auch den Begriff »Substanz« – und folglich auch dessen verschiedene Modifikationen, z.B. »Materie«, »Geist« und andere hypothetische Wesen, »Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Stoffs« usw.. Wir sind die Stofflichkeit los.–“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 377

„Moralisch ausgedrückt, ist die Welt falsch. Aber insofern die Moral selbst ein Stück dieser Welt ist, so ist die Moral falsch.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 377

„Der Wille zur Wahrheit ist ein Fest-machen, ein Wahr-, Dauerhaft-machen, ein Aus-dem-Auge-schaffen jenes falschen Charakters, eine Umdeutung desselben ins Seiende. »Wahrheit« ist somit nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre, – sondern etwas, das zu schaffen ist und das den namen für einen Prozeß abgibt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen, – nicht ein Bewußtwerden von etwas, das an sich fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den »Willen zur Macht«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 377

„Das Leben ist auf die Voraussetzung eines Glaubens an Dauerndes und Regulär-Wiederkehrendes gegründet; je mächtiger das Leben, um so breiter muß die erratbare, gleichsam seiend gemachte Welt sein. Logisierund, Rationalisierung, Systematisierung als Hilfsmittel des Lebens.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 377

„Der mensch projiziert seinen Trieb zur Wahrheit, sein »Ziel« in einem gewissen Sinne außer sich als seiende Welt, als metaphysische Welt, als »Ding an sich«, als bereits vorhandene Welt. Sein Bedürfnis als Schaffender erdichtet bereits die Welt, an der er arbeitet, nimmt sie vorweg; diese Vorwegnahme (dieser »Glaube« an die Wahrheit) ist seine Stütze.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 378

„Sobald wir uns jemanden imaginieren, der verantwortlich ist dafür, daß wir so und so sind usw. (Gott, Natur), ihm also unsere Existenz, unser Glück und Elend als Absicht zulgen, verderben wir uns die Unschuld des Werdens. Wir haben dann jemandenm der durch uns und mit uns etwas erreichen will.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 378

„Das »Wohl des Individuumns« ist ebenso imaginär als das »Wohl der Gattung«: das erstere wird nicht dem letzteren geopfert, Gattung ist aus der ferne betrachtet etwas ebenso Flüssigens wie Individuum. »Erhaltung der Gattung« ist nur eine Folge des Wachstums der Gattung, d.h. der Überwindung der Gattung auf dem Wege zu einer stärkeren Art.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 378

Thesen. – Daß die anscheinende »Zweckmäßigkeit« (»die aller menschlichen Kunst unendlich überlegene Zweckmäßigkeit«) bloß die Folge jenes in allem Geschehen sich abspielenden Willens zur Macht ist –: daß das Stärker-werden Ordnungen mit sich bringt, die einem Zweckmäßigkeits-Entwurf ähnlich sehen –: daß die anscheinenden Zwecke nicht beabsichtigt sind, aber, sobald die Übermacht über eine geringe Macht erreicht ist und letztere als Funktion der größeren arbeitet, eine Ordnung des Ranges, der Organisation den Anschein einer Ordnung von Mittel und Zweck erwecken muß.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 378

„Gegen die anscheinende »Notwendigkeit«: – diese nur ein Ausdruck dafür, daß eine Kraft nicht auch etwas anderes ist.
Gegen die anscheinende »Zweckmäßigkeit«: – letztere nur ein Ausdruck für eine Ordnung von Machtsphären und deren Zusammenspiel. “
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 378-379

„Ein »Ding an sich« ebnso verkehrt wie ein »Sein an sich«. eine »Bedeutung an sich«. Es gibt keinen »Tatbestand an sich«. sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es einen Tatbestand geben kann.
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 381

„Wenn alle Einheit nur als Organisation Einheit ist? Aber das »Ding«, an das wir glauben, ist nur als Unterlage zu verschiednen Prädikaten hinzuerfunden. Wenn das Ding »wirkt«, so heißt das: wir fassen alle übrigen Eigenschaften, die sonst noch hier vorhanden sind und momentan latent sind, als Ursache, daß jetzt eine einzelne Eigenschaft hervortritt: d. h. wir nehmen die Summe seiner Eigenschaften – x – als Ursache der Eigenschaft x: was doch ganz dumm und verrückt ist! Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders, als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde, das eins bedeutet, aber nicht eins ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 383

„»Es mußte in der Ausbildung des Denkens der Punkt eintreten, wo es zum Bewußtsein kam, daß das, was man als Eigenschaften der Dinge bezeichnete, Empfindungen des empfindenden Subjekts seien: damit hörten die Eigenschaften auf, dem Dinge anzugehören.« Es blieb »das Ding an sich« übrig. Die Unterscheidung zwischen Ding an sich und des Dinges für uns basiert auf der älteren, naiven Wahrnehmung, die dem Dinge Energie beilegte: aber die Analyse ergab, daß auch die Kraft hineingedichtet worden ist, und ebenso – die Substanz. »Das Ding affiziert ein Subjekt.«? Wurzel der Substanzvorstellung in der Sprache, nicht im Außer-uns-Seienden! Das Ding an sich ist gar kein Problem! Das Seiende wird als Empfindung zu denken sein, welcher nichts Empfindungsloses mehr zugrunde liegt. In der Bewegung ist kein neuer Inhalt der Empfindung gegeben. Das Seiende kann nicht inhaltlich Bewegung sein: also Form des Seins.
NB. Die Erklärung des Geschehens kann versucht werden einmal: durch Vorstellung von Bildern des Geschehens, die ihm voranlaufen (Zwecke); zweitens: durch Vorstellung von Bildern, die ihm nachlaufen (die mathematisch-physikalische Erklärung).
Beide soll man nicht durcheinanderwerfen. Also: die physische Erklärung, welche die Verbildlichung der Welt ist aus Empfindung und Denken, kann nicht selber wieder das Empfinden und Denken ableiten und entstehen machen: vielmehr muß die Physik auch die empfindende Welt konsequent als ohne Empfindung und Zweck konstruieren – bis hinauf zum höchsten Menschen. Und die teleologische ist nur eine Geschichte der Zwecke und nie physikalisch!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 383-384

„Unser »Erkennen« beschränkt sich darauf, Quantitäten festzustellen; aber wir können durch nichts hindern, diese Quantitäts-Differenzen als Qualitäten zu empfinden. Die Qualität ist eine perspektivische Wahrheit für uns; kein »An sich«. Unsere Sinne haben ein bestimmtes Quantum als Mitte, innerhalb deren sie funktionieren, d. h. wir empfinden groß und klein im Verhältnis zu den Bedingungen unsrer Existenz. Wenn wir unsre Sinne um das Zehnfache verschärften oder verstumpften, würden wir zugrunde gehn: – d. h. wir empfinden auch Größenverhältnisse in bezug auf unsre Existenz-Ermöglichung als Qualitäten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 384-385

„Sollten nicht alle Quantitäten Anzeichen von Qualitäten sein? Der größeren Macht entspricht ein anderes Bewußtsein, Begehren, ein anderer perspektivischer Blick; Wachstum selbst ist ein Verlangen, mehr zu sein; aus einem quale heraus erwächst das Verlangen nach einem Mehr von quantum; in einer rein quantitativen Welt wäre alles tot, starr, unbewegt. – Die Reduktion aller Qualitäten auf Quantitäten ist Unsinn: was sich ergibt, ist, daß eins und das andre beisammensteht, eine Analogie “
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 385

„Die Qualitäten sind unsere unübersteiglichen Schranken; wir können durch nichts verhindern, bloße Quantitäts-Differenzen als etwas von Quantität Grundverschiedenes zu empfinden, nämlich als Qualitäten, die nicht mehr aufeinander reduzierbar sind. Aber alles, wofür nur das Wort »Erkenntnis« Sinn hat, bezieht sich auf das Reich, wo gezählt, gewogen, gemessen werden kann, auf die Quantität: während umgekehrt alle unsre Wertempfindungen (d. h. eben unsre Empfindungen) gerade an den Qualitäten haften, d. h. an unsren, nur uns allein zugehörigen perspektivischen »Wahrheiten«, die schlechterdings nicht »erkannt« werden können. Es liegt auf der Hand, daß jedes von uns verschiedene Wesen andere Qualitäten empfindet und folglich in einer andern Welt, als wir leben, lebt. Die Qualitäten sind unsre eigentliche menschliche Idiosynkrasie: zu verlangen, daß diese unsre menschlichen Auslegungen und Werte allgemeine und vielleicht konstitutive Werte sind, gehört zu den erblichen Verrücktheiten des menschlichen Stolzes.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 385-386

„Die »wahre Welt«, wie immer auch man sie bisher konzipiert hat – sie war immer die scheinbare Welt noch einmal.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 386

„Die scheinbare Welt, d. h. eine Welt, nach Werten angesehn; geordnet, ausgewählt nach Werten, d. h. in diesem Falle nach dem Nützlichkeits-Gesichtspunkt in Hinsicht auf die Erhaltung und Macht- Steigerung einer bestimmten Gattung von Animal. Das Perspektivische also gibt den Charakter der »Scheinbarkeit« ab! Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnet! Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet! Jedes Kraftzentrum hat für den ganzen Rest seine Perspektive, d.h. seine ganz bestimmte Wertung, seine Aktions-Art, seine Widerstands-Art. Die »scheinbare Welt« reduziert sich also auf eine spezifische Art von Aktion auf die Welt, ausgehend von einem Zentrum. Nun gibt es gar keine andre Art Aktion: und die »Welt« ist nur ein Wort für das Gesamtspiel dieser Aktionen. Die Realität besteht exakt in dieser Partikular-Aktion und -Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze .... Es bleibt kein Schatten von Recht mehr übrig, hier von Schein zu reden .... Die spezifische Art zu reagieren ist die einzige Art des Reagierens: wir wissen nicht, wie viele und was für Arten es alles gibt. Aber es gibt kein »anderes«, kein »wahres«, kein wesentliches Sein – damit würde eine Welt ohne Aktion und Reaktion ausgedrückt sein .... Der Gegensatz der scheinbaren Welt und der wahren Welt reduziert sich auf den Gegensatz »Welt« und »Nichts«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 386-387

Kritik des Begriffes »wahre und scheinbare Welt«. – Von diesen ist die erste eine bloße Fiktion, aus lauter fingierten Dingen gebildet. Die »Scheinbarkeit« gehört selbst zur Realität: sie ist eine Form ihres Seins; d. h. in einer Welt, wo es kein Sein gibt, muß durch den Schein erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle geschaffen werden: ein Tempo, in dem Beobachtung und Vergleichung möglich ist, usw.. »Scheinbarkeit« ist eine zurechtgemachte und vereinfachte Welt, an der unsre praktischen Instinkte gearbeitet haben: sie ist für uns vollkommen wahr: nämlich wir leben, wir können in ihr leben: Beweis ihrer Wahrheit für uns ..., die Welt, abgesehen von unsrer Bedingung, in ihr zu leben, die Welt, die wir nicht auf unser Sein, unsre Logik und psychologischen Vorurteile reduziert haben, existiert nicht als Welt »an sich«; sie ist essentiell Relations-Welt: sie hat, unter Umständen, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr Sein ist essentiell an jedem Punkte anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt – und diese Summierungen sind in jedem Falle gänzlich inkongruent. Das Maß von Macht bestimmt, welches Wesen das andre Maß von Macht hat: unter welcher Form, Gewalt, Nötigung es wirkt oder widersteht.Unser Einzelfall ist interessant genug: wir haben eine Konzeption gemacht, um in einer Welt leben zu können, um gerade genug zu perzipieren, daß wir noch es aushalten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 387-388

„Unsre psychologische Optik ist dadurch bestimmt:
1. daß Mitteilung nötig ist und daß zur Mitteilung etwas fest, ver-einfacht, präzisierbar sein muß (vor allem im sogenannten identischen Fall). Damit es aber mitteilbar sein kann, muß es zurechtgemacht empfunden werden, als »wiedererkennbar«. Das Material der Sinne vom Verstande zurechtgemacht, reduziert auf grobe Hauptstriche, ähnlich gemacht, subsumiert unter Verwandtes. Also: die Undeutlichkeit und das Chaos des Sinneseindrucks wird gleichsam logisiert;
2. die Welt der »Phänomene« ist die zurechtgemachte Welt, die wir als real empfinden. Die »Realität« liegt in dem beständigen Wieder-kommen gleicher, bekannter, verwandter Dinge, in ihrem logisierten Charakter, im Glauben, daß wir hier rechnen, berechnen können;
3. der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt ist nicht »die wahre Welt«, sondern die formlos-unformulier bare Welt des Sensationen-Chaos – also eine andere Art Phänomenal-Welt, eine für uns »unerkennbare«;
4. Fragen, wie die Dinge »an sich« sein mögen, ganz abgesehen von unsrer Sinnen-Rezeptivität und Verstandes-Aktivität, muß man mit der Frage zurückweisen: woher könnten wir wissen, daß es Dinge gibt? Die »Dingheit« ist erst von uns geschaffen. Die Frage ist, ob es nicht noch viele Arten geben könnte, eine solche scheinbare Welt zu schaffen – und ob nicht dieses Schaffen, Logisieren, Zurechtmachen, Fälschen die bestgarantierte Realität selbst ist: kurz, ob nicht das, was »Dinge setzt«, allein real ist; und ob nicht die »Wirkung der äußeren Welt auf uns« auch nur die Folge solcher wollenden Subjekte ist .... Die anderen »Wesen« agieren auf uns; unsre zurechtgemachte Scheinwelt ist eine Zurechtmachung und Überwältigung von deren Aktionen: eine Art Defensiv-Maßregel. Das Subjekt allein ist beweisbar: Hypothese, daß es nur Subjekte gibt – daß »Objekt« nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist ... ein Modus des Subjekts.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 388-389

„Ist man Philosoph, wie man immer Philosoph war, so hat man kein Auge für das, was war, und das, was wird – man sieht nur das Seiende. Da es aber nichts Seiendes gibt, so blieb dem Philosophen nur das Imaginäre aufgespart, als seine »Welt«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 389

„Ein Künstler hält keine Wirklichkeit aus, er blickt weg, zurück: seine ernsthafte Meinung ist, daß was ein Ding wert ist, jener schattengleiche Rest ist, den man aus Farben, Gestalt, Klang, Gedanken gewinnt; er glaubt daran, daß, je mehr subtilisiert, verdünnt, verflüchtigt ein Ding, ein Mensch wird, um so mehr sein Wert zunimmt: je weniger real, um so mehr Wert. Dies ist Platonismus: der aber noch eine Kühnheit mehr besaß, im Umdrehen: – er maß den Grad Realität nach dem Wertgrade ab und sagte: je mehr »Idee«, desto mehr Sein. Er drehte den Begriff »Wirklichkeit« herum und sagte: »Was ihr für wirklich haltet, ist ein Irrtum, und wir kommen, je näher wir der ›Idee‹ kommen, um so näher der ›Wahrheit‹«. – Versteht man es? Das war die größte Umtaufung: und weil sie vom Christentum aufgenommen ist, so sehen wir die erstaunliche Sache nicht. Plato hat im Grunde den Schein, als Artist, der er war, dem Sein vorgezogen! also die Lüge und Erdichtung der Wahrheit! das Unwirkliche dem Vorhandenen! – er war aber so sehr vom Werte des Scheins überzeugt, daß er ihm die Attribute »Sein«, »Ursächlichkeit« und »Gutheit«, »Wahrheit«, kurz alles übrige beilegte, dem man Wert beilegt. Der Wertbegriff selbst, als Ursache gedacht: erste Einsicht. Das Ideal mit allen Attributen bedacht, die Ehre verleihen: zweite Einsicht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 389-390

„Die Idee der »wahren Welt« oder »Gottes« als absolut unsinnlich, geistig, gütig ist eine Notmaßregel im Verhältnis dazu, als die Gegen-Instinkte noch allmächtig sind .... Die Mäßigkeit und erreichte Humanität zeigt sich exakt in der Vermenschlichung der Götter: die Griechen der stärksten Zeit, die vor sich selber keine Furcht hatten, sondern Glück an sich hatten, näherten ihre Götter an alle ihre Affekte –. Die Vergeistigung der Gottes-Idee ist deshalb fern davon, einen Fortschritt zu bedeuten: man fühlt dies recht herzlich bei der Berührung mit Goethe – wie da die Verdunstung Gottes zu Tugend und Geist sich als eine rohere Stufe fühlbar macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 390-391

„Erst vermöge des Denkens gibt es Unwahrheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 391

Zur Psychologie der Metaphysik. – Diese Welt ist scheinbar: folglich gibt es eine wahre Welt; – diese Welt ist bedingt: – folglich gibt es eine unbedingte Welt; – diese Welt ist widerspruchsvoll: folglich gibt es eine widerspruchslose Welt; – diese Welt ist werdend: folglich gibt es eine seiende Welt: – lauter falsche Schlüsse (blindes Vertrauen in die Vernunft: wenn A ist, so muß auch sein Gegensatz-Begriff B sein). Zu diesen Schlüssen inspiriert das Leiden: im Grunde sind es Wünsche, es möchte eine solche Welt geben; ebenfalls drückt sich der Haß gegen eine Welt, die leiden macht, darin aus, daß eine andere imaginiert wird, eine wertvollere: das Ressentiment der Metaphysiker gegen das Wirkliche ist hier schöpferisch. Zweite Reihe von Fragen: wozu Leiden? Und hier ergibt sich ein Schluß auf das Verhältnis der wahren Welt zu unsrer scheinbaren, wandelbaren, leidenden, widerspruchsvollen:
1. Leiden als Folge des Irrtums: wie ist Irrtum möglich?
2. Leiden als Folge von Schuld: wie ist Schuld möglich?
(Lauter Erfahrungen aus der Natursphäre oder der Gesellschaft universalisiert und ins »An-sich« projiziert).
Wenn aber die bedingte Welt ursächlich von der unbedingten bedingt ist, so muß die Freiheit zum Irrtum und zur Schuld mit von ihr bedingt sein: und wieder fragt man wozu? .... Die Welt des Scheins, des Werdens, des Widerspruchs, des Leidens ist also gewollt: wozu? Der Fehler dieser Schlüsse: zwei gegensätzliche Begriffe sind gebildet – weil dem einen von ihnen eine Realität entspricht, »muß« auch dem andern eine Realität entsprechen. »Woher sollte man sonst dessen Gegenbegriff haben?« – Vernunft somit als eine Offenbarungs-Quelle über An-sich-Seiendes. Aber die Herkunft jener Gegensätze braucht nicht notwendig auf eine übernatürliche Quelle der Vernunft zurückzugehn: es genügt, die wahre Genesis der Begriffe dagegenzustellen: – diese stammt aus der praktischen Sphäre, aus der Nützlichkeitssphäre, und hat eben daher ihren starken Glauben (man geht daran zugrunde, wenn man nicht gemäß dieser Vernunft schließt: aber damit ist das nicht »bewiesen«, was sie behauptet). Die Präokkupation durch das Leiden bei den Metaphysikern: ist ganz naiv. »Ewige Seligkeit«: psychologischer Unsinn. Tapfere und schöpferische Men schen fassen Lust und Leid nie als letzte Wertfragen, – es sind Begleit-Zustände: man muß beides wollen, wenn man etwas erreichen will –. Darin drückt sich etwas Müdes und Krankes an den Metaphysikern und Religiösen aus, daß sie Lust- und Leidprobleme im Vordergrunde sehn. Auch die Moral hat nur deshalb für sie solche Wichtigkeit, weil sie als wesentliche Bedingung in Hinsicht auf Abschaffung des Leidens gilt. Insgleichen die Präokkuptaion durch Schein und Irrtum. Ursache von Leiden, Aberglaube, daß das Glück mit der Wahrheit verbunden sei (Verwechslung: das Glück in der »Gewißheit«, im »Glauben«).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 393-395

„Inwiefern die einzelnen erkenntnistheoretischen Grundstellungen (Materialismus, Sensualismus, Idealismus) Konsequenzen der Wertschätzungen sind: die Quelle der obersten Lustgefühle (»Wertgefühle«) auch als entscheidend über das Problem der Realität! – Das Maß positiven Wissens ist ganz gleichgültig oder nebensächlich: man sehe doch die indische Entwicklung. Die buddhistische Negation der Realität überhaupt (Scheinbarkeit = Leiden) ist eine vollkommene Konsequenz: Unbeweisbarkeit, Unzugänglichkeit, Mangel an Kategorien nicht nur für eine »Welt an sich«, sondern Einsicht in die fehlerhaften Prozeduren, vermöge deren dieser ganze Begriff gewonnen ist. »Absolute Realität«, »Sein an sich« ein Widerspruch. In einer werdenden Welt ist »Realität« immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken oder eine Täuschung auf Grund grober Organe oder eine Verschiedenheit im Tempo desWerdens. Die logische Weltverneinung und Nihilisierung folgt daraus, daß wir Sein dem Nichtsein entgegensetzen müssen und daß der Begriff »Werden« geleugnet wird. (»Etwas« wird.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 395

„Wir haben keine Kategorien, nach denen wir eine wahre und eine scheinbare Welt scheiden dürften. (Es könnte eben bloß eine scheinbare Welt geben, aber nicht nur unsere scheinbare Welt.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 397

„Es ist von kardinaler Wichtigkeit, daß man die wahre Welt abschafft. Sie ist die große Anzweiflerin und Wertverminderung der Welt, die wir sind: sie war bisher unser gefährlichstes Attentat auf das Leben. Krieg gegen alle Voraussetzungen, auf welche hin man eine wahre Welt fingiert hat. Zu diesen Voraussetzungen gehört, daß die moralischen Werte die obersten seien. Die moralische Wertung als oberste wäre widerlegt, wenn sie bewiesen werden könnte als die Folge einer unmoralischen Wertung: als ein Spezialfall der realen Unmoralität: sie reduzierte sich damit selbst auf einen Anschein, und als Anschein hätte sie, von sich aus, kein Recht mehr, den Schein zu verurteilen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 398

„Der »Wille zur Wahrheit« wäre sodann psychologisch zu untersuchen: er ist keine moralische Gewalt, sondern eine Form des Willens zur Macht. Dies wäre damit zu beweisen, daß er sich aller unmoralischen Mittel bedient: die Metaphysiker voran –. Wir sind heute vor die Prüfung der Behauptung gestellt, daß die moralischen Werte die obersten Werte seien. Die Methodik der Forschung ist erst erreicht, wenn alle moralischen Vorurteile überwunden sind: – sie stellt einen Sieg über die Moral dar.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 398

„Der Satz vom Widerspruch gab das Schema: die wahre Welt, zu der man den Weg sucht, kann nicht mit sich in Widerspruch sein, kann nicht wechseln, kann nicht werden, hat keinen Ursprung und kein Ende. Das ist der größte Irrtum, der begangen worden ist, das eigentliche Verhängnis des Irrtums auf Erden: man glaubte ein Kriterium der Realität in den Vernunftformen zu haben, – während man sie hatte, um Herr zu werden über die Realität, um auf eine kluge Weise die Realität mißzuverstehn .... Und siehe da: jetzt wurde die Welt falsch, und exakt der Eigenschaften wegen, die ihre Realität ausmachen, Wechsel, Werden, Vielheit, Gegensatz, Widerspruch, Krieg. Und nun war das ganze Verhängnis da:
1. Wie kommt man los von der falschen, der bloß scheinbaren Welt? (– es war die wirkliche, die einzige);
2. wie wird man selbst möglichst der Gegensatz zu dem Charakter der scheinbaren Welt? (Begriff des vollkommnen Wesens als eines Gegensatzes zu jedem realen Wesen, deutlicher, als Widerspruch zum Leben ...).
Die ganze Richtung der Werte war auf Verleumdung des Lebens aus; man schuf eine Verwechslung des Ideal-Dogmatismus mit der Erkenntnis überhaupt: so daß die Gegenpartei immer nun auch die Wissenschaft perhorreszierte. Der Weg zur Wissenschaft war dergestalt doppelt versperrt: einmal durch den Glauben an die »wahre« Welt, und dann durch die Gegner dieses Glaubens. Die Naturwissenschaft ... war
1. in ihren Objekten verurteilt,
2. um ihre Unschuld gebracht ....
In der wirklichen Welt, wo schlechterdings alles verkettet und bedingt ist, heißt irgend etwas verurteilen und wegdenken, alles wegdenken und verurteilen. Das Wort »das sollte nicht sein«, »das hätte nicht sein sollen« ist eine Farce .... Denkt man die Konsequenzen aus, so ruinierte man den Quell des Lebens, wenn man das abschaffen wollte, was in irgendeinem Sinne schädllich, zerstörerisch ist. Die Physiologie demonstriert es ja besser! – Wir sehen, wie die Moral
a) die ganze Weltauffassung vergiftet,
b) den Weg zur Erkenntnis, zur Wissenschaft abschneidet,
c) alle wirklichen Instinkte auflöst und untergräbt (indem sie deren Wurzeln als unmoralisch empfinden lehrt).
Wir sehen ein furchtbares Werkzeug der décadence vor uns arbeiten, das sich mit den heiligsten Namen und Gebärden aufrecht hält.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 400-401

„A.
Der Mensch sucht »die Wahrheit«: eine Welt, die nicht sich wider-spricht, nicht täuscht, nicht wechselt, eine wahre Welt – eine Welt, in der man nicht leidet: Widerspruch, Täuschung, Wechsel – Ursachen des Leidens! Er zweifelt nicht, daß es eine Welt, wie sie sein soll, gibt; er möchte zu ihr sich den Weg suchen. (Indische Kritik: selbst das »Ich« als scheinbar, als nicht-real.) Woher nimmt hier der Mensch den Begriff der Realität? – Warum leitet er gerade das Leiden von Wechsel, Täuschung, Widerspruch ab? und warum nicht vielmehr sein Glück? – Die Verachtung, der Haß gegen alles, was vergeht, wechselt, wandelt: – woher diese Wertung des Bleibenden; Ersichtlich ist hier der Wille zur Wahrheit bloß das Verlangen in eine Welt des Bleibenden. Die Sinne täuschen, die Vernunft korrigiert die Irrtümer: folglich, schloß man, ist die Vernunft der Weg zu dem Bleibenden; die unsinnlichsten Ideen müssen der »wahren Welt« am nächsten sein. – Von den Sinnen her kommen die meisten Unglücksschläge, – sie sind Betrüger, Betörer, Vernichter. – Das Glück kann nur im Seienden verbürgt sein: Wechsel und Glück schließen sich aus. Der höchste Wunsch hat demnach die Einswerdung mit dem Seienden im Auge. Das ist die Formel für: Weg zum höchsten Glück.
In summa: Die Welt, wie sie sein sollte, existiert; diese Welt, in der wir leben, ist ein Irrtum, – diese unsre Welt sollte nicht existieren.
Der Glaube an das Seiende erweist sich nur als eine Folge: das eigentliche primum mobile ist der Unglaube an das Werdende, das Mißtrauen gegen das Werdende, die Geringschätzung alles Werdens .... Was für eine Art Mensch reflektiert so? Eine unproduktive, leidende Art, eine lebensmüde Art. Dächten wir uns die entgegengesetzte Art Mensch, so hätte sie den Glauben an das Seiende nicht nötig; mehr noch, sie würde es verachten, als tot, langweilig, indifferent ....
Der Glaube, daß die Welt, die sein sollte, ist, wirklich existiert, ist ein Glaube der Unproduktiven, die nicht eine Welt schaffen wollen, wie sie sein soll. Sie setzen sie als vorhanden, sie suchen nach Mitteln und Wegen, um zu ihr zu gelangen. »Wille zur Wahrheit« – als Ohnmacht des Willens zum Schaffen.
Erkennen, daß etwas so und so ist: {Antagonismus in den Kraft-Graden der Naturen.
Tun, daß etwas so und so wird:
Fiktion einer Welt, welche unseren Wünschen entspricht; psychologische Kunstgriffe und Interpretationen, um alles, was wir ehren und als angenehm empfinden, mit dieser wahren Welt zu verknüpfen.»Wille zur Wahrheit« auf dieser Stufe ist wesentlich Kunst der Interpretation: wozu immer noch Kraft der Interpretation gehört.
Dieselbe Spezies Mensch, noch eine Stufe ärmer geworden, nicht mehr im Besitz der Kraft zu interpretieren, des Schaffens von Fiktionen, macht den Nihilisten. Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urteilt, sie sollte nicht sein, und von der Welt, wie sie sein sollte, urteilt, sie existiert nicht. Demnach hat dasein (handeln, leiden, wollen, fühlen) keinen Sinn: das Pathos des »Umsonst« ist das Nihilisten-Pathos – zugleich noch als Pathos eine Inkonsequenz des Nihilisten.
Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen vermag, der Willens- und Kraftlose, der legt wenigstens noch einen Sinn hinein, d.h. den Glauben, daß schon ein Wille darin sei.
Es ist ein Gradmesser von Willenskraft, wie weit man des Sinnes in den Dingen entbehren kann, wie weit man in einer sinnlosen Welt zu leben aushält: weil man ein kleines Stück von ihr selbst organisiert.
Das philosophische Objektiv-Blicken kann somit ein Zeichen von Willens- und Kraft-Armut sein. Denn die Kraft organisiert das Nähere und Nächste; die »Erkennenden«, welche nur feststellen wollen, was ist, sind solche, die nichts festsetzen können, wie es sein soll.
Die Künstler, eine Zwischenart: sie setzen wenigstens ein Gleichnis von dem fest, was sein soll, – sie sind produktiv, insofern sie wirklich verändern und umformen; nicht wie die Erkennenden, welche alles lassen, wie es ist.
Zusammenhang der Philosophen mit den pessimistischen Religionen: dieselbe Spezies Mensch (– sie legen den höchsten Grad von Realität den höchstgewerteten Dingen bei –).
Zusammenhang der Philosophen mit den moralischen Menschen und deren Wertmaßen (– die moralische Weltauslegung als Sinn nach dem Niedergang des religiösen Sinnes –).
Überwindung der Philosophen durch Vernichtung der Welt des Seienden: Zwischenperiode des Nihilismus: bevor die Kraft da ist, die Werte umzuwenden und das Werdende, die scheinbare Welt, als die einzige, zu vergöttlichen und gutzuheißen.
B.
Der Nihilismus als normales Phänomen kann ein Symptom wachsender Stärke sein oder wachsender Schwäche:
teils, daß die Kraft, zu schaffen, zu wollen, so gewachsen ist, daß sie diese Gesamt-Ausdeutungen und Sinn-Einlegungen nicht mehr braucht (»nähere Aufgaben«, Staat usw.);
teils, daß selbst die schöpferische Kraft, Sinn zu schaffen, nachläßt und die Enttäuschung der herrschende Zustand wird. Die Unfähigkeit zum Glauben an einen »Sinn«, der »Unglaube«.
Was die Wissenschaft in Hinsicht auf beide Möglichkeiten bedeutet?
1. Als Zeichen von Stärke und Selbstbeherrschung, als Entbehren-können heilender, tröstlicher Illusions-Welten;
2. als untergrabend, sezierend, enttäuschend, schwächend.
C.
Der Glaube an die Wahrheit, das Bedürfnis einen Halt zu haben an etwas Wahrgeglaubtem: psychologische Reduktion abseits von allen bisherigen Wertgefühlen. Die Furcht, die Faulheit.
Insgleichen der Unglaube: Reduktion. Inwiefern er einen neuen Wert bekommt, wenn es eine wahre Welt gar nicht gibt (– dadurch werden die Wertgefühle wieder frei, die bisher auf die seiende Welt verschwendet worden sind).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 401-405

„Die »wahre« und die »scheinbare Welt«
A.
Die Verführungen, die von diesem Begriff ausgehen, sind dreierlei Art:
a) eine unbekannte Welt: – wir sind Abenteurer, neugierig – das Bekannte scheint uns müde zu machen (– die Gefahr des Begriffs liegt darin, uns »diese« Welt als bekannt zu insinuieren ...);
b) eine andre Welt, wo es anders ist: – es rechnet etwas in uns nach, unsre stille Ergebung, unser Schweigen verlieren dabei ihren Wert, – vielleicht wird alles gut, wir haben nicht umsonst gehofft .... Die Welt, wo es anders, wo wir selbst – wer weiß? anders sind ....
c) eine wahre Welt: – das ist der wunderlichste Streich und Angriff, der auf uns gemacht wird; es ist so vieles an das Wort »wahr« ankrustiert, unwillkürlich machen wir's auch der »wahren Welt« zum Geschenk: die wahre Welt muß auch eine wahrhaftige sein, eine solche, die uns nicht betrügt, nicht zu Narren hat: an sie glauben ist beinahe glauben müssen (– aus Anstand, wie es unter zutrauenswürdigen Wesen geschieht –).
Der Begriff »die unbekannte Welt« insinuiert uns diese Welt als »bekannt« (als langweilig –); der Begriff »die andre Welt« insinuiert, als ob die Welt anders sein könnte, – hebt die Notwendigkeit und das Fatum auf (– unnütz, sich zu ergeben, sich anzupassen –); der Begriff »die wahre Welt« insinuiert diese Welt als eine unwahrhaftige, betrügerische, unredliche, unechte, unwesentliche – und folglich auch nicht unserm Nutzen zugetane Welt (– unratsam, sich ihr anzupassen; besser: ihr widerstreben).
Wir entziehen uns also in dreierlei Weise »dieser« Welt:
a) mit unsrer Neugierde – wie als ob der interessantere Teil woanders wäre;
b) mit unsrer Ergebung – wie als ob es nicht nötig sei, sich zu ergeben, – wie als ob diese Welt keine Notwendigkeit letzten Ranges sei;
c) mit unsrer Sympathie und Achtung – wie als ob diese Welt sie nicht verdiente, als unlauter, als gegen uns nicht redlich ....
In summa: wir sind auf eine dreifache Weise revoltiert: wir haben ein x zur Kritik der »bekannten Welt« gemacht.
B.
Erster Schritt der Besonnenheit: zu begreifen, inwiefern wir verführt sind – nämlich es könnte an sich exakt umgekehrt sein;
a) die unbekannte Welt könnte derartig beschaffen sein, um uns Lust zu machen zu »dieser« Welt, – als eine vielleicht stupide und geringere Form des Daseins;
b) die andere Welt, geschweige, daß sie unsern Wünschen, die hier keinen Austrag fänden, Rechnung trüge, könnte mit unter der Masse dessen sein, was uns diese Welt möglich macht: sie kennen lernen wäre ein Mittel, uns zufrieden zu machen;
c) die wahre Welt: aber wer sagt uns eigentlich, daß die scheinbare Welt weniger wert sein muß als die wahre? Widerspricht nicht unser Instinkt diesem Urteile? Schafft sich nicht ewig der Mensch eine fingierte Welt, weil er eine bessere Welt haben will als die Realität? Vor allem: wie kommen wir darauf, daß nicht unsre Welt die wahre ist? ... zunächst könnte doch die andre Welt die »scheinbare« sein (in der Tat haben sich die Griechen z. B. ein Schattenreich, eine Scheinexistenz neben der wahren Existenz, gedacht –). Und endlich: was gibt uns ein Recht, gleichsam Grade der Realität anzusetzen? Das ist etwas andres als eine unbekannte Welt – das ist bereits Etwas-wissen-wollen von der unbekannten. Die »andere«, die »unbekannte« Welt – gut! aber sagen »wahre Welt« das heißt »etwas wissen von ihr«, – das ist der Gegensatz zur Annahme einer x-Welt ....
In summa: die Welt x könnte in jedem Sinne langweiliger, unmenschlicher und unwürdiger sein als diese Welt.
Es stünde anders, wenn behauptet würde, es gebe x Welten, d. h. jede mögliche Welt noch außer dieser. Aber das ist nie behauptet worden ....
C.
Problem: warum die Vorstellung von der andern Welt immer zum Nachteil, resp. zur Kritik »dieser« Welt ausgefallen ist – worauf das weist? – Nämlich: ein Volk, das auf sich stolz ist, das im Aufgange des Lebens ist, denkt das Anders-sein immer als Niedriger-, Wertloser-sein; es betrachtet die fremde, die unbekannte Welt als seinen Feind, als seinen Gegensatz, es fühlt sich ohne Neugierde, in voller Ablehnung gegen das Fremde... Ein Volk würde nicht zugeben, daß ein anderes Volk das »wahre Volk« wäre ....Schon daß ein solches Unterscheiden möglich ist – daß man diese Welt für die »scheinbare« und jene für die »wahre« nimmt, ist symptomatisch. Die Entstehungsherde der Vorstellung »andre Welt«: der Philosoph, der eine Vernunft-Welt erfindet, wo die Vernunft und die logischen Funktionen adäquat sind – daher stammt die »wahre« Welt; der religiöse Mensch, der eine »göttliche Welt« erfindet – daher stammt die »entnatürlichte, widernatürliche« Welt; der moralische Mensch, der eine »freie Welt« fingiert – daher stammt die »gute, vollkommene, gerechte, heilige« Welt. Das Gemeinsame der drei Entstehungsherde: der psychologische Fehlgriff, die physiologischen Verwechslungen. Die »andre Welt«, wie sie tatsächlich in der Geschichte erscheint, mit welchen Prädikaten abgezeichnet? Mit den Stigmaten des philosophischen, des religiösen, des moralischen Vorurteils. Die »andre Welt«, wie sie aus diesen Tatsachen erhellt, als ein Synonym des Nicht-seins, des Nicht-lebens, des Nicht-leben-wollens ....
Gesamteinsicht: der Instinkt der Lebensmüdigkeit, und nicht der des Lebens, hat die »andre Welt« geschaffen.
Konsequenz: Philosophie, Religion und Moral sind Symptome der décadence.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 405-409

„Die Frage der Werte ist fundamentaler als die Frage der Gewißheit: letztere erlangt ihren Ernst erst unter der Voraussetzung, daß die Wertfrage beantwortet ist. Sein und Schein, psychologisch nachgerechnet, ergibt kein »Sein an sich«, keine Kriterien für »Realität«, sondern nur für Grade der Scheinbarkeit, gemessen an der Stärke des Anteils, den wir einem Schein geben. Nicht ein Kampf um Existenz wird zwischen den Vorstellungen und Wahrnehmungen gekämpft, sondern um Herrschaft; – vernichtet wird die überwundene Vorstellung nicht, nur zurückgedrängt oder subordiniert. Es gibt im Geistigen keine Vernichtung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 409-410

„Die Wissenschaft – das war bisher die Beseitigung der vollkommenen Verworrenheit der Dinge durch Hypothesen, welche alles »erklären« – also aus dem Widerwillen des Intellekts an dem Chaos. – Dieser selbe Widerwille ergreift mich bei der Betrachtung meiner selber: die innere Welt möchte ich auch durch ein Schema mir bildlich vorstellen und über die intellektuelle Verworrenheit hinauskommen. Die Moral war eine solche Vereinfachung: sie lehrte den Menschen als erkannt, als bekannt. – Nun haben wir die Moral vernichtet – wir selber sind uns wieder völlig dunkel geworden! Ich weiß, daß ich von mir nichts weiß. Die Physik ergibt sich als eine Wohltat für das Gemüt: die Wissenschaft (als der Weg zur Kenntnis) bekommt einen neuen Zauber nach der Beseitigung der Moral – und weil wir hier allein Konsequenz finden, so müssen wir unser Leben darauf einrichten, sie uns zu erhalten. Dies ergibt eine Art praktischen Nachdenkens über unsre Existenzbedingungen als Erkennende.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 411

„Keine »moralische Erziehung« des Menschengeschlechts: sondern die Zwangsschule der wissenschaftlichen Irrtümer ist nötig, weil die »Wahrheit« degoutiert und das Leben verleidet – vorausgesetzt, daß der Mensch nicht schon unentrinnbar in seine Bahn gestoßen ist und seine redliche Einsicht mit einem tragischen Stolze auf sich nimmt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 412

„Wir wissen, daß die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergibt, sondern nur ein Stück Unwissenheit mehr, eine Erweiterung unseres »leeren Raumes«, einen Zuwachs unserer »Öde«“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 414

„Was kann allein Erkenntnis sein? – »Auslegung«, Sinn-hineinlegen – nicht »Erklärung« (in den meisten Fällen eine neue Auslegung über eine alte unverständlich gewordne Auslegung, die jetzt selbst nur Zeichen ist). Es gibt keinen Tatbestand, alles ist flüssig, unfaßbar, zurückweichend; das Dauerhafteste sind noch unsre Meinungen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 414

„Der Mensch findet zuletzt in den Dingen nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat: – das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken – Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In beidem, wenn es selbst Kinderspiel sein sollte, sollte man fortfahren und guten Mut zu beidem haben, – die einen zum Wiederfinden, die andern – wir andern! – zum Hineinstecken!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 415

„Die Entwicklung der Wissenschaft löst das »Bekannte« immer mehr in ein Unbekanntes auf: – sie will aber gerade das Umgekehrte und geht von dem Instinkt aus, das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen. In summa bereitet die Wissenschaft eine souveräne Unwissenheit vor, ein Gefühl, daß »Erkennen« gar nicht vorkommt, daß es eine Art Hochmut war, davon zu träumen, mehr noch, daß wir nicht den geringsten Begriff übrig behalten, um auch nur »Erkennen« als eine Möglichkeit gelten zu lassen – daß »Erkennen« eine widerspruchsvolle Vorstellung ist. Wir übersetzen eine uralte Mythologie und Eitelkeit des Menschen in die harte Tatsache: so wenig »Ding an sich«, so wenig ist »Erkenntnis an sich« noch erlaubt als Begriff. Die Verführung durch »Zahl und Logik«, die Verführung durch die »Gesetze«. »Weisheit« als Versuch, über die perspektivischen Schätzungen (d.h. über den »Willen zur Macht«) hinwegzukommen: ein lebensfeindliches und auflösendes Prinzip, Symptom wie bei den Indern usw., Schwächung der Aneignungskraft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 415-416

„Es ist nicht genug, daß du einsiehst, in welcher Unwissenheit Mensch und Tier lebt: du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen. Es ist dir nötig, zu begreifen, daß ohne diese Art Unwissenheit das Leben selber unmöglich wäre, daß sie eine Bedingung ist, unter welcher das Lebendige allein sich erhält und gedeiht: eine große, feste Glocke von Unwissenheit muß um dich stehn.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 416

„Wissenschaft – Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der Natur – das gehört in die Rubrik »Mittel«. Aber der Zweck und Wille des Menschen muß ebenso wachsen, die Absicht in Hinsicht auf das Ganze.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 416

„Die Erkenntnis wird, bei höherer Art von Wesen, auch neue Formen haben, welche jetzt noch nicht nötig sind.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 417

„Daß der Wert der Welt in unserer Interpretation liegt (– daß vielleicht irgendwo noch andre Interpretationen möglich sind als bloß menschliche –), daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, d. h. im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht, erhalten, daß jede Erhöhung des Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven auftut und an neue Horizonte glauben heißt – das geht durch meine Schriften. Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d.h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist »im Flusse«, als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn – es gibt keine »Wahrheit«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 418

Rekapitulation:
Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht.
Zwiefache Fälschung, von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwertigen usw.
Daß alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins – Gipfel der Betrachtung.
Von den Werten aus, die dem Seienden beigelegt werden, stammt die Verurteilung und Unzufriedenheit im Werdenden: nachdem eine solche Welt des Seins erst erfunden war.
Die Metamorphosen des Seienden (Körper, Gott, Ideen, Naturgesetze, Formeln usw.).
»Das Seiende« als Schein; Umkehrung der Werte: der Schein war das Wertverleihende –.
Erkenntnis an sich im Werden unmöglich; wie ist also Erkenntnis möglich? Als Irrtum über sich selbst, als Wille zur Macht, als Wille zur Täuschung.
Werden als Erfinden, Wollen, Selbstverneinen, Sich-selbst-überwinden: kein Subjekt, sondern ein Tun, Setzen, schöpferisch, keine »Ursachen und Wirkungen«.
Kunst als Wille zur Überwindung des Werdens, als »Verewigen«, aber kurzsichtig, je nach der Perspektive: gleichsam im kleinen die Tendenz des Ganzen wiederholend.
Was alles Leben zeigt, als verkleinerte Formel für die gesamte Tendenz zu betrachten: deshalb eine neue Fixierung des Begriffs »Leben«, als Wille zur Macht.Anstatt »Ursache und Wirkung« der Kampf des Werdenden miteinander, oft mit Einschlürfung des Gegners; keine konstante Zahl des Werdenden.
Unbrauchbarkeit der alten Ideale zur Interpretation des ganzen Geschehens, nachdem man deren tierische Herkunft und Nützlichkeit erkannt hat; alle überdies dem Leben widersprechend.
Unbrauchbarkeit der mechanistischen Theorie – gibt den Eindruck der Sinnlosigkeit.
Der ganze Idealismus der bisherigen Menschheit ist im Begriff, in Nihilismus umzuschlagen – in den Glauben an die absolute Wertlosigkeit, d.h. Sinnlosigkeit.
Die Vernichtung der Ideale, die neue Öde; die neuen Künste, um es auszuhalten, wir Amphibien.
Voraussetzung: Tapferkeit, Geduld, keine »Rückkehr«, keine Hitze nach vorwärts. (NB. Zarathustra, sich beständig parodisch zu allen früheren Werten verhaltend, aus der Fülle heraus.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 418-419

„Der siegreiche Begriff »Kraft«, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm ein innerer Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als »Willen zur Macht«, d.h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. Die Physiker werden die »Wirkung in die Ferne« aus ihren Prinzipien nicht los; ebensowenig eine abstoßende Kraft (oder anziehende). Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle »Erscheinungen«, alle »Gesetze« nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu diesem Ende bedienen. Am Tier ist es möglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten; ebenso alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser einen Quelle.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 421

