|
Leipzig ist die erste Heimatstadt
von Hermann Schmitz.
|
|
Bonn ist die zweite Heimatstadt
von Hermann Schmitz.
|
|

Kiel ist die dritte Heimatstadt von Hermann Schmitz.
|
Das heidnische Altertum
Die archaische Zeit des griechischen Denkens wird gegen die klassische
als die Zeit der Vorsokratiker abgegrenzt, so daß Sokrates als die
Zäsur erscheint. Von ihm wissen wir nichts Zuverlässiges. Nur
die platonischen Dialoge geben ihm für uns Farbe, aber wir können
nicht entscheiden, wie viel davon sokratisch oder platonisch ist. Eine
Vermutung will ich mir trotzdem erlauben. Unter den sicher frühen
Dialogen Platons sticht eine Gruppe, die Ion, Protagoras
und Hippias minor umfaßt, durch zwei sie von anderen Dialogen
unterscheidende Merkmale hervor: Sokrates wird als Eristiker, noch nicht
als der logisch und moralisch stets überlegene Meisterdenker, vorgeführt,
und die Sophisten werden nicht moralisch (als verlogene Betrüger)
denunziert, sondern nur als dümmlich bieder (Hippias) oder verschroben
(Prodikos) herabgesetzt oder gar respektvoll behandelt (Protagoras). Der
Eristiker Sokrates spielt die Einheit der Tugend als lehrbarer berechnender
Kunst gegen das unwillkürliche Können aus gemeinsamen, zuständlichen
Situationen aus. Es liegt nahe, anzunehmen, daß dieses Porträt
der geschichtlichen Wirklichkeit näher kommt, zumal es auch die Animosität
der Athener gegen Sokrates verständlicher macht, als der moralisch
und logisch immer überlegene Meisterdenker, den Platon seit Apologie,
Kriton und Gorgias aus Sokrates machte, um ihn zur Waffe
gegen die attische Demokratie aufzurüsten. (Hermann F.-H.
Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 313).
Wie es aber auch um Sokrates stehen mag, ich kann nicht zugeben,
daß an seine Figur, so groß auch ihre Ausstrahlung war, ein
entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Denkens gebunden wäre.
Ich setze einen solchen vielmehr bei Demokrit. Wie ich das meine, will
ich nun erklären. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 313-314).
Unter der Abstraktionsbasis einer Kultur verstehe
ich den Bereich, aus dem sie ihre grundlegenden Begriffe schöpft,
die den Theorien und Bewertungen, wie sehr diese auch abweichen, die Perspektive
vorgeben. Die Abstraktionsbasis alter Kulturen bestehen meist in standardisierten,
typisierten vielsagenden Eindrücken (impressiven Situationen), wobei
die Polarität des Männlichen und Weiblichen eine Leitfunktion
ausübt, so bis in unsere Zeit noch in China mit Yang (männlich,
stark, hart, hell) und Yin (weiblich, schwach, weich, dunkel), mit den
Wu Xing (Elementen und Wandlungsphasen) und den Wesenheiten der acht Grundzeichen
des I Ging; die chinesische Medizin diagnostiziert und therapiert nach
solchen (z. B. am Puls abgelesenen) Eindrücken und dem davon aufgespannten
Analogiensystem. Ebenso in der Struktur, etwas anders im Inhalt ist die
Abstraktionsbasis der frühen griechischen Denker beschaffen. Das
Weibliche wird mit dem Flinken, Unruhigen, Endlosen, das Männliche
mit dem Sperrigen, Beharrlichen, Begrenzenden assoziiert, mit negativer
Bewertung bei den Pythagoreern laut der von Aristoteles überlieferten,
bis ins späte Altertum (noch bei Proklos) wirksamen Gegensatztafel,
mit positiver bei Parmenides (flammenhaft, flink, hell, geschmeidig, weiblich
im Gegensatz zur schwerfällig-sperrigen, unkundigen Nacht) und Empedokles
(die wirbelnde Aphrodite als Liebe gegen den verdrossenen Streit oder
Groll). Auch das Gegensatzpaar des Anaximenes (das entspannte Warme gegen
das gespannte Kalte) gehört hierhin. Sogar Demokrit ist nicht frei
von Resten dieser Denkweise. Das Leichte erklärt er manchmal in seinem
neuen Sinn durch große Zwischenräume zwischen den Atomen, gelegentlich
aber auch als das Zarte und Warme, im Geist des parmenidischen Flammenprinzips.
Die polaren Prinzipien werden von Parmenides auch »Kräfte«
genannt und haben bei den archaischen Denkern stets dynamischen Charakter,
der dem leiblich Spürbaren nahe steht. Auf den Gipfel kommt dieser
archaische Dynamismus bei Heraklit, der die Konvergenz des Divergenten,
also die Harmonie des Auseinanderstrebenden, in der Gegensätzlichkeit
und durch diese mit sich im Einklang zu sein, als das Feuer zu der Invariante
erhebt, deren Kehrseite die Variation des Entstehens und Vorgehens ist.
Er erschaut die Vielfalt des Geschehens als die Bedeutsamkeit eines vielsagenden
Eindrucks und kann daher das Weltgeschehen auch als Rede (Logos) und Meinung
(Gnome) ausgeben, nicht eines Sprechers, sondern als Bedeutsamkeit, gleichsam
als Sprache der Dinge. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick
auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 314-315).
Das alles klingt eher poetisch, ist aber insofern realistisch,
als hier Einzelheit nicht wie später als selbstverständlich
vorausgesetzt wird, sondern, wie es in der Tat geschieht, bedeutsamen
Situationen (hier: vielsagenden Eindrücken) über Explikation
einzelner Bedeutungen abgewonnen wird. In dieses archaische Denken hinein
platzt die Aletheia des Parmenides, die untrügende Evidenz, die er
einem ekstatischen Ausnahmezustand entnahm, in dem sich ihm alles so unmittelbar
und zwingend aufdrängte, daß er das Seiende im Ganzen als ein
anwesendes zusammenhängendes Eines verstehen mußte, wie ein
ungeheuer dicht gepacktes und fest verschnürtes Paket. Diese Evidenz
legte er sich, noch mit dem Mittel mythischen Denkens, als Offenbarung
einer Göttin zurecht, zu der er, entführt von wunderbaren Stuten,
abseits des ausgetretenen Weges der Menschen gelangt zu sein wähnte.
Dennoch ließ er sich auf diesen ausgetretenen Wegen mit einer der
Aletheia nachgeschickten Kosmogonie und Kosmologie ein, die der trügerischen
Erscheinung gerecht werden sollte, die übrig bleibt, wenn man aus
der Ekstase in den gewöhnlichen Zustand zurückgekehrt ist. Den
Ausnahmezustand des Parmenides, den ich mit dem verwandten Bericht des
Physiker-Philosophen Ernst Mach über seine Einweihung in seine subjektlose
Weltanschauung »an einem schönen Sommertag im Freien«,
wo ihm die Welt somit seinem Ich als eine einzige Masse von Empfindungen
erschien, verglichen habe, wird kein anderer geteilt haben; geschichtlich
wirksam wurde er aber durch die Gegenüberstellung von Sein und Schein,
die den ionischen Naturphilosophen (vor Anaxagoras) noch fern lag. Mit
dieser scharfen Unterscheidung des wahren Kerns von der Schale der Erscheinungen
arbeiteten die Schüler oder Adepten des Parmenides weiter.
(Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 315-316).
Es handelt sich um Zenon, Melissos und Leukipp, die sich
der gemeinsamen Aufgabe widmeten, den auf sie inkonsequent wirkenden,
zwischen Einheit und Vielheit schwankenden Paket-Monismus des Parmenides,
der nur aus seinem Ausnahmeerlebnis verständlich wird, nach der einen
oder anderen Seite aufzulösen. Zenon und Melissos wurden konsequente
Monisten. Zenon kritisiert mit seinen Paradoxien Parmenides, sozusagen
im Innenverhältnis der eleatischen Schule, während er ihn im
Außenverhältnis gegen Empedokles in einem Dialog verteidigte.
