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Hermann F.-H. Schmitz

- „Intensität, Armosphären und Musik“ -

Johann Sebastian Bach, Leipzig
Leipzig ist die erste Heimatstadt von Hermann Schmitz.
Johann Sebastian Bach, Leipzig
Bonn ist die zweite Heimatstadt von Hermann Schmitz.
Johann Sebastian Bach, Leipzig
Kiel ist die dritte Heimatstadt von Hermann Schmitz.

„In der Größenlehre unterscheidet man zwischen extensiven und intensiven Größen. Eine Größe ist extensiv, wenn sie sich durch Schnitte in Teile zerlegen und aus diesen ohne Verlust wieder zusammensetzen läßt. Das ist der Fall bei schneidbaren räumlichen Größen, Strecken, Flächen, Körpern. Der Schnitt besteht bei Strecken in Punkten, bei Flächen in Strecken, bei Körpern in Flächen. Intensiv ist eine Größe, die sich nicht so zerlegen läßt. Ein Beispiel ist die Wärme. Sie kann größer und geringer sein, aber nicht durch Zusammensetzung von Teilen geringerer Größe. In einer großen Hitze lassen sich keine Teile milder Wärme unterscheiden; sie erlaubt auch keine Zerlegung durch Schnitte. Dennoch möchte man die Größe der Wärme nach Graden staffeln. Zu diesem Zweck muß man sie in eine extensive Größe übersetzen, deren Teile bei Zusammensetzung das Ganze ausmessen. Das geschieht versuchsweise, indem man die Wärme auf eine Strecke abbildet, nämlich auf die Bahn der im Thermometer auf- und absteigenden Quecksilbersäule. Dabei muß man unterstellen, daß den gleichen Abständen der Markierungsstriche für Zerlegung der Strecke gleiche Abstände der intensiven Wärmegröße entsprechen. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Beim Ansteigen der Wärme gibt es ruckartige Übergänge vom Kalten über das Kühle, Warme und Wärmere zum Heißen; diese Sprünge haben keine Entsprechung im Thermometer. Trotz des Mißlingens begnügt man sich mit der unzulänglichen Extensivierung, um überhaupt eine Gelegenheit zur Messung zu haben.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 78).

„Eine alte Rätselfrage, die schon in der mittelalterlichen Scholastik anhaltend erörtert wurde, dreht sich darum, worin die intensiven Größenunterschiede bestehen, da sie doch nicht durch Zusatz von Teilen zu Teilen zustande kommen. Ich habe diese Frage durch die Unterscheidung zwischen Verhältnissen und Beziehungen beantwortet. Beziehungen sind gerichtet, nämlich von etwas, das sich bezieht, auf etwas, worauf es sich bezieht, eventuell durch Zwischenglieder. Verhältnisse sind ungerichtet. Ein Beispiel: Zwei Dinge liegen neben einander. Das ist ein ungerichtetes Verhältnis. Um daraus Beziehungen zu gewinnen, muß ich es spalten, indem ich mich hinzunehme und dann sage, daß das erste Ding rechts, das zweite links vom anderen liegt. Alle Beziehungen beruhen auf Verhältnissen. Das ergibt sich aus ihrer trivialen Umkehrbarkeit. Der Beziehung des Vaters zum Sohn entspricht die umgekehrte Beziehung des Sohnes zum vater. Entsprechend bei beliebigen anderen Beziehungen. Diese Umkehrbarkeit gehört nicht zur Gerichtetheit als solcher. Es gibt auch unumkehrbare Richtungen, wie die Richtung des Blickes in die Tiefe des Raumes oder die Richtung von Vorgängen oder Abläufen. Inhaltlich können wir einen Prozeß zwar umkehren, aber er kehrt nie zu seinem Ausgangspunkt zurück, wie die Beziehung des Vaters zum Sohn bei Umkehrung zum Vater zurückkehrt, sondern setzt den Zeitverlauf geradlinig fort. Mit dieser Unumkehrbarkeit folgen die Prozesse dem Fluß der Zeit, in dem sich die zeitliche Gegenwart beständig verschiebt. Im Gegensatz dazu beruht die Umkehrbarkeit der Beziehungen darauf, daß sie an den ungerichteten Verhältnissen eine feste, beharrende Grundlage haben.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 78-79).