Druck und Stoß etwas unsäglich Spätes, Abgeleitetes, Unursprüngliches. Es setzt ja schon etwas voraus, das zusammenhält und drücken und stoßen kann! Aber woher hielte es zusammen?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 422

„ES gibt nicht Unveränderliches in der Chemie.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 422

„Illusion, daß etwas erkannt sei, wo wir eine mathematische Formel für das Geschehene haben: es ist nur bezeichnet, beschrieben: nichts mehr!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 424

„Wenn ich ein regelmäßiges Geschehen in eine Formel bringe, so habe ich mir die Bezeichnung des ganzen Phänomens erleichtert, abgekürzt usw. Aber ich habe kein »Gesetz« konstatiert, sondern die Frage aufgestellt, woher es kommt, daß hier etwas sich wiederholt: es ist eine Vermutung, daß der Formel ein Komplex von zunächst unbekannten Kräften und Kraft-Auslösungen entspricht: es ist Mythologie zu denken, daß hier Kräfte einem Gesetz gehorchen, so daß infolge ihres Gehorsams wir jedesmal das gleiche Phänomen haben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 425

„Ich hüte mich, von chemischen »Gesetzen« zu sprechen: das hat einen moralischen Beigeschmack. Es handelt sich vielmehr um eine absolute Feststellung von Machtverhältnissen: das Stärkere wird über das Schwächere Herr, soweit dies eben seinen Grad von Selbständigkeit nicht durchsetzen kann, – hier gibt es kein Erbarmen, keine Schonung, noch weniger eine Achtung vor »Gesetzen«!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 425

„Die unabänderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen beweist kein »Gesetz«, sondern ein Machtverhältnis zwischen zwei oder mehreren Kräften. Zu sagen »aber gerade dies Verhältnis bleibt sich gleich!« heißt nichts anderes als: »ein und dieselbe Kraft kann nicht auch eine andere Kraft sein«. – Es handelt sich nicht um ein Nacheinander, – sondern um ein Ineinander, einen Prozeß, in dem die einzelnen sich folgenden Momente nicht als Ursache und Wirkung sich bedingen .... Die Trennung des »Tuns« vom »Tuenden«, des Geschehens von einem, der geschehen macht, des Prozesses von einem Etwas, das nicht Prozeß, sondern dauernd, Substanz, Ding, Körper, Seele usw. ist, – der Versuch, das Geschehen zu begreifen als eine Art Verschiebung und Stellungs-Wechsel von »Seiendem«, von Bleibendem: diese alte Mythologie hat den Glauben an »Ursache und Wirkung« festgestellt, nachdem er in den sprachlich-grammatischen Funktionen eine feste Form gefunden hatte.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 425-426

„Die »Regelmäßigkeit« der Aufeinanderfolge ist nur ein bildlicher Ausdruck, wie als ob hier eine Regel befolgt werde: kein Tatbestand. Ebenso »Gesetzmäßigkeit«. Wir finden eine Formel, um eine immer wiederkehrende Art der Folge auszudrücken: damit haben wir kein »Gesetz« entdeckt, noch weniger eine Kraft, welche die Ursache zur Wiederkehr von Folgen ist. Daß etwas immer so und so geschieht, wird hier interpretiert, als ob ein Wesen infolge eines Gehorsams gegen ein Gesetz oder einen Gesetzgeber immer so und so handelte: während es, abgesehen vom »Gesetz«, Freiheit hätte, anders zu handeln. Aber gerade jenes So-und-nicht-anders könnte aus dem Wesen selbst stammen, das nicht in Hinsicht erst auf ein Gesetz sich so und so verhielte, sondern als so und so beschaffen. Es heißt nur: etwas kann nicht auch etwas anderes sein, kann nicht bald dies, bald anderes tun, ist weder frei noch unfrei, sondern eben so und so. Der Fehler steckt in der Hineindichtung eines Subjekts.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 426

„Zwei aufeinanderfolgende Zustände, der eine »Ursache«, der andere »Wirkung« –: ist falsch. Der erste Zustand hat nichts zu bewirken, den zweiten hat nichts bewirkt. Es handelt sich um einen Kampf zweier an Macht ungleichen Elemente: es wird ein Neu-Arrangement der Kräfte erreicht, je nach dem Maß von Macht eines jeden. Der zweite Zustand ist etwas Grundverschiedenes vom ersten (nicht dessen Wirkung): das Wesentliche ist, daß die im Kampf befindlichen Faktoren mit anderen Machtquanten herauskommen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 426-427

Kritik des Mechanismus. – Entfernen wir hier die zwei populären Begriffe »Notwendigkeit« und »Gesetz«: das erste legt einen falschen Zwang, das zweite eine falsche Freiheit in die Welt. »Die Dinge« betragen sich nicht regelmäßig, nicht nach einer Regel: es gibt keine Dinge (– das ist unsre Fiktion); sie betragen sich ebensowenig unter einem Zwang von Notwendigkeit. Hier wird nicht gehorcht: denn daß etwas so ist, wie es ist, so stark, so schwach, das ist nicht die Folge eines Gehorchens oder einer Regel oder eines Zwanges .... Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht – darum handelt es sich bei allem Geschehen: wenn wir, zu unserm Handgebrauch der Berechnung, das in Formeln und »Gesetzen« auszudrücken wissen, um so besser für uns! Aber wir haben damit keine »Moralität« in die Welt gelegt, daß wir sie als gehorsam fingieren –. Es gibt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz. Gerade, daß es kein Anderskönnen gibt, darauf beruht die Berechenbarkeit. Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt, und die, der es widersteht, bezeichnet. Es fehlt die Adiaphorie: die an sich denkbar wäre. Es ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigung zu wehren. Nicht Selbsterhaltung: jedes Atom wirkt in das ganze Sein hinaus – es ist weggedacht, wenn man diese Strahlung von Machtwillen wegdenkt. Deshalb nenne ich es ein Quantum »Wille zur Macht«: damit ist der Charakter ausgedrückt, der aus der mechanischen Ordnung nicht weggedacht werden kann, ohne sie selbst wegzudenken. Eine Übersetzung dieser Welt von Wirkung in eine sichtbare Welt – eine Welt fürs Auge – ist der Begriff »Bewegung«. Hier ist immer subintelligiert, daß etwas bewegt wird – hierbei wird, sei es nun in der Fiktion eines Klümpchen-Atoms oder selbst von dessen Abstraktion, dem dynamischen Atom, immer noch ein Ding gedacht, welches wirkt – d.h. wir sind aus der Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten. Subjekt, Objekt, ein Täter zum Tun, das Tun und das, was es tut, gesondert: vergessen wir nicht, daß dies eine bloße Semiotik und nichts Reales bezeichnet. Die Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Übersetzung in die Sinnensprache des Menschen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 427-428

„Wir haben »Einheiten« nötig, um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten gibt. Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von unserm »Ich«-Begriff – unserm ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff »Ding« gebildet. Jetzt, ziemlich spät, sind wir reichlich davon überzeugt, daß unsre Konzeption des Ich-Begriffs nichts für eine reale Einheit verbürgt. Wir haben also, um die mechanistische Welt theoretisch aufrechtzuerhalten, immer die Klausel zu machen, inwiefern wir sie mit zwei Fiktionen durchführen: dem Begriff der Bewegung (aus unsrer Sinnensprache genommen) und dem Begriff des Atoms (= Einheit, aus unsrer psychischen »Erfahrung« herstammend): – sie hat ein Sinnen-Vorurteil und ein psychologisches Vorurteil zu ihrer Voraussetzung. Die Mechanik formuliert Folgeerscheinungen, noch dazu semiotisch, in sinnlichen und psychologischen Ausdrucksmitteln (daß alle Wirkung Bewegung ist; daß wo Bewegung ist, etwas bewegt wird): sie berührt die ursächliche Kraft nicht. Die mechanistische Welt ist so imaginiert, wie das Auge und das Getast sich allein eine Welt vorstellen (als »bewegt«), – so, daß sie berechnet werden kann, – daß ursächliche Einheiten fingiert sind, »Dinge« (Atome), deren Wirkung konstant bleibt (– Übertragung des falschen Subjektbegriffs auf den Atombegriff).Phänomenal ist also: die Einmischung des Zahlbegriffs, des Dingbegriffs (Subjektbegriffs), des Tätigkeitsbegriffs (Trennung von Ursache-sein und Wirken), des Bewegungsbegriffs: wir haben unser Auge, unsre Psychologie immer noch darin. Eliminieren wir diese Zutaten, so bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen andern dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältnis zu allen andern Quanten besteht, in ihrem »Wirken« auf dieselben. Der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos – ist die elementarste Tatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergibt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 428-429

„Die Physiker glauben an eine »wahre Welt« auf ihre Art: eine feste, für alle Wesen gleiche Atom-Systematisation in notwendigen Bewegungen – so daß für sie die »scheinbare Welt« sich reduziert auf die jedem Wesen nach seiner Art zugängliche Seite des allgemeinen und allgemein notwendigen Seins (zugänglich und auch noch zurechtgemacht – »subjektiv« ge macht). Aber damit verirren sie sich. Das Atom, das sie ansetzen, ist erschlossen nach der Logik jenes Bewußtseins-Perspektivismus – ist somit auch selbst eine subjektive Fiktion. Dieses Weltbild, das sie entwerfen, ist durchaus nicht wesensverschieden von dem Subjektiv-Weltbild: es ist nur mit weitergedachten Sinnen konstruiert, aber durchaus mit unsern Sinnen .... Und zuletzt haben sie in der Konstellation etwas ausgelassen, ohne es zu wissen: eben den notwendigen Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftzentrum – und nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze übrige Welt konstruiert, d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet .... Sie haben vergessen, diese Perspektiven-setzende Kraft in das »wahre Sein« einzurechnen – in der Schulsprache geredet: das Subjekt-sein. Sie meinen, dies sei »entwickelt«, hinzugekommen; – aber noch der Chemiker braucht es: es ist ja das Spezifisch-Sein, das bestimmt So-und-so-Agieren und -Reagieren, je nachdem. Der Perspektivismus ist nur eine komplexe Form der Spezifität. Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper danach strebt, über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen (– sein Wille zur Macht:) und alles das zurückzustoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt. Aber er stößt fortwährend auf gleiche Bestrebungen andrer Körper und endet, sich mit denen zu arrangieren (»vereinigen«), welche ihm verwandt genug sind: – so konspirieren sie dann zusammen zur Macht. Und der Prozeß geht weiter ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 427-428

„Auch im Reiche des Unorganischen kommt für ein Kraft-Atom nur seine Nachbarschaft in Betracht: die Kräfte in der Ferne gleichen sich aus. Hier steckt der Kern des Perspektivischen und warum ein lebendiges Wesen durch und durch »egoistisch« ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 428-429

„Gesetzt, die Welt verfügte über ein Quantum von Kraft, so liegt auf der Hand, daß jede Macht-Verschiebung an irgendeiner Stelle das ganze System bedingt – also neben der Kausalität hintereinander wäre eine Abhängigkeit neben– und miteinander gegeben“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 429-430

„Die einzige Möglichkeit, einen Sinn für den Begriff »Gott« aufrechtzuerhalten, wäre: Gott nicht als treibende Kraft, sondern Gott als Maximal-Zustand, als eine Epoche –: ein Punkt in der Entwicklung des Willens zur Macht: aus dem sich ebensosehr die Weiterentwicklung als das Vorher, das Bis-zu-ihm erklärte. Mechanistisch betrachtet, bleibt die Energie des Gesamt-Werdens konstant; ökonomisch betrachtet, steigt sie bis zu einem Höhepunkt und sinkt von ihm wieder herab in einem ewigen Kreislauf. Dieser »Wille zur Macht« drückt sich in der Ausdeutung, in der Art des Kraftverbrauchs aus: – Verwandlung der Energie in Leben und »Leben in höchster Potenz« erscheint demnach als Ziel. Dasselbe Quantum Energie bedeutet auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung verschiedenes. Das, was das Wachstum im Leben ausmacht, ist die immer sparsamer und weiter rechnende Ökonomie, welche mit immer weniger Kraft immer mehr erreicht .... Als Ideal das Prinzip des kleinsten Aufwandes .... Daß die Welt nicht auf einen Dauerzustand hinauswill, ist das einzige, was bewiesen ist. Folglich muß man ihren Höhezustand so ausdenken, daß er kein Gleichgewichtszustand ist .... Die absolute Nezessität des gleichen Geschehens in einem Weltlauf, wie in allen übrigen, ist in Ewigkeit nicht ein Determinismus über dem Geschehen, sondern bloß der Ausdruck dessen, daß das Unmögliche nicht möglich ist; daß eine bestimmte Kraft nichts anderes sein kann als eben diese bestimmte Kraft; daß sie sich an einem Quantum Kraft- Widerstand nicht anders ausläßt, als ihrer Stärke gemäß ist; – Geschehen und Notwendig-Geschehen ist eine Tautologie.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 431-432

„»Leben« wäre zu definieren als eine dauernde Form von Prozessen der Kraftfeststellung, wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits zugleich wachsen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 433

„Der Wille zur Macht interpretiert (– bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation): er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsenwollendes Etwas da sein, das jedes andre wachsen-wollende Etwas auf seinen Wert hin interpretiert. Darin gleich – – In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden. (Der organische Prozeß setzt fortwährend Interpretieren voraus.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 433

„Die größte Kompliziertheit, die scharfe Abscheidung, das Nebeneinander der ausgebildeten Organe und Funktionen, mit Verschwinden der Mittelglieder – wenn das Vollkommenheit ist, so ergibt sich ein Wille zur Macht im organischen Prozeß, vermöge deren herrschaftliche, gestaltende, befehlende Kräfte immer das Gebiet ihrer Macht mehren und innerhalb desselben immer wieder vereinfachen: der Imperativ wachsend. Der »Geist« ist nur ein Mittel und Werkzeug im Dienst des höheren Lebens, der Erhöhung des Lebens.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 434

Gegen den Darwinismus. – Der Nutzen eines Organs erklärt nicht seine Entstehung, im Gegenteil! Die längste Zeit, während deren eine Eigenschaft sich bildet, erhält sie das Individuum nicht und nützt ihm nicht, am wenigsten im Kampf mit äußeren Umständen und Feinden. Was ist zuletzt »nützlich«? Man muß fragen »in bezug worauf nützlich?« Z.B. was der Dauer des Individuums nützt, könnte seiner Stärke und Pracht ungünstig sein; was das Individuum erhält, könnte es zugleich festhalten und stillstellen in der Entwicklung. Andererseits kann ein Mangel, eine Entartung vom höchsten Nutzen sein, insofern sie als Stimulans anderer Organe wirkt. Ebenso kann eine Notlage Existenzbedingung sein, insofern sie ein Individuum auf das Maß herunterschraubt, bei dem es zusammenhält und sich nicht vergeudet. – Das Individuum selbst als Kampf der Teile (um Nahrung, Raum usw.): seine Entwicklung geknüpft an ein Siegen, Vorherrschen einzelner Teile, an ein Verkümmern, »Organwerden« anderer Teile. Der Einfluß der »äußeren Umstände« ist bei Darwin ins Unsinnige überschätzt: das Wesentliche am Lebensprozeß ist gerade die ungeheure gestaltende, von innen her formenschaffende Gewalt, welche die »äußeren Umstände« ausnützt, ausbeutet –. Die von innen her gebildeten neuen Formen sind nicht auf einen Zweck hin geformt; aber im Kampf der Teile wird eine neue Form nicht lange ohne Beziehung zu einem partiellen Nutzen stehen und dann, dem Gebrauche nach, sich immer vollkommener ausgestalten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 435-436

„»Nützlich« in bezug auf die Beschleunigung des Tempos der Entwicklung ist ein anderes »Nützlich« als das in bezug auf möglichste Feststellung und Dauerhaftigkeit des Entwickelten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 436

„»Nützlich« im Sinne der darwinistischen Biologie – das heißt: im Kampf mit anderen sich als begünstigend erweisend. Aber mir scheint schon das Mehrgefühl, das Gefühl des Stärker-werdens, ganz abgesehen vom Nutzen im Kampf, der eigentliche Fortschritt: aus diesem Gefühle entspringt erst der Wille zum Kampf“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 436

„Die Physiologen sollten sich besinnen, den »Erhaltungstrieb« als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen: die »Erhaltung« ist nur eine der Konsequenzen davon. – Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Prinzipien! Und dahin gehört der ganze Begriff »Erhaltungstrieb«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 436

„Man kann die unterste und ursprünglichste Tätigkeit im Protoplasma nicht aus einem Willen zur Selbsterhaltung ableiten, denn es nimmt auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein, als die Erhaltung bedingen würde: und vor allem, es »erhält sich« damit nicht, sondern zerfällt .... Der Trieb, der hier waltet, hat gerade dieses Sich-nicht-erhalten-wollen zu erklären: »Hunger« ist schon eine Ausdeutung, nach ungleich komplizierteren Organismen (– Hunger ist eine spezialisierte und spätere Form des Triebes, ein Ausdruck der Arbeitsteilung, im Dienst eines darüber waltenden höheren Triebes).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 436-437

„Es ist nicht möglich, den Hunger als primum mobile zu nehmen, ebenso wenig als die Selbsterhaltung. Der Hunger als Folge der Unterernährung aufgefaßt, heißt: der Hunger als Folge eines nicht mehr Herr werdenden Willens zur Macht. Es handelt sich durchaus nicht um eine Wiederherstellung eines Verlustes – erst spät, infolge Arbeitsteilung, nachdem der Wille zur Macht ganz andre Wege zu seiner Befriedigung einschlagen lernte, wird das Aneignungsbedürfnis des Organismus reduziert auf den Hunger, auf das Wiederersatzbedürfnis des Verlorenen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 437

„Der Trieb, sich anzunähern, – und der Trieb, etwas zurückzustoßen, sind in der unorganischen wie organischen Welt das Band. Die ganze Scheidung ist ein Vorurteil. Der Wuille zur Macht in jeder Jraft-Kombination, sich wehrend gegen das Stärkere, losstürzend auf das Schwächere, ist richtiger. NB. Die Prozesse als »Wesen«.
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 438

„Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht also nach dem, was ihm widersteht, – dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasmas, wenn es Pseudopodien ausstreckt und um sich tastet. Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in den Machtbereich des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat. – Gelingt diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweiheit erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander (unter Umständen ohne seine Verbindung untereinander völlig aufzugeben). »Hunger« ist nur eine engere Anpassung, nachdem der Grundtrieb nach Macht geistigere Gestalt gewonnen hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 438

Der Leib als Herrschaftsgebilde. – Die Aristokratie im Leibe, die Mehrheit der Herrschenden (Kampf der Zellen und Gewebe). Die Sklaverei und die Arbeitsteilung: der höhere Typus nur möglich durch Herunterdrückung eines niederen auf eine Funktion. Lust und Schmerz kein Gegensatz. Das Gefühl der Macht. »Ernährung« nur eine Konsequenz der unersättlichen Aneignung, des Willens zur Macht. Die »Zeugung«, der Zerfall eintretend bei der Ohnmacht der herrschenden Zellen, das Angeeignete zu organisieren. Die gestaltende Kraft ist es, die immer neuen »Stoff« (noch mehr »Kraft«) vorrätig haben will. Das Meisterstück des Aufbaus eines Organismus aus dem Ei. »Mechanistische Auffassung«: will nichts als Quantitäten: aber die Kraft steckt in der Qualität. Die Mechanistik kann also nur Vorgänge beschreiben, nicht erklären. Der »Zweck«. Auszugehen von der »Sagazität« der Pflanzen. Begriff der »Vervollkommnung«: nicht nur größere Kompliziertheit, sondern größere Macht (– braucht nicht nur größere Masse zu sein –). Schluß auf die Entwicklung der Menschheit: die Vervollkommnung besteht in der Hervorbringung der mächtigsten Individuen, zu deren Werkzeug die größte Menge gemacht wird (und zwar als intelligentestes und beweglichstes Werkzeug).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 438-439

Am Leitfaden des Leibes. – Gesetzt, daß die »Seele« ein anziehender und geheimnisvoller Gedanke war, von dem sich die Philosophen mit Recht nur widerstrebend getrennt haben – vielleicht ist das, was sie nunmehr dagegen einzutauschen lernen, noch anziehender, noch geheimnisvoller. Der menschliche Leib, an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch, über den hinweg und hinaus ein ungeheurer, unhörbarer Strom zu fließen scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte »Seele«. Es ist zu allen Zeiten besser an den Leib als an unseren eigentlichsten Besitz, unser gewissestes Sein, kurz unser ego geglaubt worden als an den Geist (oder die »Seele« oder das Subjekt, wie die Schulsprache jetzt statt Seele sagt). Niemand kam je auf den Einfall, seinen Magen als einen fremden, etwa einen göttlichen Magen zu verstehen: aber seine Gedanken als »eingegeben«, seine Wertschätzungen als »von einem Gott eingeblasen«, seine Instinkte als Tätigkeit im Dämmern zu fassen – für diesen Hang und Geschmack des Menschen gibt es aus allen Altern der Menschheit Zeugnisse. Noch jetzt ist, namentlich unter Künstlern, eine Art Verwunderung und ehrerbietiges Aushängen der Entscheidung reichlich vorzufinden, wenn sich ihnen die Frage vorlegt, wodurch ihnen der beste Wurf gelungen und aus welcher Welt ihnen der schöpferische Gedanke gekommen ist: sie haben, wenn sie dergestalt fragen, etwas wie Unschuld und kindliche Scham dabei, sie wagen es kaum zu sagen: »Das kam von mir, das war meine Hand, die die Würfel warf.« – Umgekehrt haben selbst jene Philosophen und Religiösen, welche den zwingendsten Grund in ihrer Logik und Frömmigkeit hatten, ihr Leibliches als Täuschung (und zwar als überwundene und abgetane Täuschung) zu nehmen, nicht umhin gekonnt, die dumme Tatsächlichkeit anzuerkennen, daß der Leib nicht davongegangen ist: worüber die seltsamsten Zeugnisse teils bei Paulus, teils in der Vedânta- Philosophie zu finden sind. Aber was bedeutet zuletzt Stärke des Glaubens? Deshalb könnte es immer noch ein sehr dummer Glaube sein! – Hier ist nachzudenken: – Und zuletzt, wenn der Glaube an den Leib nur die Folge eines Schlusses ist: gesetzt, es wäre ein falscher Schluß, wie die Idealisten behaupten, ist es nicht ein Fragezeichen an der Glaubwürdigkeit des Geistes selber, daß er dergestalt die Ursache falscher Schlüsse ist? Gesetzt, die Vielheit, und Raum und Zeit und Bewegung (und was alles die Voraussetzungen eines Glaubens an Leiblichkeit sein mögen) wären Irrtümer – welches Mißtrauen würde dies gegen den Geist erregen, der uns zu solchen Voraussetzungen veranlaßt hat? Genug, der Glaube an den Leib ist einstweilen immer noch ein stärkerer Glaube als der Glaube an den Geist; und wer ihn untergraben will, untergräbt eben damit am gründlichsten auch den Glauben an die Autorität des Geistes!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 440-441

„Warum alle Tätigkeit, auch die eines Sinnes, mit Lust verknüpft ist? Weil vorher eine Hemmung, ein Druck bestand? Oder vielmehr weil alles Tun ein Überwinden, ein Herrwerden ist und Vermehrung des Machtgefühls gibt? – Die Lust im Denken. – Zuletzt ist es nicht nur das Gefühl der Macht, sondern die Lust an dem Schaffen und am Geschaffenen: denn alle Tätigkeit kommt uns ins Bewußtsein als Bewußtsein eines »Werks«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 441-442

„Schaffen – als Auswählen und Fertig-machen des Gewählten. (Bei jedem Willensakte ist dies das Wesentliche.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 442

„Alles Geschehen aus Absichten ist reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 443

„Die Wissenschaft fragt nicht, was uns zum Wollen trieb: sie leugnet vielmehr, daß gewollt worden ist, und meint, daß etwas ganz anderes geschehen sei – kurz, daß der Glaube an »Wille« und »Zweck« eine Illusion sei.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 446

„Lust und Unlust sind immer Schlußphänomene, keine »Ursachen«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 448

„Ich erkannte die aktive Kraft, das Schaffende inmitten des Zufälligen: – Zufall ist selber nur das Aufeinanderstoßen der schaffenden Impulse.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 450

„In der ungeheuren Vielheit des Geschehens innerhalb eines Organismus ist der uns bewußt werdende Teil ein bloßes Mittel: und das bißchen »Tugend«, »Selbstlosigkeit« und ähnliche Fiktionen werden auf eine vollkommen radikale Weise vom übrigen Gesamtgeschehen aus Lügen gestraft. Wir tun gut, unseren Organismus in seiner vollkommenen Unmoralität zu studieren .... Die animalischen Funktionen sind ja prinzipiell millionenfach wichtiger als alle schönen Zustände und Bewußtseins-Höhen: letztere sind ein Überschuß, soweit sie nicht Werkzeuge sein müssen für jene animalischen Funktionen. Das ganze bewußte Leben, der Geist samt der Seele, samt dem Herzen, samt der Güte, samt der Tugend: in wessen Dienst arbeitet es denn? In dem möglichster Vervollkommnung der Mittel (Ernährungs-, Steigerungsmittel) der animalischen Grundfunktionen: vor allem der Lebenssteigerung. Es liegt so unsäglich viel mehr an dem, was man »Leib« und »Fleisch« nannte: der Rest ist ein kleines Zubehör. Die Aufgabe, die ganze Kette des Lebens fortzuspinnen, und so, daß der Faden immer mächtiger wird – das ist die Aufgabe. Aber nun sehe man, wie Herz, Seele, Tugend, Geist förmlich sich verschwören, diese prinzipielle Aufgabe zu verkehren: wie als ob sie die Ziele wären! Die Entartung des Lebens ist wesentlich bedingt durch die außerordentliche Irrtumsfähigkeit des Bewußtseins: es wird am wenigsten durch Instinkte in Zaum gehalten und vergreift sich deshalb am längsten und gründlichsten. Nach den angenehmen oder unangenehmen Gefühlen dieses Bewußtseins abmessen, ob das Dasein Wert hat: kann man sich eine tollere Ausschweifung der Eitelkeit denken? Es ist ja nur ein Mittel: – und angenehme oder unangenehme Gefühle sind ja auch nur Mittel! Woran mißt sich objektiv der Wert? Allein an dem Quantum gesteigerter und organisierter Macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 450-451

Wert alles Abwertens. – Meine Forderung ist, daß man den Täter wieder in das Tun hineinnimmt, nachdem man ihn begrifflich aus ihm herausgezogen und damit das Tun entleert hat; daß man das Etwas-tun, das »Ziel«, die »Absicht«, daß man den »Zweck« wieder in das Tun zurücknimmt, nachdem man ihn künstlich aus ihm herausgezogen und damit das Tun entleert hat. Alle »Zwecke«, »Ziele«, »Sinne« sind nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des einen Willens, der allem Geschehen inhäriert: des Willens zur Macht. Zwecke-, Ziele-, Absichten-haben, Wollen überhaupt, ist so viel wie Stärker-werden-wollen, Wachsen-wollen – und dazu auch die Mittel wollen. Der allgemeinste und unterste Instinkt in allem Tun und Wollen ist eben deshalb der unerkannteste und verborgenste geblieben, weil in praxi wir immer seinem Gebote folgen, weil wir dies Gebot sind .... Alle Wertschätzungen sind nur Folgen und engere Perspektiven im Dienste dieses einen Willens: das Wertschätzen selbst ist nur dieser Wille zur Macht. Eine Kritik des Seins aus irgendeinem dieser Werte heraus ist etwas Widersinniges und Mißverständliches. Gesetzt selbst, daß sich darin ein Untergangsprozeß einleitet, so steht dieser Prozeß noch im Dienste dieses Willens. Das Sein selbst abschätzen! Aber das Abschätzen selbst ist dieses Sein noch! – und indem wir nein sagen, tun wir immer noch, was wir sind. Man muß die Absurdität dieser daseinsrichtenden Gebärde einsehn; und sodann noch zu erraten suchen, was sich eigentlich damit begibt. Es ist symptomatisch.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 451-452

„Es ist zu zeigen, wie sehr alles Bewußte auf der Oberfläche bleibt: wie Handlung und Bild der Handlung verschieden ist, wie wenig man von dem weiß, was einer Handlung vorhergeht: wie phantastisch unsere Gefühle »Freiheit des Willens«, »Ursache und Wirkung« sind: wie Gedanken und Bilder, wie Worte nur Zeichen von Gedanken sind: die Unergründlichkeit jeder Handlung: die Oberflächlichkeit alles Lobens und Tadelns: wie wesentlich Erfindung und Einbildung ist, worin wir bewußt leben: wie wir in allen unsern Worten von Erfindungen reden (Affekte auch), und wie die Verbindung der Menschheit auf einem Überleiten und Fortdichten dieser Erfindungen beruht: während im Grunde die wirkliche Verbindung (durch Zeugung) ihren unbekannten Weg geht“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 453-454

„Die Individuation, vom Standpunkt der Abstammungstheorie beurteilt, zeigt das beständige Zerfallen von eins in zwei und das ebenso beständige Vergehen der Individuen auf den Gewinn von wenig Individuen, die die Entwicklung fortsetzen: die übergroße Masse stirbt jedesmal ab (»der Leib«). Das Grundphänomen: unzählige Individuen geopfert um weniger willen: als deren Ermöglichung. – Man muß sich nicht täuschen lassen: ganz so steht es mit den Völkern und Rassen: sie bilden den »Leib« zur Erzeugung von einzelnen wertvollen Individuen, die den großen Prozeß fortsetzen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 457

„Gegen die Theorie, daß das einzelne Individuum den Vorteil der Gattung, seiner Nachkommenschaft im Auge hat, auf Unkosten des eigenen Vorteils: das ist nur Schein. Die ungeheure Wichtigkeit, mit der das Individuum den geschlechtlichen Instinkt nimmt, ist nicht eine Folge von dessen Wichtigkeit für die Gattung, sondern das Zeugen ist die eigentliche Leistung des Individuums und sein höchstes Interesse folglich, seine höchste Machtäußerung (natürlich nicht vom Bewußtsein aus beurteilt, sondern von dem Zentrum der ganzen Individuation).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 457-458

Grundirrtümer der bisherigen Biologen: es handelt sich nicht um die Gattung, sondern um stärker auszuwirkende Individuen. (Die Vielen sind nur Mittel.) Das Leben ist nicht Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der von innen her immer mehr »Äußeres« sich unterwirft und einverleibt. Diese Biologen setzen die moralischen Wertschätzungen fort (– der »an sich höhere Wert des Altruismus«, die Feindschaft gegen die Herrschsucht, gegen den Krieg, gegen die Unnützlichkeit, gegen die Rang-und Ständeordnung).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 458

„Mit der moralischen Herabwürdigung des ego geht auch noch, in der Naturwissenschaft, eine Überschätzung der Gattung Hand in Hand. Aber die Gattung ist etwas ebenso Illusorisches wie das ego: man hat eine falsche Distinktion gemacht. Das ego ist hundertmal mehr als bloß eine Einheit in der Kette von Gliedern; es ist die Kette selbst, ganz und gar; und die Gattung ist eine bloße Abstraktion aus der Vielheit dieser Ketten und deren partieller Ähnlichkeit. Daß, wie so oft behauptet worden ist, das Individuum der Gattung geopfert wird, ist durchaus kein Tatbestand: vielmehr nur das Muster einer fehlerhaften Interpretation.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 458

„Man rechnet auf den Kampf um die Existenz, den Tod der schwächlichen Wesen und das Überleben der Robustesten und Bestbegabten; folglich imaginiert man ein beständiges Wachstum der Vollkommenheit für die Wesen. Wir haben uns umgekehrt versichert, daß, in dem Kampf um das Leben, der Zufall den Schwachen so gut dient, wie den Starken; daß die List die Kraft oft mit Vorteil suppliert; daß die Fruchtbarkeit der Gattungen in einem merkwürdigen Rapport zu den Chancen der Zerstörung steht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 459

Anti-Darwin. – Die Domestikation des Menschen: welchen definitiven Wert kann sie haben? oder hat überhaupt eine Domestikation einen definitiven Wert? – Man hat Gründe, dies letztere zu leugnen. Die Schule Darwins macht zwar große Anstrengung, uns zum Gegenteil zu überreden: sie will, daß die Wirkung der Domestikation tief, ja fundamental werden kann. Einstweilen halten wir am Alten fest: es hat sich nichts bisher bewiesen, als eine ganz oberflächliche Wirkung durch Domestikation – oder aber die Degenereszenz. Und alles, was der menschlichen Hand und Züchtung entschlüpft, kehrt fast sofort wieder in seinen Natur-Zustand zurück. Der Typus bleibt konstant: man kann nicht »dénaturer la nature«. Man rechnet auf den Kampf um die Existenz, den Tod der schwächlichen Wesen und das Überleben der Robustesten und Bestbegabten; folglich imaginiert man ein beständiges Wachstum der Vollkommenheit für die Wesen. Wir haben uns umgekehrt versichert, daß, in dem Kampf um das Leben, der Zufall den Schwachen so gut dient, wie den Starken; daß die List die Kraft oft mit Vorteil suppliert; daß die Fruchtbarkeit der Gattungen in einem merkwürdigen Rapport zu den Chancen der Zerstörung steht.
Man teilt der natürlichen Selektion zugleich langsame und unendliche Metamorphosen zu: man will glauben, daß jeder Vorteil sich vererbt und sich in abfolgenden Geschlechtern immer stärker ausdrückt (während die Erblichkeit so kapriziös ist...); man betrachtet die glücklichen Anpassungen gewisser Wesen an sehr besondere Lebensbedingungen und man erklärt, daß sie durch den Einfluß des Milieus erlangt seien. Man findet aber Beispiele der unbewußten Selektion nirgendswo (ganz und gar nicht). Die disparatesten Individuen einigen sich, die extremen mischen sich in die Masse. Alles konkurriert, seinen Typus aufrechtzuerhalten; Wesen, die äußere Zeichen haben, die sie gegen gewisse Gefahren schützen, verlieren dieselben nicht, wenn sie unter Umstände kommen, wo sie ohne Gefahr leben. Wenn sie Orte bewohnen, wo das Kleid aufhört, sie zu verbergen, nähern sie sich keineswegs dem Milieu an.
Man hat die Auslese der Schönsten in einer Weise übertrieben, wie sie weit über den Schönheitstrieb unsrer eignen Rasse hinausgeht! Tatsächlich paart sich das Schönste mit sehr enterbten Kreaturen, das Größte mit dem Kleinsten. Fast immer sehen wir Männchen und Weibchen von jeder zufälligen Begegnung profitieren und sich ganz und gar nicht wählerisch zeigen. – Modifikation durch Klima und Nahrung: – aber in Wahrheit gleichgültig.
Man behauptet die wachsende Entwicklung der Wesen. Es fehlt jedes Fundament. Jeder Typus hat seine Grenze: über diese hinaus gibt es keine Entwicklung. Bis dahin absolute Regelmäßigkeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 459-460

Meine Gesamtansicht. –
Erster Satz: der Mensch als Gattung ist nicht im Fortschritt. Höhere Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht gehoben.
Zweiter Satz: der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgendeinem andern Tier dar. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum Höheren .... Sondern alles zugleich, und übereinander und durcheinander und gegeneinander. Die reichsten und komplexesten Formen – denn mehr besagt das Wort »höherer Typus« nicht – gehen leichter zugrunde: nur die niedrigsten halten eine scheinbare Unvergänglichkeit fest. Erstere werden selten erreicht und halten sich mit Not oben: letztere haben eine kompromittierende Fruchtbarkeit für sich. – Auch in der Menschheit gehen unter wechselnder Gunst und Ungunst die höheren Typen, die Glücksfälle der Entwicklung, am leichtesten zugrunde. Sie sind jeder Art von décadence ausgesetzt: sie sind extrem, und damit selbst beinahe schon décadents .... Die kurze Dauer der Schönheit, des Genies, des Cäsar ist sui generis: dergleichen vererbt sich nicht. Der Typus vererbt sich; ein Typus ist nichts Extremes, kein »Glücksfall« .... Das liegt an keinem besonderen Verhängnis und »bösen Willen« der Natur, sondern einfach am Begriff »höherer Typus«: der höhere Typus stellt eine unvergleichlich größere Komplexität – eine größere Summe koordinierter Elemente dar: damit wird auch die Disgregation unvergleichlich wahrscheinlicher. Das »Genie« ist die sublimste Maschine, die es gibt – folglich die zerbrechlichste.
Dritter Satz: die Domestikation (die »Kultur«) des Menschen geht nicht tief .... Wo sie tief geht, ist sie sofort die Degenereszenz (Typus: der Christ). Der »wilde« Mensch (oder, moralisch ausgedrückt: der böse Mensch) ist eine Rückkehr zur Natur – und, in gewissem Sinne, seine Wiederherstellung, seine Heilung von der »Kultur« ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 460-461

Anti-Darwin. – Was mich beim Überblick über die großen Schicksale des Menschen am meisten überrascht, ist, immer das Gegenteil vor Augen zu sehn von dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will: die Selektion zugunsten der Stärkeren, Besser-Weg-gekommenen, den Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegenteil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der Glücksfälle, die Unnützlichkeit der höher geratenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden der mittleren, selbst der unter-mittleren Typen. Gesetzt, daß man uns nicht den Grund aufzeigt, warum der Mensch die Ausnahme unter den Kreaturen ist, neige ich zum Vorurteil, daß die Schule Darwins sich überall getäuscht hat. Jener Wille zur Macht, in dem ich den letzten Grund und Charakter aller Veränderung wiedererkenne, gibt uns das Mittel an die Hand, warum gerade die Selektion zugunsten der Ausnahmen und Glücksfälle nicht statthat: die Stärksten und Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisierte Herdeninstinkte, wenn sie die Furchtsamkeit der Schwachen, die Überzahl gegen sich haben. Mein Gesamtaspekt der Welt der Werte zeigt, daß in den obersten Werten, die über der Menschheit heute aufgehängt sind, nicht die Glücksfälle, die Selektions-Typen, die Oberhand haben: vielmehr die Typen der décadence, – vielleicht gibt es nichts Interessanteres in der Welt, als dieses unerwünschte Schauspiel .... So seltsam es klingt: man hat die Starken immer zu beweisen gegen die Schwachen; die Glücklichen gegen die Mißglückten; die Gesunden gegen die Verkommenden und Erblich/Belasteten. Will man die Realität zur Moral formulieren, so lautet diese Moral: die Mittleren (ich glaube, es sind sogar die Unteren! Anm HB) sind mehr wert, als die Ausnahmen; die décadence-Gebilde mehr als die Mittleren; der Wille zum Nichts hat die Oberhand über den Willen zum Leben – und das Gesamtziel ist, nun, christlich, buddhistisch, schopenhauerisch ausgedrückt: »besser nicht sein, als sein.« Gegen die Formulierung der Realität zur Moral empöre ich mich: deshalb perhorresziere ich das Christentum mit einem tödlichen Haß, weil es die sublimen Worte und Gebärden schuf, um einer schauderhaften Wirklichkeit den Mantel des Rechts, der Tugend, der Göttlichkeit zu geben .... Ich sehe alle Philosophen, ich sehe die Wissenschaft auf den Knien vor der Realität vom umgekehrten Kampf ums Dasein, als ihn die Schule Darwins lehrt, – nämlich ich sehe überall die obenauf, die übrigbleibend, die das Leben, den Wert des Lebens kompromittieren. – Der Irrtum der Schule Darwins wurde mir zum Problem: wie kann man blind sein, um gerade hier falsch zu sehen? Daß die Gattungen einen Fortschritt darstellen, ist die unvernünftigste Behauptung von der Welt: einstweilen stellen sie ein Niveau dar. Daß die höheren Organismen aus den niederen sich entwickelt hätten, ist durch keinen Fall bisher bezeugt.
Ich sehe, daß die niederen durch die Menge, durch die Klugheit, durch die List im Übergewicht sind, – ich sehe nicht, wie eine zufällige Veränderung einen Vorteil abgibt, zum mindesten nicht für eine so lange Zeit: diese wäre wieder ein neues Motiv, zu erklären, warum eine zufällige Veränderung derartig stark geworden ist.
Ich finde die »Grausamkeit der Natur«, von der man so viel redet, an einer andern Stelle: sie ist grausam gegen ihre Glückskinder, sie schont und schützt und liebt les humbles.
In summa: das Wachstum der Macht einer Gattung ist durch die Präponderanz ihrer Glückskinder, ihrer Starken vielleicht weniger garantiert, als durch die Präponderanz der mittleren und niederen Typen .... In letzteren ist die große Fruchtbarkeit, die Dauer; mit ersteren wächst die Gefahr, die rasche Verwüstung, die schnelle Zahl-Verminderung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 462-464

„Der bisherige Mensch – gleichsam ein Embryo des Menschen der Zukunft; – alle gestaltenden Kräfte, die auf diesen hinzielen, sind in ihm: und weil sie ungeheuer sind, so entsteht für das jetzige Individuum, je mehr es zukunftbestimmend ist, Leiden. Dies ist die tiefste Auffassung des Leidens: die gestaltenden Kräfte stoßen sich. – Die Vereinzelung des Individuums darf nicht täuschen – in Wahrheit fließt etwas fort unter den Individuen. Daß es sich einzeln fühlt, ist der mächtigste Stachel im Prozesse selber nach fernsten Zielen hin: sein Suchen für sein Glück ist das Mittel, welches die gestaltenden Kräfte andrerseits zusammenhält und mäßigt, daß sie sich nicht selber zerstören.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 464

„Wir sind mehr als das Individuum: wir sind die ganze Kette noch, mit den Aufgaben aller Zukünfte der Kette.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 464

„Meine Theorie wäre: – daß der Wille zur Macht die primitive Affekt-Form ist, daß alle andern Affekte nur seine Ausgestaltungen sind; daß es eine bedeutende Aufklärung gibt, an Stelle des individuellen »Glücks« (nach dem jedes Lebende streben soll) zu setzen Macht: »es strebt nach Macht, nach mehr in der Macht«; – Lust ist nur ein Symptom vom Gefühl der erreichten Macht, eine Differenz-Bewußtheit – (– es strebt nicht nach Lust: sondern Lust tritt ein, wenn es erreicht, wonach es strebt: Lust begleitet, Lust bewegt nicht –); daß alle treibende Kraft Wille zur Macht ist, daß es keine physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem gibt. In unsrer Wissenschaft, wo der Begriff Ursache und Wirkung reduziert ist auf das Gleichungs-Verhältnis, mit dem Ehrgeiz, zu beweisen, daß auf jeder Seite dasselbe Quantum von Kraft ist, fehlt die treibende Kraft: wir betrachten nur Resultate, wir setzen sie als gleich in Hinsicht auf Inhalt an Kraft ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 465

„Es ist eine bloße Erfahrungssache, daß die Veränderung nicht aufhört: an sich haben wir nicht den geringsten Grund, zu verstehen, daß auf eine Veränderung eine andre folgen müsse. Im Gegenteil: ein erreichter Zustand schiene sich selbst erhalten zu müssen, wenn es nicht ein Vermögen in ihm gäbe, eben nicht sich erhalten zu wollen .... Der Satz des Spinoza von der »Selbsterhaltung« müßte eigentlich der Veränderung einen Halt setzen: aber der Satz ist falsch, das Gegenteil ist wahr. Gerade an allem Lebendigen ist am deutlichsten zu zeigen, daß es alles tut, um nicht sich zu erhalten, sondern um mehr zu werden.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 465

„Der Wille zur Akkumulation von Kraft ist spezifisch für das Phänomen des Lebens, für Ernährung, Zeugung, Vererbung, – für Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität. Sollten wir diesen Willen nicht als bewegende Ursache auch in der Chemie annehmen dürfen? – und in der kosmischen Ordnung?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 466

„Nicht bloß Konstanz der Energhie: sondern Maximal-Ökonomie des Verbrauchs: so daß das Stärker-werden-wollen von jedem Kraftzentrum aus die einzige Realität ist, – nicht Selbstbewahrung, sondern Aneignen, Herr-werden, Mehr-werden, Stärker-werden-wollen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 466

„Daß Wissenschaft möglich ist, das soll uns ein Kausalitäts-Prinzip beweisen? »Aus gleichen Ursachen gleiche Wirkungen« – »Ein permanentes Gesetz der Dinge« – »Eine invariable Ordnung«? – Weil etwas berechenbar ist, ist es deshalb schon notwendig?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 467

„Wenn etwas so und nicht anders geschieht, so ist darin kein »Prinzip«, kein »Gesetz«, keine »Ordnung«, sondern es wirken Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuüben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 467

„Können wir ein Streben nach Macht annehmen, ohne eine Lust- und Unlust-Empfindung, d.h. ohne ein Gefühl von der Steigerung und Verminderung der Macht? Der Mechanismus ist nur eine Zeichensprache für die interne Tatsachen-Welt kämpfender und überwindender Willens-Quanta? Alle Voraussetzungen des Mechanismus, Stoff, Atom, Schwere, Druck und Stoß sind nicht »Tatsachen an sich«, sondern Interpretationen mit Hilfe psychischer Fiktionen. Das Leben als die uns bekannteste Form des Seins ist spezifisch ein Wille zur Akkumulation der Kraft –; alle Prozesse des Lebens haben hier ihren Hebel: nichts will sich erhalten, alles soll summiert und akkumuliert werden. Das Leben, als ein Einzelfall (Hypothese von da aus auf den Gesamtcharakter des Daseins –) strebt nach einem Maximal-Gefühl von Macht; ist essentiell ein Streben nach Mehr von Macht; Streben ist nichts anderes als Streben nach Macht; das Unterste und Innerste bleibt dieser Wille. (Mechanik ist eine bloße Semiotik der Folgen.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 467