Er stellte sich das Eine ohne jede Vielheit als körperlich unendlich
ausgedehnt vor; Melissos dagegen verstand dieses Eine als unendlich ausgedehnten
körperlosen Leib, der gesund und schmerzfrei sei, mit starkem vitalen
Antrieb gemäß dem Grundsatz: »Nichts ist stärker
als das wahrhaft Seiende.« Dagegen löste Leukippos den Paket-Monismus
zur Vielheit hin auf, mit der noch auf die Lehre des Parmenides Rücksicht
nehmenden Entscheidung: »Das Seiende ist das Volle, das Leere ist
Nichtseiendes, aber es ist.« Auf diese Weise gelangte er zur Atomphysik,
mit der er den Diakosmos des Parmenides, dessen Kosmologie in der Sicht
der gewöhnlichen Menschen, fortsetzte und verfeinerte, auch mit dem
Wort »Diakosmos« an Parmenides anknüpfend. (Hermann
F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 316).
Eine ganz enge, auch literarische Denkgemeinschaft, die
wir aber biographisch nicht aufschlüsseln können, verbindet
Leukipp mit Demokrit. Bei diesem verbindet sich die Entgegensetzung von
Sein und Schein, das Erbe des Parmenides in der Version Leukipps, mit
der Welt- und Menschspaltung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische
Vergegenständlichung, die schon unter 3.1 erörtert wurde. Das
macht seine geschichtliche Schlüsselstellung aus. Der demokritische
Mensch ist schon in seine seelische Innenwelt zurückgezogen, in der
er sich Bilder der Außenwelt macht, die auch täuschen können;
er kann nicht aus der Innenwelt herauskommen, um das Zeugnis der Sinne
zu kontrollieren und diese bei der Deutung der Außenwelt zu überholen.
Der Motor solcher Verkapselung ist auch bei ihm das Streben nach Selbstermächtigung
gegen die unwillkürlichen Regungen: »Das unbotmäßige
Leid einer schmerzerstarrten Seele verjage durch Vernunft!« Man
soll Herr seiner Lüste sein, den schweren Kampf mit dem Thymós
(Zorn oder Regungsherd im alten Sinn) bestehen, vor sich selbst die meiste
Scheu haben, die von Unanständigem abhält. Die personale Emanzipation
ist bei Demokrit schon so weit entwickelt, daß er sich in die Position
eines Richters versetzt, der dem Körper zu Hilfe kommt, weil die
Seele diesen als ihren Knecht mißbraucht. Die Menschspaltung ist
ihm selbstverständlich. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick
auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 316-317).
Auf der anderen Seite, vom parmenidisch-leukippischen
Erbe mit der Kontrastierung von Sein und Schein und der Deutung des Vollen
als Atom her, steht bei Demokrit eine völlig neue Abstraktionsbasis
da, die nicht mehr auf typisierten impressiven Situationen, sondern auf
privilegierten Merkmalsorten beruht. Demokrit nannte nach Aristoteles
drei solche Sorten: Gestalt, Anordnung und Lage im Raum. Die Liste kann
leicht verlängert werden; es handelt sich um die unspezifischen (mehreren
Sinnen gemeinsamen) Sinnesqualitäten. Die Auswahl ist so geschickt
getroffen, daß sie noch heute den Datenvorrat ausmacht, an dem die
Physik ihre Theorien in Experimenten prüft, weil die unspezifischen
Sinnesqualitäten in besonderem Maß intermomentan und intersubjektiv
identifizierbar, meßbar und selektiv variierbar, daher für
Experiment und Statistik geeignet sind. Die nicht privilegierten spezifischen
Sinnesqualitäten werden in der Seele entsorgt. Platon ist im Timaios
dieser Neuerung gefolgt, aber ohne eine genaue Liste der privilegierten
und nicht privilegierten Qualitäten. Er schließt sich in der
Physik den Atomisten an: Die durch Sein statt Schein privilegierten Qualitäten,
denen die Einbettung in Situationen verlorengegangen ist, erhalten statt
dessen ihre Stütze in erdachten Trägern, den Atomen. Später
hat man an deren Stelle die abstrakteren Substanzen gesetzt. So noch heute:
Wenn wir von einem Ding - z. B. einem Möbelstück, einem Schiff
(des Theseus) - sagen, es habe eine gewisse Zeit überdauert, behandeln
wir es als eine Substanz mit Eigenschaften, meinen aber eigentlich eine
zuständliche Situation, die sich in höchstens allmählichem
Wandel (auch bei Stoffwechsel) so lange gehalten hat; dafür, daß
wir die Situation zur handfesten Substanz gleichsam verdicken und den
Eigenschaften als deren Träger gegenüberstellen, worüber
sich schon Locke lustig gemacht hat, können wir uns nicht rechtfertigen.
(Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 317-318).
Die alte Abstraktionsbasis war auch abstrakt, wegen der
mit Typisierung vielsagender Eindrücke verbundenen Vereinseitigung;
die demokritische ist ebenso abstrakt, aber obendrein reduktionistisch,
gerade so, wie die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische
Vergegenständlichung es verlangt. Sie schneidet aus dem Gegebenen
die binnendiffuse Bedeutsamkeit der Situationen und das Atmosphärische
weg. Die Situationen werden durch Konstellationen, Beziehungsnetze zwischen
einzelnen Knoten (zunächst Atomen), ersetzt; zum Symbol dieses Konstellationismus
wird das Buchstabengleichnis: Leukipp und Demokrit erklärten sich
nach Aristoteles die starken Schwankungen der Erscheinung schon bei geringem
Wechsel der Atomkonfiguration mit dem Vergleich, daß auch Tragödie
und Komödie aus denselben Buchstaben bestünden. Die archaische
Dynamik des Zusammenwirkens gegensätzlicher Kräfte wird abgelöst
durch eine Kinetik des haltlosen Wandels mit zugesetzten Invarianten,
stabilen Fixpunkten (Ideen, wie Demokrit seine Atome nannte, später
Naturgesetzen); dieser Wechsel zur bloßen Kinetik ereignete sich
auch unabhängig von den Atomisten, wie die von Platon und Aristoteles
schon für das 5. Jahrhundert (Kratylos) bezeugte Verflachung des
heraklitischen Prinzips der Harmonie aus Gegensatz zu der pseudo-heraklitischen
Formel »Alles fließt« aufzeigt. Dem entspricht die am
Vorbild handwerklichen Formens orientierte Gegenüberstellung von
Form und Stoff, wobei die stabile Invariante das Modell der Formung des
Schwankungen ausgesetzten Stoffes abgibt. Dieses Motiv ist in den spärlich
erhaltenen Fragmenten Demokrits nur durch Anspielungen, etwa für
Formung der Natur der Menschen durch Erziehung, Zufall oder Weisheit,
belegt; Leitmotiv wird es bei Platon und Aristoteles, bei dem es für
das Verhältnis der Seele zum Körper neben das vom Körper
als Knecht der Seele tritt. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick
auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 318-319).
Mit dieser Konzeption ist Demokrit fast schon ein moderner
Mensch, mit allen problematischen Konsequenzen des Singularismus und Konstellationismus,
moderner als Platon; deshalb war es angebracht, so lange bei ihm zu verweilen.