„Verhältnisse sind gewöhnlich in Beziehungen spaltbar. Es gibt aber auch unspaltbare Verhältnisse. Ein ganz banales Beispiel ist das gemeinsame Sägen mit der zweigriffigen Baumsäge, das Christian und Haas als Beispiel für Bipersonalität durchleuchtet haben. (Vgl. Paul Christian, Renate Haas, Wesen und Formen der Bipersonalität, 1949, vgl. Hermann Schmitz, Bewußtsein, 2010, S. 59.) Es handelt sich um ein gemeinsames Tun in fein auf das Material abgestimmtem Wechsel von Ziehen und Zulassen, wobei keiner seinen Beitrag »herausrechnen« und auf den des anderen beziehen kann. Immerhin kann jeder beim Sägen mit seinen Gedanken abschweifen, also Beziehungen nach außen, jenseits seines Engagements, aufnehmen. Das wird anders in Ekstasen, wenn man ganz in etwas aufgeht oder von etwas hingerissen ist, sei es in spannungsvoller Faszination oder in ruhig entspannter Hingabe. Ich begnüge mich hier mit einigen Versen, in denen Nietzsche seinen Genuß bei mittäglichem Verweilen am Silser See im Oberengadin beschreibt:
Hier saß ich wartend, wartend, - doch auf Nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.
(Friedrich Nietzsche, Die Lieder des Prinzen Vogelfrei,
in: Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 315-316. [**])
Das klingt so, als sei er mit dem See identisch geworden, aber dann müßte der Silser See auch zu Nietzsche geworden sein, was nicht der Fall ist. Vielmehr ist er in ein absolut unspaltbares Verhältnis mit See, Mittag und Zeit eingetreten. Er ist noch da, noch er selbst in absoluter Identität, aber er hat seine Einzelheit abgestreift. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Nietzsche in seiner entspannten Hingegebenheit ist nicht mehr ein Zweites neben dem See, und in diesem Sinn ist er in diesem aufgegangen, ohne mit ihm identisch zu werden. Beziehungen brauchen einzelne Beziehungsgebende, weil sie auf eine bestimmte Stellen- und Teilnehmerzahl angewiesen sind; absolut unspaltbare Verhältnisse kommen ohne Einzelheit der Teilnehmer aus, weil sie ungerichtet sind.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 79-80).

„Aber was hat das mit diesen Unterschieden intensiver Größe zu tun? Die intensive Größe hat Teile wie die extensive und wächst mit deren freilich nicht numerischer, d. h. nicht aus einzelnen Inhalten bestehender Mannigfaltigkeit, aber sie kann nicht in diese Teile zerlegt werden, weil diese zu einander in absolut unspaltbarem Verhältnis stehen. Wie trotzdem ein Größenvergleich möglich ist, will ich hier nicht vollständig ausführen. Bei zwei gleichartigen Größen beruht er auf der Möglichkeit einer Mischung, wobei die kleinere Größe von der größeren aufgenommen oder absorbiert wird, z. B. ein leiseres Geräusch von einem lauteren, wobei dieses an Intensität zunimmt.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 80-81).

„Die Wärme habe ich nur als nahe liegendes Beispiel einer intensiven Größe herangezogen; mir geht es vielmehr um die Dauer. In Phänomenologie der Zeit (2014) habe ich ausgeführt, daß die Dauer wie die Wärme eigentlich intensiv ist und nur vom Menschen wegen seines dringenden Bedarfs nach Zeitmessung und Zeiteinteilung durch Abbildung in den Raum extensiviert wird. Was der Wärme das Thermometer, ist der Dauer die Uhr, sowohl die natürliche am Himmel als auch die künstliche. Für die Dauer des subjektiven Befindens, z. B. Dauer als quälende Langeweile oder in glücklicher Stunde bruchlos verweilende Gegenwart, leuchtet ihre intensive Natur sicherlich gleich ein; mir geht es hier aber um die akustische Dauer, besonders die musikalische der Töne und Klänge. Auch diese Dauer ist eine intensive Größe. Man kann die Dauer eines Tones nicht in Teile zerlegen und aus diesen unversehrt wieder zusammensetzen. Ein lang gezogener gregorianischer Choral läßt sich nicht als Lachsalve mit einer Folge kürzerer Töne wie Ha Ha Ha Ha Ha darstellen. Wohl kann man die Dauer von Tönen messen. Darauf beruht die metrische Gliederung der Musik. Es gibt ganze, halbe, Viertel-, Achtel- usw. Töne. Entweder bestimmt man dieses Maß mit der Uhr. Das bleibt hier außer Acht, weil hinter die Verräumlichung der Dauer zurückgegangen werden soll. Oder man vergleicht einen langen Ton mit einer Folge von z. B. zwei kürzeren Tönen, die man für gleich lang hält. Wenn beide Dauern zusammen, d. h. zur seIben Zeit, im seIben Zeitpunkt, anfangen und enden, glaubt man den ganzen Ton mit zwei Halbtönen ausgemessen zu haben. Auch auf diese Weise hat man die Dauer verräumlicht. Das liegt am Begriff des Zeitpunktes. Einen Punkt kann es nur an einer Strecke geben, also nur an einer Dauer, die durch Vergleich mit der Bahn einer Bewegung als quasi-räumliche Zeitstrecke aufgefaßt wird.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 81-82).