„Man kann das, was die Ursache dafür ist, daß es überhaupt Entwicklung gibt, nicht selbst wieder auf dem Wege der Forschung über Entwicklung finden; man soll es nicht als »werdend« verstehn wollen, noch weniger als geworden. .... Der »Wille zur Macht« kann nicht geworden sein.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 467-468

„Ist »Wille zur Macht« eine Art »Wille« oder identisch mit dem Begriff »Wille«? Heißt es so viel als begehren? oder kommandieren? Ist es der »Wille«, von dem Schopenhauer meint, er sei das »An sich der Dinge«? Mein Satz ist: daß Wille der bisherigen Psychologie eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung ist, daß es diesen Willen gar nicht gibt, daß, statt die Ausgestaltung eines bestimmten Willens in viele Formen zu fassen, man den Charakter des Willens weggestrichen hat, indem man den Inhalt, das Wohin? heraussubtrahiert hat –: das ist im höchsten Grade bei Schopenhauer der Fall: das ist ein bloßes leeres Wort, was er »Wille« nennt. Es handelt sich noch weniger um einen »Willen zum Leben«: denn das Leben ist bloß ein Einzelfall des Willens zur Macht; – es ist ganz willkürlich, zu behaupten, daß alles danach strebe, in diese Form des Willens zur Macht überzutreten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 468

„Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachstum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen, nicht Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Kardinal-Tatsachen ansetzen? Ist Wille möglich ohne diese beiden Oszillationen des Ja und des Nein? – Aber wer fühlt Lust? .... Aber wer will Macht? .... Absurde Frage! wenn das Wesen selbst Machtwille und folglich Lust- und Unlust-fühlen ist! Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Einheiten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 468-469

„Je nach den Widerständen, die eine Kraft aufsucht, um über sie Herr zu werden, muß das Maß des hiermit herausgeforderten Mißlingens und Verhängnisses wachsen: und insofern jede Kraft sich nur an Widerstehendem auslassen kann, ist notwendig in jeder Aktion ein Ingrediens von Unlust. Nur wirkt diese Unlust als Reiz des Lebens und stärkt den Willen zur Macht!
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 469

„Wenn Lust und Unlust sich auf das Gefühl der Macht beziehen, so müßte Leben ein Wachstum von Macht darstellen, so daß die Differenz des »Mehr« ins Bewußtsein träte .... Ein Niveau von Macht festgehalten, würde sich die Lust nur an Verminderungen des Niveaus zu messen haben, an Unlustzuständen, – nicht an Lustzuständen .... Der Wille zum Mehr liegt im Wesen der Lust: daß die Macht wächst, daß die Differenz ins Bewußtsein tritt. Von einem gewissen Punkte an, bei der décadence, tritt die umgekehrte Differenz ins Bewußtsein, die Abnahme: das Gedächtnis der starken Augenblicke von ehedem drückt die gegenwärtigen Lustgefühle herab, – der Vergleich schwächt jetzt die Lust.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 469

Nicht die Befriedigung des Willens ist Ursache der Lust (: gegen diese oberflächlichste Theorie will ich besonders kämpfen, – die absurde psychologische Falschmünzerei der nächsten Dinge –), sondern daß der Wille vorwärts will und immer wieder Herr über das wird, was ihm im Wege steht. Das Lustgefühl liegt gerade in der Unbefriedigung des Willens, darin, daß er ohne den Gegner und Widerstand noch nicht satt genug ist. – »Der Glückliche«: Herdenideal.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 469-470

„Die normale Unbefriedigung unsrer Triebe, z. B. des Hungers, des Geschlechtstriebs, des Bewegungstriebs, enthält in sich durchaus noch nichts Herabstimmendes; sie wirkt vielmehr agazierend auf das Lebensgefühl, wie jeder Rhythmus von kleinen, schmerzhaften Reizen es stärkt, was auch die Pessimisten uns vorreden mögen. Diese Unbefriedigung, statt das Leben zu verleiden, ist das große Stimulans des Lebens. (Man könnte vielleicht die Lust überhaupt bezeichnen als einen Rhythmus kleiner Unlustreize.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 470

„Der Schmerz ist etwas anderes als die Lust, – ich will sagen, er ist nicht deren Gegenteil. Wenn das Wesen der »Lust« zutreffend bezeichnet worden ist als ein Plus-Gefühl von Macht (somit als ein Differenz-Gefühl, das die Vergleichung voraussetzt), so ist damit das Wesen der »Unlust« noch nicht definiert. Die falschen Gegensätze, an die das Volk und folglich die Sprache glaubt, sind immer gefährliche Fußfesseln für den Gang der Wahrheit gewesen. Es gibt sogar Fälle, wo eine Art Lust bedingt ist durch eine gewisse rhythmische Abfolge kleiner Unlust-Reize: damit wird ein sehr schnelles Anwachsen des Machtgefühls, des Lustgefühls erreicht. Dies ist der Fall z. B. beim Kitzel, auch beim geschlechtlichen Kitzel im Akt des Koitus: wir sehen dergestalt die Unlust als Ingrediens der Lust tätig. Es scheint, eine kleine Hemmung, die überwunden wird und der sofort wieder eine kleine Hemmung folgt, die wieder überwunden wird – dieses Spiel von Widerstand und Sieg regt jenes Gesamtgefühl von überschüssiger, überflüssiger Macht am stärksten an, das das Wesen der Lust ausmacht. Die Umkehrung, eine Vermehrung der Schmerzempfindung durch kleine eingeschobene Lustreize, fehlt: Lust und Schmerz sind eben nichts Umgekehrtes. Der Schmerz ist ein intellektueller Vorgang, in dem entschieden ein Urteil laut wird, – das Urteil »schädlich«, in dem sich lange Erfahrung aufsummiert hat. An sich gibt es keinen Schmerz. Es ist nicht die Verwundung, die wehtut; es ist die Erfahrung, von welchen schlimmen Folgen eine Verwundung für den Gesamt-Organismus sein kann, welche in Gestalt jener tiefen Erschütterung redet, die Unlust heißt (bei schädigenden Einflüssen, welche der älteren Menschheit unbekannt geblieben sind, z. B. von seiten neu kombinierter giftiger Chemikalien, fehlt auch die Aussage des Schmerzes, – und wir sind verloren). Im Schmerz ist das eigentlich Spezifische immer die lange Erschütterung, das Nachzittern eines schreckenerregenden Schocks im zerebralen Herde des Nervensystems – man leidet eigentlich nicht an der Ursache des Schmerzes (irgendeiner Verletzung z.B.), sondern an der langen Gleichgewichtsstörung, welche infolge jenes Schocks eintritt. Der Schmerz ist eine Krankheit der zerebralen Nervenherde, – die Lust ist durchaus keine Krankheit. Daß der Schmerz die Ursache ist zu Gegenbewegungen, hat zwar den Augenschein und sogar das Philosophen-Vorurteil für sich; aber in plötzlichen Fällen kommt, wenn man genau beobachtet, die Gegenbewegung ersichtlich früher als die Schmerzempfindung. Es stünde schlimm um mich, wenn ich bei einem Fehltritt zu warten hätte, bis das Faktum an die Glocke des Bewußtseins schlüge und ein Wink, was zu tun ist, zurücktelegraphiert würde. Vielmehr unterscheide ich so deutlich als möglich, daß erst die Gegenbewegung des Fußes, um den Fall zu verhüten, folgt und dann, in einer meßbaren Zeitdistanz, eine Art schmerzhafter Welle plötzlich im vordern Kopfe fühlbar wird. Man reagiert also nicht auf den Schmerz. Der Schmerz wird nachher projiziert in die verwundete Stelle – aber das Wesen dieses Lokal-Schmerzes ist trotzdem nicht der Ausdruck der Art der Lokal-Verwundung; er ist ein bloßes Ortszeichen, dessen Stärke und Tonart der Verwundung gemäß ist, welche die Nerven-Zentren davon empfangen haben. Daß infolge jenes Schocks die Muskelkraft des Organismus meßbar heruntergeht, gibt durchaus noch keinen Anhalt dafür, das Wesen des Schmerzes in einer Verminderung des Machtgefühls zu suchen. Man reagiert, nochmals gesagt, nicht auf den Schmerz: die Unlust ist keine »Ursache« von Handlungen. Der Schmerz selbst ist eine Reaktion, die Gegenbewegung ist eine andre und frühere Reaktion – beide nehmen von verschiedenen Stellen ihren Ausgangspunkt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 470-472

„Intellektualität des Schmerzes: er bezeichnet nicht an sich, was augenblicklich geschädigt ist, sondern welchen Wert die Schädigung hat in Hinsicht auf das allgemeine Individuum. Ob es Schmerzen gibt, in denen »die Gattung« und nicht das Individuum leidet –?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 473

„»Die Summe der Unlust überwiegt die Summe der Lust: folglich wäre das Nichtsein der Welt besser, als deren Sein« – »Die Welt ist etwas, das vernünftigerweise nicht wäre, weil sie dem empfindenden Subjekt mehr Unlust als Lust verursacht« – dergleichen Geschwätz heißt sich heute Pessimismus! Lust und Unlust sind Nebensachen, keine Ursachen; es sind Werturteile zweiten Ranges, die sich erst ableiten von einem regierenden Wert – ein in Form des Gefühls redendes »nützlich«, »schädlich« und folglich absolut flüchtig und abhängig. Denn bei jedem »nützlich«, »schädlich« sind immer noch hundert verschiedene Wozu? zu fragen. Ich verachte diesen Pessimismus der Sensibilität: er ist selbst ein Zeichen tiefer Verarmung an Leben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 473

„Der Mensch sucht nicht die Lust und vermeidet nicht die Unlust: man versteht, welchem berühmten Vorurteile ich hiermit widerspreche. Lust und Unlust sind bloße Folge, bloße Begleiterscheinung – was der Mensch will, was jeder kleinste Teil eines lebenden Organismus will, das ist ein Plus von Macht. Im Streben danach folgt sowohl Lust als Unlust; aus jenem Willen heraussucht er nach Widerstand, braucht er etwas, das sich entgegenstellt... Die Unlust, als Hemmung seines Willens zur Macht, ist also ein normales Faktum, das normale Ingrediens jedes organischen Geschehens; der Mensch weicht ihr nicht aus, er hat sie vielmehr fortwährend nötig: jeder Sieg, jedes Lustgefühl, jedes Geschehen setzt einen überwundenen Widerstand voraus. Nehmen wir den einfachsten Fall, den der primitiven Ernährung: das Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach etwas zu suchen, das ihm widersteht – nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht. Darauf macht es den Versuch, dasselbe zu überwinden, sich anzueignen, sich einzuverleiben: – das, was man »Ernährung« nennt, ist bloß eine Folge-Erscheinung, eine Nutzanwendung jenes ursprünglichen Willens, stärker zu werden. Die Unlust hat also so wenig notwendig eine Verminderung unsres Machtgefühls zur Folge, daß, in durchschnittlichen Fällen, sie gerade als Reiz auf dieses Machtgefühl wirkt – das Hemmnis ist der stimulus dieses Willens zur Macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 473-474

„Man hat die Unlust verwechselt mit einer Art der Unlust, mit der der Erschöpfung: letztere stellt in der Tat eine tiefe Verminderung und Herabstimmung des Willens zur Macht, eine meßbare Einbuße an Kraft dar. Das will sagen: es gibt
a) Unlust als Reizmittel zur Verstärkung der Macht und
b) Unlust nach einer Vergeudung von Macht; im erstern Fall ein stimulus, im letztern die Folge einer übermäßigen Reizung.
Die Unfähigkeit zum Widerstand ist der letzteren Unlust zu eigen: die Herausforderung des Widerstehenden gehört zur ersteren .... Die Lust, welche im Zustand der Erschöpfung allein noch empfunden wird, ist das Einschlafen; die Lust im andern Falle ist der Sieg. Die große Verwechslung der Psychologen bestand darin, daß sie diese beiden Lustarten – die des Einschlafens und die des Sieges – nicht auseinanderhielten. Die Erschöpften wollen Ruhe, Gliederausstrecken, Frieden, Stille – es ist das Glück der nihilistischen Religionen und Philosophien; die Reichen und Lebendigen wollen Sieg, überwundene Gegner, Überströmen des Machtgefühls über weitere Bereiche als bisher. Alle gesunden Funktionen des Organismus haben dies Bedürfnis – und der ganze Organismus ist ein solcher nach Wachstum von Machtgefühlen ringender Komplex von Systemen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 474-475

„Wie kommt es, daß die Grundglaubensartikel in der Psychologie allesamt die ärgsten Verdrehungen und Falschmünzereien sind? »Der Mensch strebt nach Glück« z.B. – was ist daran wahr? Um zu verstehn, was »Leben« ist, welche Art Streben und Spannung Leben ist, muß die Formel so gut von Baum und Pflanze, als vom Tier gelten. »Wonach strebt die Pflanze?« – aber hier haben wir bereits eine falsche Einheit erdichtet, die es nicht gibt: die Tatsache eines millionenfachen Wachstums mit eigenen und halbeigenen Initiativen ist versteckt und verleugnet, wenn wir eine plumpe Einheit »Pflanze« voranstellen. Daß die letzten kleinsten »Individuen« nicht in dem Sinn eines »metaphysischen Individuums« und Atoms verständlich sind, daß ihre Machtsphäre fortwährend sich verschiebt – das ist zuallererst sichtbar: aber strebt ein jedes von ihnen, wenn es sich dergestalt verändert, nach Glück? – Aber alles Sich-ausbreiten, Einverleiben, Wachsen ist ein Anstreben gegen Widerstehendes; Bewegung ist essentiell etwas mit Unlustzuständen Verbundenes: es muß das, was hier treibt, jedenfalls etwas anderes wollen, wenn es dergestalt die Unlust will und fortwährend aufsucht. – Worum kämpfen die Bäume eines Urwaldes miteinander? Um »Glück«? – Um Macht! .... Der Mensch, Herr über die Naturgewalten geworden, Herr über seine eigne Wildheit und Zügellosigkeit (die Begierden haben folgen, haben nützlich sein gelernt) – der Mensch, im Vergleich zu einem Vor-Menschen, stellt ein ungeheures Quantum Macht dar, – nicht ein Plus von »Glück«! Wie kann man behaupten, daß er nach Glück gestrebt habe?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 475-476

„Indem ich dieses sage, sehe ich über mir den ungeheuren Rattenschwanz von Irrtümern unter den Sternen glänzen, der bisher als die höchste Inspiration der Menschheit galt: »alles Glück folgt aus der Tugend, alle Tugend aus dem freien Willen«! Kehren wir die Werte um: alle Tüchtigkeit Folge einer glücklichen Organisation, alle Freiheit Folge der Tüchtigkeit (– Freiheit hier als Leichtigkeit in der Selbstdirektive verstanden. Jeder Künstler versteht mich).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 476

„»Der Wert des Lebens.« – Das Leben ist ein Einzelfall; man muß alles Dasein rechtfertigen und nicht nur das Leben, – das rechtfertigende Prinzip ist ein solches, aus dem sich das Leben erklärt. Das Leben ist nur Mittel zu etwas: es ist der Ausdruck von Wachstumsformen der Macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 476

„Die »bewußte Welt« kann nicht als Wert-Ausgangspunkt gelten: Notwendigkeit einer »objektiven« Wertsetzung. In Hinsicht auf das Ungeheure und Vielfache des Für- und Gegeneinanderarbeitens, wie es das Gesamtleben jedes Organismus darstellt, ist dessen bewußte Welt von Gefühlen, Absichten, Wertschätzungen ein kleiner Ausschnitt. Dies Stück Bewußtsein als Zweck, als Warum? für jenes Gesamt-Phänomen von Leben anzusetzen, fehlt uns alles Recht: ersichtlich ist das Bewußtwerden nur ein Mittel mehr in der Entfaltung und Machterweiterung des Lebens. Deshalb ist es eine Naivität, Lust oder Geistigkeit oder Sittlichkeit oder irgendeine Einzelheit der Sphäre des Bewußtseins als höchsten Wert anzusetzen: und vielleicht gar »die Welt« aus ihnen zu rechtfertigen. Das ist mein Grundeinwand gegen alle philosophisch-moralischen Kosmo- und Theodizeen, gegen alle Warums und höchsten Werte in der bisherigen Philosophie und Religionsphilosophie. Eine Art der Mittel ist als Zweck mißverstanden worden: das Leben und seine Machtsteigerung wurde umgekehrt zum Mittel erniedrigt. Wenn wir einen Zweck des Lebens weit genug ansetzen wollten, so dürfte er mit keiner Kategorie des bewußten Lebens zusammenfallen; er müßte vielmehr jede noch erklären als Mittel zu sich .... Die »Verneinung des Lebens« als Ziel des Lebens, Ziel der Entwicklung! Das Dasein als große Dummheit! Eine solche Wahnwitz-Interpretation ist nur die Ausgeburt einer Messung des Lebens mit Faktoren des Bewußtseins (Lust und Unlust, Gut und Böse). Hier werden die Mittel geltend gemacht gegen den Zweck – die »unheiligen«, absurden, vor allem unangenehmen Mittel –: wie kann der Zweck etwas taugen, der solche Mittel gebraucht! Aber der Fehler steckt darin, daß wir – statt nach dem Zweck zu suchen, der die Notwendigkeit solcher Mittel erklärt – von vornherein einen Zweck voraussetzen, welcher solche Mittel gerade ausschließt: d.h. daß wir eine Wünschbarkeit in bezug auf gewisse Mittel (nämlich angenehme, rationelle, tugendhafte) zur Norm nehmen, nach der wir erst ansetzen, welcher Gesamtzweck wünschbar ist .... Der Grundfehler steckt nur darin, daß wir die Bewußtheit – statt sie als Werkzeug und Einzelheit im Gesamt-Leben zu verstehen – als Maßstab, als höchsten Wertzustand des Lebens ansetzen: es ist die fehlerhafte Perspektive des a parte ad totum, – weshalb instinktiv alle Philosophen darauf aus sind, ein Gesamtbewußtsein, ein bewußtes Mitleben und Mitwollen alles dessen, was geschieht, einen »Geist«, »Gott« zu imaginieren. Man muß ihnen aber sagen, daß eben damit das Dasein zum Monstrum wird; daß ein »Gott« und Gesamtsensorium schlechterdings etwas wäre, dessentwegen das Dasein verurteilt werden müßte .... Gerade daß wir das zweck- und mittelsetzende Gesamtbewußtsein eliminiert haben: das ist unsre große Erleichterung, – damit hören wir auf, Pessimisten sein zu müssen .... Unser größter Vorwurf gegen das Dasein war die Existenz Gottes.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 477-478

Vom Wert des »Werdens«. – Wenn die Weltbewegung einen Zielzustand hätte, so müßte er erreicht sein. Das einzige Grundfaktum ist aber, daß sie keinen Zielzustand hat: und jede Philosophie und wissenschaftliche Hypothese (z. B. der Mechanismus), in der ein solcher notwendig wird, ist durch jenes Grundfaktum widerlegt. Ich suche ein Weltkonzeption, welche dieser Tatsache gerecht wird. Das Werden soll erklärt werden, ohne zu solchen finalen Absichten Zuflucht zu nehmen: das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick (oder unabwertbar: was auf eins hinausläuft); es darf absolut nicht das Gegenwärtige um eines Zukünftigen wegen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden. Die »Notwendigkeit« nicht in Gestalt einer übergreifenden, beherrschenden Gesamtgewalt, oder eines ersten Motors; noch weniger als notwendig, um etwas Wertvolles zu bedingen. Dazu ist nötig, ein Gesamtbewußtsein des Werdens, einen »Gott«, zu leugnen, um das Geschehen nicht unter den Gesichtspunkt eines mitfühlenden, mitwissenden und doch nichts wollenden Wesens zu bringen: »Gott« ist nutzlos, wenn er nicht etwas will, und andrerseits ist damit eine Summierung von Unlust und Unlogik gesetzt, welche den Gesamtwert des »Werdens« erniedrigen würde: glücklicherweise fehlt gerade eine solche summierende Macht (– ein leidender und überschauender Gott, ein »Gesamtsensorium« und »Allgeist« wäre der größte Einwand gegen das Sein). Strenger: man darf nichts Seiendes überhaupt zulassen – weil dann das Werden seinen Wert verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig erscheint. Folglich ist zu fragen: wie die Illusion des Seienden hat entstehen können (müssen); insgleichen: wie alle Werturteile, welche auf der Hypothese ruhen, daß es Seiendes gebe, entwertet sind. Damit aber erkennt man, daß diese Hypothese des Seienden die Quelle aller Welt-Verleumdung ist (– die »bessere Welt«, die »wahre Welt«, die »jenseitige Welt«, das »Ding an sich«).
1. Das Werden hat keinen Zielzustand, mündet nicht in ein »Sein«.
2. Das Werden ist kein Scheinzustand; vielleicht ist die seiende Welt ein Schein.
3. Das Werden ist wertgleich in jedem Augenblick: die Summe seines Wertes bleibt sich gleich; anders ausgedrückt: es hat gar keinen Wert, denn es fehlt etwas, woran es zu messen wäre und in bezug worauf das Wort »Wert« Sinn hätte. Der Gesamtwert der Welt ist unabwertbar, folglich gehört der philosophische Pessimismus unter die komischen Dinge.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 478-480

„Daß wir nicht unsere »Wünschbarkeiten« zu Richtern über das Sein machen! Daß wir nicht auch Endformen der Entwicklung (z. B. Geist) wieder als ein »An-sich« hinter die Entwicklung placieren!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 480

„Unsre Erkenntnis ist in dem Maße wissenschaftlich geworden, als sie Zahl und Maß anwenden kann. Der Versuch wäre zu machen, ob nicht eine wissenschaftliche Ordnung der Werte einfach auf einer Zahl– und Maß-Skala der Kraft aufzubauen wäre .... Alle sonstigen »Werte« sind Vorurteile, Naivitäten, Mißverständnisse. – Sie sind überall reduzierbar auf jene Zahl- und Maß-Skala der Kraft. Das Aufwärts in dieser Skala bedeutet jedes Wachsen an Wert: das Abwärts in dieser Skala bedeutet Verminderung des Wertes. Hier hat man den Schein und das Vorurteil wider sich. (Die Moralwerte sind ja nur Scheinwerte, verglichen mit den physiologischen.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 480

„Wo der Gesichtspunkt »Wert« unzulässig: – Daß im »Prozeß des Ganzen« die Arbeit der Menschheit nicht in Betracht kommt, weil es einen Gesamtprozeß (diesen als System gedacht –) gar nicht gibt; daß es kein »Ganzes« gibt; daß alle Abwertung des menschlichen Daseins, der menschlichen Ziele nicht in Hinsicht auf etwas gemacht werden kann, das gar nicht existiert; daß die »Notwendigkeit«, die »Ursächlichkeit«, »Zweckmäßigkeit« nützliche Scheinbarkeiten sind; daß nicht »Vermehrung des Bewußtseins« das Ziel ist, sondern Steigerung der Macht: in welche Steigerung die Nützlichkeit des Bewußtseins eingerechnet ist; ebenso verhält es sich mit Lust und Unlust; daß man nicht die Mittel zum obersten Wertmaß nimmt (also nicht Zustände des Bewußtseins, wie Lust und Schmerz, wenn das Bewußtwerden selbst nur ein Mittel ist –); daß die Welt durchaus kein Organismus ist, sondern das Chaos: daß die Entwicklung der »Geistigkeit« nur Mittel zur relativen Dauer der Organisation ist; daß alle »Wünschbarkeit« keinen Sinn hat in bezug auf den Gesamtcharakter des Seins.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 481

„»Gott« als Kulminations-Moment: das Dasein eine ewige Vergottung und Entgottung. Aber darin kein Wert-Höhepunkt, sondern ein Macht-Höhepunkt. Absoluter Ausschluß des Mechanismus und des Stoffs: beides nur Ausdrucksformen niedriger Stufen, die entgeistigtste Form des Affekts (des »Willens zur Macht«). Der Rückgang vom Höhepunkt im Werden (der höchsten Vergeistigung der Macht auf dem sklavenhaftesten Grunde) als Folge dieser höchsten Kraft darzustellen, welche, gegen sich sich wendend, nachdem sie nichts mehr zu organisieren hat, ihre Kraft verwendet zu desorganisieren ....
a) Die immer größere Besiegung der Sozietäten und Unterjochung derselben unter eine kleinere, aber stärkere Zahl;
b) die immer größere Besiegung der Bevorrechteten und Stärkeren und folglich Heraufkunft der Demokratie, endlich Anarchie der Elemente“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 482

Wert ist das höchste Quantum Macht, das der Mensch sich einzuverleiben vermag – der Mensch: nicht die Menschheit! Die Menschheit ist viel eher noch ein Mittel, als ein Ziel. Es handelt sich um den Typus: die Menschheit ist bloß das Versuchsmaterial, der ungeheure Überschuß des Mißratenen: ein Trümmerfeld.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 470

„Der Gesichtspunkt des »Werts« ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens. Es gibt keine dauerhaften letzten Einheiten, keine Atome, keine Monaden: auch hier ist »das Seiende« erst von uns hineingelegt (aus praktischen, nützlichen, perspektivischen Gründen). »Herrschaftsgebilde«; die Sphäre des Beherrschenden fortwährend wachsend oder unter der Gunst und Ungunst der Umstände (der Ernährung –) periodisch abnehmend, zunehmend. »Wert« ist wesentlich der Gesichtspunkt für das Zunehmen oder Abnehmen dieser herrschaftlichen Zentren (»Vielheiten« jedenfalls; aber die »Einheit« ist in der Natur des Werdens gar nicht vorhanden). Die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das »Werden« auszudrücken: es gehört zu unserm unablöslichen Bedürfnis der Erhaltung, beständig eine gröbere Welt von Bleibendem, von »Dingen« usw. zu setzen. Relativ dürfen wir von Atomen und Monaden reden: und gewiß ist, daß die kleinste Welt an Dauer die dauerhafteste ist .... Es gibt keinen Willen: es gibt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 482-483

„Grundsatz: nur Einzelne fühlen sich verantwortlich. Die Vielheiten sind erfunden, um Dinge zu tun, zu denen der Einzelne nicht den Mut hat. Eben deshalb sind alle Gemeinwesen, Gesellschaften hundertmal aufrichtiger und belehrender über das Wesen des Menschen als das Individuum, welches zu schwach ist, um den Mut zu seinen Begierden zu haben .... Der ganze »Altruismus« ergibt sich als Privatmann-Klugheit: die Gesellschaften sind nicht »altruistisch« gegeneinander... Das Gebot der Nächstenliebe ist noch niemals zu einem Gebot der Nachbar- Liebe erweitert worden. Vielmehr gilt da noch, was bei Manu steht: »Alle uns angrenzenden Reiche, ebenso deren Verbündete, müssen wir als uns feindlich denken. Aus demselben Grunde hinwiederum müssen uns deren Nachbarn als uns freundlich gesinnt gelten.« Das Studium der Gesellschaft ist deshalb so unschätzbar, weil der Mensch als Gesellschaft viel naiver ist als der Mensch als »Einheit«. Die »Gesellschaft« hat die Tugend nie anders angesehen als als Mittel der Stärke, der Macht, der Ordnung. Wie einfältig und würdig sagt es Manu: »Aus eigner Kraft würde die Tugend sich schwerlich behaupten können. Im Grunde ist es nur die Furcht vor Strafe, was die Menschen in Schranken hält und jeden im ruhigen Besitz des Seinen läßt.«“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 484-485

„Der Staat oder die organisierte Unmoralitätinwendig: als Polizei, Strafrecht, Stände, Handel, Familie; auswendig: als Wille zur Macht, zum Kriege, zur Eroberung, zur Rache. Wie wird es erreicht, daß eine große Menge Dinge tut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde? – Durch Zerteilung der Verantwortlichkeit, des Befehlens und der Ausführung. Durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams, der Pflicht, der Vaterlands-und Fürstenliebe. Durch Aufrechterhaltung des Stolzes, der Strenge, der Stärke, des Hasses, der Rache – kurz aller typischen Züge, welche dem Herdentypus widersprechen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 485

„Ihr habt alle nicht den Mut, einen Menschen zu töten, oder auch nur zu peitschen, oder auch nur zu –, aber die ungeheure Maschine von Staat überwältigt den einzelnen, so daß er die Verantwortlichkeit für das, was er tut, ablehnt (Gehorsam, Eid usw.). – Alles, was ein Mensch im Dienste des Staates tut, geht wider seine Natur; – insgleichen alles, was er in Hinsicht auf den zukünftigen Dienst im Staate lernt, geht wider seine Natur. Das wird erreicht durch die Arbeitsteilung (so daß niemand die ganze Verantwortlichkeit mehr hat): der Gesetzgeber – und der, der das Gesetz ausführt; der Disziplin-Lehrer – und die, welche in der Disziplin hart und streng geworden sind.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 485-486

„Eine Arbeitsteilung der Affekte innerhalb der Gesellschaft: so daß die Einzelnen und die Stände die unvollständige, aber eben damit nützlichere Art von Seele heranzüchten. Inwiefern bei jedem Typus innerhalb der Gesellschaft einige Affekte fast rudimentär geworden sind (auf die stärkere Ausbildung eines andern Affekts hin). Zur Rechtfertigung der Moral: die ökonomische (die Absicht auf möglichste Ausnutzung von Individual-Kraft gegen die Verschwendung alles Ausnahmsweisen); die ästhetische (die Ausgestaltung fester Typen samt der Lust am eignen Typus); die politische (als Kunst, die schweren Spannungsverhältnisse von verschiedenen Machtgraden auszuhalten); die psychologische (als imaginäres Übergewicht der Schätzung zugunsten derer, die schlecht oder mittelmäßig weggekommen sind – zur Erhaltung der Schwachen).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 486

„Das furchtbarste und gründlichste Verlangen des Menschen, sein Trieb nach Macht – man nennt diesen Trieb »Freiheit« – muß am längsten in Schranken gehalten werden. Deshalb ist die Ethik bisher, mit ihren unbewußten Erziehungs- und Züchtungs-Instinkten, darauf aus gewesen, das Macht-Gelüst in Schranken zu halten: sie verunglimpft das tyrannische Individuum und unterstreicht, mit ihrer Verherrlichung der Gemeindefürsorge und der Vaterlandsliebe, den Herden-Machtinstinkt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 486

„Das Unvermögen zur Macht: seine Hypokrisie und Klugheit: als Gehorsam (Einordnung, Pflicht-Stolz, Sittlichkeit...); als Ergebung, Hingebung, Liebe (Idealisierung, Vergötterung des Befehlenden als Schadenersatz und indirekte Selbstverklärung); als Fatalismus, Resignation; als »Objektivität«; als Selbsttyrannisierung (Stoizismus, Askese, »Enselbstung«, »Heiligung«), als Kritik, Pessimismus, Entrüstung, Quälgeisterei; als »schöne Seele«, »Tugend«, »Selbstvergötterung«, »Abseits«, »Reinheit von der Welt« usw. (– die Einsicht in das Unvermögen zur Macht sich als dédain verkleidend). Überall drückt sich das Bedürfnis aus, irgendeine Macht doch noch auszuüben, oder sich selbst den Anschein von Macht zeitweilig zu schaffen – als Rausch. Die Menschen, welche die Macht wollen um der Glücks-Vorteile willen, die die Macht gewährt: politische Parteien. Andre Menschen, welche die Macht wollen, selbst mit sichtbaren Nachteilen und Opfern an Glück und Wohlbefinden: die Ambitiösen. Andre Menschen, welche die Macht wollen, bloß weil sie sonst in andre Hände fiele, von denen sie nicht abhängig sein wollen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 487

„Kritik der »Gerechtigkeit« und »Gleichheit vor dem Gesetz«: was eigentlich damit wegschafft werden soll? Die Spannung, die Feindschaft, der Haß. – Aber ein Irrtum ist es, daß dergestalt »das Glück« gemehrt wird: die Korsen z. B. genießen mehr Glück als die Kontinentalen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 487

„Die Gegenseitigkeit, die Hinterabsicht auf Bezahlt-werden-wollen: eine der verfänglichsten Formen der Wert-Erniedrigung des Menschen. Sie bringt jene »Gleichheit« mit sich, welche die Kluft der Distanz als unmoralisch abwertet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 487-488

„Was »nützlich« heißt, ist ganz und gar abhängig von der Absicht, dem Wozu?; dieAbsicht, das »Ziel« wieder ist ganz und gar abhängig vom Grad der Macht. Deshalb ist Utilitarismus keine Grundlage, sondern nur eine Folgen-Lehre und absolut zu keiner Verbindlichkeit für alle zu bringen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 488

„Erstmals hatte man die Theorie vom Staat als einer berechnenden Nützlichkeit: jetzt hat man die Praxis dazu! – Die Zeit der Könige ist vorbei, weil die Völker ihrer nicht mehr würdig sind: sie wollen nicht das Urbild ihres Ideals im König sehn, sondern ein Mittel ihres Nutzens. – Das ist die ganze Wahrheit!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 488

„Moral wesentlich als Wehr, als Verteidigungsmittel; insofern ein Zeichen des unausgewachsenen Menschen (verpanzert; stoisch). Der ausgewachsene Mensch hat vor allem Waffen: er ist angreifend. Kriegswerkzeuge zu Friedenswerkzeugen umgewandelt (aus Schuppen und Platten Federn und Haare).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 489

„Es gehört zum Begriff des Lebendigen, daß es wachsen muß – daß es seine Macht erweitern und folglich fremde Kräfte in sich hineinnehmen muß. Man redet, unter der Benebelung durch die Moral-Narkose, von einem Recht des Individuums, sich zu verteidigen; im gleichen Sinne dürfte man auch von seinem Rechte anzugreifen reden: denn beides – und das zweite noch mehr als das erste – sind Nezessitäten für jedes Lebendige – der aggressive und der defensive Egoismus sind nicht Sache der Wahl oder gar des »freien Willens«, sondern die Fatalität des Lebens selbst. Hierbei gilt es gleich, ob man ein Individuum oder einen lebendigen Körper, eine aufwärtsstrebende »Gesellschaft« ins Auge faßt. Das Recht zur Strafe (oder die gesellschaftliche Selbstverteidigung) ist im Grunde nur durch einen Mißbrauch zum Worte »Recht« gelangt: ein Recht wird durch Verträge erworben – aber das Sich-wehren und Sich-verteidigen ruht nicht auf der Basis eines Vertrags. Wenigstens dürfte ein Volk mit ebensoviel gutem Sinn sein Eroberungsbedürfnis, sein Machtgelüst, sei es mit Waffen, sei es durch Handel, Verkehr und Kolonisation, als Recht bezeichnen – Wachstums-Recht etwa. Eine Gesellschaft, die, endgültig und ihrem Instinkt nach, den Krieg und die Eroberung abweist, ist im Niedergang: sie ist reif für Demokratie und Krämerregiment... In den meisten Fällen freilich sind die Friedensversicherungen bloße Betäubungsmittel.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 489-490

„Die Aufrechterhaltung des Militär-Staates ist das allerletzte Mittel, die große Tradition sei es aufzunehmen, sei es festzuhalten hinsichtlich des obersten Typus Mensch, des starken Typus. Und alle Begriffe, die die Feindschaft und Rangdistanz der Staaten verewigen, dürfen daraufhin sanktioniert erscheinen (z. B. Nationalismus, Schutzzoll).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 490

„Damit etwas bestehn soll, das länger ist als ein einzelner, damit also ein Werk bestehn bleibt, das vielleicht ein einzelner geschaffen hat: dazu muß dem einzelnen alle mögliche Art von Beschränkung, von Einseitigkeit usw. auferlegt werden. Mit welchem Mittel? Die Liebe, Verehrung, Dankbarkeit gegen die Person, die das Werk schuf, ist eine Erleichterung: oder daß unsere Vorfahren es erkämpft haben: oder daß meine Nachkommen nur so garantiert sind, wenn ich jenes Werk (z.B. die poliV) garantiere. Moral ist wesentlich das Mittel, über die einzelnen hinweg oder vielmehr durch eine Versklavung der einzelnen etwas zur Dauer zu bringen. Es versteht sich, daß die Perspektive von unten nach oben ganz andere Ausdrücke geben wird als die von oben nach unten. Ein Macht-Komplex: wie wird er erhalten? Dadurch, daß viele Geschlechter ihm sich opfern.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 490-491

Das Kontinuum: »Ehe, Eigentum, Sprache, Tradition, Stamm, Familie, Volk, Staat« sind Kontinuen niederer und höherer Ordnung. Die Ökonomik derselben besteht in dem Überschusse der Vorteile der ununterbrochenen Arbeit, sowie der Vervielfachung über die Nachteile: die größeren Kosten der Auswechslung der Teile oder der Dauerbarmachung derselben. (Vervielfältigung der wirkenden Teile, welche doch vielfach unbeschäftigt bleiben, also größere Anschaffungskosten und nicht unbedeutende Kosten der Erhaltung.) Der Vorteil besteht darin, daß die Unterbrechungen vermieden und die aus ihnen entspringenden Verluste gespart werden. Nichts ist kostspieliger als ein Anfang. »Je größer die Daseinsvorteile, desto größer auch die Erhaltungs- und Schaffungskosten (Nahrung und Fortpflanzung); desto größer auch die Gefahren und die Wahrscheinlichkeit, vor der erreichten Höhe zugrunde zu gehen.«“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 491

„Bei den Ehen im bürgerlichen Sinne des Wortes, wohlverstanden im achtbartsen Sinne des Wortes »Ehe«, handelt es sich ganz und gar nicht um Liebe, ebensowenig, als es sich dabei um Geld handelt – aus der Liebe läßt sich keine Institution machen –: sondern um die gesellschaftliche Erlaubnis, die zwei Personen zur Geschlechtsbefriedigung aneinander erteilt wird, unter Bedingungen, wie sich von selbst versteht, aber solchen, welche das Interesse der Gesellschaft im Auge haben. Daß einiges Wohlgefallen der Beteiligten und sehr viel guter Wille – Wille zur Geduld, Verträglichkeit, Fürsorge füreinander – – zu den Voraussetzungen eines solchen Vertrags gehören wird, liegt auf der Hand; aber das Wort Liebe sollte man dafür nicht mißbrauchen! Für zwei Liebende im ganzen und starken Sinn des Wortes ist eben die Geschlechtsbefriedigung nichts Wesentliches und eigentlich nur ein Symbol: für den einen Teil, wie gesagt, Symbol der unbedingten Unterwerfung, für den andern Symbol der Zustimmung zu ihr, Zeichen der Besitzergreifung. – Bei der Ehe im adeligen, altadeligen Sinne des Wortes handelte es sich um Züchtung einer Rasse (gibt es heute noch Adel? Quaeritur) – also um Aufrechterhaltung eines festen, bestimmten Typus herrschender Menschen: diesem Gesichtspunkt wurde Mann und Weib geopfert. Es versteht sich, daß hier bei nicht Liebe das erste Erfordernis war, im Gegenteil! und noch nicht einmal jenes Maß von gutem Willen füreinander, welches die gute bürgerliche Ehe bedingt. Das Interesse eines Geschlechts zunächst entschied, und über ihm – der Stand. Wir würden vor der Kälte, Strenge und rechnenden Klarheit eines solchen vornehmen Ehe-Begriffs, wie er bei jeder gesunden Aristokratie geherrscht hat, im alten Athen wie noch im Europa des 18. Jahrhunderts, ein wenig frösteln, wir warmblütigen Tiere mit kitzlichem Herzen, wir »Modernen«! Eben deshalb ist die Liebe als Passion – nach dem großen Verstande des Wortes – für die aristokratische Welt erfunden worden und in ihr: da, wo der Zwang, die Entbehrung eben am größten waren.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 491-492

„Zur Zukunft der Ehe: – eine Steuer-Mehrbelastung (bei Erbschaften), auch Kriegsdienst-Mehrbelastung der Junggesellen von einem bestimmten Alter an und anwachsend (innerhalb der Gemeinde); Vorteile aller Art für Väter, welche reichlich Knaben in die Welt setzen: unter Umständen eine Mehrheit von Stimmen; ein ärztliches Protokoll, jeder Ehe vorangehend und von den Gemeinde-Vorständen unterzeichnet: worin mehrere bestimmte Fragen seitens der Verlobten und der Ärzte beantwortet sein müssen (»Familien-Geschichte« –); als Gegenmittel gegen die Prostitution (oder als deren Veredelung): Ehen auf Frist, legalisiert (auf Jahre, auf Monate), mit Garantie für die Kinder; jede Ehe verantwortet und befürwortet durch eine bestimmte Anzahl Vertrauensmänner einer Gemeinde: als Gemeinde-Angelegenheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 492-493

Auch ein Gebot der Menschenliebe. – Es gibt Fälle, wo ein Kind ein Verbrechen sein würde: bei chronisch Kranken und Neurasthenikern dritten Grades. Was hat man da zu tun? – Solche zur Keuschheit ermutigen, etwa mit Hilfe von Parsifal-Musik, mag immerhin versucht werden: Parsifal selbst, dieser typische Idiot, hatte nur zu viel Gründe, sich nicht fortzupflanzen. Der Übelstand ist, daß eine gewisse Unfähigkeit, sich zu »beherrschen« (– auf Reize, auf noch so kleine Geschlechtsreize nicht zu reagieren), gerade zu den regelmäßigsten Folgen der Gesamt-Erschöpfung gehört. .... Der Priester, der Moralist spielen da ein verlorenes Spiel; besser tut man noch, in die Apotheke zu schicken. Zuletzt hat hier die Gesellschaft eine Pflicht zu erfüllen: es gibt wenige dergestalt dringliche und grundsätzliche Forderungen an sie. Die Gesellschaft, als Großmandatar des Lebens, hat jedes verfehlte Leben vor dem Leben selber zu verantworten – sie hat es auch zu büßen: folglich soll sie es verhindern. Die Gesellschaft soll in zahlreichen Fällen der Zeugung vorbeugen: sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf Herkunft, Rang und Geist, die härtesten Zwangs-Maßregeln, Freiheits-Entziehungen, unter Umständen Kastrationen in Bereitschaft halten. – Das Bibel-Verbot »du sollst nicht töten!« ist eine Naivität im Vergleich zum Ernst des Lebens-Verbots an die décadents: »ihr sollt nicht zeugen!«... Das Leben selbst erkennt keine Solidarität, kein »gleiches Recht« zwischen gesunden und entartenden Teilen eines Organismus an: letztere muß man ausschneiden – oder das Ganze geht zugrunde. – Mitleiden mit den décadents, gleiche Rechte auch für die Mißratenen – das wäre die tiefste Unmoralität, das wäre die Widernatur selbst als Moral!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 494-494

„Wir lernen in unsrer zivilisierten Welt fast nur den ... Verbrecher kennen ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 494

„Inmitten unsrer späten Kultur ist die Fatalität und die Degenereszenz etwas, das vollkommen den Sinn von Lohn und Strafe aufhebt .... Es setzt junge, starke, kräftige Rassen voraus, dieses wirkliche Bestimmen der Handlung durch Lohn- und Straf-Aussicht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 495

„Man vermag nur solche Menschen in die Höhe zu bringen, die man nicht mi Verachtung behandelt; die moralische Verachtung ist eine größere Entwürdigung und Schädigung als irgendein Verbrechen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 498

„Ja, die Philosophie des rechts. Das ist eine Wissenschaft, welche wie alle moralische Wissenschaft noch nicht einmal in der Windel liegt!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 500

„Ein alter Chinese sagte, er habe gehört, wenn Reiche zugrunde gehn sollen, so hätten sie viele Gesetze.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 500

„Schopenhauer wünscht, daß man die Schurken kastriert und die Gänse ins Kloster sperrt: von welchem Gesichtspunkte aus könnte das wünschbar sein? Der Schurke hat das vor vielen Menschen voraus, daß er nicht mittelmäßig ist; und der Dumme das vor uns, daß er nicht am Anblick der Mittelmäßigkeit leidet. Wünschbarer wäre es, daß die Kluft größer würde, also die Schurkerei und die Dummheit wüchse. Dergestalt erweiterte sich die menschliche Natur .... Aber zuletzt ist eben das auch das Notwendige; es geschieht und wartet nicht darauf, ob wir es wünschen oder nicht. Die Dummheit, die Schurkerei wachsen: das gehört zum »Fortschritt«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 500-501

„Ein wenig reine Luft! Dieser absurde Zustand Europas soll nicht mehr lange dauern! Gibt es irgendeinen Gedanken hinter diesem Hornvieh-Nationalismus? Welchen Wert könnte es haben, jetzt, wo alles auf größere und gemeinsame Interessen hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle aufzustacheln? Und das in einem Zustande, wo die geistige Unselbständigkeit und Entnationalisierung in die Augen springt und in einem gegenseitigen Sich-Verschmelzen und -Befruchtender eigentliche Wert und Sinn der jetzigen Kultur liegt! .... Und das »neue Reich«, wieder auf den verbrauchtesten und bestverachteten Gedanken gegründet: die Gleichheit der Rechte und der Stimmen. Das Ringen um einen Vorrang innerhalb eines Zustandes, der nichts taugt; diese Kultur der Großstädte, der Zeitungen, des Fiebers und der »Zwecklosigkeit« –! Die wirtschaftliche Einigung Europas kommt mit Notwendigkeit – und ebenso, als Reaktion, die Friedenspartei .... Eine Partei des Friedens, ohne Sentimentalität, welche sich und ihren Kindern verbietet, Krieg zu führen; verbietet, sich der Gerichte zu bedienen; welche den Kampf, den Widerspruch, die Verfolgung gegen sich heraufbeschwört: eine Partei der Unterdrückten, wenigstens für eine Zeit; alsbald die große Partei. Gegnerisch gegen die Rach– und Nachgefühle. Eine Kriegspartei, mit der gleichen Grundsätzlichkeit und Strenge gegen sich, in umgekehrter Richtung vorgehend –.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 502-503