(Die flüchtigen Andeutungen, mit denen ich mich bei diesem Rückblick
auf das Abendland begnügen muß, sind für die älteren
griechischen Denker bis auf Demokrit von mir sorgfältig ausgeführt
und begründet worden; ich nenne folgende Werke: Hermann Schmitz,
Anaximander und die Anfänge der griechischen Philosophie,
1988; Hermann Schmitz, Der Ursprung des Gegenstandes - Von Parmenides
bis Demokrit, 1988; dazu: Hermann Schmitz, Nachlese zu Parmenides,
in: Hermes, 129, 2001: Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen
Philosophie, Band I, 2007, S. 19-131.) Seine schriftliche Hinterlassenschaft,
die von Thrasyllos so sorgfältig gesammelt und herausgegeben wurde,
wie die des Aristoteles von Andronikos, ist verloren und nur durch verstreute
Zitate und Berichte aus zweiter Hand belegt. Anhaltende geschichtliche
Wirkung entfaltete er durch die Übernahme seiner Konzeption durch
die das Abendland prägenden Denker Platon und Aristoteles, nämlich
der Welt- und Menschspaltung bei beiden, des Singularismus und Konstellationismus,
den Aristoteles wieder korrigiert, jedenfalls bei Platon. (Über Platon
und Aristoteles habe ich soviel und eingehend geschrieben, daß ich
nur ganz weniges davon anzudeuten brauche, da man sich leicht anders unterrichten
kann; ich erwähne: Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles,
1985, 2 Bände in 3 Büchern; Band I: Aristoteles, 1. Teil:
Kommentar zum 7. Buch der Metaphysik, Teil 2: Ontologie, Noologie,
Theologie; Band II: Platon und Aristoteles; Hermann Schmitz,
Der Weg der europäischen Philosophie, Band I, 2007, S. 139-
306; Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band II, Teil 1,
S. 462-497, und Band III, Teil 2, S. 484-498; Hermann Schmitz, Was
ist Neue Phänomenologie?, 2003, S. 348- 363 ....) Nur auf das
letzte Thema will ich hier eingehen; daß Platon die Welt- und Menschspaltung
übernimmt und die Seele, in antithetischer Stellung zum Körper,
zweckmäßig (durch Einteilung in Schichten) für die Beherrschung
der unwillkürlichen Regungen durch die vernünftige Person einrichtet,
liegt auf der Hand und darf hier Übergangen werden. Der Konstellationismus
drückt sich in dem von ihm wie von Leukipp und Demokrit bevorzugten
Buchstabengleichnis aus. Die besondere Gestalt des Konstellationismus
ist bei Platon der Elementarismus (vgl. Hermann Schmitz, Der Weg der
europäischen Philosophie, Band I, 2007, S. 231-239: Der theoretische
Elementarismus, S. 239-242: Der politische Elementarismus),
womit er Ernst Mach (Die Analyse der Empfindungen, 1. Kapitel:
Antimetaphysische Vorbemerkungen) nahesteht. Ich verstehe darunter
die Auffassung, daß jede Bestimmtheit als etwas einzeln ist und
die Gegenstände sich durch Zusammensetzung solcher atomarer Bestimmtheiten
stückweise aufbauen lassen. Die Erkenntnis wird dann zu einer Art
Inventar der zu erkennenden Sache in Gestalt ihres Logos, der - tunlichst
in dihairetischer Gliederung nach Gattungen und spezifischen Differenzen
- durch Aufzählung der wesentlichen Merkmale angibt, was die Sache
ist. Dieser Elementarismus führt Platon zu paradoxen Konsequenzen
und Problemen wie die Selbstanwendung der Ideen (daß die Gerechtigkeit
gerecht ist, die Gleichheit gleich und nichts weiter, die höchste
Schönheit bloß noch sehr schön usw.) und die VerabsoIutierung
relativer Bestimmtheiten, hauptsächlich aber zu einer unauflöslichen
Aporie angesichts der Frage, wie die Einheit des Ganzen aus den Bausteinen
der Bestimmtheiten zustande kommt. Platon kann sie sich nur als Klammer
denken, als zusätzliche Bestimmtheit, die die übrigen Bestimmtheiten
verklammert. Damit läuft er einem regressus ad infinitum in die Arme,
denn jetzt fragt sich, welche Klammer zweiter Stufe die Klammer erster
Stufe mit dem, was diese verklammert, verklammert, und so geht es über
alle Klammern n-ter Stufe ins Unendliche fort. An diesem Regreßproblem,
das Platon am Beispiel des Großen darstellt, während es dank
einer dem Alexander von Aphrodisias unterlaufenen Verwechslung fortan
den unzutreffenden Namen des Dritten Menschen bekommen hat, scheitert
die schöne dihairetische Ordnung des Ideenreiches vom Guten an der
Spitze bis zu den niedersten (»unzerschneidbaren«) Arten,
die Platon in Politeia und Phaidros vorlegt. In der politischen
Philosophie verschafft der Elementarismus dem Staatsideal Platons seine
despotischen Züge. Platon kennt nicht die Einheit, die einer Gemeinschaft
durch spontanen Zusammenhang in gemeinsamen Situationen zuwächst,
sondern politische Einheit nur durch Verklammerung, womit eine Elite die
widerspenstige Masse zusammenhält, wie die Vernunft in der Seele
die unwillkürlichen Regungen bändigt. (Hermann F.-H. Schmitz,
Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 319-322).
Originell ist bei Platon die Kompensation des Reduktionismus der
Weltspaltung, der die empirische Außenwelt vom Atmosphärischen
und damit von ergreifenden Mächten reinigt, durch Versetzung des
gefühlsmäßig Erhebenden in die Transzendenz der Ideen.
Die Ideenlehre der platonischen Dialoge ist allerdings sehr zwiespältig.
Durch die einschlägigen Dialoge zieht sich der Gegensatz zweier unvereinbarer
Auffassungen von den Ideen; ich habe sie als die selektiv idealisierende
und die universell stabilisierende Auffassung einander gegenübergestellt.
Die selektiv idealisierende Auffassung macht aus den Ideen preiswürdige
Ideale mit den Leitbildern des Guten, Schönen und Gerechten und das
höchste Ziel für das Streben der Seele. Sie begünstigt
die Gemeinschaft mit den Ideen, um diese der Seele zugänglich zu
halten. Das ist offenbar die eigene Sicht und Intention Platons. Die universell
stabilisierende Auffassung hat ein erkenntnistheoretisches Motiv: Das
vernünftige Sprechen benötigt die Ideen als Anhaltspunkte, um
sich im vermeintlich haltlosen pseudo-heraklitischen Allfluß sprechend
zurechtzufinden. Da man über alles sprechen will, braucht man Ideen
auch von Minderwertigem, und dann eignet sich wegen der Selbstanwendung
das Ideenreich nicht mehr zur Idealisierung. Statt dessen benötigt
diese Auffassung starre, isolierte Ideen, die als Fixpunkte gleich Sternen
Orientierung geben. Ich habe diesen Zwiespalt als literarische Spiegelung
eines Parteienkampfes in der innerakademischen Diskussion interpretiert,
wobei Platon die Ideenfreunde, die unter diesem Namen im Sophistes
vom Gesprächsführer (einer Maske Platons) angegriffen werden,
unter Führung des jüngeren Sokrates gegen sich hat; beide Parteien
haben sich aus verschiedenen Motiven heraus zur Erfindung der Ideen zusammengefunden.
(Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 322-323).
Das Wesentliche der Neuerungen des Aristoteles besteht, abgesehen
vom Abschied von der Transzendenz der Ideen, in der Überwindung des
Elementarismus. Dem inventarisierenden Erkenntnisideal Platons stellt
Aristoteles seine Entdeckung der prädizierenden Aussage entgegen,
aus der sich die Möglichkeit ergibt, mit der Prädikation verschiedenen
Fragerichtungen zu folgen, statt nur das Wesen einer Sache durch Aufzählung
ihrer wesentlichen Merkmale zu bestimmen. Die typisierten Antworten auf
die verschiedenen Fragerichtungen sind die aristotelischen Kategorien.
Jedoch hat das eigentlich gesuchte Seiende (das Wesen namens »Ousia«)
für Aristoteles nicht in der Form der prädikativen Aussage Platz.