„Zu den Merkmalen aller Vorgänge, die sich in einer Dauer abspielen, gehört, daß sie schneller und langsamer sein können. Auch dieser Unterschied ist intensiv. Zwar kann man versuchen, die Schnelligkeit einer Bewegung als Verhältnis zweier Strecken, einer räumlichen Bahn und einer Zeitstrecke, darzustellen; so definiert Aristoteles (in: Physik, 22b33-223a2), eine Sache sei schneller, wenn sie dasselbe Ziel über demselben Abstand hin (auf gleicher oder paralleler Bahn) mit gleichförmiger Bewegung in kürzerer Zeit erreicht. Diese Definition ist nicht nur zu speziell, sondern krankt auch an einem Zirkel. Gleichförmig ist eine Bewegung nämlich genau dann, wenn sie nicht schneller oder langsamer wird. Um zirkelfrei zu verstehen, was Schnelligkeit ist, muß man sie als intensive Größe auffassen und dafür das andere Gesicht der Zeit neben der sich dehnenden Dauer in den Blick nehmen, die Vergänglichkeit, die darin besteht, daß der Andrang des Neuen in Gegenwart diese aus der Dauer abreißt und exponiert, indem er Dauer zerreißt und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein verabschiedet. Schneller ist ein Vorgang, der diesem Zerreißen näher steht, also flüchtiger ist, indem er vom Druck des Neuen zusammengepreßt und dem Vorbeisein zugeführt wird, während der langsamere Vorgang sich gleichsam mehr Zeit nimmt, sich besser ohne Druck in die Weite der Dauer entfalten kann. Damit hängt der synästhetische Massencharakter des Schnellen und Langsamen zusammen, der sich besonders deutlich an den Klängen abzeichnet: Der tiefe, dumpfe Klang ist ausladend weit, locker, schwer, schwerfällig, weich und eben langsam im Gegensatz zum hellen und hohen Klang, der beweglich, spitz, kompakt, dabei aber dünner und zarter und im Wesen schneller ist.72 Diese Kombinationen beruhen auf dem Zusammenhang zwischen Schall und leiblicher Dynamik in leiblicher Kommunikation; ich komme darauf zurück. Der Unterschied des Schnellen und Langsamen ist vor der Projektion in den Raum ein Unterschied der Dichte, wie zwischen gedrängt und locker, ein dynamischer Unterschied, der sich nicht extensiv durch Anreihung von Teilen quantifizieren läßt.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 82-83).

„Mit dem Raum bin ich bisher sehr ungerecht umgegangen, indem ich ihn nur als das Reservat für die Umdeutung intensiver Größen in extensive herangezogen habe. Das betrifft nur die oberste Schicht der Räumlichkeit, den von mir so genannten Ortsraum aus Orten, die sich durch Lagen und Abstände gegenseitig bestimmen, d. h. identifizieren lassen. Daß dies nicht der ganze Raum sein kann, läßt sich so einsehen: Die Orte müssen durch Lage und Abstand zu ruhenden Objekten bestimmt werden, damit sie konstant bleiben. Wenn die Bezugsobjekte sich nämlich bewegten, die durch Bezug zu ihnen bestimmten objekte aber nicht gleichförmig mitliefen, würden sich deren Lagen und Abstände zu den Bezugsobjekten ändern. Die an ihnen befindlichen Objekte hätten also den Ort gewechselt, auch wenn sie an der Stelle geblieben wären. Ruhe und Bewegung wären nicht mehr unterscheidbar. Ortsbestimmung setzt also Ruhe der Bezugsobjekte voraus. Andererseits aber setzt Ruhe, wie sie im Ortsraum verstanden werden kann, nämlich als Beharren am Ort, Orte voraus. Ruhe setzt dann den Ort, der Ort aber Ruhe voraus, und es entsteht ein Definitionszirkel, der die Einführung eines Ortsraumes vereitelt, wenn man nicht auf ein dieser Einführung vorausliegendes Ruheverständnis zurückgreifen kann. Ein solches liefern flächenlose Räume, z. B. ruhiges Wasser, Abendruhe, Ruhe bei Müdigkeit.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 83).