„Die verfaulten herrschenden Stände haben das Bild des Herrschenden verdorben. Der »Staat«, als Hericht übend, ist eine Feigheit, weil der große Mensch fehlt, an dem gemessen werden kann. Zuletzt wird die Unsicherheit so groß, daß die Menschen vor jeder Willenskraft, die befiehlt, in den Staub fallen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 503

„»Der Wille zur Macht« wird in demokratischen Zeitaltern dermaßen gehaßt, daß deren ganze Psychologie auf seine Verkleinerung und Verleumdung gerichtet scheint. Der Typus des großen Ehrgeizigen: das soll Napoleon sein! Und Cäsar! und Alexander! – Als ob das nicht gerade die größten Verächter der Ehre wären! Und Helvétius entwickelt uns, daß man nach Macht strebt, um die Genüsse zu haben, welche dem Mächtigen zu Gebote stehn – er versteht dieses Streben nach Macht als Willen zum Genuß! als Hedonismus!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 503-504

„Ich bin abgeneigt
1. dem Sozialismus, weil er ganz naiv vom »Guten, Wahren, Schönen« und von »gleichen Rechten« träumt (auch der Anarchismus wll, nur auf brutalere Weise, das gleiche Ideal!);
2. dem Parlamentarismus und Zeitungswesen, weil das die Mittel sind, wodurch das Herdentier sich zum Hernn macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 504

„Die Bewaffnung des Volkes – ist schließlich die Bewaffnung des Pöbels.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 504

„Wie mir die Sozialisten lächerlich sind mit ihrem albernen Optimismus vom »guten Menschen«, der hinter dem Busche wartet, wenn man nur erst die bisherige »Ordnung« abgeschafft hat und alle »natürlichen Triebe« losläßt. Und die Gegenpartei ist ebenso lächerlich, weil sie die Gewalttat in dem Gesetz, die Härte und den Egoismus in jeder Art Autorität nicht zugesteht. »,Ich und meine Art' will herrschen und übrigbleiben: wer entartet, wird ausgestoßen oder vernichtet« – ist Grundgefühl jeder alten Gesetzgebung. Man haßt die Vorstellung einer höheren Art Menschen mehr als die Monarchen. Anti-aristokratisch: das nimmt den Monarchenhaß nur als Maske.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 505

„Wie verräterisch sind alle Parteien! – sie bringen etwas von ihren Führern ans Licht, das von ihnen vielleicht mit großer Kunst unter den Scheffel gestellt ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 505

„Der moderne Sozialismus will die weltliche Nebenform des Jesuitismus schaffen: jeder absolutes Werkzeug. Aber der Zweck, das Wozu? ist nicht aufgefunden bisher.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 505

„Die Sklaverei in der Gegenwart: eine Barbarei! Wo sind die, für welche sie arbeiten? Man muß nicht immer Gleichzeitigkeit der beiden sich komplementierenden Kasten erwarten. Der Nutzen und das Vergnügen sind Sklaven-Theorien vom Leben: der »Segen der Arbeit« ist eine Verherrlichung ihrer selber. – Unfähigkeit zum otium.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 505

„Man hat kein Recht weder auf Dasein, noch auf Arbeit, noch gar auf »Glück«: es steht mit dem einzelnen Menschen nicht anders, als mit dem niedrigsten Wurm.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 506

„Die europäische Demokratie ist zum kleinsten Teil eine Entfesselung von Kräften. Vor allem ist sie eine Entfesselung von Faulheiten, von Müdigkeiten, von Schwächen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 506

„Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht worden sind, ist es der Instinkt der Rache gewesen, der da suchte. Dieser Instinkt der Rache wurde in Jahrtausenden dermaßen über die Menschheit Herr, daß die ganze Metaphysik, Psychologie, Geschichtsvorstellung, vor allem aber die Moral mit ihm abgezeichnet ist. Soweit auch nur der Mensch gedacht hat, so weit hat er den Bazillus der Rache in die Dinge geschleppt. Er hat Gott selbst damit krank gemacht, er hat das Dasein überhaupt um seine Unschuld gebracht: nämlich dadurch, daß er jedes So-und-so-sein auf Willen, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückführte. Die ganze Lehre vom Willen, diese verhängnisvollste Fälschung in der bisherigen Psychologie, wurde wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe. Es war die gesellschaftliche Nützlichkeit der Strafe, die diesem Begriff seine Würde, seine Macht, seine Wahrheit verbürgte. Die Urheber jener Psychologie – der Willens-Psychologie – hat man in den Ständen zu suchen, welche das Strafrecht in den Händen hatten, voran in dem der Priester an der Spitze der ältesten Gemeinwesen: diese wollten sich ein Recht schaffen, Rache zu nehmen – sie wollten Gott ein Recht zur Rache schaffen. Zu diesem Zwecke wurde der Mensch »frei« gedacht; zu diesem Zwecke mußte jede Handlung als gewollt, mußte der Ursprung jeder Handlung als im Bewußtsein liegend gedacht werden. Aber mit diesen Sätzen ist die alte Psychologie widerlegt. Heute, wo Europa in die umgekehrte Bewegung eingetreten scheint, wo wir Halkyonier zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und Strafbegriff aus der Welt wieder zurückzuziehen, herauszunehmen, auszulöschen suchen, wo unser größter Ernst darauf aus ist, die Psychologie, die Moral, die Geschichte, die Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen, Gott selbst von diesem Schmutze zu reinigen, – in wem müssen wir unsre natürlichsten Antagonisten sehen? Eben in jenen Aposteln der Rache und des Ressentiments, in jenen Entrüstungs-Pessimisten par excelence, welche eine Mission daraus machen, ihren Schmutz unter dem Namen »Entrüstung« zu heiligen... Wir anderen, die wir dem Werden seine Unschuld zurückzugewinnen wünschen, möchten die Missionare eines reinlicheren Gedankens sein: daß niemand dem Menschen seine Eigenschaften gegeben hat, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst, – daß niemand schuld an ihm ist .... Es fehlt ein Wesen, das dafür verantwortlich gemacht werden könnte, daß jemand überhaupt da ist, daß jemand so und so ist, daß jemand unter diesen Umständen, in dieser Umgebung geboren ist. – Es ist ein großes Labsal, daß solch ein Wesen fehlt .... Wir sind nicht das Resultat einer ewigen Absicht, eines Willens, eines Wunsches: mit uns wird nicht der Versuch gemacht, ein »Ideal von Vollkommenheit« oder ein »Ideal von Glück« oder ein »Ideal von Tugend« zu erreichen – wir sind ebensowenig der Fehlgriff Gottes, vor dem ihm selber angst werden müßte (mit welchem Gedanken bekanntlich das Alte Testament beginnt). Es fehlt jeder Ort, jeder Zweck, jeder Sinn, wohin wir unser Sein, unser So-und-so-sein abwälzen könnten. Vor allem: niemand könnte es: man kann das Ganze nicht richten, messen, vergleichen oder gar verneinen! Warum nicht? – Aus fünf Gründen, allesamt selbst bescheidenen Intelligenzen zugänglich: zum Beispiel, weil es nichts gibt außer dem Ganzen .... Und nochmals gesagt, das ist ein großes Labsal, darin liegt die Unschuld alles Daseins.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 509-511

„Welcher Grad von Widerstand beständig überwunden werden muß, um obenauf zu bleiben, das ist das Maß der Freiheit, sei es für einzelne, sei es für Gesellschaften: Freiheit nämlich als positive Macht, als Wille zur Macht angesetzt. Die höchste Form der Individual-Freiheit, der Souveränität wüchse demnach, mit großer Wahrscheinlichkeit, nicht fünf Schritt weit von ihrem Gegensatze auf, dort wo die Gefahr der Sklaverei gleich hundert Damoklesschwertern über dem Dasein hängt. Man gehe daraufhin durch die Geschichte: die Zeiten, wo das »Individuum« bis zu jener Vollkommenheit reif, das heißt frei wird, wo der klassische Typus des souveränen Menschen erreicht ist: o nein! das waren niemals humane Zeiten!
Man muß keine Wahl haben: entweder obenauf – oder unten, wie ein Wurm, verhöhnt, vernichtet, zertreten. Man muß Tyrannen gegen sich haben, um Tyrann, d. h. frei zu werden. Es ist kein kleiner Vorteil, hundert Damoklesschwerter über sich zu haben: damit lernt man tanzen, damit kommt man zur »Freiheit der Bewegung«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 512-513

„Scheinbar entgegengesetzt die zwei Züge, welche die modernen Europäer kennzeichnen: das Individualisti sche und die Forderung gleicher Rechte: das verstehe ich endlich. Nämlich, das Individuum ist eine äußerst verwundbare Eitelkeit – diese fordert, bei ihrem Bewußtsein wie schnell sie leidet, daß jeder andere ihm gleichgestellt gelte, daß er nur inter pares sei. Damit ist eine gesellschaftliche Rasse charakterisiert, in welcher tatsächlich die Begabungen und Kräfte nicht erheblich auseinandergehn. Der Stolz, welcher Einsamkeit und wenige Schätzer will, ist ganz außer Verständnis; die ganz »großen« Erfolge gibt es nur durch Massen, ja man begreift es kaum noch, daß ein Massen-Erfolg immer eigentlich ein kleiner Erfolg ist: weil pulchrum est paucorum hominum. Alle Moralen wissen nichts von »Rangordnung« der Menschen; die Rechtslehrer nichts vom Gemeinde-Gewissen. Das Individual-Prinzip lehnt die ganz großen Menschen ab und verlangt, unter ungefähr gleichen, das feinste Auge und die schnellste Herauserkennung eines Talentes; und weil jeder etwas von Talenten hat, in solchen späten und zivilisierten Kulturen – also erwarten kann, sein Teil Ehre zurückzubekommen –, deshalb findet heute ein Herausstreichen der kleinen Verdienste statt wie niemals noch: es gibt dem Zeitalter einen Anstrich von grenzenloser Billigkeit. Seine Unbilligkeit besteht in einer Wut ohne Grenzen nicht gegen die Tyrannen und Volksschmeichler, auch in den Künsten, sondern gegen die vornehmen Menschen, welche das Lob der vielen verachten. Die Forderung gleicher Rechte (z. B. über alles und jeden zu Gericht sitzen zu dürfen) ist anti-aristokratisch. Ebenso fremd ist ihm das verschwundene Individuum, das Untertauchen in einen großen Typus, das Nicht-Person-sein-wollen: worin die Auszeichnung und der Eifer vieler hohen Menschen früher bestand (die größten Dichter darunter); oder »Stadt-sein« wie in Griechenland; Jesuitismus, preußisches Offiziers-Korps und Beamtentum; oder Schüler-sein und Fortsetzer großer Meister: wozu ungesellschaftliche Zustände und der Mangel der kleinen Eitelkeit nötig ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 521-522

„Der Individualismus ist eine bescheidene und noch unbewußte Art des »Willens zur Macht«; hier scheint es dem einzelnen schon genug, freizukommen von einer Übermacht der Gesellschaft (sei es des Staates oder der Kirche). Er setzt sich nicht als Person in Gegensatz, sondern bloß als einzelner; er vertritt alle einzelnen gegen die Gesamtheit. Das heißt: er setzt sich instinktiv gleich an mit jedem einzelnen; was er erkämpft, das erkämpft er nicht sich als Person, sondern sich als Vertreter einzelner gegen die Gesamtheit.
Der Sozialismus ist bloß ein Agitationsmittel des Individualismus: er begreift, daß man sich, um etwas zu erreichen, zu einer Gesamtaktion organisieren muß, zu einer »Macht«. Aber was er will, ist nicht die Sozietät als Zweck des einzelnen, sondern die Sozietät als Mittel zur Ermöglichung vieler einzelnen: – das ist der Instinkt der Sozialisten, über den sie sich häufig betrügen (– abgesehen, daß sie, um sich durchzusetzen, häufig betrügen müssen). Die altruistische Moral-Predigt im Dienste des Individual-Egoismus: eine der gewöhnlichsten Falschheiten des neunzehnten Jahrhunderts.
Der Anarchismus ist wiederum bloß ein Agitationsmittel des Sozialismus; mit ihm erregt er Furcht, mit der Furcht beginnt er zu faszinieren und zu terrorisieren: vor allem – er zieht die Mutigen, die Gewagten auf seine Seite, selbst noch im Geistigsten.
Trotz alledem: der Individualismus ist die bescheidenste Stufe des Willens zur Macht.
Hat man eine gewisse Unabhängigkeit erreicht, so will man mehr: es tritt die Sonderung heraus nach dem Grade der Kraft: der Einzelne setzt sich nicht ohne weiteres mehr gleich, sondern er sucht nach seinesgleichen – er hebt andere von sich ab. Auf den Individualismus folgt die Glieder– und Organbildung: die verwandten Tendenzen sich zusammenstellend und sich als Macht betätigend: zwischen diesen Machtzentren Reibung, Krieg, Erkenntnis beiderseitiger Kräfte, Ausgleichung, Annäherung, Festsetzung von Austausch der Leistungen. Am Schluß: eine Rangordnung.
Rekapitulation:
1. Die Individuen machen sich frei;
2. sie treten in Kampf, sie kommen über »Gleichheit der Rechte« überein (– »Gerechtigkeit« als Ziel –);
3. ist das erreicht, so treten die tatsächlichen Ungleichheiten der Kraft in eine vergrößerte Wirkung (weil im großen ganzen der Friede herrscht und viele kleine Kraft-Quanta schon Differenzen ausmachen, solche, die früher fast gleich null waren). Jetzt organisieren sich die Einzelnen zu Gruppen; die Gruppen streben nach Vorrechten und nach Übergewicht. Der Kampf, in milderer Form, tobt von neuem.
Man will Freiheit, solange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht; erringt man sie nicht (ist man noch zu schwach zu ihr), will man »Gerechtigkeit«, d.h. gleiche Macht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 522-524

Berichtigung des Begriffs »Egoismus«. – Hat man begriffen, inwiefern »Individuum« ein Irrtum ist, sondern jedes Einzelwesen eben der ganze Prozeß in gerader Linie ist (nicht bloß »vererbt«, sondern er selbst –), so hat das Einzelwesen eine ungeheuer große Bedeutung. Der Instinkt redet darin ganz richtig. Wo dieser Instinkt nachläßt, – wo das Individuum sich einen Wert erst im Dienst für andere sucht, kann man sicher auf Ermüdung und Entartung schließen. Der Altruismus der Gesinnung, gründlich und ohne Tartüfferie, ist ein Instinkt dafür, sich wenigstens einen zweiten Wert zu schaffen, im Dienste anderer Egoismen. Meistens aber ist er nur scheinbar: ein Umweg zur Erhaltung des eigenen Lebensgefühls, Wertgefühls.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 524

„Geschichte der Vermoralisierung und Entmoralisierung
Erster Satz: Es gilt gar keine moralischen Handlungen: sie sind vollkommen eingebildet. Nicht nur, daß sie nicht nachweisbar sind (was z. B. Kant zugab und das Christentum insgleichen), – sondern sie sind gar nicht möglich. Man hat einen Gegensatz zu den treibenden Kräften erfunden, durch ein psychologisches Mißverständnis, und glaubt eine andere Art von ihnen bezeichnet zu haben; man hat ein primum mobile fingiert, das gar nicht existiert. Nach der Schätzung, welche überhaupt den Gegensatz »moralisch« und »unmoralisch« aufgebracht hat, muß man sagen: es gibt nur unmoralische Absichten und Handlungen.
Zweiter Satz: Diese ganze Unterscheidung »moralisch« und »unmoralisch« geht davon aus, daß sowohl die moralischen als die unmoralischen Handlungen Akte der freien Spontaneität seien – kurz, daß es eine solche gebe, oder anders ausgedrückt: daß die moralische Beurteilung überhaupt sich nur auf eine Gattung von Absichten und Handlungen beziehe, die freien. Aber diese ganze Gattung von Absichten und Handlungen ist rein imaginär: die Welt, an welche der moralische Maßstab allein anlegbar ist, existiert gar nicht – es gibt weder moralische noch unmoralische Handlungen.
Der psychologische Irrtum, aus dem der Gegensatz-Begriff »moralisch« und »unmoralisch« entstanden ist: »selbstlos«, »unegoistisch«, »selbstverleugnend« – alles unreal, fingiert. Fehlerhafter Dogmatismus in betreff des »ego«: dasselbe als atomistisch genommen, in einem falschen Gegensatz zum »Nicht-Ich«; insgleichen aus dem Werden herausgelöst, als etwas Seiendes. Die falsche Versubstanzialisierung des Ich: diese (in dem Glauben an die individuelle Unsterblichkeit) besonders unter dem Druck religiös-moralischer Zucht zum Glaubensartikel gemacht. Nach dieser künstlichen Loslösung und An-und-für-sich-Erklärung des ego hatte man einen Wert-Gegensatz vor sich, der unwidersprechlich schien: das Einzel-ego und das ungeheure Nicht-Ich. Es schien handgreiflich, daß der Wert des Einzel-ego nur darin liegen könne, sich auf das ungeheure »Nicht-Ich« zu beziehen resp. sich ihm unterzuordnen und um seinet-willen zu existieren. – Hier waren die Herden-Instinkte bestimmend: nichts geht so sehr wider diese Instinkte als die Souveränität des Einzelnen. Gesetzt aber, das ego ist begriffen als ein An-und-für-sich, so muß sein Wert in der Selbstverneinung liegen. Also:
1. die falsche Verselbständigung des »Individuums«, als Atom;
2. die Herden-Würdigung, welche das Atom-bleiben-wollen perhorresziert und als feindlich empfindet;
3. als Folgerung: Überwindung des Individuums durch Verlegung seines Ziels;
4. nun schien es Handlungen zu geben, welche selbstverneinend waren: man phantasierte um sie eine ganze Sphäre von Gegensätzen herum;
5. man fragte: in welchen Handlungen bejaht sich der Mensch am stärksten? Um diese (Geschlechtlichkeit, Habsucht, Herrschsucht, Grausamkeit usw.) wurde der Bann, der Haß, die Verachtung gehäuft: man glaubte, daß es unselbstische Triebe gibt, man verwarf alle selbstischen, man verlangte die unselbstischen;
6. Folge davon: was hatte man getan? Man hatte die stärksten, natürlichsten, mehr noch, die einzig realen Triebe in Bann getan, – man mußte, um eine Handlung fürderhin lobenswert zu finden, in ihr die Anwesenheit solcher Triebe leugnenungeheure Fälscherei in psychologicis. Selbst jede Art »Selbstzufriedenheit« hatte sich erst dadurch wieder möglich zu machen, daß man sich sub specie boni mißverstand und zurechtlegte. Umgekehrt: jene Spezies, wel che ihren Vorteil davon hatte, dem Menschen seine Selbstzufriedenheit zu nehmen (die Repräsentanten des Herden-Instinkts, z. B. die Priester und Philosophen), wurde fein und psychologisch-scharfsichtig, zu zeigen, wie überall doch die Selbstsucht herrsche. Christlicher Schluß: »Alles ist Sünde; auch unsre Tugenden. Absolute Verwerflichkeit des Menschen. Die selbstlose Handlung ist nicht möglich.« Erbsünde. Kurz: nachdem der Mensch seinen Instinkt in Gegensatz zu einer rein imaginären Welt des Guten gebracht hatte, endete er mit Selbstverachtung, als unfähig, Handlungen zu tun, welche »gut« sind.
NB. Das Christentum bezeichnet damit einen Fortschritt in der psychologischen Verschärfung des Blicks: Larochefoucauld und Pascal. Es begriff die Wesensgleichheit der menschlichen Handlungen und ihre Wert-Gleichheit in der Hauptsache (– alle unmoralisch).
Nun machte man Ernst, Menschen zu bilden, in denen die Selbstsucht getötet ist – die Priester, die Heiligen. Und wenn man zweifelte an der Möglichkeit, »vollkommen« zu werden, man zweifelte nicht, zu wissen, was vollkommen ist. Die Psychologie des Heiligen, des Priesters, des »guten Menschen« mußte natürlich rein phantasmagorisch ausfallen. Man hatte die wirklichen Motive des Handelns für schlecht erklärt: man mußte, um überhaupt noch handeln zu können, Handlungen vorschreiben zu können, Handlungen, die gar nicht möglich sind, als möglich beschreiben und gleichsam heiligen. Mit derselben Falschheit, mit der man verleumdet hatte, hat man nunmehr verehrt und veridealisiert. Das Wüten gegen die Instinkte des Lebens als »heilig«, verehrungswürdig. Die absolute Keuschheit, der absolute Gehorsam, die absolute Armut: priesterliches Ideal. Almosen, Mitleiden, Aufopferung, Verleugnung des Schönen, der Vernunft, der Sinnlichkeit, moroser Blick für alle starken Qualitäten, die man hat: Laien-Ideal. Man kommt vorwärts: die verleumdeten Instinkte suchen sich auch ein Recht zu schaffen (z. B. Luthers Reformation: gröbste Form der moralischen Verlogenheit unter der »Freiheit des Evangeliums«), – man tauft sie um auf heilige Namen; die verleumdeten Instinkte suchen sich als notwendig zu beweisen, damit die tugendhaften überhaupt möglich sind; man muß vivre, pour vivre pour autrui: Egoismus als Mittel zum Zweck; man geht weiter, man sucht sowohl den egoistischen als auch den altruistischen Regungen ein Existenz-Recht zu geben: Gleichheit der Rechte für die einen wie für die andern (vom Gesichtspunkt des Nutzens); man geht weiter, man sucht die höhere Nützlichkeit in der Bevorzugung des egoistischen Gesichtspunktes gegenüber dem altruistischen: nützlicher in Hinsicht auf das Glück der meisten oder die Förderung der Menschheit usw. Also: ein Übergewicht an Rechten des Egoismus, aber unter einer extrem altruistischen Perspektive (»Gesamt-Nutzen der Menschheit«); man sucht die altruistische Handlungsweise mit der Natürlichkeit zu versöhnen, man sucht das Altruistische auf dem Grunde des Lebens; man sucht das Egoistische wie das Altruistische als gleich begründet im Wesen des Lebens und der Natur; man träumt von einem Verschwinden des Gegensatzes in irgendeiner Zukunft, wo, durch fortgesetzte Anpassung, das Egoistische auch zugleich das Altruistische ist; endlich, man begreift, daß die altruistischen Handlungen nur eine Spezies der egoistischen sind – und daß der Grad, in dem man liebt, sich verschwendet, ein Beweis ist für den Grad einer individuellen Macht und Personalität. Kurz, daß man, indem man den Menschen böser macht, ihn besser macht – und daß man das eine nicht ohne das andere ist... Damit geht der Vorhang auf vor der ungeheuren Fälschung der Psychologie des bisherigen Menschen.
Folgerungen: es gibt nur unmoralische Absichten und Handlungen; – die sogenannten moralischen sind also als Unmoralitäten nachzuweisen. Die Ableitung aller Affekte aus dem einen Willen zur Macht: wesensgleich. Der Begriff des Lebens: – es drücken sich in dem anscheinenden Gegensatze (von »gut und böse«) Machtgrade von Instinkten aus, zeitweilige Rangordnung, unter der gewisse Instinkte im Zaum gehalten werden oder in Dienst genommen werden. – Rechtfertigung der Moral: ökonomisch usw..
Gegen den zweiten Satz. Der Determinismus: Versuch, die moralische Welt zu retten, dadurch daß man sie transloziert – ins Unbekannte. Der Determinismus ist nur ein modus, unsre Wertschätzungen eskamotieren zu dürfen, nachdem sie in der mechanistisch-gedachten Welt keinen Platz haben. Man muß deshalb den Determinismus angreifen und unterminieren: insgleichen unser Recht zu einer Scheidung einer An-sich- und Phänomenal-Welt bestreiten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 524-529

„Ist man über das »Warum?« seines Lebens mit sich im reinen, so gibt man dessen »Wie?« leichten Kaufs dahin. Es ist selbst schon ein Zeichen von Unglauben an Warum, an Zweck und Sinn, ein Mangel an Willen, wenn der Wert von Lust und Unlust in den Vordergrund tritt und hedonistisch-pessimistische Lehren Gehör finden; und Entsagung, Resignation, Tugend, »Objektivität« können zum mindesten schon Zeichen davon sein, daß es an der Hauptsache zu mangeln beginnt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 531

„Deutschland, welches reich ist an geschickten und wohlunterrichteten Gelehrten, ermangelt in einem solchen Maße seit langer Zeit der großen Seelen, der mächtigen Geister, daß es verlernt zu haben scheint, was eine große Seele, was ein mächtiger Geist ist: und heutzutage stellen sich, beinahe mit gutem Gewissen und aller Verlegenheit bar, mittelmäßige und dazu noch übelgeratene Menschen an den Markt und preisen sich selber als große Männer, Reformatoren an; wie z. B. Eugen Dühring tut, wahrhaftig ein geschickter und wohlunterrichteter Gelehrter, der aber doch fast mit jedem Worte verrät, daß er eine kleinliche Seele herbergt und durch enge neidische Gefühle zerquetscht wird; auch daß nicht ein mächtiger, überschäumender, wohltätig-verschwenderischer Geist ihn treibt – sondern der Ehrgeiz! In diesem Zeitalter aber nach Ehren zu geizen, ist eines Philosophen noch viel unwürdiger als in irgendeinem früheren Zeitalter: jetzt, wo der Pöbel herrscht, wo der Pöbel die Ehren vergibt!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 531-532

„Das Kunstwerk, wo es ohne Künstler erscheint, z. B. als Leib, als Organisation (preußisches Offizierkorps, Jesuitenorden). Inwiefern der Künstler nur eine Vorstufe ist. Die Welt als ein sich selbstgebärendes Kunstwerk.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 533

Apollinisch – dionysisch. – Es gibt zwei Zustände, in denen die Kunst selbst wie eine Naturgewalt im Menschen auftritt, über ihn verfügend, ob er will oder nicht: einmal als Zwang zur Vision, andrerseits als Zwang zum Orgiasmus. Beide Zustände sind auch im normalen Leben vorgespielt, nur schwächer: im Traum und im Rausch. Aber derselbe Gegensatz besteht noch zwischen Traum und Rausch: beide entfesseln in uns künstlerische Gewalten, jede aber verschieden: der Traum die des Sehens, Verknüpfens, Dichtens; der Rausch die der Gebärde, der Leidenschaft, des Gesangs, des Tanzes.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 534

„Im dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust: sie fehlt nicht im apollinischen. Es muß noch eine Tempo-Verschiedenheit in beiden Zuständen geben .... Die extreme Ruhe gewisser Rauschempfindungen (strenger: die Verlangsamung des Zeit-und Raumgefühls) spiegelt sich gern in der Vision der ruhigsten Gebärden und Seelen-Arten. Der klassische Stil stellt wesentlich diese Ruhe, der Macht ist konzentriert im klassischen Typus. Schwer reagieren: ein großes Bewußtsein: kein Gefühl von Kampf.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 534

„Die Häßlichkeit bedeutet décadence eines Typus, Widerspruch und mangelnde Koordination der inneren Begehrungen – bedeutet einen Niedergang an organisierender Kraft, an »Willen«, psychologisch geredet. Der Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein hohes Machtgefühl... Die Raum- und Zeit-Empfindungen sind verändert: ungeheure Fernen werden überschaut und gleichsam erst wahrnehmbar; die Ausdehnung des Blicks über größere Mengen und Weiten; die Verfeinerung des Organs für die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten; die Divination, die Kraft des Verstehens auf die leiseste Hilfe hin, auf jede Suggestion hin: die »intelligente« Sinnlichkeit-; die Stärke als Herrschaftsgefühl in den Muskeln, als Geschmeidigkeit und Lust an der Bewegung, als Tanz, als Leichtigkeit und Presto; die Stärke als Lust am Beweis der Stärke, als Bravourstück, Abenteuer, Furchtlosigkeit, Gleichgültigkeit gegen Leben und Tod... Alle diese Höhen-Momente des Lebens regen sich gegenseitig an; die Bilder- und Vorstellungswelt des einen genügt, als Suggestion, für den andern: – dergestalt sind schließlich Zustände ineinander verwachsen, die vielleicht Grund hätten, sich fremd zu bleiben. Zum Beispiel: das religiöse Rauschgefühl und die Geschlechtserregung (– zwei tiefe Gefühle, nachgerade fast verwunderlich koordiniert. Was gefällt allen frommen Frauen, alten? jungen? Antwort: ein Heiliger mit schönen Beinen, noch jung, noch Idiot). Die Grausamkeit in der Tragödie und das Mitleid (– ebenfalls normal koordiniert ...). Frühling, Tanz, Musik: – alles Wettbewerb der Geschlechter, – und auch noch jene Faustische »Unendlichkeit im Busen«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 535-536

Biologischer Wert des Schönen und des Häßlichen. – Was uns instinktiv widersteht, ästhetisch, ist aus allerlängster Erfahrung dem Menschen als schädlich, gefährlich, mißtrauen-verdienend bewiesen: der plötzlich redende ästhetische Instinkt (im Ekel z. B.) enthält ein Urteil. Insofern steht das Schöne innerhalb der allgemeinen Kategorie der biologischen Werte des Nützlichen, Wohltätigen, Leben-steigernden: doch so, daß eine Menge Reize, die ganz von ferne an nützliche Dinge und Zustände erinnern und anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen, d. h. der Vermehrung von Machtgefühl geben (– nicht also bloß Dinge, sondern auch die Begleitempfindungen solcher Dinge oder ihre Symbole). Hiermit ist das Schöne und Häßliche als bedingt erkannt; nämlich in Hinsicht auf unsre untersten Erhaltungswerte. Davon abgesehen ein Schönes und ein Häßliches ansetzen wollen, ist sinnlos. Das Schöne existiert so wenig als das Gute, das Wahre. Im einzelnen handelt es sich wieder um die Erhaltungsbedingungen einer bestimmten Art von Mensch: so wird der Herdenmensch bei anderen Dingen das Wertgefühl des Schönen haben als der Ausnahme- und Über-Mensch. Es ist die Vordergrunds-Optik, welche nur die nächsten Folgen in Betracht zieht, aus der der Wert des Schönen (auch des Guten, auch des Wahren) stammt.

Alle Instinkt-Urteile sind kurzsichtig in Hinsicht auf die Kette der Folgen: sie raten an, was zunächst zu tun ist. Der Verstand ist wesentlich ein Hemmungsapparat gegen das Sofort-Reagieren auf das Instinkt-Urteil: er hält auf, er überlegt weiter, er sieht die Folgenkette ferner und länger. Die Schönheits– und Häßlichkeits-Urteile sind kurzsichtig (– sie haben immer den Verstand gegen sich –): aber im höchsten Grade überredend; sie appellieren an unsre Instinkte, dort, wo sie am schnellsten sich entscheiden und ihr Ja und Nein sagen, bevor noch der Verstand zu Worte kommt. Die gewohntesten Schönheits-Bejahungen regen sich gegenseitig auf und an; wenn der ästhetische Trieb einmal in Arbeit ist, kristallisiert sich um »das einzelne Schöne« noch eine ganze Fülle anderer und anders – woher stammender Vollkommenheiten. Es ist nicht möglich, objektiv zu bleiben resp. die interpretierende, hinzugebende, ausfüllende, dichtende Kraft auszuhängen (– letztere ist jene Verkettung der Schönheits-Bejahungen selber). Der Anblick eines »schönen Weibes« .... Also
1. das Schönheits-Urteil ist kurzsichtig, es sieht nur die nächsten Folgen;
2. es überhäuft den Gegenstand, der es erregt, mit einem Zauber, der durch die Assoziation verschiedener Schönheits-Urteile bedingt ist – der aber dem Wesen jenes Gegenstandes ganz fremd ist. Ein Ding als schön empfinden heißt: es notwendig falsch empfinden – (weshalb, beiläufig gesagt, die Liebesheirat die gesellschaftlich unvernünftigste Art der Heirat ist).
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 538-539

„Der ästhetische Zustand hat einen Überreichtum von Mitteilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mitteilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen – er ist die Quelle der Sprachen. Die Sprachen haben hier ihren Entstehungsherd: die Tonsprachen so gut als die Gebärden-und Blicksprachen. Das vollere Phänomen ist immer der Anfang: unsere Vermögen sind subtilisiert aus volleren Vermögen. Aber auch heute hört man noch mit den Muskeln, man liest selbst noch mit den Muskeln. Jede reife Kunst hat eine Fülle Konvention zur Grundlage: insofern sie Sprache ist. Die Konvention ist die Bedingung der großen Kunst, nicht deren Verhinderung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 544-545

„Es sind die Ausnahme-Zustände, die den Künstler bedingen: alle, die mit krankhaften Erscheinungen tief verwandt und verwachsen sind: so daß es nicht möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank zu sein.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 545

„Ein Bild, innerlich auftauchend, wirkt schon als Bewegung der Glieder –, eine gewisse Willens-Aushängung ... (Schopenhauer!!!!) Eine Art Taubsein, Blindsein nach außen hin – das Reich der zugelassenen Reize ist scharf umgrenzt. Dies unterscheidet den Künstler vom Laien (dem künstlerisch- Empfänglichen): letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit; ersterer im Geben, – dergestalt, daß ein Antagonismus dieser beiden Begabungen nicht nur natürlich, sondern wünschenswert ist. Jeder dieser Zustände hat eine umgekehrte Optik – vom Künstler verlangen daß er sich die Optik des Zuhörers (Kritikers) einübe, heißt verlangen, daß er sich und seine schöpferische Kraft verarme... Es ist hier wie bei der Differenz der Geschlechter: man soll vom Künstler, der gibt, nicht verlangen, daß er Weib wird – daß er »empfängt«. Unsre Ästhetik war insofern bisher eine Weibs-Ästhetik, als nur die Empfänglichen für Kunst ihre Erfahrungen »was ist schön«? formuliert haben. In der ganzen Philosophie bis heute fehlt der Künstler .... Das ist, wie das Vorhergehende andeutete, ein notwendiger Fehler: denn der Künstler, der anfinge, sich zu begreifen, würde sich damit vergreifen, – er hat nicht zurückzusehen, er hat überhaupt nicht zu sehen, er hat zu geben. – Es ehrt einen Künstler, der Kritik unfähig zu sein – andernfalls ist er halb und halb, ist er »modern«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 546-547

„Ich setze hier eine Reihe psychologischer Zustände als Zeichen vollen und blühenden Lebens hin, welche man heute gewohnt ist, als krankhaft zu beurteilen. Nun haben wir inzwischen verlernt, zwischen gesund und krank von einem Gegensatze zu reden: es handelt sich um Grade – meine Behauptung in diesem Falle ist, daß, was heute »gesund« genannt wird, ein niedrigeres Niveau von dem darstellt, was unter günstigen Verhältnissen gesund wäre –, daß wir relativ krank sind... Der Künstler gehört zu einer noch stärkeren Rasse. Was uns schon schädlich, was bei uns krankhaft wäre, ist bei ihm Natur – – Aber man wendet uns ein, daß gerade die Verarmung der Maschine die extravagante Verständniskraft über jedwede Suggestion ermögliche:
Zeugnis unsre hysterischen Weiblein.
Die Überfülle an Säften und Kräften kann so gut Symptome der partiellen Unfreiheit, von Sinnes-Halluzinationen, von Suggestions-Raffinements mit sich bringen, wie eine Verarmung an Leben –, der Reiz ist anders bedingt, die Wirkung bleibt sich gleich .... Vor allem ist die Nachwirkung nicht dieselbe; die extreme Erschlaffung aller morbiden Naturen nach ihren Nerven-Exzentrizitäten hat nichts mit den Zuständen des Künstlers gemein: der seine guten Zeiten nicht abzubüßen hat .... Er ist reich genug dazu: er kann verschwenden, ohne arm zu werden. Wie man heute »Genie« als eine Form der Neurose beurteilen dürfte, so vielleicht auch die künstlerische Suggestiv-Kraft – und unsre Artisten sind in der Tat den hysterischen Weiblein nur zu verwandt!!! Das aber spricht gegen »heute«, und nicht gegen die »Künstler«. Die unkünstlerischen Zustände: die der Objektivität, der Spiegelung, des ausgehängten Willens... (das skandalöse Mißverständnis Schopenhauers, der die Kunst als Brücke zur Verneinung des Lebens nimmt) .... Die unkünstlerischen Zustände: der Verarmenden, Abziehenden, Abblassenden, unter deren Blick das Leben leidet – der Christ.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 547-548

„Der moderne Künstler, in seiner Physiologie dem Hysterismus nächstverwandt, ist auch als Charakter auf diese Krankhaftigkeit hin abgezeichnet. Der Hysteriker ist falsch – er lügt aus Lust an der Lüge, er ist bewunderungswürdig in jeder Kunst der Verstellung –, es sei denn, daß seine krankhafte Eitelkeit ihm einen Streich spielt. Diese Eitelkeit ist wie ein fortwährendes Fieber, welches Betäubungsmittel nötig hat und vor keinem Selbstbetrug, vor keiner Farce zurückschreckt, die eine augenblickliche Linderung verspricht. (Unfähigkeit zum Stolz und beständig Rache für eine tief eingenistete Selbstverachtung nötig zu haben – das ist beinahe die Definition dieser Art von Eitelkeit.) Die absurde Erregbarkeit seines Systems, die aus allen Erlebnissen Krisen macht und das »Dramatische« in die geringsten Zufälle des Lebens einschleppt, nimmt ihm alles Berechenbare: er ist keine Person mehr, höchstens ein Rendezvous von Personen, von denen bald diese, bald jene mit unverschämter Sicherheit herausschießt. Eben darum ist er groß als Schauspieler: alle diese armen Willenlosen, welche die Ärzte in der Nähe studieren, setzen in Erstaunen durch ihre Virtuosität der Mimik, der Transfiguration, des Eintretens in fast jeden verlangten Charakter.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 548-549

„Verglichen mit dem Künstler, ist das Erscheinen des wissenschaftlichen Menschen in der Tat ein Zeichen einer gewissen Eindämmung und Niveau-Erniedrigung des Lebens (– aber auch einer Verstärkung, Strenge, Härte, Willenskraft). Inwiefern die Falschheit, die Gleichgültigkeit gegen Wahr und Nützlich beim Künstler Zeichen von Jugend, von »Kinderei« sein mögen .... Ihre habituelle Art, ihre Unvernünftigkeit, ihre Ignoranz über sich, ihre Gleichgültigkeit gegen »ewige Werte«, ihr Ernst im »Spiele« – ihr Mangel an Würde; Hanswurst und Gott benachbart; der Heilige und die Kanaille... Das Nachmachen als Instinkt, kommandierend. – Aufgangs-Künstler – Niedergangs-Künstler: ob sie nicht allen Phasen zugehören? .... Ja!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 550-551

„Würde irgendein Ring in der ganzen Kette von Kunst und Wissenschaft fehlen, wenn das Weib, wenn das Werk des Weibes darin fehlte? Geben wir die Ausnahme zu – sie beweist die Regel – das Weib bringt es in allem zur Vollkommenheit, was nicht ein Werk ist, in Brief, in Memoiren, selbst in der delikatesten Handarbeit, die es gibt, kurz in allem, was nicht ein Metier ist, genau deshalb, weil es darin sich selbst vollendet, weil es damit seinem einzigen Kunst-Antrieb gehorcht, den es besitzt – es will gefallen .... Aber was hat das Weib mit der leidenschaftlichen Indifferenz des echten Künstlers zu schaffen, der einem Klang, einem Hauch, einem Hopsassa mehr Wichtigkeit zugesteht, als sich selbst? der mit allen fünf Fingern nach seinem Geheimsten und Innersten greift? der keinem Dinge einen Wert zugesteht, es sei denn, daß es Form zu werden weiß (– daß es sich preisgibt, daß es sich öffentlich macht –). Die Kunst, so wie der Künstler sie übt – begreift ihr's denn nicht, was sie ist: ein Attentat auf alle pudeurs?... Erst mit diesem Jahrhundert hat das Weib jene Schwenkung zur Literatur gewagt (– vers la canaille plumière écrivassière, mit dem alten Mirabeau zu reden): es schriftstellert, es künstlert, es verliert an Instinkt. Wozu doch? wenn man fragen darf.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 551

„Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler »Form« nennen, als Inhalt, als »die Sache selbst« empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt: denn nunmehr wird einem der Inhalt zu etwas bloß Formalem – unser Leben eingerechnet.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 552

„In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr recht als allen Philosophen bisher: sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht, sie liebten die Dinge »dieser Welt« – sie liebten ihre Sinne. »Entsinnlichung« zu erstreben: das scheint mir ein Mißverständnis oder eine Krankheit oder eine Kur, wo sie nicht eine bloße Heuchelei oder Selbstbetrügerei ist. Ich wünsche mir selber und allen denen, welche ohne die Ängste eines Puritaner-Gewissens leben – leben dürfen, eine immer größere Vergeistigung und Vervielfältigung ihrer Sinne; ja wir wollen den Sinnen dankbar sein für ihre Feinheit, Fülle und Kraft und ihnen das Beste von Geist, was wir haben, dagegen bieten. Was gehen uns die priesterlichen und metaphysischen Verketzerungen der Sinne an! Wir haben diese Verketzerung nicht mehr nötig: es ist ein Merkmal der Wohlgeratenheit, wenn einer, gleich Goethe, mit immer größerer Lust und Herzlichkeit an »den Dingen der Welt« hängt – dergestalt nämlich hält er die große Auffassung des Menschen fest, daß der Mensch der Verklärer des Daseins wird, wenn er sich selbst verklären lernt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 552-553

„Was bedeutet eine pessimistische Kunst? Ist das nicht eine contradictio? – Ja. – Schopenhauer irrt, wenn er gewisse Werke der Kunst in den Dienst des Pessimismus stellt. Die Tragödie lehrt nicht »Resignation« .... Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen ist selbst schon ein Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht .... Es gibt keine pessimistische Kunst .... Die Kunst bejaht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 553-554

„Wenn meine Leser darüber zur Genüge eingeweiht sind, daß auch »der Gute« im großen Gesamt-Schauspiel des Lebens eine Form der Erschöpfung darstellt: so werden sie der Konsequenz des Christentums die Ehre geben, welche den Guten als den Häßlichen konzipierte. Das Christentum hatte damit recht. An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen »das Gute und das Schöne sind eins«; fügt er gar noch hinzu »auch das Wahre«, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist häßlich. Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehn.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 554

„In Hinsicht auf die Maler: ... Sie sind tausend Meilem weit von den alten Meistern, welche nicht lasen und nur daran dachten, ihren Augen ein Fest zu geben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 557

„Die Romantik: eine zweideutige Frage, wie alles Moderne.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 567

Was ist Romantik? – In Hinsicht auf alle ästhetischen Werte bediene ich mich jetzt dieser Grundunterscheidung: ich frage in jedem einzelnen Falle: »Ist hier der Hunger oder der Überfluß schöpferisch geworden?« Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung besser zu empfehlen scheinen – sie ist bei weitem augenscheinlicher –, nämlich die Unterscheidung, ob das Verlangen nach Starr-werden, Ewig-werden, nach »Sein« die Ursache des Schaffens ist oder aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn, noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen zukunftsschwangern Kraft sein (mein Terminus dafür ist, wie man weiß, das Wort »dionysisch«); es kann aber auch der Haß der Mißratnen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muß, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehen, alles Sein selbst, empört und aufreizt. »Verewigen« andrerseits kann einmal aus Dankbarkeit und Liebe kommen – eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosen-Kunst sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig mit Hafis, hell und gütig mit Goethe und einen homerischen Glorienschein über alle Dinge breitend; – es kann aber auch jener tyrannische Wille eines Schwer-Leidenden sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch daß er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist romantischer Pessimismus in der ausdrucksvollsten Form: ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 568-569

„Ob nicht hinter dem Gegensatz von klassisch und romantisch der Gegensatz des Aktiven und Reaktiven verborgen liegt?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 569

„Um Klassiker zu sein, muß man alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben: aber so, daß sie miteinander unter einem Joche gehen; zur rechten Zeit kommen, um ein Genus von Literatur oder Kunst oder Politik auf seine Höhe und Spitze zu bringen (nicht nachdem dies schon geschehen ist...): einen Gesamtzustand (sei es eines Volkes, sei es einer Kultur) in seiner tiefsten und innersten Seele widerspiegeln, zu einer Zeit, wo er noch besteht und noch nicht überfärbt ist von der Nachahmung des Fremden (oder noch abhängig ist ...); kein reaktiver, sondern ein schließender und vorwärtsführender Geist sein, ja sagend in allen Fällen, selbst mit seinem Haß. »Es gehört dazu nicht der höchste persönliche Wert?« .... Vielleicht zu erwägen, ob die moralischen Vorurteile hier nicht ihr Spiel spielen und ob große moralische Höhe nicht vielleicht an sich ein Widerspruch gegen das Klassische ist? .... Ob nicht die moralischen Monstra notwendig Romantiker sein müssen, in Wort und Tat? .... Ein solches Übergewicht einer Tugend über die anderen (wie beim moralischen Monstrum) steht eben der klassischen Macht im Gleichgewicht feindlich entgegen: gesetzt, man hätte diese Höhe und wäre trotzdem Klassiker, so dürfte dreist geschlossen werden, man besitze auch die Immoralität auf gleicher Höhe: ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 569-570