Das Erste, die immanente Idee, das erste Wesen, wird nicht in der Weise
gesagt, wie etwas von etwas gesagt wird. Insbesondere reicht nicht die
platonische Aufzählung von Bausteinen einer Sache. Es ist, sagt Aristoteles,
ein Fehler, alles von etwas Ausgesagte für ein jeweils Eines, einen
besonderen Gegenstand, zu halten, und durch die Anreihung von Gattungen
und Differenzen in der Definition erreicht man nicht das Wesen der Sache,
sondern nur den Stoff. Hinter dem Aussagbaren steht die immanente Idee
im Stoff, die vollendete Differenz im Gegensatz zu der in der diharetischen
Aufzählung letzten; sie ist der prägnante Akzent, wodurch der
Stoff etwas ist, d. h. eine bestimmte Gestalt annimmt. Das Denkmodell
der aristotelischen Ideenlehre ist das gestaltpsychologische der Figur
vor einem verschwimmenden Hintergrund, die nie ganz zu sich kommende,
immer vom passiv schwankenden Stoff in ihrer Reinheit getrübte immanente
Idee als das eigentlich Seiende. Prototyp ist der lebendige Organismus,
dem die Verschwommenheit des Stoffes zwar die exakten Maße nimmt,
nicht aber die geschlossene Form, zu der er immer wieder heranreift. Mit
diesem Modell des lebendigen Organismus, angewandt auf die Polis, wendet
sich Aristoteles gegen die despotische Staatsidee Platons. An die Stelle
der starren Schichtung von Regierendem und Regiertem setzt er das spontane,
gewachsene Einvernehmen der guten Bürger, deren Tugend in der doppelten
Fähigkeit besteht, selbst zu regieren und sich von anderen regieren
zu lassen. Dabei treibt er das Modell des lebendigen Organismus, in dem
der Einzelne zum Ganzen gehört wie die Hand zum Körper, aber
so weit, daß er sich nur fürdie Gesundheit dieses Organismus
interessiert und dem Staat Heilmittel zur Selbsterhaltung anbietet, aber
blind ist für die politische Dynamik, die auch durch »schöpferische
Zerstörung« (Schumpeter) fruchtbar werden kann. Der Grund dieser
konservativen Einseitigkeit besteht darin, daß Aristoteles nur die
Chancen für die Prägnanz der Form anzielt und den Stoff nur
als passives, verschwommenes Milieu sieht, nie als Situation mit binnendiffuser
Bedeutsamkeit, der ihre Möglichkeiten als Angebote abgelauscht und
aus ihr durch Vereinzelung freigesetzt werden können. Frei von dieser
Befangenheit ist seine Stellung gegen Platon in der Individualethik. Platon
bestimmt im Politikos das Wesen des Staatsmannes durch die Aufgabe,
nicht zu richten, zu reden oder Krieg zu führen, sondern durch Erziehung
und Heiratsplanung das genau ausgewogene Verhältnis kecker und sanfter
Wesensart seiner Untertanen herzustellen, wobei es weder bei der Vorbereitung
des Menschenmaterials noch bei der Aussiebung des Ausschusses ohne Gewalt
abgeht. Auf die ausgewogene Mitte kommt es für die Tugend auch dem
Aristoteles an, aber er setzt nicht so kalkulatorisch wie der Konstellationist
Platon auf die mit exakter Wissenschaft ermittelbare Genauigkeit, sondern
er vertraut das Finden der richtigen Mitte dem intuitiven Takt des hinlänglich
begabten Einzelnen an, der durch Sozialisation und Gewöhnung in ein
gebildetes Können hineinwächst und sich auch Schwankungen leisten
kann, solange er nicht das Gleichgewicht über dem eigenen Schwerpunkt
verliert. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 323-325).
Unter den hellenistischen Philosophenschulen nach Platon und Aristoteles
fallen die Stoiker dadurch auf, daß sie, wenigstens anfangs (unter
Führung durch Zenon und Kleanthes), vom spürbaren Leib ausgehen,
mit dem vitalen Antrieb unter dem Titel des Tonos als Prinzip ihres Welt-
und Menschenverständnisses. Die Stoiker waren keine Materialisten;
was man an ihrer Lehre als Körper mißversteht, sind vielmehr
Leiber. Da sie aber mit der Seelenvorstellung an der Welt- und Menschspaltung
festhielten, kam diese Originalität nicht deutlich heraus; überdies
hatte schon das dritte Schulhaupt, Chrysipp, kein Verständnis für
Leiblichkeit und verschob die Lehre zum Rationalismus hin. Die mittlere
Stoa näherte sich dann dem Platonismus. (Hermann F.-H. Schmitz,
Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 325).
Eine Überraschung bringt dann noch am Ende des Altertums
der heidnische Neuplatonismus. Sein Schöpfer Plotin ist denkwürdig
als Entdecker der Vieleinigkeit in der oberen, geistigen Welt. Es handelt
sich um einen Mannigfaltigkeitstypus der Innigkeit, in der die Teilnehmer
unzertrennlich, in gegenseitiger Durchdringung mit Übergang ineinander,
zusammenhängen, doch so, daß ihre individuelle Eigenart gewahrt
bleibt. Plotin äußert sich darüber so: »In der oberen
Welt ist der eine Gott alle Götter, und jeder ist alle, die zwar
ihren besonderen Kräften nach andere sind, der ein - vielen Gesamtkraft
nach aber alle einer oder vielmehr einer - alle; auf einen Schlag beisammen
sind sie und jeder ist wiederum gesondert in abstandlosem Abstand, ohne
sinnliche Gestalt, sonst wäre der eine hier, der andere woanders
und nicht der Einzelne in sich selbst jeder« (Plotin, Enneaden,
V 8 [31], 9, 14-22, d.h.: 5; Enneade 8, Abhandlung, Kapitel 9,
Zeilen 14-22, 31). Plotin kämpft mit dem logischen Widerspruch; was
er meint, kann man mit den Begriffen meiner Mannigfaltigkeitslehre widerspruchsfrei
als absolut unspaltbares Verhältnis ausweisen, sei es vom Typ der
zwiespältigen Mannigfaltigkeit oder auch von dem der numerischen
wie im Fall der Bewußthabe disjunkter Beziehungen (2.4.2 Satz 1).
Diese Innigkeit der geistigen Welt geht nach Plotin durch bloße
Entspannung als schwächende Zerstreuung, ohne Weltschöpfer oder
einen anderen konstruktiven Neuansatz, in die Sinnenwelt über und
dabei doch nicht ganz verloren. Vielmehr bleibt ein ähnlich inniger
Zusammenhang zwischen den in den Körpern überall gegenwärtigen
Seelen bestehen, als gegenseitige Sympathie, mit der Plotin (statt mit
Signalübertragung) die optische Wahrnehmung erklärt. Diese Sympathie
ist so etwas wie die Verschränkung, die nach der neuesten Quantenphysik,
die sich damit dem Weltbild Plotins nähert, jede Signalübertragung
- die grundlegende physische Beziehung gemäß der Relativitätstheorie
- überholt. Mit dieser Konzeption unterläuft Plotin, und mit
ihm die Gefolgschaft der an ihn anschließenden heidnischen Neuplatoniker,
ebenso die Welt- und Menschspaltung wie den Konstellationismus. Keine
Philosophenschule vor Hegel steht dem Platonismus so fern wie der antike
heidnische Neuplatonismus. Es ist ein Treppenwitz der Philosophengeschichte,
daß gerade die Denker, die Platon mehr als andere beinahe vergöttern
und als unumstößliche Autorität ausgeben, mit der Konzeption
ihrer Philosophie radikal von Platon abweichen und aus der von ihm gelegten
Schiene des traditionellen abendländischen Denkens ausbrechen.
(Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 325-326).
Plotin stellt an die Spitze seines Lehrgebäudes das Eine,
das er aber sehr zwiespältig behandelt. Einerseits sucht er, als
asketischer Mystiker, es von allen Bestimmtheiten - sogar von der, auch
nur Eines zu sein - zu reinigen, andererseits experimentiert er mehrfach
mit der Annäherung des Einen an das Viele, etwa mit dem Gedanken:
Wir können nicht alles mit einem Schlag als das Eine, das alles ist,
fassen, sondern müssen Stücke herausheben und das Einzelne dem
Ganzen entgegensetzen, obwohl diese Zerlegung künstlich ist und sich
beim Blick auf die wahre Natur der Sache nicht halten läßt;
nur durch diese Beschränktheit unseres Begreifens entsteht die Alternative
von Immanenz und Transzendenz. In dieser Richtung hat der späteste
heidnische Neuplatonist, Damaskios, weitergedacht und das prä-immanente
Eine, wie ich mich ausgedrückt habe, ins Auge gefaßt, das Eine,
das in der Form völliger Einfachheit alles ist, dem wir uns aber
nur von ferne ahnend nähern können, während es uns beim
Versuch gedanklichen Zugriffs entgeht. Diese Konzeption wandert ins westkirchliche
Christentum wie ein Fremdkörper mit Johannes Scotus Eriugena ein,
der das Verhältnis Gottes mit den Dingen (seienden und sogar nichtseienden)
sowie das als Leben gefaßte Verhältnis der Universalien (Gattungen
und Arten) zu den Individuen in dieser Weise versteht, aber ohne die erkenntnistheoretische
Resignation des Damaskios: Der christliche Gott, wie Pseudo-Dionys - eine
maßgebliche Autorität für Johannes - ihn zeichnet, ist
so mächtig, daß der Denker mit Bezug auf ihn sogar den logischen
Widerspruch wagen darf, weil er darauf vertraut, daß Gott nicht
einmal vor diesem kapituliert, sondern durch seine Kraft, Widersprüche
auszuhalten, nur noch mehr erhoben wird. Später hat Nikolaus von
Kues diesen Faden aufgenommen. Auf dem anderen, gleichsam rechten, Flügel
des heidnischen Neuplatonismus errichtet Proklos ein von solchem Zwiespalt
freies konsolidiertes Schichtensystem des Abstiegs vom Einen, wobei aber
immer nur das Untere vom Oberen abfällt, während das Obere in
seinem Hervorgang (Prohodos) trotz seines Beharrens in sich dem Unteren
immer gegenwärtig bleibt. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick
auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 326-327).