„Hiermit sind die tieferen Schichten der Räumlichkeit schon angesprochen. Die Trennwand zwischen ihnen und dem Ortsraum ist die Fläche. Mit der Fläche beginnt die Entfremdung des Raumes vom Leib. Ich verstehe Leib als das, was jemand von sich, als zu sich selbst gehörig, in der Gegend -nicht immer in den Grenzen - seinesKörpers spüren kann, ohne sich der fünf Sinne und des auf ihre Erfahrungen gegründeten perzeptiven Körperschemas zu bedienen. Zum Leib in diesem Sinn gehören erst einmal leibliche Regungen wie Schreck, Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Wollust, Frische und Müdigkeit, ferner das stets leibliche Ergriffensein von Gefühlen, die spürbare Motorik und die leiblichen Richtungen, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führen, wie der Blick, das Ausatmen, das Schlucken. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, während man sie am eigenen Körper besehen und betasten kann. Zwischen Blickzielen kann der Blick an Flächen Netze umkehrbarer paarender Verbindungen schaffen und darüber Lagen und Abstände einführen, mit deren Hilfe sich der Raum überspannen und in einen Ortsraum einbinden läßt, der gestattet, zu sagen, wo etwas ist. Vorher entwickelt sich das menschliche und tierische Leben in einem Richtungsraum, der organisiert wird durch die leiblicl1en Richtungen, die ebenso unumkehrbaren entgegenkommenden Richtungen, von denen der Leib getroffen wird, mit denen er durch den Blick und das von mir eruierte motorische Körperschema kooperiert, und die abgründigen Richtungen ohne Quelle wie die reißende Schwere und die gerichteten Gefühle. Dieser Richtungsraum ist unentbehrlich für die flüssige Motorik; im Ortsraum könnten wir nur mühsam tastende Schritte machen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 83-84).

„Alle Räume in Schichten unterhalb des Ortsraumes sind flächenlos. Das hier nächstliegende, schon angesprochene Beispiel ist der Raum des Schalls. Ich denke weniger an die auf die Schallquelle bezüglichen Signale für Richtung und Entfernung als an den Raum, den die rhythmischen und tonalen Bewegungssuggestionen aufspannen, wie stechender Lärm, verhallendes Echo, Steigen und Sinken, Drängen und Kreisen der Töne, das vom Schall der Musik auf die tanzenden und marschierenden Leiber überspringt, ferner an die schon erwähnten synästhetischen Masseneigenschaften des Schalls als weit ausladender sonorer Gongschlag, als schriller, spitzer Pfiff usw. Oer Schall hat Volumen, aber dynamisches, nicht dreidimensionales, weil er keine Flächen hat. Oie Vorstellung eines dreidimensionalen Volumens oder Raumes kann nur im Ausgang von Flächen und durch diese ermöglichten Strecken entstehen. Oas dynamische Volumen des Schalls gleicht dem leiblichen Volumen des vitalen Antriebs aus Spannung und Schwellung, z. B. beim Einatmen, einschließlich der aus der Schwellung sich lösenden privativen Weitung wie bei Müdigkeit. Es entsteht durch Bewegungssuggestionen, die bei Leib und Schall und weit darüber hinaus übereinstimmen und leibliche Kommunikation74 möglich machen. Mit dem Raum des Schalls verwandt ist der Raum der einprägsamen, z. B. feierlichen oder drückenden Stille. Andere Beispiele flächenloser Räume sind der Raum des spürbaren Wetters, der Raum des unauffälligen Rückfeldes, das man durch kleine Bewegungen des Aufrichtens, Zurücklehnens, Dehnens unaufhörlich in Anspruch nimmt, der Raum der frei sich entfaltenden Gebärde, der Raum des Wassers für den Schwimmer, der sich vorwärts kämpft oder ruhig tragen läßt.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 84-85).