„Die Romantiker in Deutschland protestieren nicht gegen den Klassizismus, sondern gegen Vernunft, Aufklärung, Geschmack, achtzehntes Jahrhundert.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 571

„Die Wohltat besteht im Anblick der großartigen Indifferenz der Natur gegen Gut und Böse. Keine Gerechtigkeit in der Geschichte, keine Güte in der Natur: deshalb geht der Pessimist, falls er Artist ist, dorthin, in historicis, wo die Absenz der Gerechtigkeit selber noch mit großartiger Naivität sich zeigt, wo gerade die Vollkommenheit zum Ausdruck kommt –, und insgleichen in der Natur dorthin, wo der böse und indifferente Charakter sich nicht verfehlt, wo sie den Charakter der Vollkommenheit darstellt .... Der nihilistische Künstler verrät sich im Wollen zum Bevorzugen der zynischen Geschichte, der zynischen Natur.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 571-572

Die Kunst in der »Geburt der Tragödie«
I
Die Konzeption des Werks, auf welche man in dem Hintergrunde dieses Buches stößt, ist absonderlich düster und unangenehm: unter den bisher bekannt gewordnen Typen des Pessimismus scheint keiner diesen Grad von Bösartigkeit erreicht zu haben. Hier fehlt der Gegensatz einer wahren und einer scheinbaren Welt: es gibt nur eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn. .... Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt. Wir haben Lüge nötig, um über diese Realität, diese »Wahrheit« zum Sieg zu kommen, das heißt, um zu leben. .... Daß die Lüge nötig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins.
Die Metaphysik, die Moral, die Religion, die Wissenschaft – sie werden in diesem Buche nur als verschiedne Formen der Lüge in Betracht gezogen: mit ihrer Hilfe wird ans Leben geglaubt. »Das Leben soll Vertrauen einflößen«: die Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch schon von Natur Lügner sein, er muß mehr als alles andere Künstler sein. Und er ist es auch: Metaphysik, Religion, Moral, Wissenschaft – alles nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der »Wahrheit«, zur Verneinung der »Wahrheit«. Das Vermögen selbst, dank dem er die Realität durch die Lüge vergewaltigt, dieses Künstler-Vermögen des Menschen par excellence – er hat es noch mit allem, was ist, gemein. Er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, Natur: wie sollte er nicht auch ein Stück Genie der Lüge sein!
Daß der Charakter des Daseins verkannt werde – tiefste und höchste Geheim-Absicht hinter allem, was Tugend, Wissenschaft, Frömmigkeit, Künstlertum ist. Vieles niemals sehn, vieles falsch sehn, vieles hinzusehn: o wie klug man noch ist, in Zuständen, wo man am fernsten davon ist, sich für klug zu halten! Die Liebe, die Begeisterung, »Gott« – lauter Feinheiten des letzten Selbstbetrugs, lauter Verführungen zum Leben, lauter Glaube an das Leben! In Augenblicken, wo der Mensch zum Betrognen ward, wo er sich überlistet hat, wo er ans Leben glaubt: o wie schwillt es da in ihm auf! Welches Entzücken! Welches Gefühl von Macht! Wieviel Künstler-Triumph im Gefühl der Macht! .... Der Mensch ward wieder einmal Herr über den »Stoff« – Herr über die Wahrheit! .... Und wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der gleiche in seiner Freude: er freut sich als Künstler, er genießt sich als Macht, er genießt die Lüge als seine Macht ....
II
Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.
Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.
Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehen will, des Tragisch-Erkennenden.
Die Kunst als die Erlösung des Handelnden – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden.
Die Kunst als die Erlösung des Leidenden – als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist.
III
Man sieht, daß in diesem Buche der Pessimismus, sagen wir deutlicher der Nihilismus, als die »Wahrheit« gilt. Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes Wertmaß, noch weniger als oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur objektivierten Täuschung) gilt hier als tiefer, ursprünglicher, »metaphysischer« als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Schein – letzterer ist selbst bloß eine Form des Willens zur Illusion. Ebenso gilt die Lust als ursprünglicher als der Schmerz: der Schmerz erst als bedingt, als eine Folgeerscheinung des Willens zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, d.h. zum Schaffen: im Schaffen ist aber das Zerstören eingerechnet). Es wird ein höchster Zustand von Bejahung des Daseins konzipiert, aus dem auch der höchste Schmerz nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische Zustand.
IV
Dies Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinne, daß es etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das »göttlicher« ist als die Wahrheit: die Kunst. Niemand würde, wie es scheint, einer radikalen Verneinung des Lebens, einem wirklichen Neintun noch mehr als einem Neinsagen zum Leben ernstlicher das Wort reden, als der Verfasser dieses Buches. Nur weiß er – er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts anderes erlebt! – daß die Kunst mehr wert ist, als die Wahrheit.
In der Vorrede bereits, mit der Richard Wagner wie zu einem Zwiegespräche eingeladen wird, erscheint dies Glaubensbekenntnis, dies Artisten-Evangelium: »die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit ....«“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 575-578

„Ich bin dazu gedrängt, im Zeitalter ..., wo jeder über jeden und jedes zu Gericht sitzen darf, die Rangordnung wiederherzustellen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 581

„Ramg bestimmend, Rang abhebend sind allein Macht-Quantitäten: und nichts sonst.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 581

Der Wille zur Macht. – Wie die Menschen beschaffen sein müßten, welche diese Umwertung an sich vornehmen. Die Rangordnung als Machtordnung: Krieg und Gefahr die Voraussetzung, daß ein Rang seine Bedingungen festhält. Das grandiose Vorbild: der Mensch in der Natur – das schwächste, klügste Wesen sich zum Herrn machend, die dümmeren Galten sich unterjochend.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 581

„Ich unterscheide einen Typus des aufsteigenden Lebens und einen andern des Verfalls, der Zersetzung, der Schwäche. Sollte man glauben, daß die Rangfrage zwischen beiden Typen überhaupt noch zu stellen ist?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 581

„Über den Rang entscheidet das Quantum Macht, das du bist; der Rest ist Feigheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 582

Vorteil eines Abseits von seiner Zeit. – Abseits gestellt gegen die beiden Bewegungen, die individualistische und die kollektivistische Moral – denn auch die erste kennt die Rangordnung nicht und will dem einen die gleiche Freiheit geben wie allen. Meine Gedanken drehen sich nicht um den Grad von Freiheit, der dem einen oder dem anderen oder allen zu gönnen ist, sondern um den Grad von Macht, den einer oder der andere über andere oder alle üben soll, resp. inwiefern eine Opferung von Freiheit, eine Versklavung selbst, zur Hervorbringung eines höheren Typus die Basis gibt. In gröbster Form gedacht: wie könnte man die Entwicklung der Menschheit opfern, um einer höheren Art, als der Mensch ist, zum Dasein zu helfen?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 582

Vom Range. Die scheckliche Konsequenz“ der »Gleichheit« – schließlich glaubt jeder das Recht zu haben zu jedem Problem. Es ist alle Rangordnung verlorengegangenen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 582

„Eine Kriegserklärung der höheren Menschen an die Massen ist nötig! Überall geht das Mittelmäßige zusammen, um sich zum Hernn zu machen! Alles, was verweichlicht, sanft macht, das »Volk« zur Geltung bringt oder das »Weibliche«, wirkt zugunsten ... der Herrschaft der neideren Menschen. Aber wir wollen Repressalien übern und diese ganze Wirtschaft (die in Europa mit dem Chrisrtentum anhebt) ans Licht und vors Gericht brngen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 582-583

„Es bedarf einer Lehre, starkt genug, um züchtend zu wirken: stärkend für die Starken. lähmend und zerbrechend für die Weltmüden. Die Vernichtung der verfallenden Rassen. Verfall Europas. – Die Vernichtung der sklavenhaften Wertschätzungen. – Die Herrschaft über die Erde, als Mittel zur Erzeugung eines höheren Typus. – Die Vernichtung der Tartüfferie, welche »Moral« heißt (das Christentum als eine hysterische Art von Ehrlichkeit hierin: Augustin, Bunyan). – Die Vernichtung ... des Systems, vermöge dessen die niedrigsten Naturen sich als Gesetz den höheren vorschreiben. – Die Vernichtung der Mittelmäßigkeit und ihrer Geltung. (Die Einseitigen, einzelne – Völker; Fülle der Natur zu erstreben durch Paarung von Gegensätzen: Rassen-Mischungen dazu.) – Der neue Mut – keine apriorischen Wahrheiten (solche suchten die an Glauben Gewöhnten!), sondern freie Unterordnung unter einen herrschenden Gedanken, der seine Zeit hat, z.B. Zeit als Eigenschaft des Raumes usw.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 583

„Der Begriff »starker und schwacher Mensch« reduziert sich darauf, daß im ersten Falle viel Kraft vererbt ist – er ist eine Summe: im andern noch wenig – (– unzureichende Vererbung, Zersplitterung des Ererbten). Die Schwäche kann ein Anfangs-Phänomen sein: »noch wenig«; oder ein End-Phänomen: »nicht mehr«. Der Ansatz-Punkt ist der, wo große Kraft ist, wo Kraft auszugeben ist. Die Masse, als die Summe der Schwachen, reagiert langsam; wehrt sich gegen vieles, für das sie zu schwach ist – von dem sie keinen Nutzen haben kann; schafft nicht, geht nicht voran. Dies gegen die Theorie, welche das starke Individuum leugnet und meint »die Masse tut's«. Es ist die Differenz wie zwischen getrennten Geschlechtern: es können vier, fünf Generationen zwischen dem Tätigen und der Masse liegen – eine chronologische Differenz. Die Werte der Schwachen sind obenan, weil die Starken sie übernommen haben, um damit zu leiten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 583-584

Warum die Schwachen siegen. In summa: die Kranken und Schwachen haben mehr Mitgefühl, sind »menschlicher« –: die Kranken und Schwachen haben mehr Geist, sind wechselnder, vielfacher, unterhaltender – boshafter: die Kranken allein haben die Bosheit erfunden. (Eine krankhafte Frühreife häufig bei Rhachitischen, Skrophulosen und Tuberkulosen –.)
Die Kranken und Schwachen haben die Faszination für sich gehabt: sie sind interessanter als die Gesunden: der Narr und der Heilige – die zwei interessantesten Arten Mensch ..., in enger Verwandtschaft das »Genie«. Die großen »Abenteurer und Verbrecher« und alle Menschen, die gesündesten voran, sind gewisse Zeiten ihres Lebens krank – die großen Gemütsbewegungen, die Leidenschaft der Macht, die Liebe, die Rache sind von tiefen Störungen begleitet. Und was die décadence betrifft, so stellt sie jeder Mensch, der nicht zu früh stirbt, in jedem Sinne beinahe dar, – er kennt also auch die Instinkte, welche zu ihr gehören, aus Erfahrung – für die Hälfte fast jedes Menschenlebens ist der Mensch décadent.
Endlich: das Weib! Die eine Hälfte der Menschheit ist schwach, typisch-krank, wechselnd, unbeständig – das Weib braucht die Stärke, um sich an sie zu klammern, und eine Religion der Schwäche, welche es als göttlich verherrlicht, schwach zu sein, zu lieben, demütig zu sein –: oder besser, es macht die Starken schwach – es herrscht, wenn es gelingt, die Starken zu überwältigen. Das Weib hat immer mit den Typen der décadence, den Priestern, zusammen konspiriert gegen die »Mächtigen«, die »Starken«, die Männer –. Das Weib bringt die Kinder beiseite für den Kultus der Pietät, des Mitleids, der Liebe – die Mutter repräsentiert den Altruismus überzeugend.
Endlich: die zunehmende Zivilisation, die zugleich notwendig auch die Zunahme der morbiden Elemente, des Neurotisch-Psychiatrischen und des Kriminalistischen mit sich bringt. Eine Zwischen-Spezies entsteht, der Artist, von der Kriminalität der Tat durch Willensschwäche und soziale Furchtsamkeit abgetrennt, insgleichen noch nicht reif für das Irrenhaus, aber mit seinen Fühlhörnern in beide Sphären neugierig hineingreifend: diese spezifische Kulturpflanze, der moderne Artist, Maler, Musiker, vor allem Romancier, der für seine Art, zu sein, das sehr uneigentliche Wort »Naturalismus« handhabt... Die Irren, die Verbrecher und die »Naturalisten« nehmen zu: Zeichen einer wachsenden und jäh vorwärts eilenden Kultur – d.h. der Ausschuß, der Abfall, die Auswurfstoffe gewinnen Importanz, – das Abwärts hält Schritt.
Endlich: der soziale Mischmasch, Folge der Revolution, der Herstellung gleicher Rechte, des Aberglaubens an »gleiche Menschen«. Dabei mischen sich die Träger der Niedergangs-Instinkte (des Ressentiments, der Unzufriedenheit, des Zerstörer-Triebes, des Anarchismus und Nihilismus), eingerechnet der Sklaven-Instinkte, der Feigheits-, Schlauheits- und Kanaillen-Instinkte der lange unten gehaltenen Schichten in alles Blut aller Stände hinein: zwei, drei Geschlechter darauf ist die Rasse nicht mehr zu erkennen (darauf steuern derzeit dle Abendländer zu, wie man deutlich sehen kann! HB) – alles ist verpöbelt. Hieraus resultiert ein Gesamtinstinkt gegen die Auswahl, gegen das Privilegium jeder Art, von einer Macht und Sicherheit, Härte, Grausamkeit der Praxis, daß in der Tat sich alsbald selbst die Privilegierten unterwerfen – was noch Macht festhalten will, schmeichelt dem Pöbel, arbeitet mit dem Pöbel, muß den Pöbel auf seiner Seite haben –, die »Genies« voran: sie werden Herolde der Gefühle, mit denen man Massen begeistert – die Note des Mitleids, der Ehrfurcht selbst vor allem, was leidend, niedrig, verachtet, verfolgt gelebt hat, klingt über alle andern Noten weg (Typen: Victor Hugo und Richard Wagner). – Die Heraufkunft des Pöbels bedeutet noch einmal die Heraufkunft der alten Werte.
Bei einer solchen extremen Bewegung in Hinsicht auf Tempo und Mittel, wie sie unsre Zivilisation darstellt, verlegt sich das Schwergewicht der Menschen: der Menschen, auf die es am meisten ankommt, die es gleichsam auf sich haben, die ganze große Gefahr einer solchen krankhaften Bewegung zu kompensieren – es werden die Verzögerer par excellence, die Langsam-Aufnehmenden, die Schwer-Loslassenden, die Relativ-Dauerhaften inmitten dieses ungeheuren Wechselns und Mischens von Elementen sein. Das Schwergewicht fällt unter solchen Umständen notwendig den Mediokren zu: gegen die Herrschaft des Pöbels und der Exzentrischen (beide meist verbündet) konsolidiert sich die Mediokrität, als die Bürgschaft und Trägerin der Zukunft. Daraus erwächst für die Ausnahme-Menschen ein neuer Gegner – oder aber eine neue Verführung. Gesetzt, daß sie sich nicht dem Pöbel anpassen und dem Instinkte der »Enterbten« zu Gefallen Lieder singen, werden sie nötig haben, »mittelmäßig« und »gediegen« zu sein. Sie wissen: die mediocritas ist auch aurea – sie allein sogar verfügt über Geld und Gold (– über alles, was glänzt ....) .... Und noch einmal gewinnt die alte Tugend, und überhaupt die ganze verlebte Welt des Ideals eine begabte Fürsprecherschaft .... Resultat: die Mediokrität bekommt Geist, Witz, Genie – sie wird unterhaltend, sie verführt.
Resultat. – Eine hohe Kultur kann nur stehen auf einem breiten Boden, auf einer stark und gesund konsolidierten Mittelmäßigkeit. In ihrem Dienste und von ihr bedient arbeitet die Wissenschaft – und selbst die Kunst. Die Wissenschaft kann es sich nicht besser wünschen: sie gehört als solche zu einer mittleren Art Mensch – sie ist deplaziert unter Ausnahmen –, sie hat nichts Aristokratisches und noch weniger etwas Anarchistisches in ihren Instinkten. – Die Macht der Mitte wird sodann aufrecht gehalten durch den Handel, vor allem den Geldhandel: der Instinkt der Großfinanziers geht gegen alles Extreme – die Juden sind deshalb einstweilen die konservierendste Macht in unserm so bedrohten und unsicheren Europa (als ob nur Juden Großfinanziers wären! Nein, unter ihnen gab und gibt es mehr Revolutionäre und Sozialisten, als es den Anschein hatte und hat! HB) . Sie können weder Revolutionen brauchen, noch Sozialismus, noch Militarismus: wenn sie Macht haben wollen und brauchen, auch über die revolutionäre Partei, so ist dies nur eine Folge des Vorhergesagten und nicht im Widerspruch dazu. Sie haben nötig, gegen andere extreme Richtungen gelegentlich Furcht zu erregen – dadurch, daß sie zeigen, was alles in ihrer Hand steht. Aber ihr Instinkt selbst ist unwandelbar konservativ – und »mittelmäßig« .... Sie wissen überall, wo es Macht gibt, mächtig zu sein: aber die Ausnützung ihrer Macht geht immer in einer Richtung. Das Ehren-Wort für mittelmäßig ist bekanntlich das Wort »liberal«
Besinnung. – Es ist unsinnig, vorauszusetzen, daß dieser ganze Sieg der Werte antibiologisch sei: man muß suchen, ihn zu erklären aus einem Interesse des Lebens, zur Aufrechterhaltung des Typus »Mensch« selbst durch diese Methodik der Überherrschaft der Schwachen und Schlechtweggekommenen –: im andern Falle existierte der Mensch nicht mehr? – Problem – – –
Die Steigerung des Typus verhängnisvoll für die Erhaltung der Art? Warum? –
Es zeigen die Erfahrungen der Geschichte: die starken Rassen dezimieren sich gegenseitig: durch Krieg, Machtbegierde, Abenteuer; die starken Affekte: die Vergeudung – (es wird Kraft nicht mehr kapitalisiert, es entsteht die geistige Störung durch die übertriebene Spannung); ihre Existenz ist kostspielig, kurz – sie reiben sich untereinander auf –; es treten Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit ein: alle großen Zeiten werden bezahlt .... Die Starken sind hinterdrein schwächer, willenloser, absurder, als die durchschnittlich-Schwachen.
Es sind verschwenderische Rassen. Die »Dauer« an sich hätte ja keinen Wert: man möchte wohl eine kürzere, aber wertreichere Existenz der Gattung vorziehen. – Es bliebe übrig, zu beweisen, daß selbst so ein reicherer Wertertrag erzielt würde als im Fall der kürzeren Existenz; d.h. der Mensch als Aufsummierung von Kraft gewinnt ein viel höheres Quantum von Herrschaft über die Dinge, wenn es so geht, wie es geht .... Wir stehen vor einem Problem der Ökonomie – – –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 584-589

„Eine Gesinnung, die sich »Idealismus« nennt und die der Mittelmäßigkeit nicht erlauben will, mittelmäßig zu sein, und dem Weibe nicht, Weib zu sein! – Nicht uniformieren! Uns klarmachen, wie teuer eine Tugend zu stehen kommt: und daß Tugend nichts Durchschnittlich-Wünschenswertes, sondern eine noble Tollheit, eine schöne Ausnahme, mit dem Vorrecht, stark-gestimmt zu werden.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 589

„Die Notwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester ineinander verschlungenen »Maschinerie« der Interessen und Leistungen eine Gegenbewegung gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausscheidung eines Luxus-Überschusses der Menschheit: in ihr soll eine stärkere Art, ein höherer Typus ans Licht treten, der andre Entstehungs- und andre Erhaltungsbedingungen hat als der Durchschnitts-Mensch. Mein Begriff, mein Gleichnis für diesen Typus ist, wie man weiß, das Wort »Übermensch«.
Auf jenem ersten Wege, der vollkommen jetzt überschaubar ist, entsteht die Anpassung, die Abflachung, das höhere Chinesentum, die Instinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen – eine Art Stillstands-Niveau des Menschen. Haben wir erst jene unvermeidlich bevorstehende Wirtschafts-Gesamtverwaltung der Erde, dann kann die Menschheit als Maschinerie in deren Diensten ihren besten Sinn finden: – als ein ungeheures Räderwerk von immer kleineren, immer feiner »anzupassenden« Rädern; als ein immer wachsendes Überflüssig-werden aller dominierenden und kommandierenden Elemente; als ein Ganzes von ungeheurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräfte, Minimal-Werte darstellen.
Im Gegensatz zu dieser Verkleinerung und Anpassung der Menschen an eine spezialisiertere Nützlichkeit bedarf es der umgekehrten Bewegung – der Erzeugung des synthetischen, des summierenden, des rechtfertigenden Menschen, für den jene Machinalisierung der Menschheit eine Daseins-Vorausbedingung ist, als ein Untergestell, auf dem er seine höhere Form zu sein sich erfinden kann.
Er braucht die Gegnerschaft der Menge, der »Nivellierten«, das Distanz-Gefühl im Vergleich zu ihnen; er steht auf ihnen, er lebt von ihnen. Diese höhere Form des Aristokratismus ist die der Zukunft. – Moralisch geredet, stellt jene Gesamt-Maschinerie, die Solidarität aller Räder, ein Maximum in der Ausbeutung des Menschen dar: aber sie setzt solche voraus, derentwegen diese Ausbeutung Sinn hat. Im anderen Falle wäre sie tatsächlich bloß die Gesamt-Verringerung, Wert-Verringerung des Typus Mensch, – ein Rückgangs-Phänomen im größten Stile.
– Man sieht, was ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus; wie als ob mit den wachsenden Unkosten aller auch der Nutzen aller notwendig wachsen müßte. Das Gegenteil scheint mir der Fall: die Unkosten aller summieren sich zu einem Gesamt-Verlust: der Mensch wird geringer – so daß man nicht mehr weiß, wozu überhaupt dieser ungeheure Prozeß gedient hat. Ein Wozu? ein neues Wozu? – das ist es, was die Menschheit nötig hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 589-591

„Einsicht in die Zunahme der Gesamt-Macht: ausrechnen, inwiefern auch der Niedergang von Einzelnen, von Ständen, von Zeiten, Völkern einbegriffen ist in diesem Wachstum. Verschiebung des Schwergewichts einer Kultur. Die Unkosten jedes großen Wachstums: wer sie trägt! Inwiefern sie jetzt ungeheuer sein müssen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 591

„Gesamt-Anblick des zukünftigen Europäers: derselbe als das intelligenteste Sklaventier, sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Exzeß neugierig, vielfach, verzärtelt, willensschwach – ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos. Wie möchte sich aus ihm eine stärkere Art herausheben? Eine solche mit klassischem Geschmack? Der klassische Geschmack: das ist der Wille zur Vereinfachung, Verstärkung, zur Sichtbarkeit des Glücks, zur Furchtbarkeit, der Mut zur psychologischen Nacktheit (– die Vereinfachung ist eine Konsequenz des Willens zur Verstärkung; das Sichtbar-werdenlassen des Glücks, insgleichen der Nacktheit, eine Konsequenz des Willens zur Furchtbarkeit ...). Um sich aus jenem Chaos zu dieser Gestaltung emporzukämpfen – dazu bedarf es einer Nötigung: man muß die Wahl haben, entweder zugrunde zu gehn oder sich durchzusetzen. Eine herrschaftliche Rasse kann nur aus furchtbaren und gewaltsamen Anfängen emporwachsen. Problem: wo sind die Barbaren des zwanzigsten Jahrhunderts? Offenbarwerden sie erst nach ungeheuren sozialistischen Krisen sichtbar werden und sich konsolidieren – es werden die Elemente sein, die der größten Härte gegen sich selber fähig sind, und den längsten Willen garantieren können.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 591-592

„Die mächtigsten und gefährlichsten Leidenschaften des Menschen, an denen er am leichtesten zugrunde geht, sind so gründlich in Acht getan, daß damit die mächtigsten Menschen selber unmöglich geworden sind oder sich als böse, als »schädlich und unerlaubt« fühlen mußten. Diese Einbuße ist groß, aber notwendig bisher gewesen: jetzt, wo eine Menge Gegenkräfte großgezüchtet sind durch zeitweilige Unterdrückung jener Leidenschaften (von Herrschsucht, Lust an der Verwandlung und Täuschung) ist deren Entfesselung wieder möglich: sie werden nicht mehr die alte Wildheit haben. Wir erlauben uns die zahme Barbarei: man sehe unsre Künstler und Staatsmänner an.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 592

„Die Wurzel alles Üblen: daß die sklavische Moral der Demut, Keuschheit, Selbstlosigkeit, absoluten Gehorsams gesiegt hat – die herrschenden Naturen wurden dadurch
1. zur Heuchelei,
2. zur Gewissensqual verurteilt – die schaffenden Naturen fühlten sich als Aufrührer gegen Gott, unsicher und gehemmt durch die ewigen Werte.
Die Barbaren zeigten, daß Maßhalten-können bei ihnen nicht zu Hause war: sie fürchteten und verlästerten die Leidenschaften und Triebe der Natur – ebenso der Anblick der herrschenden Cäsaren und Stände. Es entstand andrerseits der Verdacht, daß alle Mäßigung eine Schwäche sei, oder Alt- und Müdewerden (– so hat Larochefoucauld den Verdacht, daß »Tugend« ein schönes Wort sei bei solchen, welchen das Laster keine Lust mehr mache). Das Maßhalten selber war als Sache der Härte, Selbstbezwingung, Askese geschildert, als Kampf mit dem Teufel usw.. Das natürliche Wohlgefallen der ästhetischen Natur am Maße, der Genuß am Schönen des Maßes war übersehen oder verleugnet, weil man eine anti-eudämonistische Moral wollte. Der Glaube an die Lust im Maßhalten fehlte bisher – diese Lust des Reiters auf feurigem Rosse! – Die Mäßigkeit schwacher Naturen mit der Mäßigung der starken verwechselt! In summa: die besten Dinge sind verlästert worden, weil die Schwachen oder die unmäßigen Schweine ein schlechtes Licht darauf warfen – und die besten Menschen sind verborgen geblieben – und haben sich oft selber verkannt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 592-593

„Die Kirche hat deutsche Kaiser auf Grund ihrer Laster in Bann getan: als ob ein Mönch oder Priester über das mitreden dürfte, was ein Friedrich der Zweite von sich fordern darf. Ein Don Juan wird in die Hölle geschickt: das ist sehr naiv. Hat man bemerkt, daß im Himmel alle interessanten Menschen fehlen? ... Nur ein Wink für die Weiblein, wo sie ihr Heil am besten finden. – Denkt man ein wenig konsequent und außerdem mit einer vertieften Einsicht in das, was ein »großer Mensch« ist, so unterliegt es keinem Zweifel, daß die Kirche alle »großen Menschen« in die Hölle schickt –, sie kämpft gegen alle »Größe des Menschen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 594

„Die Rechte, die ein Mensch sich nimmt, stehn im Verhältnis zu den Pflichten, die er sich stellt, zu den Aufgaben, denen er sich gewachsen fühlt. Die allermeisten Menschen sind ohne Recht zum Dasein, sondern ein Unglück für die höheren.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 594-595

Mißverständnis des Egoismus: von seiten der gemeinen Naturen, welche gar nichts von der Eroberungslust und Unersättlichkeit der großen Liebe wissen, ebenso von den ausströmenden Kraft-Gefühlen, welche überwältigen, zu sich zwingen, sich ans Herz legen wollen – der Trieb des Künstlers nach seinem Material. Oft auch nur sucht der Tätigkeitssinn nach einem Terrain. – Im gewöhnlichen »Egoismus« will gerade das »Nicht-ego«, das tiefe Durchschnittswesen, der Gattungsmensch seine Erhaltung – das empört, falls es von den Seltneren, Feineren und weniger Durchschnittlichen wahrgenommen wird. Denn diese urteilen: »Wir sind die Edleren! Es liegt mehr an unserer Erhaltung als an der jenes Viehs!«“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 595

„Die Entartung der Herrscher und der herrschenden Stände hat den größten Unfug in der Geschichte gestiftet! Ohne die römischen Cäsaren und die römische Gesellschaft wäre das Christentum nicht zur Herrschaft gekommen. Wenn die geringeren Menschen der Zweifel anfällt, ob es höhere Menschen gibt, da ist die Gefahr groß! Und man endet zu entdecken, daß es auch bei den geringen, unterworfenen, geistesarmen Menschen Tugenden gibt und daß vor Gott die Menschen gleich stehn: was das non plus ultra des Blödsinns bisher auf Erden gewesen ist! Nämlich die höheren Menschen maßen sich selber schließlich nach dem Tugend-Maßstab der Sklaven – fanden sich »stolz« usw., fanden alle ihre höheren Eigenschaften als verwerflich. Als Nero und Caracalla oben saßen, entstand die Paradoxie »der niedrigste Mensch ist mehr wert als der da oben!« Und ein Bild Gottes brach sich Bahn, welches möglichst entfernt war vom Bilde der Mächtigsten – der Gott am Kreuze!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 595-596

Der höhere Mensch und der Herden-Mensch. – Wenn die großen Menschen fehlen, so macht man aus den vergangenen großen Menschen Halbgötter oder ganze Götter: das Ausbrechen von Religion beweist, daß der Mensch nicht mehr am Menschen Lust hat (– »und am Weibe auch nicht« mit Hamlet). Oder: man bringt viele Menschen auf einen Haufen, als Parlamente, und wünscht, daß sie gleich tyrannisch wirken.Das »Tyrannisierende« ist die Tatsache großer Menschen: sie machen den Geringeren dumm.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 596

„Bis zu welchem Grade die Unfähigkeit eines pöbelhaften Agitators der Menge geht, sich den Begriff »höhere Natur« klar zu machen, dafür gibt Buckle das beste Beispiel ab. Die Meinung, welche er so leidenschaftlich bekämpft – daß »große Männer«, Einzelne, Fürsten, Staatsmänner, Genies, Feldherrn die Hebel und Ursachen aller großen Bewegungen sind – wird von ihm instinktiv dahin mißverstanden, als ob mit ihr behauptet würde, das Wesentliche und Wertvolle an einem solchen »höheren Menschen« liege eben in der Fähigkeit, Massen in Bewegung zu setzen: kurz in ihrer Wirkung .... Aber die »höhere Natur« des großen Mannes liegt im Anderssein, in der Unmitteilbarkeit, in der Rangdistanz – nicht in irgendwelchen Wirkungen: und ob er auch den Erdball erschütterte.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 596-597

„Die Revolution ermöglichte Napoleon: das ist ihre Rechtfertigung. Um einen ähnlichen Preis würde man den anarchistischen Einsturz unsrer ganzen Zivilisation wünschen müssen. Napoleon ermöglichte den Nationalismus: das ist dessen Entschuldigung.Der Wert eines Menschen (abgesehen, wie billig, von Moralität und Unmoralität: denn mit diesen Begriffen wird der Wert eines Menschen noch nicht einmal berührt) liegt nicht in seiner Nützlichkeit: denn er bestünde fort, selbst wenn es niemanden gäbe, dem er zu nützen wüßte. Und warum könnte nicht gerade der Mensch, von dem die verderblichsten Wirkungen ausgingen, die Spitze der ganzen Spezies Mensch sein: so hoch, so überlegen, daß an ihm alles vor Neid zugrunde ginge?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 597

„Den Wert eines Menschen danach abschätzen, was er den Menschen nützt oder kostet oder schadet: das bedeutet ebensoviel und ebensowenig, als ein Kunstwerk abschätzen je nach den Wirkungen, die es tut. Aber damit ist der Wert des Menschen im Vergleich mit anderen Menschen gar nicht berührt. Die »moralische Wertschätzung«, soweit sie eine soziale ist, mißt durchaus den Menschen nach seinen Wirkungen. Ein Mensch mit seinem eigenen Geschmack auf der Zunge, umschlossen und versteckt durch seine Einsamkeit, unmitteilbar, unmitteilsam – ein unausgerechneter Mensch, also ein Mensch einer höheren, jedenfalls anderen Spezies: wie wollt ihr den abwerten können, da ihr ihn nicht kennen könnt, nicht vergleichen könnt? Die moralische Abwertung hat die größte Urteils-Stumpfheit im Gefolge gehabt: der Wert eines Menschen an sich ist unterschätzt, fast übersehen, fast geleugnet. Rest der naiven Teleologie: der Wert des Menschen nur in Hinsicht auf die Menschen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 597-598

„Die moralische Präokkupation stellt einen Geist tief in der Rangordnung: damit fehlt ihm der Instinkt des Sonderrechts, das a parte, das Freiheits-Gefühl der schöpferischen Naturen, der »Kinder Gottes« (oder des Teufels –). Und gleichgültig, ob er herrschende Moral predigt oder sein Ideal zur Kritik der herrschenden Moral anlegt: er gehört damit zur Herde – und sei es auch als deren oberster Notbedarf, als »Hirt«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 598

Ersatz der Moral durch den Willen zu unserem Ziele, und folglich zu dessen Mitteln.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 598

Zur Rangordnung. – Was ist am typischen Menschen mittelmäßig? Daß er nicht die Kehrseite der Dinge als notwendig versteht: daß er die Übelstände bekämpft, wie als ob man ihrer entraten könne; daß er das eine nicht mit dem anderen hinnehmen will – daß er den typischen Charakter eines Dinges, eines Zustandes, einer Zeit, einer Person verwischen und auslöschen möchte, indem er nur einen Teil ihrer Eigenschaften gutheißt und die andern abschaffen möchte. Die »Wünschbarkeit« der Mittelmäßigen ist das, was von uns anderen bekämpft wird: das Ideal gefaßt als etwas, an dem nichts Schädliches, Böses, Gefährliches, Fragwürdiges, Vernichtendes übrigbleiben soll. Unsere Einsicht ist die umgekehrte: daß mit jedem Wachstum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muß, daß der höchste Mensch, gesetzt daß ein solcher Begriff erlaubt ist, der Mensch wäre, welcher den Gegensatz-Charakter des Daseins am stärksten darstellte als dessen Glorie und einzige Rechtfertigung... Die gewöhnlichen Menschen dürfen nur ein ganz kleines Eckchen und Winkelchen dieses Naturcharakters darstellen: sie gehen alsbald zugrunde, wenn die Vielfachheit der Elemente und die Spannung der Gegensätze wächst, d. h. die Vorbedingung für die Größe des Menschen. Daß der Mensch besser und böser werden muß, das ist meine Formel für diese Unvermeidlichkeit. Die meisten stellen den Menschen als Stücke und Einzelheiten dar: erst wenn man sie zusammenrechnet, so kommt ein Mensch heraus. Ganze Zeiten, ganze Völker haben in diesem Sinne etwas Bruchstückhaftes; es gehört vielleicht zur Ökonomie der Menschen-Entwicklung, daß der Mensch sich stückweise entwickelt. Deshalb soll man durchaus nicht verkennen, daß es sich trotzdem nur um das Zustande kommen des synthetischen Menschen handelt: daß die niedrigen Menschen, die ungeheure Mehrzahl bloß Vorspiele und Einübungen sind, aus deren Zusammenspiel hie und da der ganze Mensch entsteht, der Meilenstein-Mensch, welcher anzeigt, wie weit bisher die Menschheit vorwärts gekommen. Sie geht nicht in einem Striche vorwärts; oft geht der schon erreichte Typus wieder verloren (– wir haben z. B. mit aller Anspannung von drei Jahrhunderten noch nicht den Menschen der Renaissance wieder erreicht, und hinwiederum blieb der Mensch der Renaissance hinter dem antiken Menschen zurück).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 598-599

„Man erkennt die Überlegenheit des griechischen Menschen, des Renaissance-Menschen an – aber man möchte ihn ohne seine Ursachen und Bedingungen haben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 600

„Die »Reinigung des Geschmacks« kann nur die Folge einer Verstärkung des Typus sein. Unsre Gesellschaft von heute repräsentiert nur die Bildung; der Gebildete fehlt. Der große synthetische Mensch fehlt: in dem die verschiedenen Kräfte zu einem Ziele unbedenklich ins Joch gespannt sind. Was wir haben, ist der vielfache Mensch, das interessanteste Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat: aber nicht das Chaos vor der Schöpfung der Welt, sondern hinter ihr – Goethe als schönster Ausdruck des Typus (– ganz und gar kein Olympier!).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 600

„Händel, Leibniz, Goethe, Bismarck – für die deutsche starke Art charakteristisch. Unbedenklich zwischen Gegensätzen lebend, voll jener geschmeidigen Stärke, welche sich vor Überzeugungen und Doktrinen hütet, indem sie eine gegen die andere benutzt und sich selber die Freiheit vorbehält.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 600

„Soviel habe ich begriffen: wenn man das Entstehen großer und seltener Menschen abhängig gemacht hätte von der Zustimmung der vielen (einbegriffen, daß diese wüßten, welche Eigenschaften zur Größe gehören, und insgleichen, auf wessen Unkosten alle Größe sich entwickelt) – nun, es hätte nie einen bedeutenden Menschen gegeben! – Daß der Gang der Dinge unabhängig von der Zustimmung der allermeisten seinen Weg nimmt: daran liegt es, daß einiges Erstaunliche sich auf der Erde eingeschlichen hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 600-601

Die Rangordnung der Menschen-Werte.
a) Man soll einen Menschen nicht nach einzelnen Werken abschätzen. Epidermal-Handlungen. Nichts ist seltener als eine Personal-Handlung. Ein Stand, ein Rang, eine Volks-Rasse, eine Umgebung, ein Zufall – alles drückt sich eher noch in einem Werke oder Tun aus als eine »Person«.
b) Man soll überhaupt nicht voraussetzen, daß viele Menschen »Personen« sind. Und dann sind manche auch mehrere Personen, die meisten sind keine. Überall, wo die durchschnittlichen Eigenschaften überwiegen, auf die es ankommt, daß ein Typus fortbesteht, wäre Person-Sein eine Vergeudung, ein Luxus, hätte es gar keinen Sinn, nach einer »Person« zu verlangen. Es sind Träger, Transmissions-Werkzeuge.
c) Die »Person« ein relativ isoliertes Faktum; in Hinsicht auf die weit größere Wichtigkeit des Fortflusses und der Durchschnittlichkeit somit beinahe etwas Widernatürliches. Zur Entstehung der Person gehört eine zeitige Isolierung, ein Zwang zu einer Wehr- und Waffen-Existenz, etwas wie Einmauerung, eine größere Kraft des Abschlusses; und, vor allem, eine viel geringere Impressionabilität, als sie der mittlere Mensch, dessen Menschlichkeit kontagiös ist, hat.
Erste Frage in betreff der Rangordnung: wie solitär oder wie herdenhaft jemand ist. (Im letztern Falle liegt sein Wert in den Eigenschaften, die den Bestand seiner Herde, seines Typus sichern; im andern Falle in dem, was ihn abhebt, isoliert, verteidigt und solitär ermöglicht.)
Folgerung: man soll den solitären Typus nicht abschätzen nach dem herdenhaften, und den herdenhaften nicht nach dem solitären.
Aus der Höhe betrachtet sind beide notwendig; insgleichen ist ihr Antagonismus notwendig, – und nichts ist mehr zu verbannen als jene »Wünschbarkeit«, es möchte sich etwas Drittes aus beiden entwickeln (»Tugend« als Hermaphroditismus). Das ist so wenig »wünschbar« als die Annäherung und Aussöhnung der Geschlechter. Das Typische fortentwickeln, die Kluft immer tiefer aufreißen .... Begriff der Entartung in beiden Fällen: wenn die Herde den Eigenschaften der solitären Wesen sich nähert und diese den Eigenschaften der Herde – kurz, wenn sie sich annähern. Dieser Begriff der Entartung ist abseits von der moralischen Beurteilung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 601-602

Wo man die stärkeren Naturen zu suchen hat. – Das Zugrundegehen und Entarten der solitären Spezies ist viel größer und furchtbarer: sie haben die Instinkte der Herde, die Tradition der Werte gegen sich; ihre Werkzeuge zur Verteidigung, ihre Schutz-Instinkte sind von vornherein nicht stark, nicht sicher genug – es gehört viel Gunst des Zufalls dazu, daß sie gedeihen (– sie gedeihen in den niedrigsten und gesellschaftlich preisgegebensten Elementen am häufigsten; wenn man nach Person sucht, dort findet man sie, um wie viel sicherer als in den mittleren Klassen!). Der Stände- und Klassenkampf, der auf »Gleichheit der Rechte« abzielt – ist er ungefähr erledigt, so geht der Kampf los gegen die Solitär-Person. (In einem gewissen Sinne kann dieselbe sich am leichtesten in einer demokratischen Gesellschaft erhalten und entwickeln: dann, wenn die gröberen Verteidigungs-Mittel nicht mehr nötig sind und eine gewisse Gewöhnung an Ordnung, Redlichkeit, Gerechtigkeit, Vertrauen zu den Durchschnittsbedingungen gehört.) Die Stärksten müssen am festesten gebunden, beaufsichtigt, in Ketten gelegt und überwacht werden: so will es der Instinkt der Herde. Für sie ein Régime der Selbstüberwältigung, des asketischen Abseits oder der »Pflicht« in abnützender Arbeit, bei der man nicht mehr zu sich selber kommt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 602-603

„Ich versuche eine ökonomische Rechtfertigung der Tugend. – Die Aufgabe ist, den Menschen möglichst nutzbar zu machen und ihn, soweit es irgendwie angeht, der unfehlbaren Maschine zu nähern: zu diesem Zwecke muß er mit Maschinen-Tugenden ausgestattet werden (– er muß die Zustände, in welchen er machinal-nutzbar arbeitet, als die höchstwertigen empfinden lernen: dazu tut not, daß ihm die anderen möglichst verleidet, möglichst gefährlich und verrufen gemacht werden). Hier ist der erste Stein des Anstoßes die Langeweile, die Einförmigkeit, welche alle machinale Tätigkeit mit sich bringt. Diese ertragen zu lernen – und nicht nur zu ertragen –, die Langeweile von einem höheren Reiz umspielt sehen lernen: dies war bisher die Aufgabe alles höheren Schulwesens. Etwas lernen, das uns nichts angeht; und eben darin, in diesem »objektiven« Tätigsein, seine »Pflicht« empfinden; die Lust und die Pflicht voneinander getrennt abschätzen lernen – das ist die unschätzbare Aufgabe und Leistung des höheren Schulwesens. Der Philologe war deshalb bisher der Erzieher an sich: weil seine Tätigkeit selber das Muster einer bis zum Großartigen gehenden Monotonie der Tätigkeit abgibt; unter seiner Fahne lernt der Jüngling »ochsen«: erste Vorbedingung zur einstmaligen Tüchtigkeit machinaler Pflichterfüllung (als Staats-Beamter, Ehegatte, Büro-Sklave, Zeitungsleser und Soldat). Eine solche Existenz bedarf vielleicht einer philosophischen Rechtfertigung und Verklärung mehr noch als jede andere: die angenehmen Gefühle müssen von irgendeiner unfehlbaren Instanz aus überhaupt als niedrigeren Ranges abgewer tet werden; die »Pflicht an sich«, vielleicht sogar das Pathos der Ehrfurcht in Hinsicht auf alles, was unangenehm ist – und diese Forderung als jenseits aller Nützlichkeit. Ergötzlichkeit, Zweckmäßigkeit redend, imperativisch... Die machinale Existenzform als höchste, ehrwürdigste Existenzform, sich selbst anbetend (–Typus: Kant als Fanatiker des Formalbegriffs »du sollst«).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 603-604

„Die ökonomische Abschätzung der bisherigen Ideale – d.h. Auswahl bestimmter Affekte und Zustände, auf Unkosten anderer ausgewählt und großgezüchtet. Der Gesetzgeber (oder der Instinkt der Gesellschaft) wählt eine Anzahl Zustände und Affekte aus, mit deren Tätigkeit eine reguläre Leistung verbürgt ist (ein Machinalismus von Leistungen nämlich als Folge von den regelmäßigen Bedürfnissen jener Affekte und Zustände).Gesetzt, daß diese Zustände und Affekte Ingredienzen des Peinlichen enthalten, so muß ein Mittel gefunden werden, dieses Peinliche durch eine Wertvorstellung zu überwinden, die Unlust als wertvoll, also in höherem Sinne lustvoll empfinden zu machen. In Formel gefaßt: »wie wird etwas Unangenehmes angenehm?« Zum Beispiel wenn in der Kraft, Macht, Selbstüberwindung unser Gehorsam, unsre Einordnung in das Gesetz, zu Ehren kommt. Insgleichen unser Gemeinsinn. Nächstensinn, Vaterlandssinn, unsre »Vermenschlichung«, unser »Altruismus«, »Heroismus«. Daß man die unangenehmen Dinge gern tut – Absicht der Ideale.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 604-605

„Die Verkleinerung des Menschen muß lange als einziges Ziel gelten: weil erst ein breites Fundament zu schaffen ist, damit eine stärkere Art Mensch darauf stehen kann. (: Inwiefern bisher jede verstärkte Art Mensch auf einem Niveau der niedrigeren stand – – –)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 605

„Absurde und verächtliche Art des Idealismus, welche die Mediokrität nicht medioker haben will und, statt an einem Ausnahme-Sein einen Triumph zu fühlen, entrüstet ist über Feigheit, Falschheit, Kleinheit und Miserabilität. Man soll das nicht anders wollen! und die Kluft größer aufreißen! – Man soll die höhere Art zwingen, sich abzuscheiden durch die Opfer, die sie ihrem Sein zu bringen hat. Hauptgesichtspunkt: Distanzen aufreißen, aber keine Gegensätze schaffen. Die Mittelgebilde ablösen und im Einfluß verringern: Hauptmittel, um Distanzen zu erhalten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 605