Das christliche Jahrtausend
Jesus, ein junger Handwerkersohn aus Nazareth, wurde von der Idee
überwältigt, das Reich Gottes sei gerade im Kommen, in Gestalt
eines furchtbaren Gerichtes über alle Menschen, bei dem die meisten
umgebracht oder mit schweren Strafen belegt, einige Auserwählte aber
verschont und belohnt würden; er fühlte sich berufen, diese
Auserwählten um sich zu sammeln, und durchzog daher als Landprediger,
Anhänger sammelnd, die umgebung. Als den Kern seiner Botschaft verkündete
er, alle etablierten Schranken zwischen Menschen, namentlich die sozialen
Schichten und Geltungsunterschiede, seien vor der Wucht des Bevorstehenden
zunichte geworden, es komme nur noch auf die unmittelbare Nähe von
Mensch zu Mensch, die büßende Vorbereitung auf das Gericht
und die Anerkennung seiner Vorreiterrolle an. Nachdem er eine stattliche
Schar gesammelt hatte, zog er nach Jerusalem, um dort der Ankunft des
Gottesreiches den letzten Anstoß zu geben. Zu diesem Zweck wurde
ein ungeschickter Aufstand angezettelt, den die Römer mit leichter
Hand niederschlugen; anschließend ließen sie, mit Billigung
der jüdischen Priesterschaft, den Anführer Jesus hinrichten.
Die von diesem ins Leben gerufene Bewegung kam dadurch aber nicht zum
Stillstand, weil der tote Jesus von einzelnen seiner Anhänger, auch
in einer Gruppe, und sogar in einer Massenvision von 500 Teilnehmern gesehen
wurde. (Vgl. Paulus, Korinther, 15, 5-8). Daraus entsprang die
ätiologische Legende, der Gekreuzigte müsse aus dem Grab auferstanden
sein. In Paulus fand diese Legende, zusammen mit der Ankündigung
des unmittelbar bevorstehenden Gottesgerichtes mit Erlösung der Gemeinde
der Auserwählten, eine so gewaltig in die Breite wirkende Stimme,
daß die Flamme des christlichen Glaubens nicht mehr zu löschen
war. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 328).
Dies scheint mir, bei aller Unsicherheit über das Geschehen
in den ersten Jahrzehnten nach dem Auftreten Jesu, die wahrscheinlichste
Erzählung vom Ursprung des Christentums zu sein. Jedenfalls paßt
dazu das Jesusbild der synoptischen Evangelien. (Vgl. Hermann Schmitz,
Adolf Hitler in der Geschichte, 1999, S. 115-118: Der synoptische
Jesus). Sie präsentieren Jesus als einen rücksichtslos entschlossenen
Fanatiker, der alle Schranken und Bindungen zwischen den Menschen niederreißt,
um diese mit gleichsam nackt gewordener Mitmenschlichkeit der drohenden
Katastrophe zuzuwenden, in der selbst die Erwählten nichts mehr als
ohnmächtige Knechte Gottes sind. Man darf die spontane Nächstheit
von Mensch zu Mensch, die dabei gefordert wird, nicht mit Liebe verwechseln.
Die Ausdrücke für Liebe (agape) und Lieben (agapan) kommen bei
den Synoptikern nur spärlich vor, fast nur bei Wiederholung der alttestamentarischen
Forderung, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Die Gebote
der Liebe zum Widersacher und des Abwehrverzichts sind Paradoxe prägnanter
Entkräftung der hergebrachten Rollen von Freund und Feind (wie sämtlicher
anderer hergebrachter Rollen) und so wenig Zeugnisse dauerhafter Liebe,
daß die geliebten Widersacher dem unmittelbar bevorstehenden Gotteszorn
im Endgericht preisgegeben werden. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter
verdreht Jesus die Fragestellung, wer der Nächste sei, den man laut
jüdischem Gesetz lieben soll. Hier ist es ein unglückliches
Unfallopfer. Jesus dreht die Frage so, daß als Nächster nicht
dieser prämiiert wird, sondern der Nothelfer, der frei von dem Hochmut
jüdischer Rollenträger ist, die zuvor die Hilfeleistung unterlassen
hatten. Es geht also nicht mehr um die Liebe, sondern um das Nächster-sein.
Die Botschaft des Gleichnisses ist: Sei spontan, lasse alle Vorurteile
außer Acht, geh unmittelbar auf den Mitmenschen zu. Das ist die
Stimmung der Mobilmachung zum Aufbruch in das anbrechende Gottesreich.
(Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 328-329).
Etwa fünfzig Jahre nach den Synoptikern haben vernünftige
Männer in Ephesus den Kopf geschüttelt über so viel Aufregung,
nachdem man von der angekündigten Katastrophe nichts gemerkt hatte,
dafür aber der Einfluß der Gnostiker für weitere Verwirrung
sorgte. Sie beschlossen, die Botschaft Jesu so darzustellen, wie sie in
milderem, abgeklärtem Licht erschien, und zwar - nach der im Altertum
beliebten pseudepigraphischen Methode - durch den Mund von Jesus selbst,
und erfanden das Johannesevangelium, in das sie eine Sammlung von wundertaten
Jesu einflochten, um die Autorität seiner Verkündigung zu stärken.
So entstand die Figur des johanneischen Jesus (*)
und eine Verkündigung, die mit der in den synoptischen Evangelien
wenig gemein hat. (* Vgl. Hermann Schmitz,
Adolf Hitler in der Geschichte, 1999, S. 118-121: Der johanneische
Jesus). In ihrem Mittelpunkt steht die Liebe, aber wohl gemerkt -
in allen johanneischen Schriften, auch im 1. Johannesbrief - immer nur
im Kreis der Genossen in der Gemeinde, der Aristokraten der Auserwählung.
Sie können mit Freimut vor Gott zum Gericht antreten, weil dieses
sie gar nicht betrifft, sondern nur die Verkündigung einer Entscheidung
ist, die die Ungläubigen selbst durch ihren Unglauben getroffen haben.
Die Gläubigen aber sind nicht ohnmächtige Knechte, sondern Freie
mit der Macht, Kinder Gottes zu werden, indem sie den Erlöser Jesus
durch ihr Bekenntnis zu ihm aufnehmen. Dieser ist auch nicht mehr der
fanatische Vorkämpfer, der seinen Rang herausstellt, sondern gibt
sich als Apostel aus, den Gott der Vater, der größer als er
sei, gesandt habe. Während Jesus in den synoptischen Evangelien als
leidenschaftlicher, lebendiger, facettenreicher Mensch hervortritt, ist
er bei Johannes abstrakter gezeichnet, als literarische Figur, die eindringlich
schöne Grundsätze verbreitet und merkwürdige Wunder tut.
(Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 329-330).