„Die beiden wichtigsten flächenlosen Räume sind der Raum des Leibes und der Raum der Gefühle als Atmosphären. Eine Atmosphäre ist eine totale oder partielle, jedenfalls erheblich ausgedehnte, Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was jeweils als anwesend erlebt wird; es kann sich auch um eine Besetzung durch Leere handeln, wie bei der von mir beschriebenen Verzweiflung (acedia, ennui). Es gibt leibliche Atmosphären, die den Raum erlebter Anwesenheit nicht total besetzen und dies auch nicht beanspruchen, aber den Leib ganzheitlich umhüllen, wie Mattigkeit und Behagen oder schlechte Laune am Morgen. Außer dem leiblichen Behagen gibt es aber auch ein Behagen als Gefühl, z.B. der Geborgenheit in der Liebe eines Menschen oder eines harmonischen Familienkreises. Es ist überall, wohin man geht, im Raum erlebter Anwesenheit. Gefühle neigen zur totalen Erfüllung dieses Raumes; ich habe das besonders für Trauer und für Scham nachgewiesen. Oft setzen sie sich damit nicht durch, aber der Anspruch bleibt. Sie sind aber nicht immer und überall, sondern Halbdinge wie die stimme eines Menschen, die erklingt und verstummt und zwischendurch nicht da ist. Von anderen Atmosphären, die sich in der erlebten Anwesenheit total ausdehnen, aber wie Wetter und Stille Gefühle zwar sein können, oft aber nicht sind, unterscheiden sich die Gefühle durch die Art des leiblich-affektiven Betroffenseins von ihnen, das ich als Ergriffenheit bezeichne: Der Ergriffene ist genötigt, den Impuls des Gefühls anfangs zu seinem eigenen zu machen, und erst nach dieser Anfangsphase in der Lage, sich in Preisgabe oder Widerstand damit auseinanderzusetzen.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 85-86).

„Alle Atmosphären sind intensive Größen. GrÖßenunterschiede zeigen sie z. B. im Fall der feierlichen und der drückenden Stille, die mächtig ergreifende Gefühle sein können; die feierliche Stille, ebenso die zarte Morgenstille, übertreffen die gedrängte, einengende, drückende Stille durch ihre Weite ähnlich wie die langsame, zur Weite der Dauer offene Bewegung die flüchtigere schnelle. Die Tiefe der Gefühle habe ich als Weite charakterisiert; zwar sind alle Gefühle als Atmosphären weit, aber die Weite der tiefen Gefühle ist intensiver. Extensive Größen können die Gefühle in einem flächenlosen Raum nicht sein, denn ohne Lagen und Abstände, die erst durch die umkehrbaren Verbindungen an Flächen möglich werden, können räumliche Erstreckungen nicht so zerlegt werden, daß sich extensive Größen ergeben.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 86).

„Die Atmosphären, die Gefühle sind, brauchen nicht immer zu ergreifen; oft werden sie nur wahrgenommen, wie die alberne Fröhlichkeit eines Festes von einem ernsthaften Beobachter. Wenn sie ergreifen, ist die Ergriffenheit aber immer leiblich spürbar und gibt als leiblich ergreifende Macht dem Ergriffenen durch Bewegungssuggestionen seine erstaunliche Gebärdensicherheit ein, die oft nur ein geübter Schauspieler glaubhaft nachstellen könnte, ohne ergriffen zu sein. Diese Ergriffenheit kann entweder unmittelbar sein oder vermittelt durch begegnende Gestalten, die leibverwandte, d. h. ebenso am eigenen Leib spürbare wie am Begegnenden wahrnehmbare BrückenqualitäIten besitzen; das sind Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere (ohne eigentliche Synästhesien). Dank solcher Brückenqualitäten sind sogar leiblose Gestalten für Gefühle empfänglich; sie fühlen natürlich nichts, werden aber dadurch lausdruckshaltig. Durch leibliche Kommunikation, besonders in der von mir als antagonistische Einleibung beschriebenen Art78, geht das Gefühl dann in das leiblich-affektive Betroffensein des Empfängers über. Es kommt vor, daß die bloße Wahrnehmung eines Arrangements leibloser Gestalten einen Menschen so umstimmt, daß ein konträr entgegengesetztes Gefühl ihn ergreift, wenn z. B. ein zerrissener oder bösartiger Mensch durch die milde und feierlich friedliche Atmosphäre einer Kirche zur Sanftheit gewendet wird.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 86-87).