„Wie dürfte man den Mittelmäßigen ihre Mittelmäßigkeit verleiden! Ich tue, man sieht es, das Gegenteil: jeder Schritt weg von ihr führt – so lehre ich – ins Unmoralische.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 600

„Der Haß gegen die Mittelmäßigkeit ist eines Philosophen unwürdig: es ist fast ein Fragezeichen an seinem »Recht auf Philosophie«. Gerade deshalb, weil er die Ausnahme ist, hat er die Regel in Schutz zu nehmen, hat er allem Mittleren den guten Mut zu sich selber zu erhalten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 606

„Wogegen ich kämpfe: daß eine Ausnahme-Art der Regel den Krieg macht – statt zu begreifen, daß die Fortexistenz der Regel die Voraussetzung für den Wert der Ausnahme ist. Zum Beispiel die Frauenzimmer, welche, statt die Auszeichnung ihrer abnormen Bedürfnisse zur Gelehrsamkeit zu empfinden, die Stellung des Weibes überhaupt verrücken möchten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 606

„Die Vermehrung der Kraft, trotz des zeitweiligen Niedergehens des Individuums:
– ein neues Niveau begründen;
– eine Methodik der Sammlung von Kräften, zur Erhaltung kleiner Leistungen, im Gegensatz zu unökonomischer Verschwendung;
– die zerstörende Natur einstweilen unterjocht zum Werkzeug dieser Zukunfts-Ökonomik;
– die Erhaltung der Schwachen, weil eine ungeheure Masse kleiner Arbeit getan werden muß;
– die Erhaltung einer Gesinnung, bei der Schwachen und Leidenden die Existenz noch möglich ist;
– die Solidarität als Instinkt zu pflanzen gegen den Instinkt der Furcht und der Servilität;
– der Kampf mit dem Zufall, auch mit dem Zufall des »großen Menschen«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 606

„Der Kampf gegen die großen Menschen, aus ökonomischen Gründen gerechtfertigt. Dieselben sind gefährlich, Zufälle, Ausnahmen, Unwetter, stark genug, um Langsam-Gebautes und -Gegründetes in Frage zu stellen. Das Explosive nicht nur unschädlich entladen, sondern womöglich seiner Entladung vorbeugen: Grundinstinkt aller zivilisierten Gesellschaft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 607

„Wer darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zuallererst begreifen, daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral war im wesentlichen auf das Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung, wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der Tat konsumiert eine derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem Dienst, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu natürlich ist: die schwächeren, zarteren, mittleren Existenzen haben nötig, Partei zu machen gegen jene Glorie von Leben und Kraft, und dazu müssen sie von sich eine neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten Fülle verurteilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche Wendung ist daher der Moral zu eigen, insofern sie die Typen des Lebens überwältigen will.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 607

Die Starken der Zukunft. – Was teils die Not, teils der Zufall hier und da erreicht hat, die Bedingungen zur Hervorbringung einer stärkeren Art: das können wir jetzt begreifen und wissentlich wollen: wir können die Bedingungen schaffen, unter denen eine solche Erhöhung möglich ist. Bis jetzt hatte die »Erziehung« den Nutzen der Gesellschaft im Auge: nicht den möglichsten Nutzen der Zukunft, sondern den Nutzen der gerade bestehenden Gesellschaft. »Werkzeuge« für sie wollte man. Gesetzt, der Reichtum an Kraft wäre großer, so ließe sich ein Abzug von Kräften denken, dessen Ziel nicht dem Nutzen der Gesellschaft gälte, sondern einem zukünftigen Nutzen. Eine solche Aufgabe wäre zu stellen, je mehr man begriffe, inwiefern die gegenwärtige Form der Gesellschaft in einer starken Verwandlung wäre, um irgendwann einmal nicht mehr um ihrer selber willen existieren zu können: sondern nur noch als Mittel in den Händen einer stärkeren Rasse. Die zunehmende Verkleinerung des Menschen ist gerade die treibende Kraft, um an die Züchtung einer stärkeren Rasse zu denken: welche gerade ihren Überschuß darin hätte, worin die verkleinerte Spezies schwach und schwächer würde (Wille, Verantwortlichkeit, Selbstgewißheit, Ziele-sich-setzen-können). Die Mittel wären die, welche die Geschichte lehrt: die Isolation durch umgekehrte Erhaltungs-Interessen, als die durchschnittlichen heute sind; die Einübung in umgekehrten Wertschätzungen; die Distanz als Pathos; das freie Gewissen im heute Unterschätztesten und Verbotensten. Die Ausgleichung des europäischen Menschen ist der große Prozeß, der nicht zu hemmen ist: man sollte ihn noch beschleunigen. Die Notwendigkeit für eine Kluftaufreißung, Distanz, Rangordnung ist damit gegeben: nicht die Notwendigkeit, jenen Prozeß zu verlangsamen. Diese ausgeglichene Spezies bedarf, sobald sie erreicht ist, einer Rechtfertigung: sie liegt im Dienste einer höheren souveränen Art, welche auf ihr steht und erst auf ihr sich zu ihrer Aufgabe erheben kann. Nicht nur eine Herren-Rasse, deren Aufgabe sich damit erschöpfte, zu regieren: sondern eine Rasse mit eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Kultur, Manier bis ins Geistigste; eine bejahende Rasse, welche sich jeden großen Luxus gönnen darf, – stark genug, um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nötig zu haben, reich genug, um die Sparsamkeit und Pedanterie nicht nötig zu haben, jenseits von Gut und Böse; ein Treibhaus für sonderbare und ausgesuchte Pflanzen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 607-609

„Unsere Psychologen, deren Blick unwillkürlich nur an den Symptomen der décadence hängen bleibt, lenken immer wieder unser Mißtrauen wider den Geist. Man sieht immer nur die schwächenden, verzärtelnden, verkränkelnden Wirkungen des Geistes: aber es kommen nun
neue
Barbaren
:
{die Zyniker,
die Verucher,
die Eroberer
}Vereinigung der geistigen Überlegenheit
mit Wohlbefinden und
Überschuß von Kräften.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 609

„Ich zeige auf etwas Neues hin: gewiß, für ein solches demokratisches Wesen gibt es die Gefahr des Barbaren, aber man sucht sie nur in der Tiefe. Es gibt auch eine andere Art Barbaren, die kommen aus der Höhe: eine Art von erobernden und herrschenden Naturen, welche nach einem Stoffe suchen, den sie gestalten können. Prometheus war ein solcher Barbar.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 609

Hauptgesichtspunkt: daß man nicht die Aufgabe der höheren Spezies in der Leitung der niederen sieht (wie es z. B. Comte macht –), sondern die niedere als Basis, auf der eine höhere Spezies ihrer eigenen Aufgabe lebt – auf der sie erst stehen kann. Die Bedingungen, unter denen eine starke und vornehme Spezies sich erhält (in Hinsicht auf geistige Zucht), sind die umgekehrten von denen, unter welchen die »industriellen Massen«, die Krämer à la Spencer stehn. Das, was nur den stärksten und fruchtbarsten Naturen freisteht zur Ermöglichung ihrer Existenz – Muße, Abenteuer, Unglaube, Ausschweifung selbst –, das würde, wenn es den mittleren Naturen freistünde, diese notwendig zugrunde richten – und tut es auch. Hier ist die Arbeitsamkeit, die Regel, die Mäßigkeit, die feste »Überzeugung« am Platze – kurz die »Herdentugenden«: unter ihnen wird diese mittlere Art Mensch vollkommen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 610

Zu den herrschaftlichen Typen. – Der »Hirt« im Gegensatz zum »Herrn« (– ersterer Mtitel zur Erhaltung der Herde; letzterer Zweck, weshalb die Herde da ist).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 610

„Zeitweiliges Überwiegen der sozialen Wertgefühle begreiflich und nützlich: es handelt sich um die Herstellung eines Unterbaus, auf dem endlich eine stärkere Gattung möglich wird. – Maßstab der Stärke: unter den umgekehrten Wertschätzungen leben können und sie ewig wieder wollen. Staat und Gesellschaft als Unterbau: weltwirtschaftlicher Gesichtspunkt, Erziehung als Züchtung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 610

„Einsicht, welche den »freien Geistern« fehlt: dieselbe Disziplin, welche eine starke Natur noch verstärkt und zu großen Unternehmungen befähigt, zerbricht und verkümmert die mittelmäßigen: – der Zweifel – la largeur de cœur – das Experiment – die Independenz.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 611

„Der Hammer. Wie müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt wertschätzen? – Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln? – Ihr Mittel zu ihrer Aufgabe.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 611

„Der starke Mensch, mächtig in den Instinkten einer starken Gesundheit, verdaut seine Taten ganz ebenso, wie er die Mahlzeiten verdaut; er wird mit schwerer Kost selbst fertig: in der Hauptsache aber führt ihn ein unversehrter und strenger Instinkt, daß er nichts tut, was ihm widersteht, so wenig als er etwas tut, das ihm nicht schmeckt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 611

Könnten wir die günstigsten Bedingungen voraussehen, unter denen Wesen entstehen von höchstem Werte! Es ist tausendmal zu kompliziert und die Wahrscheinlichkeit des Mißratens sehr groß: so begeistert es nicht, danach zu streben! – Skepsis. – Dagegen: Mut, Einsicht, Härte, Unabhängigkeit, Gefühl der Verantwortlichkeit können wir steigern, die Feinheit der Waage verfeinern und erwarten, daß günstige Zufälle zu Hilfe kommen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 611

„Bevor wir ans Handeln denken dürfen, muß eine unendliche Arbeit getan sein. In der Hauptsache aber ist das kluge Ausnützen der gegebenen Lage wohl unsere beste, ratsamste Tätigkeit. Das wirkliche Schaffen solcher Bedingungen, wie sie der Zufall schafft, setzt eiserne Menschen voraus, die noch nicht gelebt haben. Zunächst das persönliche Ideal durchsetzen und verwirklichen! Wer die Natur des Menschen, die Entstehung seines Höchsten begriffen hat, schaudert vor dem Menschen und flieht alles Handeln: Folge der vererbten Schätzungen!Daß die Natur des Menschen böse ist, ist mein Trost: es verbürgt die Kraft!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 612

„Die typischen Selbstgestaltungen. Oder: die acht Hauptfragen.
1. Ob man sich vielfacher haben will oder einfacher?
2. Ob man glücklicher werden will oder gleichgültiger gegen Glück und Unglück?
3. Ob man zufriedner mit sich werden will oder anspruchsvoller und unerbittlicher?
4. Ob man weicher, nachgebender, menschlicher werden will oder »unmenschlicher«?
5. Ob man klüger werden will oder rücksichtsloser?
6. Ob man ein Ziel erreichen will oder allen Zielen ausweichen (wie es z. B. der Philosoph tut, der in jedem Ziel eine Grenze, einen Winkel, ein Gefängnis, eine Dummheit riecht)?
7. Ob man geachteter werden will oder gefürchteter? Oder verachteter?
8. Ob man Tyrann oder Verführer oder Hirt oder Herdentier werden will?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 612

Typus meiner Jünger. – Solchen Menschen, welche mich etwas angehn, wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung – ich wünsche, daß ihnen die tiefe Selbstverachtung, die Marter des Mißtrauens gegen sich, das Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob einer Wert hat oder nicht – daß er standhält.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 613

„Glück und Selbstzufriedenheit des Lazzaroni oder »Seligkeit« bei »schönen Seelen« oder schwindsüchtige Liebe bei herrnhuterischen Pietisten beweisen nichts in bezug auf die Rangordnung der Menschen. Man müßte, als großer Erzieher, eine Rasse solcher »seligen Menschen« unerbittlich in das Unglück hineinpeitschen. Die Gefahr der Verkleinerung, des Ausruhens ist sofort da – gegen das spinozistische oder epikureische Glück und gegen alles Ausruhen in kontemplativen Zuständen. Wenn aber die Tugend das Mittel zu einem solchen Glück ist, nun, so muß man auch Herr über die Tugend werden.
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 613

„Ich sehe durchaus nicht ab, wie einer es wiedergutmachen kann, der versäumt hat, zur rechten Zeit in eine gute Schule zu gehen. Ein solcher kennt sich nicht; er geht durchs Leben, ohne gehen gelernt zu haben; der schlaffe Muskel verrät sich bei jedem Schritt noch. Mitunter ist das Leben so barmherzig, diese harte Schule nachzuholen: jahrelanges Siechtum vielleicht, das die äußerste Willenskraft und Selbstgenugsamkeit herausfordert; oder eine plötzlich hereinbrechende Notlage, zugleich noch für Weib und Kind, welche eine Tätigkeit erzwingt, die den erschlafften Fasern wieder Energie gibt und dem Willen zum Leben die Zähigkeit zurückgewinnt. Das Wünschenswerteste bleibt unter allen Umständen eine harte Disziplin zur rechten Zeit, d.h. in jenem Alter noch, wo es stolz macht, viel von sich verlangt zu sehn. Denn dies unterscheidet die harte Schule als gute Schule von jeder anderen: daß viel verlangt wird; daß streng verlangt wird; daß das Gute, das Ausgezeichnete selbst, als normal verlangt wird; daß das Lob selten ist, daß die Indulgenz fehlt; daß der Tadel scharf, sachlich, ohne Rücksicht auf Talent und Herkunft laut wird. Eine solche Schule hat man in jedem Betracht nötig: das gilt vom Leiblichsten wie vom Geistigsten: es wäre verhängnisvoll, hier trennen zu wollen! Die gleiche Disziplin macht den Militär und den Gelehrten tüchtig: und näher besehn, es gibt keinen tüchtigen Gelehrten, der nicht die Instinkte eines tüchtigen Militärs im Leibe hat. Befehlen können und wieder auf eine stolze Weise gehorchen; in Reih und Glied stehen, aber fähig jederzeit, auch zu führen; die Gefahr dem Behagen vorziehn; das Erlaubte und Unerlaubte nicht in einer Krämerwaage wiegen; dem Mesquinen, Schlauen, Parasitischen mehr feind sein als dem Bösen. – Was lernt man in einer harten Schule? Gehorchen und Befehlen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 613-614

„Das Verdienst leugnen: aber das tun, was über allem Loben, ja über allem Verstehn ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 614

„Neue Formen der Moralität: Treue-Gelübde im Vereinen über das, was man lassen und tun will, ganz bestimmte Entsagung von vielem. Proben, ob reif dazu.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 614

„Ich will auch die Asketik wieder vernatürlichen: an Stelle der Absicht auf Verneinung die Absicht auf Verstärkung; eine Gymnastik des Willens; eine Entbehrung und eingelegte Fastenzeit jeder Art, auch im Geistigsten; eine Kasuistik der Tat in bezug auf unsre Meinung, die wir von unsern Kräften haben; ein Versuch mit Abenteuern und willkürlichen Gefahren. (Dîners chez Magny: lauter geistige Schlecker mit verdorbenem Magen.) – Man sollte Prüfungen erfinden auch für die Stärke im Wort-halten-können.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 615

„Was verdorben ist durch den Mißbrauch, den die Kirche damit getrieben hat:
1. die Askese: man hat kaum noch den Mut dazu, deren natürliche Nützlichkeit, deren Unentbehrlichkeit im Dienste der Willens-Erziehung ans Licht zu ziehen. Unsre absurde Erzieher-Welt, der der »brauchbare Staatsdiener« als regulierendes Schema vorschwebt, glaubt mit »Unterricht«, mit Gehirn-Dressur auszukommen; ihr fehlt selbst der Begriff davon, daß etwas anderes zuerst not tut – Erziehung der Willenskraft; man legt Prüfungen für alles ab, nur nicht für die Hauptsache: ob man wollen kann, ob man versprechen darf: der junge Mann wird fertig, ohne auch nur eine Frage, eine Neugierde für dieses oberste Wertproblem seiner Natur zu haben;
2. das Fasten: in jedem Sinne – auch als Mittel, die feine Genußfähigkeit aller guten Dinge aufrechtzuerhalten (z. B. zeitweise nicht lesen, keine Musik mehr hören, nicht mehr liebenswürdig sein; man muß auch Fasttage für seine Tugend haben);
3. das »Kloster«: die zeitweilige Isolation mit strenger Abweisung z. B. der Briefe; eine Art tiefster Selbstbesinnung und Selbst-Wiederfindung, welche nicht den »Versuchungen« aus dem Wege gehen will, sondern den »Pflichten«: ein Heraustreten aus dem Zirkeltanz des Milieus; ein Abseits von der Tyrannei der Reize und Einströmungen, welche uns verurteilt, unsre Kraft nur in Reaktionen auszugeben, und es nicht mehr erlaubt, daß sie sich häuft bis zur spontanen Aktivität (man sehe sich unsre Gelehrten aus der Nähe an: sie denken nur noch reaktiv, d.h. sie müssen erst lesen, um zu denken);
4. die Feste: Man muß sehr grob sein, um nicht die Gegenwart von Christen und christlichen Werten als einen Druck zu empfinden, unter dem jede eigentliche Feststimmung zum Teufel geht. Im Fest ist einbegriffen: Stolz, Übermut, Ausgelassenheit; der Hohn über alle Art Ernst und Biedermännerei; ein göttliches Jasagen zu sich aus animaler Fülle und Vollkommenheit – lauter Zustände, zu denen der Christ nicht ehrlich ja sagen darf. Das Fest ist Heidentum par excellence;
5. der Mut vor der eigenen Natur: die Kostümierung ins »Moralische«. – Daß man keine Moral-Formel nötig hat, um einen Affekt bei sich gutzuheißen: Maßstab, wie weit einer zur Natur bei sich ja sagen kann – wie viel oder wie wenig er zur Moral rekurrieren muß;
6. der Tod.– Man muß die dumme physiologische Tatsache in eine moralische Notwendigkeit umdrehn. So leben, daß man auch zur rechten Zeit seinen Willen zum Tode hat!
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 616-616

Sich stärker fühlen – oder anders ausgedrückt: die Freude – setzt immer ein Vergleichen voraus (aber nicht notwendig mit anderen, sondern mit sich, inmitten eines Zustands von Wachstum, und ohne daß man erst wüßte, inwiefern man vergleicht –).
Die künstliche Verstärkung: sei es durch aufregende Chemika, sei es durch aufregende Irrtümer (»Wahnvorstellungen«):
z.B. das Gefühl der Sicherheit, wie es der Christ hat; er fühlt sich stark in sei nem Vertrauen-dürfen, in seinem Geduldig- und Gefaßt-sein-dürfen: er verdankt diese künstliche Verstärkung dem Wahne, von einem Gott beschirmt zu sein;
z.B. das Gefühl der Überlegenheit: wie wenn der Kalif von Marokko nur Erdkugeln zu sehen bekommt, auf denen seine drei vereinigten Königreiche vier Fünftel der Oberfläche einnehmen;
z.B. das Gefühl der Einzigkeit: wie wenn der Europäer sich einbildet, daß der Gang der Kultur sich in Europa abspielt, und wenn er sich selber eine Art abgekürzter Weltprozeß scheint: oder der Christ alles Dasein überhaupt um das »Heil des Menschen« sich drehen macht.
– Es kommt darauf an, wo man den Druck, die Unfreiheit empfindet: je nachdem erzeugt sich ein andres Gefühl des Stärker-seins. Einem Philosophen ist z.B. inmitten der kühlsten, transmontansten Abstraktions-Gymnastik zumute wie einem Fisch, der in sein Wasser kommt: während Farben und Töne ihn drücken; gar nicht zu reden von den dumpfen Begehrungen – von dem, was die andern »das Ideal« nennen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 616-617

„Mit was für Mitteln man rohe Völker zu behandeln hat und daß die »Barbarei« der Mittel nichts Willkürliches und Beliebiges ist, das kann man in praxi mit Händen greifen, wenn man mit aller seiner europäischen Verzärtelung einmal in die Notwendigkeit versetzt wird, am Kongo oder irgendwo Herr über Barbaren bleiben zu müssen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 620-621

Die Kriegerischen und die Friedlichen. – Bist du ein Mensch, der die Instinkte des Kriegers im Leibe hat? Und in diesem Falle bliebe noch eine zweite Frage: bist du ein Angriffskrieger oder ein Widerstandskrieger von Instinkt? Der Rest von Menschen, alles, was nicht kriegerisch von Instinkt ist, will Frieden, will Eintracht, will »Freiheit«, will »gleiche Rechte« –: das sind nur Namen und Stufen für ein und dasselbe. Dorthin gehn, wo man nicht nötig hat, sich zu wehren – solche Menschen werden unzufrieden mit sich, wenn sie genötigt sind, Widerstand zu leisten: sie wollen Zustände schaffen, wo es überhaupt keinen Krieg mehr gibt. Schlimmstenfalls sich unterwerfen, gehorchen, einordnen: immer noch besser als Krieg führen – so rät es z.B. dem Christen sein Instinkt. Bei den geborenen Kriegern gibt es etwas wie Bewaffnung in Charakter, in Wahl der Zustände, in der Ausbildung jeder Eigenschaft: die »Waffe« ist im ersten Typus, die Wehr im zweiten am besten entwickelt. Die Unbewaffneten, die Unbewehrten: welche Hilfsmittel und Tugenden sie nötig haben, um es auszuhalten – um selbst obzusiegen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 621

Randbemerkung zu einer niaiserie anglaise. – »Was du nicht willst, daß dir die Leute tun, das tue ihnen auch nicht.« Das gilt als Weisheit; das gilt als Klugheit; das gilt als Grund der Moral – als »güldener Spruch«. John Stuart Mill (und wer nicht unter Engländern?) glaubt daran! ... Aber der Spruch hält nicht den leichtesten Angriff aus. Der Kalkül: »tue nichts, was dir selber nicht angetan werden soll« verbietet Handlungen um ihrer schädlichen Folgen willen: der Hintergedanke ist, daß eine Handlung immer vergolten wird. Wie nun, wenn jemand, mit dem »Principe« in der Hand, sagte: »gerade solche Handlungen muß man tun, damit andere uns nicht zuvorkommen – damit wir andere außerstand setzen, sie uns anzutun«? – Andrerseits: denken wir uns einen Korsen, dem seine Ehre die vendetta gebietet. Auch er wünscht keine Flintenkugel in den Leib: aber die Aussicht auf eine solche, die Wahrscheinlichkeit einer Kugel hält ihn nicht ab, seiner Ehre zu genügen .... Und sind wir nicht in allen anständigen Handlungen eben absichtlich gleichgültig gegen das, was daraus für uns kommt? Eine Handlung zu vermeiden, die schädliche Folgen für uns hätte – das wäre ein Verbot für anständige Handlungen überhaupt. Dagegen ist der Spruch wertvoll, weil er einen Typus Mensch verrät: es ist der Instinkt der Herde, der sich mit ihm formuliert – man ist gleich, man nimmt sich gleich: wie ich dir, so du mir. – Hier wird wirklich an eine Äquivalenz der Handlungen geglaubt, die, in allen realen Verhältnissen, einfach nicht vorkommt. Es kann nicht jede Handlung zurückgegeben werden: zwischen wirklichen »Individuen« gibt es keine gleichen Handlungen, folglich auch keine »Vergeltung«... Wenn ich etwas tue, so liegt mir der Gedanke vollkommen fern, daß überhaupt dergleichen irgendeinem Menschen möglich sei: es gehört mir... Man kann mir nichts zurückzahlen, man würde immer eine »andere« Handlung gegen mich begehen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 621-622

Gegen John Stuart Mill. – Ich perhorresziere seine Gemeinheit, welche sagt »was dem einen recht ist, ist dem andern billig«; »was du nicht willst usw., das füg auch keinem andern zu«; welche den ganzen menschlichen Verkehr auf Gegenseitigkeit der Leistung begründen will, so daß jede Handlung als eine Art Abzahlung erscheint für etwas, das uns erwiesen ist. Hier ist die Voraussetzung unvornehm im untersten Sinne: hier wird die Äquivalenz der Werte von Handlungen vorausgesetzt bei mir und dir; hier ist der persönlichste Wert einer Handlung einfach annulliert (das, was durch nichts ausgeglichen und bezahlt werden kann –). Die »Gegenseitigkeit« ist eine große Gemeinheit; gerade daß etwas, das ich tue, nicht von einem andern getan werden dürfte und könnte, daß es keinen Ausgleich geben darf (– außer in der ausgewähltesten Sphäre der »meines-gleichen«, inter pares –), daß man in einem tieferen Sinne nie zurückgibt, weil man etwas Einmaliges ist und nur Einmaliges tut – diese Grundüberzeugung enthält die Ursache der aristokratischen Absonderung von der Menge, weil die Menge an »Gleichheit« und folglich Ausgleichbarkeit und »Gegenseitigkeit« glaubt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 622-623

„Die Krähwinkelei und Schollenkleberei der moralischen Abwertung und ihres »nützlich« und »schädlich« hat ihren guten Sinn; es ist die notwendige Perspektive der Gesellschaft, welche nur das Nähere und Nächste in Hinsicht der Folgen zu übersehen vermag. Der Staat und der Politiker hat schon eine mehr übermoralische Denkweise nötig: weil er viel größere Komplexe von Wirkungen zu berechnen hat. Insgleichen wäre eine Weltwirtschaft möglich, die so ferne Perspektiven hat, daß alle ihre einzelnen Forderungen für den Augenblick als ungerecht und willkürlich erscheinen dürften.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 623

»Seinem Gefühle folgen?« – Daß man, einem generösen Gefühle nachgebend, sein Leben in Gefahr bringt, und unter dem Impuls eines Augenblicks: das ist wenig wert und charakterisiert nicht einmal. In der Fähigkeit dazu sind sich alle gleich – und in der Entschlossenheit dazu übertrifft der Verbrecher, Bandit und Korse einen honetten Menschen gewiß. Die höhere Stufe ist: auch diesen Andrang bei sich zu überwinden und die heroische Tat nicht auf Impulse hin zu tun – sondern kalt, raisonnable, ohne das stürmische Überwallen von Lustgefühlen dabei .... Dasselbe gilt vom Mitleid: es muß erst habituell durch die raison durchgesiebt sein; im anderen Falle ist es so gefährlich wie irgendein Affekt. Die blinde Nachgiebigkeit gegen einen Affekt, sehr gleichgültig, ob es ein generöser und mitleidiger oder feindseliger ist, ist die Ursache der größten Übel. Die Größe des Charakters besteht nicht darin, daß man diese Affekte nicht besitzt – im Gegenteil, man hat sie im furchtbarsten Grade: aber daß man sie am Zügel führt... und auch das noch ohne Lust an dieser Bändigung, sondern bloß weil ....“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 623-624

„»Sein Leben lassen für eine Sache« – großer Effekt. Aber man läßt für vieles sein Leben: die Affekte samt und sonders wollen ihre Befriedigung. Ob es das Mitleid ist oder der Zorn oder die Rache – daß das Leben daran gesetzt wird, verändert nichts am Werte. Wie viele haben ihr Leben für die hübschen Weiblein geopfert – und selbst, was schlimmer ist, ihre Gesundheit! Wenn man das Temperament hat, so wählt man instinktiv die gefährlichen Dinge: z.B. die Abenteuer der Spekulation, wenn man Philosoph; oder der Immoralität, wenn man tugendhaft ist. Die eine Art Mensch will nichts riskieren, die andre will riskieren. Sind wir anderen Verächter des Lebens? Im Gegenteil, wir suchen instinktiv ein potenziertes Leben, das Leben in der Gefahr .... Damit, nochmals gesagt, wollen wir nicht tugendhafter sein, als die anderen. Pascal z. B. wollte nichts riskieren und blieb Christ: das war vielleicht tugendhaft. – Man opfert immer.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 624

„Wie viel Vorteil opfert der Mensch, wie wenig »eigennützig« ist er! Alle seine Affekte und Leidenschaften wollen ihr Recht haben – und wie fern vom klugen Nutzen des Eigennutzes ist der Affekt! Man will nicht sein »Glück«; man muß Engländer sein, um glauben zu können, daß der Mensch immer seinen Vorteil sucht. Unsre Begierden wollen sich in langer Leidenschaft an den Dingen vergreifen –, ihre aufgestaute Kraft sucht die Widerstände.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 625

Nützlich sind die Affekte allesamt, die einen direkt, die andern indirekt; in Hinsicht auf den Nutzen ist es schlechterdings unmöglich, irgendeine Wertabfolge festzusetzen, – so gewiß, ökonomisch gemessen, die Kräfte in der Natur allesamt gut, d. h. nützlich sind, so viel furchtbares und unwiderrufliches Verhängnis auch von ihnen ausgeht. Höchstens könnte man sagen, daß die mächtigsten Affekte die wertvollsten sind: insofern es keine größeren Kraftquellen gibt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 625

Summa: die Herrschaft über die Leidenschaften, nicht deren Schwächung und Ausrottung! – Je größer die Herren-Kraft des Willens ist, um soviel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden. Der »große Mensch« ist groß durch den Freiheits-Spielraum seiner Begierden und durch die noch größere Macht, welche diese prachtvollen Untiere in Dienst zu nehmen weiß. Der »gute Mensch« ist auf jeder Stufe der Zivilisation der Ungefährliche und Nützliche zugleich: eine Art Mitte; der Ausdruck im gemeinen Bewußtsein davon, vor wem man sich nicht zu fürchten hat und wen man trotzdem nicht verachten darf. Erziehung: wesentlich das Mittel, die Ausnahme zu ruinieren zugunsten der Regel. Bildung: wesentlich das Mittel, den Geschmack gegen die Ausnahme zu richten zugunsten des Mittleren. Erst wenn eine Kultur über einen Überschuß von Kräften zu gebieten hat, kann sie auch ein Treibhaus für den Luxus-Kultus der Ausnahme, des Versuchs, der Gefahr, der Nuance sein – jede aristokratische Kultur tendiert dahin.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 626

Lauter Fragen der Kraft: wie weit sich durchsetzen gegen die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft und deren Vorurteile? – wie weit seine furchtbaren Eigenschaften entfesseln, an denen die meisten zugrunde gehen? – wie weit der Wahrheit entgegengehen und sich die fragwürdigsten Seiten derselben zu Gemüte führen? – wie weit dem Leiden, der Selbstverachtung, dem Mitleiden, der Krankheit, dem Laster entgegengehen, mit dem Fragezeichen, ob man darüber Herr werden wird? (– was uns nicht umbringt, macht uns stärker ...) – endlich: wie weit der Regel, dem Gemeinen, dem Kleinlichen, Guten, Rechtschaffenen, der Durchschnitts-Natur recht geben bei sich, ohne sich damit vulgarisieren zu lassen? .... Stärkste Probe des Charakters: sich nicht durch die Verführung des Guten ruinieren zu lassen. Das Gute als Luxus, als Raffinement, als Laster.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 626-627

Typus: Die wahre Güte, Vornehmheit, Größe der Seele, die aus dem Reichtum heraus: welche nicht gibt, um zu nehmen – welche sich nicht damit erheben will, daß sie gütig ist; – die Verschwendung als Typus der wahren Güte, der Reichtum an Person als Voraussetzung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 627

Aristokratismus. Die Herdentier-Ideale – jetzt gipfelnd als höchste Wertansetzung der »Sozietät«: Versuch, ihr einen kosmischen, ja metaphysischen Wert zu geben. – Gegen sie verteidige ich den Aristokratismus. Eine Gesellschaft, welche in sich jene Rücksicht und Delikatesse in bezug auf Freiheit bewahrt, muß sich als Ausnahme fühlen und sich gegenüber eine Macht haben, gegen welche sie sich abhebt, gegen welche sie feindselig ist und herabblickt. Je mehr ich Recht abgebe und mich gleichstelle, um so mehr gerate ich unter die Herrschaft der Durchschnittlichsten, endlich der Zahlreichsten. Die Voraussetzung, welche eine aristokratische Gesellschaft in sich hat, um zwischen ihren Mitgliedern den hohen Grad von Freiheit zu erhalten, ist die extreme Spannung, welche aus dem Vorhandensein des entgegengesetzten Triebes bei allen Mitgliedern entspringt: des Willens zur Herrschaft .... Wenn ihr die starken Gegensätze und Rangverschiedenheiten wegschaffen wollt, so schafft ihr die starke Liebe, die hohe Gesinnung, das Gefühl des Für-sich-seins auch ab.
Zur wirklichen Psychologie der Freiheits- und Gleichheits-Sozietät. – Was nimmt ab? Der Wille zur Selbstverantwortlichkeit, Zeichen des Niedergangs der Autonomie; die Wehr– und Waffentüchtigkeit, auch im Geistigsten: die Kraft zu kommandieren; der Sinn der Ehrfurcht, der Unterordnung, des Schweigen-könnens; die große Leidenschaft, die große Aufgabe, die Tragödie, die Heiterkeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 627-628

„Wie sich die aristokratische Welt immer mehr selber schröpft und schwach macht! Vermöge ihrer noblen Instinkte wirft sie ihre Vorrechte weg, und vermöge ihrer verfeinerten Über-Kultur interessiert sie sich für das Volk, die Schwachen, die Armen, die Poesie des Kleinen usw..“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 628-629

„Es gibt eine vornehme und gefährliche Nachlässigkeit, welche einen tiefen Schluß und Einblick gewährt: die Nachlässigkeit der selbstgewissen und überreichen Seele, die sich nie um Freunde bemüht hat, sondern nur die Gastfreundschaft kennt, immer nur Gastfreundschaft übt und zu üben versteht – Herz und Haus offen für jedermann, der eintreten will, seien es nun Bettler oder Krüppel oder Könige. Dies ist die echte Leutseligkeit: wer sie hat, hat hundert »Freunde«, aber wahrscheinlich keinen Freund.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 629

„Die Lehre mhden agan wendet sich an Menschen mit überströmender Kraft – nicht an die Mittelmäßigen. Die egkrateia und aschsis ist nur eine Stufe der Höhe: höher steht die »goldene Natur«. »Du sollst« – unbedingter Gehorsam bei Stoikern, in den Orden des Christentums und der Araber, in der Philosophie Kants (es ist gleichgültig, ob einem Oberen, oder einem Begriff). Höher als »du sollst« steht: »Ich will« (die Heroen); höher als »ich will« steht: »Ich bin« (die Götter der Griechen). Die barbarischen Götter drücken nichts von der Lust am Maß aus – sind weder einfach noch leicht noch maßvoll.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 629

„Was ist vornehm?
– Die Sorgfalt im Äußerlichsten, insofern diese Sorgfalt abgrenzt, fernhält, vor Verwechslung schützt.
– Der frivole Anschein in Wort, Kleidung, Haltung, mit dem eine stoische Härte und Selbstbezwingung sich vor aller unbescheidenen Neugierde schützt.
– Die langsame Gebärde, auch der langsame Blick. Es gibt nicht zu viel wertvolle Dinge: und diese kommen und wollen von selbst zu dem Wertvollen. Wir bewundern schwer.
– Das Ertragen der Armut und der Dürftigkeit, auch der Krankheit.
– Das Ausweichen vor kleinen Ehren, und Mißtrauen gegen jeden, welcher leicht lobt: denn der Lobende glaubt daran, daß er verstehe, was er lobe: verstehen aber – Balzac hat es verraten, dieser typisch Ehrgeizige – comprendre c'est égaler.
– Unser Zweifel an der Mitteilbarkeit des Herzens geht in die Tiefe; die Einsamkeit nicht als gewählt, sondern als gegeben.
– Die Überzeugung, daß man nur gegen seinesgleichen Pflichten hat, gegen die andern sich nach Gutdünken verhält: daß nur inter pares auf Gerechtigkeit zu hoffen (leider noch lange nicht zu rechnen) ist.
– Die Ironie gegen die »Begabten«, der Glaube an den Geburtsadel auch im Sittlichen.
– Immer sich als den fühlen, der Ehren zu vergeben hat: während nicht häufig sich jemand findet, der ihn ehren dürfte.
– Immer verkleidet: je höherer Art, um so mehr bedarf der Mensch des Inkognitos. Gott, wenn es einen gäbe, dürfte, schon aus Anstandsgründen, sich nur als Mensch in der Welt bezeigen.
– Die Fähigkeit zum otium, der unbedingten Überzeugung, daß ein Handwerk in jedem Sinne zwar nicht schändet, aber sicherlich entadelt. Nicht »Fleiß« im bürgerlichen Sinne, wie hoch wir ihn auch zu ehren und zu Geltung zu bringen wissen, oder wie jene unersättlich gackernden Künstler, die es wie Hühner machen, gackern und Eier legen und wieder gackern.
– Wir beschützen die Künstler und Dichter und wer irgendworin Meister ist: aber als Wesen, die höherer Art sind als diese, welche nur etwas können, als die bloß »produktiven Menschen«, verwechseln wir uns nicht mit ihnen.
– Die Lust an den Formen; das In-Schutz-nehmen alles Förmlichen, die Überzeugung, daß Höflichkeit eine der großen Tugenden ist; das Mißtrauen gegen alle Arten des Sich-gehen-lassens, eingerechnet alle Preß- und Denkfreiheit, weil unter ihnen der Geist bequem und tölpelhaft wird und die Glieder streckt.
– Das Wohlgefallen an den Frauen als an einer vielleicht kleineren, aber feineren und leichteren Art von Wesen. Welches Glück, Wesen zu begegnen, die immer Tanz und Torheit und Putz im Kopfe haben! Sie sind das Entzücken aller sehr gespannten und tiefen Mannsseelen gewesen, deren Leben mit großer Verantwortlichkeit beschwert ist.
– Das Wohlgefallen an den Fürsten und Priestern, weil sie den Glauben an eine Verschiedenheit der menschlichen Werte selbst noch in der Abschätzung der Vergangenheit zum mindesten symbolisch und im ganzen und großen sogar tatsächlich aufrechterhalten.
– Das Schweigen-können: aber darüber kein Wort vor Hörern.
– Das Ertragen langer Feindschaften: der Mangel an der leichten Versöhnlichkeit.
– Der Ekel am Demagogischen, an der »Aufklärung«, an der »Gemütlichkeit«, an der pöbelhaften Vertraulichkeit.
– Das Sammeln kostbarer Dinge, die Bedürfnisse einer hohen und wählerischen Seele; nichts gemein haben wollen. Seine Bücher, seine Landschaften.
– Wir lehnen uns gegen schlimme und gute Erfahrungen auf und verallgemeinern nicht so schnell. Der einzelne Fall: wie ironisch sind wir gegen den einzelnen Fall, wenn er den schlechten Geschmack hat, sich als Regel zu gebärden!
– Wir lieben das Naive und die Naiven, aber als Zuschauer und höhere Wesen; wir finden Faust ebenso naiv als sein Gretchen.
– Wir schätzen die Guten gering, als Herdentiere: wir wissen, wie unter den schlimmsten, bösartigsten, härtesten Menschen oft ein unschätzbarer Goldtropfen von Güte sich verborgen hält, welcher alle bloße Gutartigkeit der Milchseelen überwiegt.
– Wir halten einen Menschen unserer Art nicht widerlegt durch seine Laster noch durch seine Torheiten. Wir wissen, daß wir schwer erkennbar sind und daß wir alle Gründe haben, uns Vordergründe zu geben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 630-633

Was ist vornehm? – Daß man sich beständig zu repräsentieren hat. Daß man Lagen sucht, wo man beständig Gebärden nötig hat. Daß man das Glück der großen Zahl überläßt: Glück als Frieden der Seele, Tugend, comfort, englisch-engelhaftes Krämertum à la Spencer. Daß man instinktiv für sich schwere Verantwortungen sucht. Daß man sich überall Feinde zu schaffen weiß, schlimmstenfalls noch aus sich selbst. Daß man der großen Zahl nicht durch Worte, sondern durch Handlungen beständig widerspricht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 633

„Die Tugend (z.B. als Wahrhaftigkeit) als unser vornehmer und gefährlicher Luxus; wir müssen nicht die Nachteile ablehnen, die er mit sich bringt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 633

Der »Ehr-Begriff«: beruhend auf dem Glauben an »gute Gesellschaft«, an ritterliche Hauptqualitäten, an die Verpflichtung, sich fortwährend zu repräsentieren. Wesentlich: daß man sein Leben nicht wichtig nimmt; daß man unbedingt auf respektvollste Manieren hält, seitens aller, mit denen man sich berührt (zum mindesten so weit sie nicht zu »uns« gehören); daß man weder vertraulich, noch gutmütig, noch lustig, noch bescheiden ist, außer inter pares; daß man sich immer repräsentiert.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 634

„Daß man sein Leben, seine Gesundheit, seine Ehre aufs Spiel setzt, das ist die Folge des Übermutes und eines überströmenden, verschwenderischen Willens: nicht aus Menschenliebe, sondern weil jede große Gefahr unsre Neugierde in bezug auf das Maß unsrer Kraft, unsres Mutes herausfordert.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 634

»Geradezu stoßen die Adler.« – Die Vornehmheit der Seele ist nicht am wenigsten an der prachtvollen und stolzen Dummheit zu erkennen, mit der sie angreift – »geradezu«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 634

„Krieg gegen die weichliche Auffassung der »Vornehmheit«! – ein Quantum Brutalität mehr ist nicht zu erlassen: so wenig als eine Nachbarschaft zum Verbrechen. Auch die »Selbstzufriedenheit« ist nicht darin; man muß abenteuerlich auch zu sich stehen, versucherisch, verderberisch – nichts von Schönseelen-Salbaderei –. Ich will einem robusteren Ideale Luft machen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 610

„»Das Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter« – auch ein Symbolon und Kerbholz-Wort, an dem sich Seelen vornehmer und kriegerischer Abkunft verraten und erraten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 635

Die zwei Wege. – Es kommt ein Zeitpunkt, wo der Mensch Kraft im Überfluß zu Diensten hat: die Wissenschaft ist darauf aus, diese Sklaverei der Natur herbeizuführen. Dann bekommt der Mensch Muße: sich selbst auszubilden, zu etwas Neuem, Höherem. Neue Aristokratie. Dann werden eine Menge Tugenden überlebt, die jetzt Existenzbedingungen waren. – Eigenschaften nicht mehr nötig haben, folglich sie verlieren. Wir haben die Tugenden nicht mehr nötig: folglich verlieren wir sie (– sowohl die Moral vom »Eins ist not«, vom Heil der Seele, wie der Unsterblichkeit: sie waren Mittel, um dem Menschen eine ungeheure Selbstbezwingung zu ermöglichen, durch den Affekt einer ungeheuren Furcht ...). Die verschiedenen Arten Not, durch deren Zucht der Mensch geformt ist: Not lehrt arbeiten, denken, sich zügeln. Die physiologische Reinigung und Verstärkung. Die neue Aristokratie hat einen Gegensatz nötig, gegen den sie ankämpft: sie muß eine furchtbare Dringlichkeit haben, sich zu erhalten. Die zwei Zukünfte der Menschheit:
1. die Konsequenz der Vermittelmäßigung;
2. das bewußte Abheben, Sich-Gestalten.
Eine Lehre, die eine Kluft schafft: sie erhält die oberste und die niedrigste Art (sie zerstört die mittlere).
Die bisherigen Aristokraten, geistliche und weltliche, beweisen nichts gegen die Notwendigkeit einer neuen Aristokratie.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 635-636

„Eine Frage kommt uns immer wieder, eine versucherische und schlimme Frage vielleicht: sei sie denen ins Ohr gesagt, welche ein Recht auf solche fragwürdige Fragen haben, den stärksten Seelen von heute, welche sich selbst auch am besten in der Gewalt haben: wäre es nicht an der Zeit, je mehr der Typus »Herdentier« jetzt in Europa entwickelt wird, mit einer grundsätzlichen künstlichen und bewußten Züchtung des entgegengesetzten Typus und seiner Tugenden den Versuch zu machen? Und wäre es für die demokratische Bewegung nicht selber erst eine Art Ziel, Erlösung und Rechtfertigung, wenn jemand käme, der sich ihrer bediente – dadurch, daß endlich sich zu ihrer neuen und sublimen Ausgestaltung der Sklaverei (– das muß die europäische Demokratie am Ende sein) jene höhere Art herrschaftlicher und cäsarischer Geister hinzufände, welche sich auf sie stellte, sich an ihr hielte, sich durch sie emporhübe? Zu neuen, bisher unmöglichen, zu ihren Fernsichten? Zu ihren Aufgaben?“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 636-637

„Der Anblick des jetzigen Europäers gibt mir viele Hoffnung: es bildet sich da eine verwegene herrschende Rasse, auf der Breite einer äußerst intelligenten Herden-Masse. Es steht vor der Tür, daß die Bewegungen zur Bildung der letzteren nicht mehr allein im Vordergrund stehen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 637

„Dieselben Bedingungen, welche die Entwicklung des Herdentieres vorwärtstreiben, treiben auch die Entwicklung des Führer-Tiers.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 637