Das Christentum der Westkirche (auf dem Boden des weströmischen
Reiches, erweitert durch die Germanen) orientiert sich hauptsächlich
an den synoptischen Evangelien, während im Osten die Tradition der
johanneischen Schriften herrscht und das dort schon heimische Motiv der
Vieleinigkeit und wechselseitigen Durchdringung mit der entsprechenden
neuplatonischen Spekulation vereinigt. In Adolf Hitler in der Geschichte
habe ich beide Entwicklungslinien verfolgt; hier beschränke ich mich
auf den westkirchlichen Raum. In ihm beherrscht während eines knappen
Jahrtausends, das ich deswegen das »christliche Jahrtausend«
nenne, (von 312 - 1303, vom Edikt von Mailand bis zum Sturz des Papstes
Bonifaz des Achten) das Christentum vollkommen die Geister und Gemüter
und vollbringt an ihnen seine Erziehungsarbeit. Diese umfaßt zwar
auch wohltätige Hilfe in der Not im Zeichen christlicher Nächstenliebe,
aber ohne vollen Erfolg, da die Christen ebenso mit äußerster
Brutalität vorgehen. Viel durchschlagender und auf die Dauer einflußreicher
ist eine andere Prägung der Menschen durch das Christentum: die Bindung
des affektiven Betroffenseins an das zentrale Thema der Macht (zunächst
Gottes) mit dem Köder des Interesses des Individuums am eigenen Glück
oder Unglück in einem transzendenten Weiterleben nach dem Tode. Es
gibt wohl keine andere Religion, die das private Glücksinteresse
des Einzelnen, sein Verlangen nach ewiger Seligkeit und seine Furcht vor
ewigen Höllenstrafen, so sehr in den Vordergrund ihrer Verkündigung
gestellt hätte wie die christliche. Die Befriedigung dieses Interesses
hängt nach christlicher Lehre ganz und gar von der Gunst oder Ungunst
des allmächtigen Machthabers Gott ab. Dadurch rückt diese Macht
zum zentralen Thema des affektiven Betroffenseins auf. Macht war für
dieses auch schon vorher ein wichtiges Thema, aber neben anderen Themen
wie Ehre und Ansehen, Familie, Liebe und Freundschaft, Alter, Krankheit
und Tod. Alle diese anderen Themen treten nun unter das zentrale Interesse
an Gottes Macht und Gunst, da von dieser Unterordnung alles für das
zentrale Interesse an transzendenter Befriedigung abhängt. Augustinus,
der maßgebende Wegweiser ins christliche Jahrtausend, verspricht
den Gläubigen einen bequemen Heilshandel auf Grund eines Sonderangebotes
Gottes mit kurzer Laufzeit: Für ein paar Pfennige, in Gestalt eines
gottgefälligen Lebenswandels auf Erden, können sie den unermeßlichen
Schatz ewiger Seligkeit erwerben. Anders als die Erziehung zur Nächstenliebe
wurde die Erziehung zur Bindung des affektiven Betroffenseins an die Macht
ein nachhaltig durchschlagender Erfolg des christlichen Jahrtausends;
er hat die Lösung von Gott überstanden und wirkt bis heute auf
die Begeisterung im »baconischen Zeitalter« für technischen
Fortschritt der Naturbeherrschung nach. Dieser Erfolg hat die Kräfte
mobilisiert, aktivierend durch die Alarmstimmung, die sich durch die Sorge
für das bedrohte eigene Seelenheil mit der Unterwerfung unter die
Macht Gottes verband. Im Islam ist diese Unterwerfung mindestens ebenso
stark ausgeprägt, hat aber keine aktivierende Wirkung, weil sie sich
mit dem Fatalismus verbindet, daß alles ohnehin so kommt, wie Gott
will. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 330-332).
Leitfigur und Protagonist des christlichen Jahrtausends ist Augustinus;
deswegen wird es genügen, dessen Geist und Tendenz aus seinen Schriften
herauszulesen. (Ich stütze mich hier auf meine Darstellung in: Der
Weg der europäischen Philosophie, Band II, 2007, S. 36-52. Dort
sind die Belegstellen angegeben, die ich hier weglasse.) Augustinus ist
radikaler Eudämonist. Alle wollen glücklich sein. Nichts als
Glück ist das Ziel des menschlichen Lebens, ihm sind alle speziellen
Willensregungen untergeordnet. Die Guten sind selbstverständlich
nur deshalb gut, die Christen nur deshalb Christen, weil sie ein glückliches
Leben erstreben. Glück ist Privatsache. »Durch das Glück
eines anderen Menschen wird keiner glücklich.« (Augustinus,
De libero arbitrio, II, 52 [19]: Beatudine autem hominis non fit
alter beatus. Leibniz dachte anders, als er definierte: »Lieben
ist seine Lust in eines andern Glückseligkeit suchen«. (Philosophische
Schriften, VII, S. 75, Erklärung einger Worte.) Jeder soll auf
eigene Faust sein Glück bei Gott suchen und den Mitmenschen anspornen,
gleiches zu tun; das ist nach Augustinus der Sinn des Gebots: »Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst.« Notwendig und zureichend
für Glück ist der Genuß der Gegenwart Gottes mit Lust
und Freude. Nur Gott dürfen wir genießen, als das, was wir
um seiner selbst willen lieben, weil es uns glücklich macht; alles
andere dürfen wir nur benutzen. Diese Begründung ist freilich
widersprüchlich, weil hiernach nicht Gott unser Glück ist, das
wir um seiner selbst willen suchen, sondern der Genuß der Gegenwart
Gottes, Gott selbst aber nur, was uns glücklich macht, also Mittel
zum Zweck dessen, was wir um seiner selbst willen suchen; auch Gott wird
von Augustinus nur benützt. Nur der Umweg über Gott unterscheidet
dieses Glücksideal von dem der Yankees, vom Glück im allgemeinen,
das die amerikanische Verfassung als Menschenrecht (»pursuit of
happiness«) freigibt. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick
auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 332-333).
Ruckartig und endgültig wendet sich Augustinus von der noch
kurz vorher vertretenen und seither verworfenen Lehre, daß Glauben
und Wollen eigene Leistung des Menschen ist und nur das Vollbringen bei
Gott steht, 396 zur Gnadenwahl in dem Sinn, daß Gott aus der durch
die Erbsünde verdammten Masse der Menschen Einzelne zur Besserung
aussiebt, andere aber nur zu dem Zweck erschafft, sie zu den äußersten
Strafen zu bestimmen, damit die Geretteten erkennen, was ihnen ohne Gottes
Barmherzigkeit geblüht hätte, und das Entsetzen ihnen den Mund
stopft. Diese Prädestinations-Reprobationslehre ist in der Kirche
umstritten geblieben, aber von Thomas von Aquino, dem maßgebenden
Kirchenlehrer, im Grundsatz übernommen worden. Man könnte vermuten,
daß solche Vorherbestimmung des transzendenten Schicksals die Aktivität
lähmen würde. Das ist für Augustinus keineswegs der Fall.
Die Aussicht, daß bei weitem die meisten zu den Verworfenen gehören,
wirkt abschreckend und alarmierend. Das Schicksal eines Menschen für
die Ewigkeit richtet sich nach seinem Zustand am Tag seines Todes: Ein
liederlich verlebter Sterbetag löscht alle Heilsanwartschaft eines
ganzen Tugendlebens aus. Daher muß der Christ stets gut wachsam
und vorbereitet sein. Die kleinteilige Zerlegung der täglichen Lebensgeschichte
durch mißtrauische Bewachung der eigenen unwillkürlichen Regungen
- besonders auf geschlechtlichem Gebiet - ist durch Augustinus im westkirchlichen
Christentum durchgesetzt worden. Die Tendenz der Selbstermächtigung
gegen die unwillkürlichen Regungen, die schon im klassischen Altertum
die Welt- und Menschspaltung motivierte (3.1) und den hellenistischen
Philosophenschulen die Richtlinie gab, wird auf diese Weise vom Christentum
nicht nur gewaltig verdichtet und verschärft, sondern auch ausgeweitet,
da sie bei den Alten nur für die gebildete Oberschicht den Maßstab
abgab, nun aber für alle Menschen als Christen verbindlich wurde.
Zudem wird dabei das affektive Betroffensein zu nachhaltiger Verschüchterung
herausgefordert, weil wir nach Augustinus mit Furcht und Zittern an unserer
Erlösung arbeiten sollen, da es Gott Freude mache, in der Senke der
Zerknirschung Ruinen aufzurichten. Augustinus vergleicht diese Furcht
vor dem doch geliebten Gott mit der Furcht einer züchtigen Ehefrau,
die ihren Mann liebt, aber fürchtet, von ihm verlassen zu werden,
und daher auf eigenes Wohlverhalten achtet. (Hermann F.-H. Schmitz,
Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 333-334).