„Unter den Überträgern von Atmosphären des Gefühls durch leibnahe Brückenqualitäten nehmen die akustischen und besonders die musikalischen Gestalten eine ausgezeichnete Stellung dadurch ein, daß sie zwei Intensitätsarten vereinigen, die räumliche Intensität durch Besetzung eines flächenlosen Raumes und die zeitliche Intensität der Dauer und der damit zusammenhängenden Eigenschaften, wie Schnelligkeit und Langsamkeit. Die IIntensität der Dauer gestattet es dem Schall, geschichtlich zu werden. Wäre seine Dauer eine extensive Größe, würden die früheren Abschnitte seines Erschallens, durch Schnitte abtrennbar von den folgenden, der gegenwärtigen Gegebenheit gleich78 Wie Anmerkung 73, S. 38-44. sam nachhinken und nur noch in der Erinnerung zu finden sein. Weil sie in der intensiven Dauer aber zu einem absolut unspaltbaren Verhältnis zusammengebunden werden können, lebt im augenblicklichen Schalloft noch seine Geschichte. Das zeigt sich schon an einem langgezogenen Pfiff, einem gar nicht musikalischen Geräusch. Keine Farbe könnte durch ihre Dauer so langgezogen werden. Wenn eine rote Fahne am Mast aufgezogen ist, bleibt sie den ganzen Tag über genauso rot wie am Anfang. Ein Pfiff verändert seine Gestalt durch seine Dauer. Er zieht sich in die Länge, wird aufdringlicher, am Ende unerträglich, so daß man sich die Ohren zuhält, es sei denn, daß man sich schließlich an ihn gewöhnt hat und nicht mehr hinhört. Die Bewegungssuggestionen, die der Schall transportiert, stauen sich durch ihr bloßes Andauern zu überwältigender Intensität. Wegen ihrer Leibverwandtschaft können, aber müssen nicht Atmosphären des Gefühls an sie anbinden; dadurch wird die Musik zur Heimstätte der Präsenz solcher Atmosphären, die sich im Barock, entsprechend der damaligen Affektenlehre, lediglich darstellen, in der späteren Musik aber mehr oder weniger dazu bestimmt werden, den Hörer zu ergreifen. Vor allen anderen Gestalten, die Atmosphären vermitteln, haben die akustischen, besonders die musikalischen, den Vorzug, daß sie nicht nur da sind, sondern auch wachsen, d. h. ihre Geschichte mit sich bringen. Dadurch werden ausgreifende Bögen musikalischer Komposition möglich, denen im Material der Farben nichts Entsprechendes an die Seite gestellt werden könnte. Die Musik bildet Gestalten aus. Musikalische Gestalten sind Geflechte von Bewegungssuggestionen im Medium der Töne, d. h. Vorzeichnungen von Bewegung ohne von der Musik selbst (durch Wandern der Schallquelle) ausgeführte Bewegung.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 86-87).

„Die bisher beschriebene Intensität der Musik ist doppelt: intensive Weite des flächenlosen, von Atmosphären erfüllten Schallraums und intensive Dauer des geschichtlich sich aufladenden Schalls. Tatsächlich ist diese Intensität noch einmal so kompliziert, indem sich die intensive Dauer in zwei Intensitäten aufspaltet, die einander umgekehrt proportional sind: intensive Länge und intensive Dichte. Ich habe das schon an Schnelligkeit und Langsamkeit gezeigt. Je schneller eine Bewegung ist, desto gedrängter ist sie unter dem Druck des Neuen, Ankommenden, das die intensiv in unspaltbarem Verhältnis verbundenen Teile zusammenpreßt bis zum Zerreißen der Dauer, die ins Vorbeisein entgleitet: Das Schnelle ist flüchtig, dem Vergehen ausgeliefert. Im Gegensatz dazu wächst mit der Langsamkeit der Anteil unzerrissener Dauer; daher ist das intensive Gefüge lockerer, weniger gedrängt. Das gilt nicht nur für jede Bewegung im Raum, sondern für jeden Ablauf wie den musikalischen der Klänge, den man mit verallgemeinernder Wortverwendung ebenfalls »Bewegung« nennen kann. In jeder Bewegung in diesem verallgemeinerten Sinn sind beide Dimensionen intensiver Dauer beisammen, so daß auch die schnellere Bewegung unzerrissene Dauer an sich hat, die langsamere etwas vom Riß in der Dauer. Dazu kommt in der Musik die Gestaltgebung durch das Geflecht der Bewegungssuggestionen, der Motive, Themen, Melodien und ihrer Variationen in der Durchführung. Der Spielraum für die Konkurrenz von intensiver Länge und intensiver Dichte, für die Ausformung des Gegensatzes von Dauer und Vergänglichkeit in der Musik, wird durch die Übertragung von der ausgeführten Bewegung auf die bloß vorgezeichnete Bewegung der Bewegungssuggestionen unabsehbar vergrößert. Der Rhythmus ist eine solche Bewegungssuggestion, die dem bloßen Ablauf eingeprägt ist und in der Musik durch tonale Bewegungssuggestionen ergänzt wird. In jedem Rhythmus eines Ablaufs wirken Länge und Dichte antagonistisch zusammen und streben einem Ausgleich, einer Sättigung zu, die den Ablauf zur Gestalt abrundet.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 88-89).