„Es naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden? Und wozu soll »der Mensch« als Ganzes – und nicht mehr ein Volk, eine Rasse – gezogen und gezüchtet werden? Die gesetzgeberischen Moralen sind das Hauptmittel, mit denen man aus dem Menschengestalten kann, was einem schöpferischen und tiefen Willen beliebt: vorausgesetzt, daß ein solcher Künstler-Wille höchsten Ranges die Gewalt in den Händen hat und seinen schaffenden Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann in Gestalt von Gesetzgebungen, Religionen und Sitten. Solchen Menschen des großen Schaffens, den eigentlich großen Menschen, wie ich es verstehe, wird man heute und wahrscheinlich für lange noch umsonst nachgehen: sie fehlen; bis man endlich, nach vieler Enttäuschung, zu begreifen anfangen muß, warum sie fehlen und daß ihrer Entstehung und Entwicklung für jetzt und für lange nichts feindseliger im Wege steht als das, was man jetzt in Europa geradewegs »die Moral« nennt: wie als ob es keine andere gäbe und geben dürfte – jene vorhin bezeichnete Herdentier-Moral, die mit allen Kräften das allgemeine grüne Weide-Glück auf Erden erstrebt, nämlich Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Leichtigkeit des Lebens und zu guter Letzt, »wenn alles gut geht«, sich auch noch aller Art Hirten und Leithämmel zu entschlagen hofft. Ihre beiden am reichlichsten gepredigten Lehren heißen: »Gleichheit der Rechte« und »Mitgefühl für alles Leidende« – und das Leiden selber wird von ihnen als etwas genommen, das man schlechterdings abschaffen muß. Daß solche »Ideen« immer noch modern sein können, gibt einen üblen Begriff von dieser Modernität. Wer aber gründlich darüber nachgedacht hat, wo und wie die Pflanze Mensch bisher am kräftigsten emporgewachsen ist, muß vermeinen, daß dies unter den umgekehrten Bedingungen geschehen ist: daß dazu die Gefährlichkeit seiner Lage ins Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungs-Kraft unter langem Druck und Zwang sich emporkämpfen, sein Lebens-Wille bis zu einem unbedingten Willen zur Macht und zur Übermacht gesteigert werden muß, und daß Gefahr, Härte, Gewaltsamkeit, Gefahr auf der Gasse wie im Herzen, Ungleichheit der Rechte, Verborgenheit, Stoizismus, Versucher-Kunst, Teufelei jeder Art, kurz der Gegensatz aller Herden-Wünschbarkeiten zur Erhöhung des Typus Mensch notwendig ist. Eine Moral mit solchen umgekehrten Absichten, welche den Menschen ins Hohe statt ins Bequeme und Mittlere züchten will, eine Moral mit der Absicht, eine regierende Kaste zu züchten – die zukünftigen Herren der Erde – muß, um gelehrt werden zu können, sich in Anknüpfung an das bestehende Sittengesetz und unter dessen Worten und Anscheine einführen. Daß dazu aber viele Übergangs- und Täuschungsmittel zu erfinden sind und daß, weil die Lebensdauer eines Menschen beinahe nichts bedeutet in Hinsicht auf die Durchführung so langwieriger Aufgaben und Absichten, vor allem erst eine neue Art angezüchtet werden muß, in der dem nämlichen Willen, dem nämlichen Instinkte Dauer durch viele Geschlechter verbürgt wird – eine neue Herren-Art und -Kaste, – dies begreift sich ebensogut als das lange und nicht leicht aussprechbare Und-so-weiter dieses Gedankens. Eine Umkehrung der Werte für eine bestimmte starke Art von Menschen höchster Geistigkeit und Willenskraft vorzubereiten und zu diesem Zwecke bei ihnen eine Menge in Zaum gehaltener und verleumdeter Instinkte langsam und mit Vorsicht zu entfesseln: wer darüber nachdenkt, gehört zu uns, den freien Geistern – freilich wohl zu einer neueren Art von »freien Geistern« als die bisherigen: denn diese wünschten ungefähr das Entgegengesetzte. Hierher gehören, wie mir scheint, vor allem die Pessimisten Europas, die Dichter und Denker eines empörten Idealismus, insofern ihre Unzufriedenheit mit dem gesamten Dasein sie auch zur Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Menschen mindestens logisch nötigt; insgleichen gewisse unersättlich-ehrgeizige Künstler, welche unbedenklich und unbedingt für die Sonderrechte höherer Menschen und gegen das »Herdentier« kämpfen und mit den Verführungsmitteln der Kunst bei ausgesuchteren Geistern alle Herden-Instinkte und Herden-Vorsichten einschläfern; zu dritt endlich alle jene Kritiker und Historiker, von denen die glücklich begonnene Entdeckung der alten Welt – es ist das Werk des neuen Kolumbus, des deutschen Geistes – mutig fortgesetzt wird – (denn wir stehen immer noch in den Anfängen dieser Eroberung). In der alten Welt nämlich herrschte in der Tat eine andere, eine herrschaftlichere Moral als heute; und der antike Mensch, unter dem erziehenden Banne seiner Moral, war ein stärkerer und tieferer Mensch als der Mensch von heute – er war bisher allein »der wohlgeratene Mensch«. Die Verführung aber, welche vom Altertum her auf wohlgeratene, d. h. auf starke und unternehmende Seelen ausgeübt wird, ist auch heute noch die feinste und wirksamste aller antidemokratischen und antichristlichen: wie sie es schon zur Zeit der Renaissance war.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 637-640

„Ich schreibe für eine Gattung Menschen, welche noch nicht vorhanden ist: für die »Herren der Erde«. Die Religionen als Tröstungen, Abschirrungen gefährlich: der Mensch glaubt sich nun ausruhn zu dürfen. Im Theages Platos steht es geschrieben: »Jeder von uns möchte Herr womöglich aller Menschen sein, am liebsten Gott.« Diese Gesinnung muß wieder da sein. Engländer, Amerikaner und Russen – – –“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 640

„Die Urwald-Vegetation »Mensch« erscheint immer, wo der Kampf um die Macht am längsten geführt worden ist. Die großen Menschen. Urwald-Tiere die Römer.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 640

„Es wird von nun an günstige Vorbedingungen für umfänglichere Herrschafts-Gebilde geben, derengleichen es noch nicht gegeben hat. Und dies ist noch nicht das wichtigste; es ist die Entstehung von internationalen Geschlechts-Verbänden möglich gemacht, welche sich die Aufgabe setzen, eine Herren-Rasse heraufzuzüchten, die zukünftigen »Herren der Erde«; – eine neue, ungeheure, auf der härtesten Selbst-Gesetzgebung aufgebaute Aristokratie, in der dem Willen philosophischer Gewaltmenschen und Künstler-Tyrannen Dauer über Jahrtausende gegeben wird – eine höhere Art Menschen, die sich, dank ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichtum und Einfluß, des demokratischen Europas bedienen als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeugs, um die Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen, um am »Menschen« selbst als Künstler zu gestalten. Genug, die Zeit kommt, wo man über Politik umlernen wird.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 640-641

„Mein Augenmerk darauf, an welchen Punkten der Geschichte die großen Menschen hervorspringen. Die Bedeutung langer despotischer Moralen: sie spannen den Bogen, wenn sie ihn nicht zerbrechen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 641

„Ein großer Mensch – ein Mensch, welchen die Natur in großem Stile aufgebaut und erfunden hat – was ist das?
Erstens: er hat in seinem gesamten Tun eine lange Logik, die ihrer Länge wegen schwer überschaubar, folglich irreführend ist, eine Fähigkeit, über große Flächen seines Lebens hin seinen Willen auszuspannen und alles kleine Zeug an sich zu verachten und wegzuwerfen, seien darunter auch die schönsten, »göttlichsten« Dinge von der Welt.
Zweitens: er ist kälter, härter, unbedenklicher und ohne Furcht vor der »Meinung«; es fehlen ihm die Tugenden, welche mit der »Achtung« und dem Geachtetwerden zusammenhängen, überhaupt alles, was zur »Tugend der Herde« gehört. Kann er nicht führen, so geht er allein; es kommt dann vor, daß er manches, was ihm auf dem Wege begegnet, angrunzt.
Drittens: er will kein »teilnehmendes« Herz, sondern Diener, Werkzeuge; er ist, im Verkehre mit Menschen, immer dar auf aus, etwas aus ihnen zu machen. Er weiß sich unmittelbar: er findet es geschmacklos, wenn er vertraulich wird; und er ist es gewöhnlich nicht, wenn man ihn dafür hält. Wenn er nicht zu sich redet, hat er seine Maske. Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet: es kostet mehr Geist und Willen. Es ist eine Einsamkeit in ihm, als welche etwas Unerreichbares ist für Lob und Tadel, eine eigene Gerichtsbarkeit, welche keine Instanz über sich hat.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 641-642

„Der große Mensch ist notwendig Skeptiker (womit nicht gesagt ist, daß er es scheinen müßte), vorausgesetzt, daß dies die Größe ausmacht: etwas Großes wollen und die Mittel dazu. Die Freiheit von jeder Art Überzeugung gehört zur Stärke seines Willens. So ist es jenem »aufgeklärten Despotismus« gemäß, den jede große Leidenschaft ausübt. Eine solche nimmt den Intellekt in ihren Dienst; sie hat den Mut auch zu unheiligen Mitteln; sie macht unbedenklich; sie gönnt sich Überzeugungen, sie braucht sie selbst, aber sie unterwirft sich ihnen nicht. Das Bedürfnis nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem in Ja und Nein ist ein Beweis der Schwäche; alle Schwäche ist Willensschwäche. Der Mensch des Glaubens, der Gläubige ist notwendig eine kleine Art Mensch. Hieraus ergibt sich, daß »Freiheit des Geistes«, d.h. Unglaube als Instinkt, Vorbedingung der Größe ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 642

„Der große Mensch fühlt seine Macht über ein Volk, sein zeitweiliges Zusammenfallen mit einem Volke oder einem Jahrtausende – diese Vergrößerung im Gefühl von sich als causa und voluntas wird mißverstanden als »Altruismus« – es drängt ihn nach Mitteln der Mitteilung: alle großen Menschen sind erfinderisch in solchen Mitteln. Sie wollen sich hineingestalten in große Gemeinden, sie wollen eine Form dem Vielartigen, Ungeordneten geben, es reizt sie, das Chaos zu sehn. Mißverständnis der Liebe. Es gibt eine sklavische Liebe, welche sich unterwirft und weggibt: welche idealisiert und sich täuscht – es gibt eine göttliche Liebe, welche verachtet und liebt und das Geliebte umschafft, hinaufträgt. Jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um, durch Züchtung und andrerseits durch Vernichtung von Millionen Mißratener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zugrunde zu gehn an dem Leid, das man schafft und dessengleichen noch nie da war!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 642-643

„Die Revolution, Verwirrung und Not der Völker ist das Geringere in meiner Betrachtung gegen die Not der großen Einzelnen in ihrer Entwicklung. Man muß sich nicht täuschen lassen: die vielen Nöte aller dieser Kleinen bilden zusammen keine Summe, außer im Gefühle von mächtigen Menschen. – An sich denken, in Augenblicken großer Gefahr: seinen Nutzen ziehn aus dem Nachteile vieler – das kann bei einem sehr hohen Grade von Abweichung ein Zeichen großen Charakters sein, der über seine mitleidigen und gerechten Empfindungen Herr wird.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 643

„Der Mensch hat, im Gegensatz zum Tier, eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich großgezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde. – Moralen sind der Ausdruck lokal beschränkter Rangordnungen in dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren Widersprüchen der Mensch nicht zugrunde geht. Also ein Trieb als Herr, sein Gegentrieb geschwächt, verfeinert, als Impuls, der den Reiz für die Tätigkeit des Haupttriebes abgibt. Der höchste Mensch würde die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßt. In der Tat: wo die Pflanze Mensch sich stark zeigt, findet man die mächtig gegeneinander treibenden Instinkte (z. B. Shakespeare), aber gebändigt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 643-644

„Ob man nicht ein Recht hat, alle großen Menschen unter die bösen zu rechnen? Im einzelnen ist es nicht rein aufzuzeigen. Oft ist ihnen ein meisterhaftes Versteckenspielen möglich gewesen, so daß sie die Gebärden und Äußerlichkeiten großer Tugenden annahmen. Oft verehrten sie die Tugenden ernsthaft und mit einer leidenschaftlichen Härte gegen sich selber, aber aus Grausamkeit – dergleichen täuscht, aus der Ferne gesehen. Manche verstanden sich selber falsch; nicht selten fordert eine große Aufgabe große Qualitäten heraus, z. B. die Gerechtigkeit. Das Wesentliche ist: die Größten haben vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegensätze. Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegensätze und aus deren Gefühle gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung, entsteht“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 644

„Im großen Menschen sind die spezifischen Eigenschaften des Lebens – Unrecht, Lüge, Ausbeutung – am größten. Insofern sie aber überwältigend gewirkt haben, ist ihr Wesen am besten mißverstanden und ins Gute interpretiert worden. Typus Carlyle als Interpret.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 644-645

„Im allgemeinen ist jedes Ding so viel wert, als man dafür bezahlt hat. Dies gilt freilich nicht, wenn man das Individuum isoliert nimmt; die großen Fähigkeiten des einzelnen stehen außer allem Verhältnis zu dem, was er selbst dafür getan, geopfert, gelitten hat. Aber sieht man seine Geschlechts-Vorgeschichte an, so entdeckt man da die Geschichte einer Ungeheuern Aufsparung und Kapital-Sammlung von Kraft, durch alle Art Verzichtleisten, Ringen, Arbeiten, Sich-Durchsetzen. Weil der große Mensch so viel gekostet hat und nicht, weil er wie ein Wunder, als Gabe des Himmels und »Zufalls« dasteht, wurde er groß – »Vererbung« ein falscher Begriff. Für das, was einer ist, haben seine Vorfahren die Kosten bezahlt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 645

„Menschen, die Schicksale sind, die, indem sie sich tragen, Schicksale tragen, die ganze Art der heroischen Lastträger: o wie gerne möchten sie einmal von sich selber ausruhn! wie dürsten sie nach starken Herzen und Nacken, um für Stunden wenigstens loszuwerden, was sie drückt! Und wie umsonst dürsten sie! ... Sie warten; sie sehen sich alles an, was vorübergeht: niemand kommt ihnen auch nur mit dem Tausendstel Leiden und Leidenschaft entgegen, niemand errät, inwiefern sie warten .... Endlich, endlich lernen sie ihre erste Lebensklugheit – nicht mehr zu warten; und dann alsbald auch ihre zweite: leutselig zu sein, bescheiden zu sein, von nun an jedermann zu ertragen, jederlei zu ertragen – kurz, noch ein wenig mehr zu ertragen, als sie bisher schon getragen haben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 646

Gesetzgeber der Zukunft. – Nachdem ich lange und umsonst mit dem Worte »Philosoph« einen bestimmten Begriff zu verbinden suchte – denn ich fand viele entgegengesetzte Merkmale –, erkannte ich endlich, daß es zwei unterschiedliche Arten von Philosophen gibt:
1. solche, welche irgendeinen großen Tatbestand von Wertschätzungen (logisch oder moralisch) feststellen wollen;
2. solche, welche Gesetzgeber solcher Wertschätzungen sind.
Die ersten suchen sich der vorhandenen oder vergangenen Welt zu bemächtigen, indem sie das mannigfach Geschehende durch Zeichen zusammenfassen und abkürzen: ihnen liegt daran, das bisherige Geschehen übersichtlich, überdenkbar, faßbar, handlich zu machen – sie dienen der Aufgabe des Menschen, alle vergangenen Dinge zum Nutzen seiner Zukunft zu verwenden.
Die zweiten aber sind Befehlende; sie sagen: »So soll es sein!« Sie bestimmen erst das »Wohin« und »Wozu«, den Nutzen, was Nutzen der Menschen ist; sie verfügen über die Vorarbeit der wissenschaftlichen Menschen, und alles Wissen ist ihnen nur ein Mittel zum Schaffen. Diese zweite Art von Philosophen gerät selten; und in der Tat ist ihre Lage und Gefahr ungeheuer. Wie oft haben sie sich absichtlich die Augen zugebunden, um nur den schmalen Raum nicht sehen zu müssen, der sie vom Abgrund und Absturz trennt: z. B. Plato, als er sich überredete, das »Gute«, wie er es wollte, sei nicht das Gute Platos, sondern das »Gute an sich«, der ewige Schatz, den nur irgendein Mensch, namens Plato, auf seinem Wege gefunden habe! In viel gröberen Formen waltet dieser selbe Wille zur Blindheit bei den Religionsstiftern: ihr »du sollst« darf durchaus ihren Ohren nicht klingen wie »ich will« – nur als dem Befehl eines Gottes wagen sie ihrer Aufgabe nachzukommen, nur als »Eingebung« ist ihre Gesetzgebung der Werte eine tragbare Bürde, unter der ihr Gewissen nicht zerbricht.
Sobald nun jene zwei Trostmittel, das Platos und das Mohammeds, dahingefallen sind und kein Denker mehr an der Hypothese eines »Gottes« oder »ewiger Werte« sein Gewissen erleichtern kann, erhebt sich der Anspruch des Gesetzgebers neuer Werte zu einer neuen und noch nicht erreichten Furchtbarkeit. Nunmehr werden jene Auserkornen, vor denen die Ahnung einer solchen Pflicht aufzudämmern beginnt, den Versuch machen, ob sie ihr wie als ihrer größten Gefahr nicht noch »zur rechten Zeit« durch irgendeinen Seitensprung entschlüpfen möchten: zum Beispiel indem sie sich einreden, die Aufgabe sei schon gelöst, oder sie sei unlösbar, oder sie hätten keine Schultern für solche Lasten, oder sie seien schon mit andern, näheren Aufgaben überladen, oder selbst diese neue ferne Pflicht sei eine Verführung und Versuchung, eine Abführung von allen Pflichten, eine Krankheit, eine Art Wahnsinn. Manchem mag es in der Tat gelingen, auszuweichen: es geht durch die ganze Geschichte hindurch die Spur solcher Ausweichenden und ihres schlechten Gewissens. Zumeist aber kam solchen Menschen des Verhängnisses jene erlösende Stunde, jene Herbst-Stunde der Reife, wo sie mußten, was sie nicht einmal »wollten« – und die Tat, vor der sie sich am meisten vorher gefürchtet hatten, fiel ihnen leicht und ungewollt vom Baume, als eine Tat ohne Willkür, fast als Geschenk.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 647-648

Der menschliche Horizont. – Man kann die Philosophen auffassen als solche, welche die äußerste Anstrengung machen, zu erproben, wie weit sich der Mensch erheben könne – besonders Plato: wie weit seine Kraft reicht. Aber sie tun es als Individuen; vielleicht war der Instinkt der Cäsaren, der Staatengründer usw. größer, welche daran denken, wie weit der Mensch getrieben werden könne in der Entwicklung und unter »günstigen Umständen«. Aber sie begriffen nicht genug, was günstige Umstände sind. Große Frage: wo bisher die Pflanze »Mensch« am prachtvollsten gewachsen ist. Dazu ist das vergleichende Studium der Historie nötig.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 649

„Ein Faktum, ein Werk ist für jede Zeit und jede neue Art von Mensch von neuer Beredsamkeit. Die Geschichte redet immer neue Wahrheiten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 649

„Objektiv, hart, fest, streng bleiben im Durchsetzen eines Gedankens – das bringen die Künstler noch am besten zustande; wenn einer aber Menschen dazu nötig hat (wie Lehrer, Staatsmänner usw.), da geht die Ruhe und Kälte und Härte schnell davon. Man kann bei Naturen wie Cäsar und Napoleon etwas ahnen von einem »interesselosen« Arbeiten an ihrem Marmor, mag dabei von Menschen geopfert werden, was nur möglich. Auf dieser Bahn liegt die Zukunft der höchsten Menschen: die größte Verantwortlichkeit tragen und nicht daran zerbrechen. – Bisher waren fast immer Inspirations-Täuschungen nötig, um selbst den Glauben an sein Recht und seine Hand nicht zu verlieren.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 649

„Weshalb der Philosoph selten gerät. Zu seinen Bedingungen gehören Eigenschaften, die gewöhnlich einen Menschen zugrunde richten:
1. eine ungeheure Vielheit von Eigenschaften, er muß eine Abbreviatur des Menschen sein, aller seiner hohen und niedern Begierden: Gefahr der Gegensätze, auch des Ekels an sich;
2. er muß neugierig nach den verschiedensten Seiten sein: Gefahr der Zersplitterung;
3. er muß gerecht und billig im höchsten Sinne sein, aber tief auch in Liebe, Haß (und Ungerechtigkeit);
4. er muß nicht nur Zuschauer, sondern Gesetzgeber sein: Richter und Gerichteter (insofern er eine Abbreviatur der Welt ist);
5. äußerst vielartig, und doch fest und hart. Geschmeidig.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 650

„Der eigentlich königliche Beruf des Philosophen (nach dem Ausdruck Alkuins des Angelsachsen): prava corrigere, et recta corroborare, et sancta sublimare.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 650

„Der neue Philosoph kann nur in Verbindung mit einer herrschenden Kaste entstehen, als deren höchste Vergeistigung. Die große Politik, Erdregierung in der Nähe; vollständiger Mangel an Prinzipien dafür.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 650

„Grundgedanke: die neuen Werte müssen erst geschaffen werden – das bleibt uns nicht erspart! Der Philosoph muß uns ein Gesetzgeber sein. Neue Arten. (Wie bisher die höchsten Arten [z. B. Griechen] gezüchtet wurden: diese Art »Zufall« bewußt wollen.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 650

„Gesetzt, man denkt sich einen Philosophen als großen Erzieher, mächtig genug, um von einsamer Höhe herab lange Ketten von Geschlechtern zu sich hinaufzuziehen: so muß man ihm auch die unheimlichen Vorrechte des großen Erziehers zugestehen. Ein Erzieher sagt nie, was er selber denkt: sondern immer nur, was er im Verhältnis zum Nutzen dessen, den er erzieht, über eine Sache denkt. In dieser Verstellung darf er nicht erraten werden; es gehört zu seiner Meisterschaft, daß man an seine Ehrlichkeit glaubt. Er muß aller Mittel der Zucht und Züchtigung fähig sein: manche Naturen bringt er nur durch Peitschenschläge des Hohnes vorwärts, andere. Träge, Unschlüssige, Feige, Eitle, vielleicht mit übertreibendem Lobe. Ein solcher Erzieher ist jenseits von Gut und Böse; aber niemand darf es wissen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 651

Nicht die Menschen »besser« machen, nicht zu ihnen auf irgendeine Art Moral reden, als ob »Moralität an sich«, oder eine ideale Art Mensch überhaupt, gegeben sei: sondern Zustände schaffen, unter denen stärkere Menschen nötig sind, welche ihrerseits eine Moral (deutlicher: eine leiblich-geistige Disziplin), welche stark macht, brauchen und folglich haben werden! Sich nicht durch blaue Augen oder geschwellte Busen verführen lassen: die Größe der Seele hat nichts Romantisches an sich. Und leider gar nichts Liebenswürdiges!
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 651

„Man muß von den Kriegen her lernen:
1. den Tod in die Nähe der Interessen zu bringen, für die man kämpft – das macht uns ehrwürdig;
2. man muß lernen, viele zum Opfer bringen und seine Sache wichtig genug nehmen, um die Menschen nicht zu schonen;
3. die starre Disziplin, und im Krieg Gewalt und List sich zugestehn.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 651-652

„Die Erziehung zu jenen Herrscher-Tugenden, welche auch über sein Wohlwollen und Mitleiden Herr werden: die großen Züchter-Tugenden (»seinen Feinden vergeben« ist dagegen Spielerei), den Affekt des Schaffenden auf die Höhe bringen – nicht mehr Marmor behauen! – Die Ausnahme- und Macht-Stellung jener Wesen (verglichen mit der der bisherigen Fürsten): der römische Cäsar mit Christi Seele.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 652

„Seelengröße nicht zu trennen von geistiger Größe. Denn sie involviert Unabhängigkeit; aber ohne geistige Größe soll diese nicht erlaubt sein, sie richtet Unfug an, selbst noch durch Wohltun-wollen und »Gerechtigkeit«-üben. Die geringen Geister haben zu gehorchen – können also nicht Größe haben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 652

„Der höhere philosophische Mensch, der um sich Einsamkeit hat, nicht weil er allein sein will, sondern weil er etwas ist, das nicht seinesgleichen findet: welche Gefahren und neuen Leiden sind ihm gerade heute aufgespart, wo man den Glauben an die Rangordnung verlernt hat und folglich diese Einsamkeit nicht zu ehren und nicht zu verstehen weiß! Ehemals heiligte sich der Weise beinahe durch ein solches Beiseite-gehen für das Gewissen der Menge – heute sieht sich der Einsiedler wie mit einer Wolke trüber Zweifel und Verdächtigungen umringt. Und nicht etwa nur von seiten der Neidischen und Erbärmlichen: er muß Verkennung, Vernachlässigung und Oberflächlichkeit noch an jedem Wohlwollen herausempfinden, das er erfährt, er kennt jene Heimtücke des beschränkten Mitleidens, welches sich selber gut und heilig fühlt, wenn es ihn, etwa durch bequemere Lagen, durch geordnetere, zuverlässigere Gesellschaft, vor sich selber zu »retten« sucht – ja er wird den unbewußten Zerstörungstrieb zu bewundern haben, mit dem alle Mittelmäßigen des Geistes gegen ihn tätig sind, und zwar im besten Glauben an ihr Recht dazu! Es ist für Men schen dieser unverständlichen Vereinsamung nötig, sich tüchtig und herzhaft auch in den Mantel der äußeren, der räumlichen Einsamkeit zu wickeln: das gehört zu ihrer Klugheit. Selbst List und Verkleidung werden heute not tun, damit ein solcher Mensch sich selber erhalte, sich selber oben erhalte, inmitten der niederziehenden gefährlichen Stromschnellen der Zeit. Jeder Versuch, es in der Gegenwart, mit der Gegenwart auszuhalten, jede Annäherung an diese Menschen und Ziele von heute muß er wie seine eigentliche Sünde abbüßen: und er mag die verborgene Weisheit seiner Natur anstaunen, welche ihn bei allen solchen Versuchen sofort durch Krankheit und schlimme Unfälle wieder zu sich selber zurückzieht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 652-653

„Die schwierigste und höchste Gestalt des Menschen wird am seltensten gelingen: so zeigt die Geschichte der Philosophie eine Überfülle von Mißratenen, von Unglücksfällen und ein äußerst langsames Schreiten; ganze Jahrtausende fallen dazwischen und erdrücken, was erreicht war; der Zusammenhang hört immer wieder auf. Das ist eine schauerliche Geschichte – die Geschichte des höchsten Menschen, des Weisen. – Am meisten geschädigt ist gerade das Gedächtnis der Großen, denn die Halb-Geratenen und Mißratenen verkennen sie und besiegen sie durch »Erfolge«. Jedesmal, wo »die Wirkung« sich zeigt, tritt eine Masse Pöbel auf den Schauplatz; das Mitreden der Kleinen und der Armen im Geiste ist eine fürchterliche Ohrenmarter für den, der mit Schauder weiß, daß das Schicksal der Menschheit am Geraten ihres höchsten Typus liegt. – Ich habe von Kindesbeinen an über die Existenzbedingungen des Weisen nachgedacht und will meine frohe Überzeugung nicht verschweigen, daß er jetzt in Europa wieder möglich wird – vielleicht nur für kurze Zeit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 653-654

„Die neuen Philosophen aber beginnen mit der Darstellung der tatsächlichen Rangordnung und Wert-Verschiedenheit der Menschen – sie wollen, ach, gerade das Gegenteil einer Anähnlichung, einer Ausgleichung sie lehren die Entfremdung in jedem Sinne, sie reißen Klüfte auf, wie es noch keine gegeben hat, sie wollen, daß der Mensch böser werde, als er je war. Einstweilen leben sie noch selber einander fremd und verborgen. Es wird ihnen aus vielen Gründen nötig sein, Einsiedler zu sein und selbst Masken vorzunehmen – sie werden folglich schlecht zum Suchen von ihresgleichen taugen. Sie werden allein leben und wahrscheinlich die Martern aller sieben Einsamkeiten kennen. Laufen sie sich aber über den Weg, durch einen Zufall, so ist darauf zu wetten, daß sie sich verkennen oder wechselseitig betrügen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 654

„Ich vergaß zu sagen, daß solche Philosophen heiter sind und daß sie gerne in dem Abgrund eines vollkommen hellen Himmels sitzen – sie haben andere Mittel nötig, das Leben zu ertragen, als andere Menschen; denn sie leiden anders (nämlich ebensosehr an der Tiefe ihrer Menschen-Verachtung als an ihrer Menschen-Liebe). – Das leidendste Tier auf Erden erfand sich – das Lachen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 655

„Über das Mißverständnis der »Heiterkeit«. Zeitweilige Erlösung von der langen Spannung; der Übermut, die Saturnalien eines Geistes, der sich zu langen und furchtbaren Entschlüssen weiht und vorbereitet. Der »Narr« in der Form der »Wissenschaft«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 655

„Neue Rangordnung der Geister: nicht mehr die tragischen Naturen voran.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 655

„Es ist mir ein Trost, zu wissen, daß über dem Dampf und Schmutz der menschlichen Niederungen es eine höhere, hellere Menschheit gibt, die der Zahl nach eine sehr kleine sein wird (– denn alles, was hervorragt, ist seinem Wesen nach selten): man gehört zu ihr, nicht weil man begabter oder tugendhafter oder heroischer oder liebevoller wäre als die Menschen da unten, sondern – weil man kälter, heller, weitsichtiger, einsamer ist, weil man die Einsamkeit erträgt, vorzieht, fordert als Glück, Vorrecht, ja Bedingung des Daseins, weil man unter Wolken und Blitzen wie unter seinesgleichen lebt, aber ebenso unter Sonnenstrahlen, Tautropfen, Schneeflocken und allem, was notwendig aus der Höhe kommt und, wenn es sich bewegt, sich ewig nur in der Richtung von oben nach unten bewegt. Die Aspirationen nach der Höhe sind nicht die unsrigen. – Die Helden, Märtyrer, Genies und Begeisterten sind uns nicht still, geduldig, fein, kalt, langsam genug.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 655-656

„Absolute Überzeugung: daß die Wertgefühle oben und unten verschieden sind; daß zahllose Erfahrungen den Unteren fehlen, daß von unten nach oben das Mißverständnis notwendig ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 656

„Wie kommen Menschen zu einer großen Kraft und zu einer großen Aufgabe? Alle Tugend und Tüchtigkeit am Leib und an der Seele ist mühsam und im kleinen erworben worden, durch viel Fleiß, Selbstbezwingung, Beschränkung auf weniges, durch viel zähe, treue Wiederholung der gleichen Arbeiten, der gleichen Entsagungen: aber es gibt Menschen, welche die Erben und Herren dieses langsam erworbenen vielfachen Reichtums an Tugenden und Tüchtigkeiten sind – weil auf Grund glücklicher und vernünftiger Ehen und auch glücklicher Zufälle die erworbenen und gehäuften Kräfte vieler Geschlechter nicht verschleudert und versplittert, sondern durch einen festen Ring und Willen zusammengebunden sind. Am Ende nämlich erscheint ein Mensch, ein Ungeheuer von Kraft, welches nach einem Ungeheuer von Aufgabe verlangt. Denn unsere Kraft ist es, welche über uns verfügt: und das erbärmliche geistige Spiel von Zielen und Absichten und Beweggründen nur ein Vordergrund – mögen schwache Augen auch hierin die Sache selber sehn.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 656-657

„Der sublime Mensch hat den höchsten Wert, auch wenn er ganz zart und zerbrechlich ist, weil eine Fülle von ganz schweren und seltenen Dingen durch viele Geschlechter gezüchtet und beisammen erhalten worden ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 657

„Ich lehre: daß es höhere und niedere Menschen gibt und daß ein einzelner ganzen Jahrtausenden unter Umständen ihre Existenz rechtfertigen kann – das heißt ein voller, reicher, großer, ganzer Mensch in Hinsicht auf zahllose unvollständige Bruchstück-Menschen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 657

„Jenseits der Herrschenden, losgelöst von allen Banden, leben die höchsten Menschen: und in den Herrschenden haben sie ihre Werkzeuge.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 657

Rangordnung: Der die Werte bestimmt und den Willen von Jahrtausenden lenkt, dadurch, daß er die höchsten Naturen lenkt, ist der höchste Mensch.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 657

„Ich glaube, ich habe einiges aus der Seele des höchsten Menschen erraten; – vielleicht geht jeder zugrunde, der ihn errät: aber wer ihn gesehn hat, muß helfen, ihn zu ermöglichen. Grundgedanke: wir müssen die Zukunft als maßgebend nehmen für alle unsere Wertschätzung – und nicht hinter uns die Gesetze unseres Handelns suchen!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 657-658

„Nicht »Menschheit«, sondern Übermensch ist das Ziel!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 658

„Dem Wohlgeratenen, der meinem Herzen wohltut, aus einem Holz geschnitzt, welches hart, zart und wohlriechend ist – an dem selbst die Nase noch ihre Freude hat –, sei dies Buch geweiht.
Ihm schmeckt, was ihm zuträglich ist;
sein Gefallen an etwas hört auf, wo das Maß des Zuträglichen überschritten wird;
er errät die Heilmittel gegen partielle Schädigungen; er hat Krankheiten als große Stimulantia seines Lebens;
er versteht seine schlimmen Zufälle auszunützen;
er wird stärker, durch die Unglücksfälle, die ihn zu vernichten drohen;
er sammelt instinktiv aus allem, was er sieht, hört, erlebt, zugunsten seiner Hauptsache – er folgt einem auswählenden Prinzip – er läßt viel durchfallen;
er reagiert mit der Langsamkeit, welche eine lange Vorsicht und ein gewollter Stolz angezüchtet haben – er prüft den Reiz, woher er kommt, wohin er will, er unterwirft sich nicht;
er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt;
er ehrt, indem er wählt, indem er zuläßt, indem er vertraut.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 659

„Eine Höhe und Vogelschau der Betrachtung gewinnen, wo man begreift, wie alles so, wie es gehen sollte, auch wirklich geht: wie jede Art »Unvollkommenheit« und das Leiden an ihr mit hinein in die höchste Wünschbarkeit gehört“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 659-660

Gegen 1876 hatte ich den Schrecken, mein ganzes bisheriges Wollen kompromittiert zu sehen, als ich begriff, wohin es jetzt mit Wagner hinauswollte: und ich war sehr fest an ihn gebunden, durch alle Bande der tiefen Einheit der Bedürfnisse, durch Dankbarkeit, durch die Ersatzlosigkeit und absolute Entbehrung, die ich vor mir sah. Um dieselbe Zeit schien ich mir wie unauflösbar eingekerkert in meine Philologie und Lehrtätigkeit – in einen Zufall und Notbehelf meines Lebens –: ich wußte nicht mehr, wie herauskommen, und war müde, verbraucht, vernutzt. Um dieselbe Zeit begriff ich, daß mein Instinkt auf das Gegenteil hinauswollte als der Schopenhauers: auf eine Rechtfertigung des Lebens, selbst in seinem Furchtbarsten, Zweideutigsten und Lügenhaftesten – dafür hatte ich die Formel »dionysisch«, in den Händen. Daß ein »An-sich der Dinge« notwendig gut, selig, wahr, eins sein müsse, dagegen war Schopenhauers Interpretation des »An-sichs« als Wille ein wesentlicher Schritt: nur verstand er nicht, diesen Willen zu vergöttlichen: er blieb im moralisch-christlichen Ideal hängen. Schopenhauer stand so weit noch unter der Herrschaft der christlichen Werte, daß er, nachdem ihm das Ding an sich nicht mehr »Gott« war, es schlecht, dumm, absolut verwerflich sehen mußte. Er begriff nicht, daß es unendliche Arten des Anders-sein-könnens, selbst des Gott-sein-könnens geben kann.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 660-661

„Die moralischen Werte waren bis jetzt die obersten Werte: will das jemand in Zweifel ziehen?... Entfernen wir diese Werte von jener Stelle, so verändern wir alle Werte: das Prinzip ihrer bisherigen Rangordnung ist damit umgeworfen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 661

„Werte umwerten – was wäre das? Es müssen die spontanen Bewegungen alle da sein, die neuen, zukünftigen, stärkeren: nur stehen sie noch unter falschen Namen und Schätzungen und sind sich selbst noch nicht bewußt geworden.Ein mutiges Bewußt-werden und Ja-sagen zu dem, was erreicht ist – ein Losmachen von dem Schlendrian alter Wertschätzungen, die uns entwürdigen im Besten und Stärksten, was wir erreicht haben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 661

„Jede Lehre ist überflüssig, für die nicht alles schon bereitliegt an aufgehäuften Kräften, an Explosiv-Stoffen. Eine Umwertung von Werten wird nur erreicht, wenn eine Spannung von neuen Bedürfnissen, von Neu-Bedürftigen da ist, welche an den alten Werten leiden, ohne zum Bewußtsein zu kommen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 661-662

„Gesichtspunkte für meine Werte: ob aus der Fülle oder aus dem Verlangen? ob man zusieht oder Hand anlegt – oder wegsieht, beiseite geht?... ob aus der aufgestauten Kraft, »spontan«, oder bloß reaktiv angeregt, angereizt? ob einfach, aus Wenigkeit der Elemente, oder aus überwältigender Herrschaft über viele, so daß sie dieselben in Dienst nimmt, wenn sie sie braucht? ob man Problem oder Lösung ist? ob vollkommen bei der Kleinheit der Aufgabe oder unvollkommen bei dem Außerordentlichen eines Ziels? ob man echt oder nur Schauspieler, ob man als Schauspieler echt oder nur ein nachgemachter Schauspieler, ob man »Vertreter« oder das Vertretene selbst ist –? ob »Person« oder bloß ein Rendez-vous von Personen ..., ob krank aus Krankheit oder aus überschüssiger Gesundheit? ob man vorangeht als Hirt oder als »Ausnahme« (dritte Spezies: als Entlaufener)? ob man Würde nötig hat – oder den »Hanswurst«? ob man den Widerstand sucht oder ihm aus dem Wege geht? ob man unvollkommen ist, als »zu früh« oder als »zu spät«? ob man von Natur ja sagt oder nein sagt oder ein Pfauenwedel von bunten Dingen ist? ob man stolz genug ist, um sich auch seiner Eitelkeit nicht zu schämen? ob man eines Gewissensbisses noch fähig ist (– die Spezies wird selten: früher hatte das Gewissen zu viel zu beißen: es scheint, jetzt hat es nicht mehr Zähne genug dazu)? ob man einer »Pflicht« noch fähig ist? (– es gibt solche, die sich den Rest ihrer Lebenslust rauben würden, wenn sie sich die Pflicht rauben ließen – sonderlich die Weiblichen, die Untertänig-Geborenen.)“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 662

„Gesetzt, unsere übliche Auffassung der Welt wäre ein Mißverständnis: könnte eine Vollkommenheit konzipiert werden, innerhalb deren selbst solche Mißverständnisse sanktioniert wären? Konzeption einer neuen Vollkommenheit: das, was unserer Logik, unserem »Schönen«, unserem »Guten«, unserem »Wahren« nicht entspricht, könnte in einem höheren Sinne vollkommen sein, als es unser Ideal selbst ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 662-663

Unsere große Bescheidung: das Unbekannte nicht vergöttern; wir fangen eben an, wenig zu wissen. Die falschen und verschwendeten Bemühungen. Unsere »neue Welt«: wir müssen erkennen, bis zu welchem Grade wir die Schöpfer unsrer Wertgefühle sind – also »Sinn« in die Geschichte legen können.Dieser Glaube an die Wahrheit geht in uns zu seiner letzten Konsequenz – ihr wißt, wie sie lautet –: daß, wenn es überhaupt etwas anzubeten gibt, es der Schein ist, der angebetet werden muß, daß die Lüge – und nicht die Wahrheit – göttlich ist!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 663

„Wer die Vernünftigkeit vorwärts stößt, treibt damit die entgegengesetzte Macht auch wieder zu neuer Kraft, die Mystik und Narrheit aller Art. In jeder Bewegung zu unterscheiden:
1. daß sie teilweise Ermüdung ist von einer vorhergegangenen Bewegung (Sattheit davon, Bosheit der Schwäche gegen sie, Krankheit);
2. daß sie teilweise eine neu aufgewachte, lange schlummernde aufgehäufte Kraft ist, freudig, übermutig, gewalttätig: Gesundheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 663

„Gesundheit und Krankhaftigkeit: man sei vorsichtig! Der Maßstab bleibt die Effloreszenz des Leibes, die Sprungkraft, Mut und Lustigkeit des Geistes – aber, natürlich auch, wieviel von Krankhaftem er auf sich nehmen und überwinden kann – gesund machen kann. Das, woran die zarteren Menschen zugrunde gehen würden, gehört zu den Stimulanz-Mitteln der großen Gesundheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 663-664

„Es ist nur eine Sache der Kraft: alle krankhaften Züge des Jahrhunderts haben, aber ausgleichen in einer überreichen plastischen wiederherstellenden Kraft. Der starke Mensch.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 664

Zur Stärke des 19. Jahrhunderts. – Wir sind mittelalterlicher als das 18. Jahrhundert; nicht bloß neugieriger oder reizbarer für Fremdes und Seltnes. Wir haben gegen die Revolution revoltiert .... Wir haben uns von der Furcht vor der raison, dem Gespenst des 18. Jahrhunderts, emanzipiert: wir wagen wieder absurd, kindisch, lyrisch zu sein – mit einem Wort: »wir sind Musiker«. Ebensowenig fürchten wir uns vor dem Lächerlichen wie vor dem Absurden. Der Teufel findet die Toleranz Gottes zu seinen Gunsten: mehr noch, er hat ein Interesse als der Verkannte, Verleumdete von alters her – wir sind die Ehrenretter des Teufels. Wir trennen das Große nicht mehr von dem Furchtbaren. Wir rechnen die guten Dinge zusammen in ihrer Komplexität mit den schlimmsten: wir haben die absurde »Wünschbarkeit« von ehedem überwunden (die das Wachstum des Guten wollte ohne das Wachstum des Bösen –). Die Feigheit vor dem Ideal der Renaissance hat nachgelassen – wir wagen es, zu ihren Sitten selbst zu aspirieren. Die Intoleranz gegen den Priester und die Kirche hat zu gleicher Zeit ein Ende bekommen; »es ist unmoralisch, an Gott zu glauben« – aber gerade das gilt uns als die beste Form der Rechtfertigung dieses Glaubens. Wir haben alledem ein Recht bei uns gegeben. Wir fürchten uns nicht vor der Kehrseite der »guten Dinge« (– wir suchen sie: wir sind tapfer und neugierig genug dazu), z.B. am Griechentum, an der Moral, an der Vernunft, am guten Geschmack (– wir rechnen die Einbuße nach, die man mit all solchen Kostbarkeiten macht: man macht sich beinahe arm mit einer solchen Kostbarkeit –). Ebensowenig verhehlen wir uns die Kehrseite der schlimmen Dinge“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 664-665

Was uns Ehre macht. – Wenn irgend etwas uns Ehre macht, so ist es dies: wir haben den Ernst woandershin gelegt: wir nehmen die von allen Zeiten verachteten und beiseite gelassenen niedrigen Dinge wichtig – wir geben dagegen die »schönen Gefühle« wohlfeil. Gibt es eine gefährlichere Verirrung als die Verachtung des Leibes? Als ob nicht mit ihr die ganze Geistigkeit verurteilt wäre zum Krankhaft-werden, zu den vapeurs des »Idealismus«! Es hat alles nicht Hand noch Fuß, was von Christen und Idealisten ausgedacht ist: wir sind radikaler. Wir haben die »kleinste Welt« als das überall Entscheidende entdeckt. Straßenpflaster, gute Luft im Zimmer, die Speise auf ihren Wertbegriffen; wir haben Ernst gemacht mit allen Nezessitäten des Daseins und verachten alles »Schönseelentum« als eine Art der »Leichtfertigkeit und Frivolität«. – Das bisher Verachtetste ist in die erste Linie gerückt.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 665

„Statt des »Naturmenschen« Rousseaus hat das 19. Jahrhundert ein wahreres Bild vom »Menschen« entdeckt – es hat dazu den Mut gehabt... Im ganzen ist damit dem christlichen Begriff »Mensch« eine Wiederherstellung zuteil geworden. Wozu man nicht den Mut gehabt hat, das ist, gerade diesen »Mensch an sich« gutzuheißen und in ihm die Zukunft des Menschen garantiert zu sehen. Insgleichen hat man nicht gewagt, das Wachstum der Furchtbarkeit des Menschen als Begleiterscheinung jedes Wachstums der Kultur zu begreifen; man ist darin immer noch dem christlichen Ideal unterwürfig und nimmt dessen Partei gegen das Heidentum, insgleichen gegen den RenaissanceBegriff der virtù. So aber hat man den Schlüssel nicht zur Kultur: und in praxi bleibt es bei der Falschmünzerei der Geschichte zugunsten des »guten Menschen« (wie als ob er allein der Fortschritt des Menschen sei) und beim sozialistischen Ideal (d.h. dem Residuum des Christentums und Rousseaus in der entchristlichten Welt). Der Kampf gegen das 18. Jahrhundert: dessen höchste Überwindung durch Goethe und Napoleon. Auch Schopenhauer kämpft gegen dasselbe; unfreiwillig aber tritt er zurück ins 17. Jahrhundert – er ist ein moderner Pascal, mit Pascalschen Werturteilen ohne Christentum. Schopenhauer war nicht stark genug zu einem neuen Ja. Napoleon: die notwendige Zusammengehörigkeit des höheren und des furchtbaren Menschen begriffen. Der »Mann« wiederhergestellt; dem Weibe der schuldige Tribut von Verachtung und Furcht zurückgewonnen. Die »Totalität« als Gesundheit und höchste Aktivität; die gerade Linie, der große Stil im Handeln wiederentdeckt; der mächtigste Instinkt, der des Lebens selbst, die Herrschsucht, bejaht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 665-667