„Die Musik als zeitliche Gestaltung eines Ablaufs bewältigt also die Aufgabe, das Währen und die Flüchtigkeit, d. h. intensive Länge und intensive Dichte der Dauer, in eigenartiger und stimmiger Weise zu vereinigen und in dieser (leiblich-zeitlichen) Dimension von Engung und Weitung Atmosphären des Gefühls den Spielraum zur Entfaltung zu geben. Dabei ist die verdichtende Engung eher ein passives Geschehen, der Dauer auferlegt durch den eindringlichen Druck des Neuen, während die weitende Länge sich gegen den Druck zum Zerreißen der Dauer behaupten muß. Für die Lösung dieser Aufgabe gibt es viele Stile und Wege. Einige besonders markante deute ich durch flüchtige Gegenüberstellung von Händel und Bach an. Der mitreißende Schwung des Rhythmus der Musik von Händel nimmt die Hemmung, die engende Verdichtung der Dauer; in schneller wie in langsamer Bewegung ohne Anstoß aufgreifend mit. Es ist wohl kein Zufall, daß Händel seltener als Bach Fugen konsequent auskomponiert. Die in einer Fuge wiederkehrenden Themeneinsätze sind Stöße herausfordernder Verdichtung. Die Auseinandersetzung mit solchen Stößen scheint zum härteren Stil Bachs zu gehören, besonders in der Instrumentalmusik und in dieser auf der Orgel. Als Beispiel nenne ich das Stück Nr. 21 (mit Pedaleinsatz) aus dem 3. Teil der Klavierübung, eine Fuge über das Lied »Jesus Christus unser Heiland«, wo die Gegenstimmen die schneidenden Einsätze des Themas in den lockeren Fluß gleitender Dauer einbetten. Bei Bach habe ich oft den Eindruck, daß eine gewaltige Kraft, die nicht einmal (wie bei Beethoven) zu drücken braucht, um sich durchzusetzen, Hemmungen wegschiebt. Die vereinende Fügung und integrierende Bewahrung des Gegensatzes von intensiver Länge und intensiver Dichte, unzerrissener und dem Zerreißen im Vorbeisein sich nähernder Dauer, ist eine ständige Aufgabe musikalischer Gestaltung.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 89-90).

„Die Musik ist eine Zeitkunst, indem sie Dauer und Vergänglichkeit, die beiden das Schicksal der Zeitlichkeit stiftenden Faktoren, in eigenartigen Gestalten integrierend ausformt und dem Hören darstellt. Ebenso ist sie eine Raumkunst, die sich in der intensiven Weite des flächenlosen Schallraums dynamisch entfaltet und darin ergossene Atmosphären des Gefühls präsentiert, aber nur andeutungsweise, so daß der Hörer von den präsentierten Atmosphären angeregt oder betroffen sein kann, ohne sie eindeutig identifizieren zu können, wie es auch der Fall ist bei den Atmosphären des Mondlichts oder einer Gewitterlandschaft. Die Musik legt sich nicht fest wie die Dichtung, bringt aber desto offener und vielseitiger dem Menschen sein Schicksal nahe, in Raum und Zeit ausgesetzt zu sein und betroffen werden zu können.“ (Hermann F.-H. Schmitz, Intensität, Atmosphären und Musik, in: Atmosphären, 2014, S. 90-91).

 

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