Zum Pessimismus der Stärke. – In dem innern Seelen-Haushalt des primitiven Menschen überwiegt die Furcht vor dem Bösen. Was ist das Böse? Dreierlei: der Zufall, das Ungewisse, das Plötzliche. Wie bekämpft der primitive Mensch das Böse?
– Er konzipiert es als Vernunft, als Macht, als Person selbst. Dadurch gewinnt er die Möglichkeit, mit ihnen eine Art Vertrag einzugehn und überhaupt auf sie im voraus einzuwirken – zu prävenieren.
– Ein anderes Auskunftsmittel ist, die bloße Scheinbarkeit ihrer Bosheit und Schädlichkeit zu behaupten: man legt die Folgen des Zufalls, des Ungewissen, des Plötzlichen als wohlgemeint, als sinnvoll aus.
– Ein drittes Mittel: man interpretiert vor allem das Schlimme als »verdient«: man rechtfertigt das Böse als Strafe.
In summa: man unterwirft sich ihm –: die ganze moralisch-religiöse Interpretation ist nur eine Form der Unterwerfung unter das Böse. – Der Glaube, daß im Bösen ein guter Sinn sei, heißt Verzicht leisten, es zu bekämpfen.
Nun stellt die ganze Geschichte der Kultur eine Abnahme jener Furcht vor dem Zufalle, vor dem Ungewissen, vor dem Plötzlichen dar. Kultur, das heißt eben berechnen lernen, kausal denken lernen, prävenieren lernen, an Notwendigkeit glauben lernen. Mit dem Wachstum der Kultur wird dem Menschen jene primitive Form der Unterwerfung unter das Übel (Religion oder Moral genannt), jene »Rechtfertigung des Übels« entbehrlich. Jetzt macht er Krieg gegen das »Übel« – er schafft es ab. Ja, es ist ein Zustand von Sicherheitsgefühl, von Glaube an Gesetz und Berechenbarkeit möglich, wo er als Überdruß ins Bewußtsein tritt – wo die Lust am Zufall, am Ungewissen und am Plötzlichen als Kitzel hervorspringt. Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Symptom höchster Kultur – ich nenne ihn den Pessimismus der Stärke. Der Mensch braucht jetzt nicht mehr eine »Rechtfertigung des Übels«, er perhorresziert gerade das »Rechtfertigen«: er genießt das Übel pur, cru, er findet das sinnlose Übel als das interessanteste. Hat er früher einen Gott nötig gehabt, so entzückt ihn jetzt eine Welt-Unordnung ohne Gott, eine Welt des Zufalls, in der das Furchtbare, das Zweideutige, das Verführerische zum Wesen gehört. In einem solchen Zustande bedarf gerade das Gute einer »Rechtfertigung«, d.h. es muß einen bösen und gefährlichen Untergrund haben oder eine große Dummheit in sich schließen: dann gefällt es noch. Die Animalität erregt jetzt nicht mehr Grausen; ein geistreicher und glücklicher Übermut zugunsten des Tiers im Menschen ist in solchen Zeiten die triumphierendste Form der Geistigkeit. Der Mensch ist nunmehr stark genug dazu, um sich eines Glaubens an Gott schämen zu dürfen – er darf jetzt von neuem den advocatus diaboli spielen. Wenn er in praxi die Aufrechterhaltung der Tugend befürwortet, so tut er es um der Gründe willen, welche in der Tugend eine Feinheit, Schlauheit, Gewinnsuchts-, Machtsuchtsform erkennen lassen. Auch dieser Pessimismus der Stärke endet mit einer Theodizee, d.h. mit einem absoluten Ja-sagen zu der Welt – aber um der Gründe willen, auf die hin man zu ihr ehemals nein gesagt hat –: und dergestalt zur Konzeption dieser Welt als des tatsächlich erreichten höchstmöglichen Ideals.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 667-669

Die Hauptarten des Pessimismus:
der Pessimismus der Sensibilität (: die Überreizbarkeit mit einem Übergewicht der Unlustgefühle);
der Pessimismus des »unfreien Willens« (anders gesagt: der Mangel an Hemmungskräften gegen die Reize);
der Pessimismus des Zweifels (: die Scheu vor allem Festen, vor allem Fassen und Anrühren).
Die dazu gehörigen psychologischen Zustände kann man allesamt im Irrenhause beobachten, wenn auch in einer gewissen Übertreibung. Insgleichen den »Nihilismus« (das durchbohrende Gefühl des – »Nichts«). Wohin aber gehört der Moral-Pessimismus Pascals? der metaphysische Pessimismus der Vedânta-Philosophie? der soziale Pessimismus des Anarchisten (oder Shelleys)? der Mitgefühls-Pessimismus (wie der Leo Tolstois, Alfred de Vignys) ? Sind das nicht alles gleichfalls Verfalls- und Erkrankungs-Phänomene? .... Das exzessive Wichtig-nehmen von Moralwerten oder von »Jenseits«-Fiktionen oder von sozialen Notständen oder von Leiden überhaupt. Jede solche Übertreibung eines engeren Gesichtspunktes ist an sich schon ein Zeichen von Erkrankung. Ebenfalls das Überwiegen des Neins über das Ja! Was hier nicht zu verwechseln ist: die Lust am Nein-sagen und Nein- tun aus einer ungeheuren Kraft und Spannung des Ja-sagens – eigentümlich allen reichen und mächtigen Menschen und Zeiten. Ein Luxus gleichsam; eine Form der Tapferkeit ebenfalls, welche sich dem Furchtbaren entgegenstellt; eine Sympathie für das Schreckliche und Fragwürdige, weil man, unter anderem, schrecklich und fragwürdig ist: das Dionysische in Wille, Geist, Geschmack.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 669-670

„Meine fünf »Neins«.
1. Mein Kampf gegen das Schuldgefühl und die Einmischung des Strafbegriffs in die physische und metaphysische Welt, insgleichen in die Psychologie, in die Geschichts-Ausdeutung. Einsicht in die Vermoralisierung aller bisherigen Philosophie und Wertschätzung.
2. Mein Wiedererkennen und Herausziehn des überlieferten Ideals, des christlichen, auch wo man mit der dogmatischen Form des Christentums abgewirtschaftet hat. Die Gefährlichkeit des christlichen Ideals steckt in seinen Wertgefühlen, in dem, was des begrifflichen Ausdrucks entbehren kann: mein Kampf gegen das latente Christentum (z.B. in der Musik, im Sozialismus).
3. Mein Kampf gegen das 18. Jahrhundert Rousseaus, gegen seine »Natur«, seinen »guten Menschen«, seinen Glauben an die Herrschaft des Gefühls — gegen die Verweichlichung, Schwächung, Vermoralisierung des Menschen: ein Ideal, das aus dem Haß gegen die aristokratische Kultur geboren ist und in praxi die Herrschaft der zügellosen Ressentiments-Gefühle ist, erfunden als Standarte für den Kampf (– die Schuldgefühls-Moralität des Christen, die Ressentiments-Moralität eine Attitüde des Pöbels).
4. Mein Kampf gegen die Romantik, in der christliche Ideale und Ideale Rousseaus zusammenkommen, zugleich aber mit einer Sehnsucht nach den alten Zeiten der priesterlich-aristokratischen Kultur, nach virtù, nach dem »starken Menschen« – etwas äußerst Hybrides; eine falsche und nachgemachte Art stärkeren Menschtums, welches die extremen Zustände überhaupt schätzt und in ihnen das Symptom der Stärke sieht (»Kultus der Leidenschaft«: ein Nachmachen der expressivsten Formen, furore espressivo nicht aus der Fülle, sondern dem Mangel) – (Was relativ aus der Fülle geboren ist im 19. Jahrhundert, mit Behagen: heitere Musik usw.; – unter Dichtern ist z.B. Stifter und Gottfried Keller Zeichen von mehr Stärke, innerem Wohlsein als – –. Die große Technik und Erfindsamkeit, die Naturwissenschaften, die Historie (?): relative Erzeugnisse der Stärke, des Selbstzutrauens des 19. Jahrhunderts.)
5. Mein Kampf gegen die Überherrschaft der Herden-Instinkte, nachdem die Wissenschaft mit ihnen gemeinsame Sache macht; gegen den neuerlichen
Haß, mit dem alle Art Rangordnung und Distanz behandelt wird.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 670-671

„Aus dem Druck der Fülle, aus der Spannung von Kräften, die beständig in uns wachsen und noch nicht sich zu entladen wissen, entsteht ein Zustand, wie er einem Gewitter vorhergeht: die Natur, die wir sind, verdüstert sich. Auch das ist »Pessimismus« .... Eine Lehre, die einem solchen Zustand ein Ende macht, indem sie irgend etwas befiehlt: eine Umwertung der Werte, vermöge deren den aufgehäuften Kräften ein Weg, ein Wohin gezeigt wird, so daß sie in Blitzen und Taten explodieren – braucht durchaus keine Glückslehre zu sein: indem sie Kraft auslöst, die bis zur Qual zusammengedrängt und gestaut war, bringt sie Glück.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 672

„Die Lust tritt auf, wo Gefühl der Macht. Das Glück: in dem herrschend gewordnen Bewußtsein der Macht und des Siegs. Der Fortschritt: die Verstärkung des Typus, die Fähigkeit zum großen Wollen: alles andere ist Mißverständnis, Gefahr.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 672

„Eine Periode, wo die alte Maskerade und Moral-Aufputzung der Affekte Widerwillen macht: die nackte Natur; wo die Macht-Quantitäten als entscheidend einfach zugestanden werden (als rangbestimmend); wo der große Stil wieder auftritt als Folge der großen Leidenschaft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 672

„Alles Furchtbare in Dienst nehmen, einzeln, schrittweise, versuchsweise: so will es die Aufgabe der Kultur; aber bis sie stark genug dazu ist, muß sie es bekämpfen, mäßigen, verschleiern, selbst verfluchen. Überall, wo eine Kultur das Böse ansetzt, bringt sie damit ein Furchtverhältnis zum Ausdruck, also eine Schwäche.
These: alles Gute ist ein dienstbar gemachtes Böse von ehedem.
Maßstab: je furchtbarer und größer die Leidenschaften sind, die eine Zeit, ein Volk, ein einzelner sich gestatten kann, weil er sie als Mittel zu brauchen vermag, um so höher steht seine Kultur –; je mittelmäßiger, schwächer, unterwürfiger und feiger ein Mensch ist, um so mehr wird er als böse ansetzen: bei ihm ist das Reich des Bösen am umfänglichsten. Der niedrigste Mensch wird das Reich des Bösen (d.h. des ihm Verbotenen und Feindlichen) überall sehen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 672-673

„Nicht »das Glück folgt der Tugend« – sondern der Mächtigere bestimmt seinen glücklichen Zustand erst als Tugend. Die bösen Handlungen gehören zu den Mächtigen und Tugendhaften: die schlechten, niedrigen zu den Unterworfenen. Der mächtigste Mensch, der Schaffende, müßte der böseste sein, insofern er sein Ideal an allen Menschen durchsetzt gegen alle ihre Ideale und sie zu seinem Bilde umschafft. Böse heißt hier: hart, schmerzhaft, aufgezwungen. Solche Menschen wie Napoleon müssen immer wieder kommen und den Glauben an die Selbstherrlichkeit des einzelnen befestigen: er selber aber war durch die Mittel, die er anwenden mußte, korrumpiert worden und hatte die noblesse des Charakters verloren. Unter einer andern Art Menschen sich durchsetzend, hätte er andere Mittel anwenden können; und so wäre es nicht notwendig, daß ein Cäsar schlecht werden müßte.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 673

„Der Mensch ist das Untier und Übertier; der höhere Mensch ist der Unmensch und Übermensch: so gehört es zusammen. Mit jedem Wachstum des Menschen in die Größe und Höhe wächst er auch in das Tiefe und Furchtbare: man soll das eine nicht wollen ohne das andere – oder vielmehr: je gründlicher man das eine will, um so gründlicher erreicht man gerade das andere.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 674

„Zur Größe gehört die Furchtbarkeit: man lasse sich nichts vormachen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 674

„Ich habe die Erkenntnis vor so furchtbare Bilder gestellt, daß jedes »epikureische Vergnügen« dabei unmöglich ist. Nur die dionysische Lust reicht aus –: ich habe das Tragische erst entdeckt. Bei den Griechen wurde es, dank ihrer moralistischen Oberflächlichkeit, mißverstanden. Auch Resignation ist nicht eine Lehre der Tragödie, sondern ein Mißverständnis derselben! Sehnsucht ins Nichts ist Verneinung der tragischen Weisheit, ihr Gegensatz!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 674

„Eine volle und mächtige Seele wird nicht nur mit schmerzhaften, selbst furchtbaren Verlusten, Entbehrungen, Beraubungen, Verachtungen fertig: sie kommt aus solchen Höllen mit größerer Fülle und Mächtigkeit heraus: und, um das Wesentlichste zu sagen, mit einem neuen Wachstum in der Seligkeit der Liebe. Ich glaube, der, welcher etwas von den untersten Bedingungen jedes Wachstums in der Liebe erraten hat, wird Dante, als er über die Pforte seines Inferno schrieb: »auch mich schuf die ewige Liebe«, verstehen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 674

„Den ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen, in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben – mein Ehrgeiz, meine Tortur und mein Glück. Wirklich den Pessimismus überwinden –; ein Goethischer Blick voll Liebe und gutem Willen als Resultat.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 675

„Es ist ganz und gar nicht die erste Frage, ob wir mit uns zufrieden sind, sondern ob wir überhaupt irgendwomit zufrieden sind. Gesetzt, wir sagen ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein ja gesagt. Denn es steht nichts für sich, weder in uns selbst noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsre Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nötig, um dies eine Geschehen zu bedingen – und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 675

„Die ja-sagenden Affekte: – der Stolz, die Freude, die Gesundheit, die Liebe der Geschlechter, die Feindschaft und der Krieg, die Ehrfurcht, die schönen Gebärden, Manieren, der starke Wille, die Zucht der hohen Geistigkeit, der Wille zur Macht, die Dankbarkeit gegen Erde und Leben – alles, was reich ist und abgeben will und das Leben beschenkt und vergoldet und verewigt und vergöttlicht – die ganze Gewalt verklärender Tugenden, alles Gutheißende, Jasagende, Jatuende –.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 675

„Wir wenigen oder vielen, die wir wieder in einer entmoralisierten Welt zu leben wagen, wir Heiden dem Glauben nach: wir sind wahrscheinlich auch die ersten, die es begreifen, was ein heidnischer Glaube ist – sich höhere Wesen, als der Mensch ist, vorstellen müssen, aber diese jenseits von Gut und Böse; alles Höher-sein auch als Unmoralisch-sein abschätzen müssen. Wir glauben an den Olymp – und nicht an den »Gekreuzigten«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 675-676

„Der neuere Mensch hat seine idealisierende Kraft in Hinsicht auf einen Gott zumeist in einer wachsenden Vermoralisierung desselben ausgeübt – was bedeutet das? – Nichts Gutes, ein Abnehmen der Kraft des Menschen. An sich wäre nämlich das Gegenteil möglich: und es gibt Anzeichen davon. Gott, gedacht als das Freigewordensein von der Moral, die ganze Fülle der Lebensgegensätze in sich drängend und sie in göttlicher Qual erlösend, rechtfertigend – Gott als das Jenseits, das Oberhalb der erbärmlichen Eckensteher-Moral von »Gut und Böse«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 676

„Aus der uns bekannten Welt ist der humanitäre Gott nicht nachzuweisen: so weit kann man euch heute zwingen und treiben. Aber welchen Schluß zieht ihr daraus? »Er ist uns nicht nachweisbar«: Skepsis der Erkenntnis. Ihr alle fürchtet den Schluß »aus der uns bekannten Welt würde ein ganz anderer Gott nachweisbar sein, ein solcher, der zum mindesten nicht humanitär ist« – – und, kurz und gut, ihr haltet euren Gott fest und erfindet für ihn eine Welt, die uns nicht bekannt ist.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 676

„Entfernen wir die höchste Güte aus dem Begriff Gottes – sie ist eines Gottes unwürdig. Entfernen wir insgleichen die höchste Weisheit – es ist die Eitelkeit der Philosophen, die diesen Aberwitz eines Weisheits-Monstrums von Gott verschuldet hat: er sollte ihnen möglichst gleichsehen. Nein! Gott die höchste Macht – das genügt! Aus ihr folgt alles, aus ihr folgt – »die Welt«!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 677

„Und wie viele neue Götter sind noch möglich! Mir selber, in dem der religiöse, das heißt gottbildende Instinkt mitunter zur Unzeit lebendig wird: wie anders, wie verschieden hat sich mir jedesmal das Göttliche offenbart! .... So vieles Seltsame ging schon an mir vorüber, in jenen zeitlosen Augenblicken, die ins Leben herein wie aus dem Monde fallen, wo man schlechterdings nicht mehr weiß, wie alt man schon ist und wie jung man noch sein wird... Ich würde nicht zweifeln, daß es viele Arten Götter gibt... Es fehlt nicht an solchen, aus denen man einen gewissen Halkyonismus und Leichtsinn nicht hinwegdenken darf .... Die leichten Füße gehören vielleicht selbst zum Begriffe »Gott« .... Ist es nötig, auszuführen, daß ein Gott sich mit Vorliebe jenseits alles Biedermännischen und Vernunftgemäßen zu halten weiß? jenseits auch, unter uns gesagt, von Gut und Böse? Er hat die Aussicht frei – mit Goethe zu reden. – Und um für diesen Fall die nicht genug zu schätzende Autorität Zarathustras anzurufen: Zarathustra geht so weit, von sich zu bezeugen »ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde« .... Nochmals gesagt: wie viele neue Götter sind noch möglich! – Zarathustra selbst freilich ist bloß ein alter Atheist: der glaubt weder an alte, noch neue Götter. Zarathustra sagt, er würde –; aber Zarathustra wird nicht .... Man verstehe ihn recht. Typus Gottes nach dem Typus der schöpferischen Geister, der »großen Menschen«.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 677-678

„Und wie viele neue Ideale sind im Grunde noch möglich! – Hier ein kleines Ideal, das ich alle fünf Wochen einmal auf einem wilden und einsamen Spaziergang erhasche, im azurnen Augenblick eines frevelhaften Glücks. Sein Leben zwischen zarten und absurden Dingen verbringen; der Realität fremd; halb Künstler, halb Vogel und Metaphysikus; ohne Ja und Nein für die Realität, es sei denn, daß man sie ab und zu in der Art eines guten Tänzers mit den Fußspitzen anerkennt; immer von irgendeinem Sonnenstrahl des Glücks gekitzelt; ausgelassen und ermutigt selbst durch Trübsal – denn Trübsal erhält den Glücklichen –; einen kleinen Schwanz von Posse auch noch dem Heiligsten anhängend: – dies, wie sich von selbst versteht, das Ideal eines schweren, zentnerschweren Geistes, eines Geistes der Schwere.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 678

Aus der Kriegsschule der Seele. (Den Tapfern, den Frohgemuten, den Enthaltsamen geweiht.) Ich möchte die liebenswürdigen Tugenden nicht unterschätzen; aber die Größe der Seele verträgt sich nicht mit ihnen. Auch in den Künsten schließt der große Stil das Gefällige aus. In Zeiten schmerzhafter Spannung und Verwundbarkeit wähle den Krieg: er härtet ab, er macht Muskel. Die tief Verwundeten haben das olympische Lachen; man hat nur, was man nötig hat. Es dauert zehn Jahre schon: kein Laut mehr erreicht mich – ein Land ohne Regen. Man muß viel Menschlichkeit übrig haben, um in der Dürre nicht zu verschmachten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 678-679

Mein neuer Weg zum »Ja«. – Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Aufsuchen auch der verabscheuten und verruchten Seiten des Daseins. Aus der langen Erfahrung, welche mir eine solche Wanderung durch Eis und Wüste gab, lernte ich alles, was bisher philosophiert hat, anders ansehn – die verborgene Geschichte der Philosophie, die Psychologie ihrer großen Namen kam für mich ans Licht. »Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist?« – dies wurde für mich der eigentliche Wertmesser. Der Irrtum ist eine Feigheit ..., jede Errungenschaft der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich .... Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichsten Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einer Negation, beim Nein, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Ja-sagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl –, sie will den ewigen Kreislauf – dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Verknotung. Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn –: meine Formel dafür ist amor fati. Hierzu gehört, die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als notwendig zu begreifen, sondern als wünschenswert: und nicht nur als wünschenswert in Hinsicht auf die bisher bejahten Seiten (etwa als deren Komplemente oder Vorbedingungen), sondern um ihrer selber willen, als der mächtigeren, fruchtbareren, wahreren Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht. Insgleichen gehört hierzu, die bisher allein bejahte Seite des Daseins abzuschätzen; zu begreifen, woher diese Wertung stammt und wie wenig sie verbindlich für eine dionysische Wertabmessung des Daseins ist: ich zog heraus und begriff, was hier eigentlich ja sagt (der Instinkt der Leidenden einmal, der Instinkt der Herde andrerseits und jener dritte, der Instinkt der meisten gegen die Ausnahmen –). Ich erriet damit, inwiefern eine stärkere Art Mensch notwendig nach einer anderen Seite hin sich die Erhöhung und Steigerung des Menschen ausdenken müßte: höhere Wesen, jenseits von Gut und Böse, jenseits von jenen Werten, die den Ursprung aus der Sphäre des Leidens, der Herde und der meisten nicht verleugnen können – ich suchte nach den Ansätzen dieser umgekehrten Idealbildung in der Geschichte (die Begriffe »heidnisch«, »klassisch«, »vornehm« neu entdeckt und hingestellt –).“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 679-680

„Zu demonstrieren, inwiefern die griechische Religion die höhere war als die jüdisch-christliche. Letztere siegte, weil die griechische Religion selber entartet (zurückgegangen) war.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 680

„Es ist nicht zu verwundern, daß ein paar Jahrtausende nötig sind, um die Anknüpfung wieder zu finden – es liegt wenig an ein paar Jahrtausenden!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 681

„Es muß solche geben, die alle Verrichtungen heiligen, nicht nur Essen und Trinken – und nicht nur im Gedächtnis an sie, oder im Eins-werden mit ihnen, sondern immer von neuem und auf eine neue Weise soll diese Welt verklärt werden.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 681

„Die geistigsten Menschen empfinden den Reiz und Zauber der sinnlichen Dinge, wie es sich die anderen Menschen – solche mit den »fleischernen Herzen« – gar nicht vorstellen können, auch nicht vorstellen dürften, – sie sind Sensualisten im besten Glauben, weil sie den Sinnen einen grundsätzlicheren Wert zugestehen als jenem feinen Siebe, dem Verdünnungs-, Verkleinerungsapparate, oder wie das heißen mag, was man, in der Sprache des Volkes, »Geist« nennt. Die Kraft und Macht der Sinne – das ist das Wesentlichste an einem wohlgeratenen und ganzen Menschen: das prachtvolle »Tier« muß zuerst gegeben sein – was liegt sonst an aller »Vermenschlichung«!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 681

„1. Wir wollen unsre Sinne festhalten und den Glauben an sie – und sie zu Ende denken! Die Widersinnlichkeit der bisherigen Philosophie als der größte Widersinn des Menschen.
2. Die vorhandene Welt, an der alles Irdisch-Lebendige gebaut hat, daß sie so scheint (dauerhaft und langsam bewegt), wollen wir weiter bauen – nicht aber als falsch wegkritisieren!
3. Unsre Wertschätzungen bauen an ihr; sie betonen und unterstreichen. Welche Bedeutung hat es, wenn ganze Religionen sagen: »Es ist alles schlecht und falsch und böse!« Diese Verurteilung des ganzen Prozesses kann nur ein Urteil von Mißratenen sein!
4. Freilich, die Mißratenen könnten die Leidendsten und Feinsten sein? Die Zufriedenen könnten wenig wert sein?
5. Man muß das künstlerische Grundphänomen verstehen, welches »Leben« heißt – den bauenden Geist, der unter den ungünstigsten Umständen baut: auf die langsamste Weise – – –. Der Beweis für alle seine Kombinationen muß erst neu gegeben werden: es erhält sich.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 681-682

„Die Geschlechtlichkeit, die Herrschsucht, die Lust am Schein und am Betrügen, die große freudige Dankbarkeit für das Leben und seine typischen Zustände – das ist am heidnischen Kultus wesentlich und hat das gute Gewissen auf seiner Seite. – Die Unnatur (schon im griechischen Altertum) kämpft gegen das Heidnische an, als Moral, Dialektik“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 682

„Eine antimetaphysische Weltbetrachtung – ja, aber eine artistische.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 682

„Die Täuschung Apollos: die Ewigkeit der schönen Form; die aristokratische Gesetzgebung »so soll es immer sein!«. Dionysos: Sinnlichkeit und Grausamkeit. Die Vergänglichkeit könnte ausgelegt werden als Genuß der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige Schöpfung.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 682-683

„Mit dem Wort »dionysisch« ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, über den Abgrund des Vergehens: das leidenschaftlich-schmerzliche Überschwellen in dunklere, vollere, schwebendere Zustände; ein verzücktes Jasagen zum Gesamt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt; der ewige Wille zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Wiederkehr; das Einheitsgefühl der Notwendigkeit des Schaffens und Vernichtens..
Mit dem Wort »apollinisch« ist ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen »Individuum«, zu allem was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht: die Freiheit unter dem Gesetz..
An den Antagonismus dieser beiden Natur-Kunstgewalten ist die Fortentwicklung der Kunst ebenso notwendig geknüpft, als die Fortentwicklung der Menschheit an den Antagonismus der Geschlechter. Die Fülle der Macht und die Mäßigung, die höchste Form der Selbstbejahung in einer kühlen, vornehmen, spröden Schönheit: der Apollinismus des hellenischen Willens. Diese Gegensätzlichkeit des Dionysischen und Apollinischen innerhalb der griechischen Seele ist eines der großen Rätsel, von dem ich mich angesichts des griechischen Wesens angezogen fühlte. Ich bemühte mich im Grunde um nichts als um zu erraten, warum gerade der griechische Apollinismus aus einem dionysischen Untergrund herauswachsen mußte, der dionysische Grieche nötig hatte, apollinisch zu werden: das heißt, seinen Willen zum Ungeheuren, Vielfachen, Ungewissen, Entsetzlichen zu brechen an einem Willen zum Maß, zur Einfachheit, zur Einordnung in Regel und Begriff. Das Maßlose, Wüste, Asiatische liegt auf seinem Grunde: die Tapferkeit des Griechen besteht im Kampfe mit seinem Asiatismus: die Schönheit ist ihm nicht geschenkt, so wenig als die Logik, als die Natürlichkeit der Sitte – sie ist erobert, gewollt, erkämpft – sie ist sein Sieg.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 683-684

„Zu den höchsten und erlauchtesten Menschen-Freuden, in denen das Dasein seine eigene Verklärung feiert, kommen, wie billig, nur die Allerseltensten und Bestgeratenen: und auch diese nur, nachdem sie selber und ihre Vorfahren ein langes vorbereitendes Leben auf dieses Ziel hin, und nicht einmal im Wissen um dieses Ziel, gelebt haben. Dann wohnt ein überströmender Reichtum vielfältigster Kräfte und zugleich die behendeste Macht eines »freien Wollens« und herrschaftlichen Verfügens in einem Menschen liebreich beieinander; der Geist ist dann ebenso in den Sinnen heimisch und zu Hause, wie die Sinne in dem Geiste zu Hause und heimisch sind; und alles, was nur in diesem sich abspielt, muß auch in jenen ein feines außerordentliches Glück und Spiel auslösen. Und ebenfalls umgekehrt! – Man denke über diese Umkehrung bei Gelegenheit von Hafis nach; selbst Goethe, wie sehr auch schon im abgeschwächten Bilde, gibt von diesem Vorgange eine Ahnung. Es ist wahrscheinlich, daß bei solchen vollkommenen und wohlgeratenen Menschen zuletzt die allersinnlichsten Verrichtungen von einem Gleichnis-Rausche der höchsten Geistigkeit verklärt werden; sie empfinden an sich eine Art Vergöttlichung des Leibes und sind am entferntesten von der Asketen-Philosophie des Satzes »Gott ist ein Geist«: wobei sich klar herausstellt, daß der Asket der »mißratene Mensch« ist, welcher nur ein Etwas an sich, und gerade das richtende und verurteilende Etwas, gut heißt – und »Gott« heißt. Von jener Höhe der Freude, wo der Mensch sich selber und sich ganz und gar als eine vergöttlichte Form und Selbst-Rechtfertigung der Natur fühlt, bis hinab zu der Freude gesunder Bauern und gesunder Halbmensch-Tiere: diese ganze lange ungeheure Licht-und Farbenleiter des Glücks nannte der Grieche, nicht ohne die dankbaren Schauder dessen, der in ein Geheimnis eingeweiht ist, nicht ohne viele Vorsicht und fromme Schweigsamkeit – mit dem Götternamen: Dionysos. –.
Was wissen denn alle neueren Menschen, die Kinder einer brüchigen, vielfachen, kranken, seltsamen Zeit, von dem Umfange des griechischen Glücks, was könnten sie davon wissen! Woher nähmen gar die Sklaven der »modernen Ideen« ein Recht zu dionysischen Feiern!.
Als der griechische Leib und die griechische Seele »blühte«, und nicht etwa in Zuständen krankhafter Überschwänglichkeit und Tollheit, entstand jenes geheimnisreiche Symbol der höchsten bisher auf Erden erreichten Welt-Bejahung und Daseins-Verklärung. Hier ist ein Maßstab gegeben, an dem alles, was seitdem wuchs, als zu kurz, zu arm, zu eng befunden wird – man spreche nur das Wort »Dionysos« vor den besten neueren Namen und Dingen aus, vor Goethe etwa oder vor Beethoven oder vor Shakespeare oder vor Raffael: und auf einmal fühlen wir unsere besten Dinge und Augenblicke gerichtet. Dionysos ist ein Richter! – Hat man mich verstanden? – Es ist kein Zweifel, daß die Griechen die letzten Geheimnisse »vom Schicksal der Seele« und alles, was sie über die Erziehung und Läuterung, vor allem über die unverrückbare Rangordnung und Wert-Ungleichheit von Mensch und Mensch wußten, sich aus ihren dionysischen Erfahrungen zu deuten suchten: hier ist für alles Griechische die große Tiefe, das große Schweigen – man kennt die Griechen nicht, solange hier der verborgene unterirdische Zugang noch verschüttet liegt. Zudringliche Gelehrten-Augen werden niemals etwas in diesen Dingen sehen, soviel Gelehrsamkeit auch im Dienste jener Ausgrabung noch verwendet werden muß –; selbst der edle Eifer solcher Freunde des Altertums, wie Goethes und Winckelmanns, hat gerade hier etwas Unerlaubtes, fast Unbescheidenes. Warten und sich-vorbereiten; das Aufspringen neuer Quellen abwarten; in der Einsamkeit sich auf fremde Gesichte und Stimmen vorbereiten; vom Jahrmarkts-Staube und -Lärm dieser Zeit seine Seele immer reiner waschen; alles Christliche durch ein Überchristliches überwinden und nicht nur von sich abtun – denn die christliche Lehre war die Gegenlehre gegen die dionysische –; den Süden in sich wieder entdecken und einen hellen glänzenden geheimnisvollen Himmel des Südens über sich aufspannen; die südliche Gesundheit und verborgene Mächtigkeit der Seele sich wieder erobern; Schritt vor Schritt umfänglicher werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer, endlich griechischer – denn das Griechische war die erste große Bindung und Synthesis alles Morgenländischen und eben damit der Anfang der europäischen Seele, die Entdeckung unsrer »neuen Welt« –: wer unter solchen Imperativen lebt, wer weiß, was dem eines Tages begegnen kann? Vielleicht eben – ein neuer Tag!
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 684-686

Die zwei Typen: Dionysos und der Gekreuzigte. – Festzustellen: ob der typische religiöse Mensch eine décadence-Form ist (die großen Neuerer sind samt und sonders krankhaft und epileptisch); aber lassen wir nicht da einen Typus des religiösen Menschen aus, den heidnischen? Ist der heidnische Kult nicht eine Form der Danksagung und der Bejahung des Lebens? Müßte nicht sein höchster Repräsentant eine Apologie und Vergöttlichung des Lebens sein? Typus eines wohlgeratenen und entzückt-überströmenden Geistes! Typus eines die Widersprüche und Fragwürdigkeiten des Daseins in sich hineinnehmenden und erlösenden Geistes! Hierher stelle ich den Dionysos der Griechen: die religiöse Bejahung des Lebens, des ganzen, nicht verleugneten und halbierten Lebens; (typisch – daß der Geschlechtsakt Tiefe, Geheimnis, Ehrfurcht erweckt). Dionysos gegen den »Gekreuzigten«: da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums – nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung. Im andern Falle gilt das Leiden, der »Gekreuzigte als der Unschuldige«, als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurteilung. – Man errät: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn. Im ersten Falle soll es der Weg sein zu einem heiligen Sein; im letzteren Fall gilt das Sein als heilig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen. Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll, vergöttlichend genug dazu; der christliche verneint noch das glücklichste Los auf Erden: er ist schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben zu leiden. Der Gott am Kreuz ist ein Fluch auf das Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen; – der in Stücke geschnittne Dionysos ist eine Verheißung des Lebens: es wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung heimkommen.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 687-688

„Meine Philosophie bringt den siegreichen Gedanken, an welchem zuletzt jede andere Denkweise zugrunde geht. Es ist der große züchtende Gedanke: die Rassen, welche ihn nicht ertragen, sind verurteilt; die, welche ihn als größte Wohltat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehen“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 689

Der größte Kampf: dazu braucht es einer neuen Waffe.
Der Hammer: eine furchtbare Entscheidung heraufbeschwören, Europa vor die Konsequenz stellen, ob sein Wille zum Untergang »will«.
Verhütung der Vermittelmäßigung. Lieber noch Untergang!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 689

„Eine pessimistische Denkweise und Lehre, ein ekstatischer Nihilismus kann unter Umständen gerade dem Philosophen unentbehrlich sein: als ein mächtiger Druck und Hammer, mit dem er entartende und absterbende Rassen zerbricht und aus dem Wege schafft, um für eine neue Ordnung des Lebens Bahn zu machen oder um dem, was entartet und absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 689

„Ich will den Gedanken lehren, welcher vielen das Recht gibt, sich durchzustreichen – den großen züchtenden Gedanken.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 690

Die ewige Wiederkunft. Eine Prophezeiung.
1. Darstellung der Lehre und ihrer theoretischen Voraussetzungen und Folgen.
2. Beweis der Lehre.
3. Mutmaßliche Folgen davon, daß sie geglaubt wird (sie bringt alles zum Aufbrechen).
a) Mittel, sie zu ertragen;
b) Mittel, sie zu beseitigen.
4. Ihr Platz in der Geschichte, als eine Mitte.
Zeit der höchsten Gefahr. Gründung einer Oligarchie über den Völkern und ihren Interessen: Erziehung zu einer allmenschlichen Politik. Gegenstück des Jesuitismus.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 690

„Die beiden größten (von Deutschen gefundenen) philosophischen Gesichtspunkte:
a) der des Werdens, der Entwicklung;
b) der nach dem Werte des Daseins (aber die erbärmliche Form des deutschen Pessimismus erst zu überwinden!)
beide von mir in entscheidender Weise zusammengebracht.
Alles wird und kehrt ewig wieder – entschlüpfen ist nicht möglich! – Gesetzt, wir könnten den Wert beurteilen, was folgt daraus? Der Gedanke der Wiederkunft als auswählendes Prinzip, im Dienste der Kraft (und Barbarei!!). Reife der Menschheit für diesen Gedanken.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 690-691

„1. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft: seine Voraussetzungen, welche wahr sein müßten, wenn er wahr ist. Was aus ihm folgt.
2. Als der schwerste Gedanke: seine mutmaßliche Wirkung, falls nicht vorgebeugt wird, d. h. falls nicht alle Werte umgewertet werden.
3. Mittel, ihn zu ertragen: die Umwertung aller Werte. Nicht mehr die Lust an der Gewißheit, sondern an der Ungewißheit; nicht mehr »Ursache und Wirkung«, sondern das beständig Schöpferische; nicht mehr Wille der Erhaltung, sondern der Macht; nicht mehr die demütige Wendung »es ist alles nur subjektiv«, sondern »es ist auch unser Werk! – Seien wir stolz darauf!«“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 691

„Um den Gedanken der Wiederkunft zu ertragen, ist nötig: Freiheit von der Moral; – neue Mittel gegen die Tatsache des Schmerzes (Schmerz begreifen als Werkzeug, als Vater der Lust; es gibt kein summierendes Bewußtsein der Unlust); – der Genuß an aller Art Ungewißheit, Versuchhaftigkeit, als Gegengewicht gegen jenen extremen Fatalismus; – Beseitigung des Notwendigkeitsbegriffs; – Beseitigung des »Willens«; – Beseitigung der »Erkenntnis an sich«. Größte Erhöhung des Kraft-Bewußtseins des Menschen, als dessen, der den Übermenschen schafft.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 691

„Die beiden extremsten Denkweisen – die mechanistische und die platonische – kommen überein in der ewigen Wiederkunft: beide als Ideale.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 692

„Hätte die Welt ein Ziel, so müßte es erreicht sein. Gäbe es für sie einen unbeabsichtigten Endzustand, so müßte er ebenfalls erreicht sein. Wäre sie überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens, eines »Seins« fähig, hätte sie in allem ihrem Werden nur einen Augenblick diese Fähigkeit des »Seins«, so wäre es wiederum mit allem Werden längst zu Ende, also auch mit allem Denken, mit allem »Geiste«. Die Tatsache des »Geistes« als eines Werdens beweist, daß die Welt kein Ziel, keinen Endzustand hat und des Seins unfähig ist. – Die alte Gewohnheit aber, bei allem Geschehen an Ziele und bei der Welt an einen lenkenden schöpferischen Gott zu denken, ist so mächtig, daß der Denker Mühe hat, sich selber die Ziellosigkeit der Welt nicht wieder als Absicht zu denken. Auf diesen Einfall – daß also die Welt absichtlich einem Ziele ausweiche und sogar das Hineingeraten in einen Kreislauf künstlich zu verhüten wisse – müssen alle die verfallen, welche der Welt das Vermögen zur ewigen Neuheit aufdekretieren möchten, d.h. einer endlichen, bestimmten, unveränderlich gleichgroßen Kraft, wie es »die Welt« ist, die Wunder-Fähigkeit zur unendlichen Neugestaltung ihrer Formen und Lagen. Die Welt, wenn auch kein Gott mehr, soll doch der göttlichen Schöpferkraft, der unendlichen Verwandlungs-Kraft fähig sein; sie soll es sich willkürlich verwehren, in eine ihrer alten Formen zurückzugeraten; sie soll nicht nur die Absicht, sondern auch die Mittel haben, sich selber vor jeder Wiederholung zu bewahren; sie soll somit in jedem Augenblick jede ihrer Bewegungen auf die Vermeidung von Zielen, Endzuständen, Wiederholungen hin kontrollieren – und was alles die Folgen einer solchen unverzeihlich-verrückten Denk- und Wunschweise sein mögen. Das ist immer noch die alte religiöse Denk- und Wunschweise, eine Art Sehnsucht, zu glauben, daß irgendworin doch die Welt dem alten geliebten, unendlichen, unbegrenzt-schöpferischen Gotte gleich sei – daß irgendworin doch »der alte Gott noch lebe« –, jene Sehnsucht Spinozas, die sich in dem Worte »deus sive natura« (er empfand sogar »natura sive deus« –) ausdrückt. Welches ist denn aber der Satz und Glaube, mit welchem sich die entscheidende Wendung, das jetzt erreichte Übergewicht des wissenschaftlichen Geistes über den religiösen, götter-erdichtenden Geist am bestimmtesten formuliert? Heißt es nicht: die Welt, als Kraft, darf nicht unbegrenzt gedacht werden, denn sie kann nicht so gedacht werden – wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft als mit dem Begriff »Kraft« unverträglich. Also – fehlt der Welt auch das Vermögen zur ewigen Neuheit.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 692-693

„Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die ewige Wiederkehr.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 693

„Daß eine Gleichgewichts-Lage nie erreicht ist, beweist, daß sie nicht möglich ist. Aber in einem unbestimmten Raum müßte sie erreicht sein. Ebenfalls in einem kugelförmigen Raum. Die Gestalt des Raumes muß die Ursache der ewigen Bewegung sein und zuletzt aller »Unvollkommenheit«. Daß »Kraft« und »Ruhe«, »Sich-gleich-bleiben« sich widerstreiten. Das Maß der Kraft (als Größe) als fest, ihr Wesen aber flüssig. »Zeitlos« abzuweisen. In einem bestimmten Augenblick der Kraft ist die absolute Bedingtheit einer neuen Verteilung aller ihrer Kräfte gegeben: sie kann nicht stillstehn. »Veränderung« gehört ins Wesen hinein, also auch die Zeitlichkeit: womit aber nur die Notwendigkeit der Veränderung noch einmal begrifflich gesetzt wird.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 693-694

„Jener Kaiser hielt sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge vor, um sie nicht zu wichtig zu nehmen und zwischen ihnen ruhig zu bleiben. Mir scheint umgekehrt alles viel zu viel wert zu sein, als daß es so flüchtig sein dürfte: ich suche nach einer Ewigkeit für jegliches: dürfte man die kostbarsten Salben und Weine ins Meer gießen? – Mein Trost ist, daß alles, was war, ewig ist – das Meer spült es wieder her.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 694

Die neue Welt-Konzeption. – Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehn – sie erhält sich in beidem. Sie lebt von sich selber: ihre Exkremente sind ihre Nahrung.
Die Hypothese einer geschaffenen Welt soll uns nicht einen Augenblick bekümmern. Der Begriff »schaffen« ist heute vollkommen undefinierbar, unvollziehbar; bloß ein Wort noch, rudimentär aus Zeiten des Aberglaubens; mit einem Wort erklärt man nichts. Der letzte Versuch, eine Welt, die anfängt, zu konzipieren, ist neuerdings mehrfach mit Hilfe einer logischen Prozedur gemacht worden – zumeist, wie zu erraten ist, aus einer theologischen Hinterabsicht.
Man hat neuerdings mehrfach in dem Begriff »Zeit-Unendlichkeit der Welt nach hinten« (regressus in infinitum) einen Widerspruch finden wollen: man hat ihn selbst gefunden, um den Preis freilich, dabei den Kopf mit dem Schwanz zu verwechseln. Nichts kann mich hindern, von diesem Augenblick an rückwärts rechnend zu sagen »ich werde nie dabei an ein Ende kommen«: wie ich vom gleichen Augenblick vorwärts rechnen kann, ins Unendliche hinaus. Erst wenn ich den Fehler machen wollte – ich werde mich hüten, es zu tun –, diesen korrekten Begriff eines regressus in infinitum gleichzusetzen mit einem gar nicht vollziehbaren Begriff eines endlichen progressus bis jetzt, erst wenn ich die Richtung (vorwärts oder rückwärts) als logisch indifferent setzte, würde ich den Kopf – diesen Augenblick – als Schwanz zu fassen bekommen: das bleibe Ihnen überlassen, mein Herr Dühring!
Ich bin auf diesen Gedanken bei früheren Denkern gestoßen: jedesmal war er durch andre Hintergedanken bestimmt (– meistens theologische, zugunsten des creator spiritus). Wenn die Welt überhaupt erstarren, vertrocknen, absterben, nichts werden könnte, oder wenn sie einen Gleichgewichtszustand erreichen könnte, oder wenn sie überhaupt irgendein Ziel hätte, das die Dauer, die Unveränderlichkeit, das Ein-für-alle-Mal in sich schlösse (kurz, metaphysisch geredet: wenn das Werden in das Sein oder ins Nichts münden könnte), so müßte dieser Zustand erreicht sein. Aber er ist nicht erreicht: woraus folgt .... Das ist unsre einzige Gewißheit, die wir in den Händen halten, um als Korrektiv gegen eine große Menge an sich möglicher Welt-Hypothesen zu dienen. Kann z.B. der Mechanismus der Konsequenz eines Finalzustandes nicht entgehen, welche William Thomson ihm gezogen hat, so ist damit der Mechanismus widerlegt.
Wenn die Welt als bestimmte Größe von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftzentren gedacht werden darf – und jede andre Vorstellung bleibt unbestimmt und folglich unbrauchbar –, so folgt daraus, daß sie eine berechenbare Zahl von Kombinationen, im großen Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen hat. In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche Kombination irgendwann einmal erreicht sein; mehr noch: sie würde unendliche Male erreicht sein. Und da zwischen jeder Kombination und ihrer nächsten Wiederkehr alle überhaupt noch möglichen Kombinationen abgelaufen sein müßten und jede dieser Kombinationen die ganze Folge der Kombinationen in derselben Reihe bedingt, so wäre damit ein Kreislauf von absolut identischen Reihen bewiesen: die Welt als Kreislauf, der sich unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel in infinitum spielt. – Diese Konzeption ist nicht ohne weiteres eine mechanistische: denn wäre sie das, so würde sie nicht eine unendliche Wiederkehr identischer Fälle bedingen, sondern einen Finalzustand. Weil die Welt ihn nicht erreicht hat, muß der Mechanismus uns als unvollkommne und nur vorläufige Hypothese gelten.“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 694-696

„Und wißt ihr auch, was mir »die Welt« ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht, sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom »Nichts« umschlossen als von seiner Grenze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo »leer« wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Flut seiner Gestaltungen, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-Widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt –: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste, dies mein »Jenseits von Gut und Böse«, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat – wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Rätsel? Ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? – Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“
Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 696-697

„Wer darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zuallererst begreifen, daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral war im wesentlichen auf das Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung, wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der Tat konsumiert eine derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem Dienst, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu natürlich ist: die schwächeren, zarteren, mittleren Existenzen haben nötig, Partei zu machen gegen jene Glorie von Leben und Kraft, und dazu müssen sie von sich eine neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten Fülle verurteilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche Wendung ist daher der Moral zu eigen, insofern sie die Typen des Lebens überwältigen will.“
Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß, S. 194-195

 

 

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