Augustinus steht zwischen den Zeiten. Während er, rückwärtig
gewandt, mit dem christlichen Jahrtausend in seinem Gefolge den antiken
Anspruch auf Selbstbeherrschung gegen die unwillkürlichen Regungen
intensiv und extensiv verschärft, arbeitet er andererseits durch
die scharfe Unterscheidung zwischen Benützen und Genießen der
modernen technischen Gesinnung vor, die darauf ausgeht, alles für
das Belieben der Menschen nutzbar zu machen. Nur Gott ist zu lieben; die
ganze Welt mit allem, was es darin an Sinnendingen gibt, ist zu verachten,
aber für die Notdurft dieses Lebens zu benützen, als ob man
sie nicht benützte, d. h. lieblos und gleichgültig. Der Körper
wird auf diese Weise zur bloßen Maschine, deren Aufgabe es ist,
dem Willen zu gehorchen, da die Gerechtigkeit nach Augustinus darin besteht,
daß Gott dem Menschen, der Geist dem Körper und die Vernunft
den Fehlern befiehlt. Dagegen vergeht sich der Körper namentlich
dann, wenn das männliche Geschlechtsteil einmal nicht dem Willen
gehorcht, der zur Aktion anzusetzen vorgekommen sein sollte, würde
Augustinus ihm die sonst so verpönte Wollust bei der Zeugung gönnen.
(Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 334-335).
Im Verhältnis der Menschen zueinander führt das einseitig
eudämonistische Privatverhältnis zu Gott - Gehorsam als Weg
zum Glück - zur Isolierung und Uniformierung der Individuen. Wer
zu den Prädestinierten gehört, ist auf Erden nicht zu erkennen.
Der Wille eines Menschen ist für den anderen undurchschaubar. Das
einhellige Streben der Urchristen, die »ein Herz und eine Seele«
waren (vgl. Apostelgeschichte, 4, 32), wird atomisiert. Deren Erkennungsmerkmal,
zur verfolgten Gemeinschaft der Auserwählten inmitten der bösen
Welt zu gehören, ist durch die Ausbreitung des Christentums auf alle
unbrauchbar geworden. Die isolierten Einzelchristen können nur noch
durch Uniformierung im Verband der Kirche zusammengehalten werden. Jede
Privilegierung intimer Beziehungen wird verpönt. Die Mutter soll
jede spezielle Liebe zu ihren Kindern in sich abtöten, und entsprechendes
gilt für alle anderen Verwandtschaftsbeziehungen. Was gehen einen
dann noch die Tränen der Mütter, der Tod der Magd und die Krankheit
des Bruders an? Die ordnungsgemäße Liebe verlangt, sich über
so etwas mit dem Entschluß hinwegzusetzen, den Armen das Evangelium
zu predigen. Der gute Christ darf in seiner Frau nur die Kreatur Gottes
lieben, die er im christlichen Sinn zu reformieren hat; als Ehefrau soll
er sie hassen, nicht aber den Menschen, der sie ist. Die so des Intimen
ledige Zuwendung wird zur allgemeinen Menschenliebe, allerdings durchkreuzt
durch die grausame Einsicht, daß nur wenige zur Heiligkeit auserwählt,
die Meisten aber von Gott verworfen sind und dann die Bestimmung haben,
lieblos zur Förderung des Glücks der Erwählten benützt
zu werden. Eine weitere Einschränkung besteht darin, daß die
Liebe nicht dem Menschen gilt, wie er ist, sondern so, wie du willst,
daß er sei - nämlich ein durch und durch frommer Christ.
(Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 335).
Wie Augustinus am Anfang des christlichen Jahrtausends, steht
Meister Eckhart an dessen Ende, der Zeit und der vollendung nach, als
der Antipode Augustins, der in den Zitaten und Anspielungen seiner Predigten
öfter vorkommt als jeder andere »Meister«. Augustinus
verzettelt sich im ohnmächtigen Erschrecken vor der unberechenbaren
Macht Gottes mit tiefster Ergebenheit gegen diesen; Eckhart entdeckt ein
Verfahren, durch Radikalisierung der augustinischen Demut Gottes mächtig
zu werden und eine Selbstsicherheit zu erlangen, die der kleinteiligen
mißtrauischen Selbstbeobachtung von Fehltritten auf dem Weg zum
Glück bei Gott enthoben ist. (Ich stütze mich hier auf meine
Eckhart-Darstellung [Der Weg der europäischen Philosophie,
Band II, S. 155-171], wo auch die Belegstellen zu finden sind, und verweise
außedem auf die etwas ältere Darstellung in: Adolf Hitler
in der Geschichte, 1999, S. 161-178.) Als Dominikaner folgt Eckhart
der Gottesidee seines prominentesten Ordensgenossen, des Thomas von Aquino,
der Gott als das an sich bestehende Sein selbst (ipsum esse subsistens)
bestimmt hatte, mit der These: »Gott ist das Sein.« Er versteht
das Sein, anders als Thomas als Existenz, im Sinn der Antwort auf die
Frage, ob etwas ist. Das bei Thomas rätselhaft bleibende Problem,
wie noch etwas außer Gott sein kann, wenn Gott das Sein selbst ist,
löst Eckhart, indem er den Dingen außer Gott ein vollständiges
Sein abspricht und nur ein Sein zubilligt, das ewig im Anfang ist (wie
das Wort nach dem Johannesprolog), als Übergang des Seins in die
Dinge im Sinne einer immer erst werdenden Geburt Gottes in ihnen, gleichsam
einer gefrorenen Geburt, wie Damaskios sich ausdrückt. In diesem
Sinn ist die Existenz aber allen seienden Dingen gemein: Gott muß
sich in sie alle ergießen, er gibt allen Dingen gleich. Für
die Gnade Gottes, an der Augustinus hing, ist dann kein Platz mehr. »Gott
ist nicht zu bitten, daß er uns das Licht seiner Gnade einflöße
oder irgend etwas dergleichen, sondern dies ist zu erbitten, daß
wir würdig seien anzunehmen. Gott gibt immer oder nie, allen oder
keinem.« Das ist seine Gerechtigkeit im Sinne völliger Ausgeglichenheit,
die Seinsweise Gottes und zugleich die Tugend des Menschen, der sich durch
völlige Passivität, Gelassenheit und Abgeschiedenheit von jedem
bevorzugendem Eigeninteresse, wie dem Augustins am eigenen Glück
des Gott-genießens, dem Einfluß Gottes öffnet. Der Gerechte
nimmt Gott gefangen; er zieht ihn wie eine ausgeleerte Saugpumpe in sich
hinein, er nötigt Gott, sich in ihn zu ergießen. Eckhart versteht
diese Selbstpreisgabe als den Gipfel der Demut, der Tugend Augustins:
»Der wahrhaft demütige Mensch braucht Gott nicht zu bitten,
er kann Gott gebieten. Die Höhe der Gottheit hat es auf nichts abgesehen
als auf die Tiefe der Demut.« »Dieser demütige Mensch
ist Gottes so gewaltig, wie er seiner selbst gewaltig ist.« Die
Macht, an die das Christentum das affektive Betroffensein gebunden hat,
ist bei Eckhart reif geworden zur Übertragung von Gott auf den Menschen,
also zur Ablösung von ihrem jeweiligen Träger. Damit hat das
Christentum seinen Dienst für die es beerbende Folgezeit getan, aber
erst in theologischer Spekulation; die Anwendung auf die Praxis, mit Hilfe
von Naturwissenschaft und Technik, folgt erst drei Jahrhunderte später.
Meister Eckharts Rezept - Machtergreifung durch Unterwerfung und Angleichung
- kehrt in säkularisierter Form wieder in dem Losungswort, das Francis
Bacon dem naturwissenschaftlich-technischen Zeitalter auf den Weg gibt:
natura non nisi parendo vincitur, »Die Natur läßt sich
nur durch Gehorchen besiegen.« (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick
auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 335-337).
Der Wille des Gerechten reicht sogar an die Allmacht heran. »Mit
dem Willen vermag ich alles.« Das behauptet Eckhart schon in den
frühen Reden der Unterweisung. Der Gerechte darf auch alles,
sogar wüten wie das Feuer, da ihn nur das allgemeine Interesse, nicht
ein Partikularinteresse oder gar ein Eigeninteresse, bewegt. Seine Gerechtigkeit
ist eine Gleichgültigkeit, die sich von der Gleichgültigkeit
im üblichen Sinn, der aus Interesselosigkeit, nur durch das Interesse
an eben dieser Gleichgültigkeit unterscheidet. Sie schließt
die allgemeine Menschenliebe (ohne jede Bevorzugung) ein, aber nicht die
bei Augustinus die Dominanz des privaten Glücksstrebens kompensierende
Uniformierung. Eckhart wendet sich immer nur an den Einzelnen und seine
Vernunft. Mit Augustinus teilt er aber die Ablehnung aller speziellen
intimen Bindungen in gemeinsamen Situationen, die als Motive der Bevorzugung
von der Gerechtigkeit abführen würden. (Hermann F.-H.
Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 337-338).
Die Botschaft Eckharts hat trotz ihrer exzentrischen Züge
und der päpstlichen Zensur, die nicht auf sich warten ließ,
gleich und in der Folgezeit stark ausgestrahlt, gerade auch mit dem Motiv
des Machtgewinnens durch Selbstpreisgabe mit Resignation auf Eigeninteresse,
so bei Johannes von Sterngassen, in Taulers Predigten und dem Buch von
der Nachfolge Christi (Imitatio Christi, angeblich das »nach
der Bibel gelesenste Buch der Welt«, Thomas von Kempen wohl irrig
zugeschrieben [vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte,
1999, S. 172-174]): Diese Resonanz, zeigt, daß Eckhart mit seinem
Entwurf der Machtübernahme von Gott, die aber Gott mitnimmt und sich
nicht von ihm ablöst, einen Nerv der Zeit getroffen hat. Merkwürdig
ist aber, daß zwei Jahrhunderte später, als die protestantische
Reformationsbewegung die Bindung des affektiven Betroffenseins an die
Allmacht Gottes als zentrales religiöses Motiv wieder aufnimmt, das
Motiv der Machtergreifung durch Selbstentäußerung keine Rolle
mehr spielt; dieses Motiv wandert vielmehr in die Anfänge der naturwissenschaftlich-technischen
Weltanschauung im folgenden 17. Jahrhunderts hinüber. Luther und
Calvin stellen sich dagegen der Herausforderung durch Gottes Allmacht
mit einer unverblümten, rücksichtslosen Offenheit, die dem christlichen
Jahrtausend und seinem Vordenker Augustinus fernlag. Calvin ist der erste
Christ, der die vorhin bei Augustinus bemerkte (und für das christliche
Jahrtausend leitmotivische) Widersprüchlichkeit (oder gar Lebenslüge)
aller religiösen Zielsetzung konsequent vermeidet: daß angeblich
Gott als höchstes Ziel gesucht und geliebt wird, eigentlich aber
das eigene Glück durch lustvolle Gegenwart bei Gott, so, daß
dieser doch nur Mittel zum Zweck ist. Mit den düstersten Farben malt
Calvin die unberechenbare, Prädestination und Reprobation einschließende
Allmacht Gottes aus und verbietet zugleich jede Reflexion des Einzelnen
darauf, was seine bedingungslose Unterworfenheit unter diese Allmacht
für sein Glück oder Unglück bedeutet, zu Gunsten des unbedingten
Einsatzes für die Sache und den Ruhm Gottes in der Welt. Von dieser
radikalen Entschiedenheit unterscheidet sich Luthers Frömmigkeit
durch eine ambivalente Unruhe, die sich der einförmigen Schienung
entzieht und für Zweifel und Anfechtungen offen ist. Luthers Glaube
hat dadurch moderne, quasi existenzialistische Züge, als ein Kierkegaard'scher
Sprung, eine extremer Skrupulosität und Verdammungsangst abgewonnene
paradoxe Mutprobe des Vertrauens auf die Gnade eines Gottes, der von sich
aus keinen zureichenden Grund für dieses Vertrauen liefert. Eine
entfernte Ähnlichkeit mit Eckharts Machtbewußtsein hat Luthers
Bauen auf eine Gebetsmacht, die kraft der von Gott versprochenen Erfüllung
der Gebetswünsche Wunderwerke zu vollbringen und alles möglich
zu machen vermöge, doch fehlt ihm die mittelalterliche Selbstsicherheit
Eckharts und die Unumstößlichkeit des Glaubens so sehr, daß
er sogar mit der Anfechtung zu kämpfen hat, daß Gott mit seinen
Verheißungen lügen könnte. (Hermann F.-H. Schmitz,
Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 338-339).
Dies genüge zur Theologiegeschichte des christlichen Jahrtausends.
In der Philosophiegeschichte scheint mir der wichtigste Ertrag dieses
Zeitalters in der konsequenten Abwendung von der neuplatonischen Vieleinigkeit
zum Singularismus und Konstellationismus zu bestehen. Dieser Prozeß
ist größtenteils eingewickelt in die scholastischen Erörterungen
zum Universalienproblem, hängt aber auch mit dem Verständnis
der Einheit zusammen. Aristoteles hatte das Eine ausdrücklich als
das ungeteilte oder Unteilbare (adihaireton) ausgegeben, also als das
Einfache oder Zusammengesetzte (mit starker Bindung wie beim lebendigen
Organismus, im Gegensatz zum zusammengewürfelten Haufen), versteht
darunter aber unterschiedslos das analytisch Eine (was Fall einer Gattung
ist) und das numerisch Eine (was einzelner Fall einer Gattung ist). Die
Scholastiker übernahmen dieses Bedeutungsgeflecht zusammen mit dem
aristotelischen Grundsatz, daß Seiendes und Eines gleichen Umfang
haben (austauschbar sind). Diese Identifizierung führte faktisch
zur Beschlagnahme des Seienden für das numerisch Eine, das Einzelne
und das numerische Mannigfaltige mit lauter einzelnen Inhalten, also zum
Singularismus, aber auch zur Degradation des Vielen, das als Geteiltes
nur mit Schwierigkeit beim Seienden als dem Einen und Ungeteilten unterkam.
(Vgl. Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, 1994,
S. 31-40; Hermann Schmitz, Selbst sein - Über Identität,
Subjektivität und Personalität, 2015, S. 18-20.) Solches
Vieles konnte sich als anerkannt Seiendes höchstens als vieles Eines,
also nur als numerisches Mannigfaltiges, behaupten. Das wirkte sich auf
das Universalienproblem aus. Dessen neuplatonische Version stand den Scholastikern
im Werk des Johannes Scotus Eriugena vor Augen. Dieser deutete das Leben
als die Vieleinigkeit des Allgemeinen und Individuellen, ihre wechselseitige
Durchdringung und ihr Aufgehen ineinander. Begrifflich genauer handelt
es sich nach meiner Deutung (5.1) um ein unspaltbares Verhältnis
in zwiespältiger oder numerischer Mannigfaltigkeit. Daran haben die
Scholastiker aber nicht angeknüpft, sondern an Boethius. (Zum folgenden
vgl. von mir: Der Weg der europäischen Philosophie, Band II,
2007, S. 53-86: Das Universalienproblem.) Dieser hatte in seinem
zweiten Kommentar zur Einführung des Porphyrios in die Kategorienschrift
des (Pseudo-) Aristoteles die Universalien zu bloßen von den Dingen
abgezogenen Gedankenbildungen herabgestuft, mit der Begründung, daß
etwas nur als Eines Seiendes sein könne, aber nicht zugleich Eines
und mehreren Dingen gemeinsam oder in diesen. Darauf fußt im 12.
Jahrhundert Petrus Abaelardus, um den Universalien das Sein abzusprechen.
Daß keine Sache universal sei, beweist er, Boethius folgend, so:
Alles, was ein Eines ist, ist ein Eines der Zahl nach, d. h. diskret in
eigener Wesenheit (discretum in propria essentia), aber Gattungen und
Arten, die mehreren Sachen gemeinsam sein müssen, können nicht
der Zahl nach Eines und also überhaupt nicht Eines sein, also - nach
dem aristotelisch-scholastischen Axiom - auch nicht Seiendes. Die Reduktion
des Seienden auf das numerisch Eine, das Einzelne,und des Mannigfaltigen
auf numerische Mannigfaltigkeit wird hier axiomatisch vorausgesetzt, und
damit wird dem heidnischen Neuplatonismus die Tür zugeschlagen; denn
nach neuplatonischer Lehre ist alles seiend und selbst nur durch innigen
Zusammenhang eines in Beziehungen nicht spaltbaren Verhältnisses
und verliert sich, wenn auch nur allmählich, selbst, wenn es diesen
Zusammenhang verläßt, wie Plotin sagt: »Alles, was auseinandertritt,
setzt sich von sich selbst ab« (Enneaden, V 8 [31], 1, 27
f.). (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 339-341).
Diese Argumentation auf der Grundlage eines fraglos vorausgesetzten
Singularismus ist der Kerngedanke der gemeinscholastischen - von Thomas
von Aquino und Duns Scotus geteilten - Ablehnung der Universalien; daneben
finden sich Begriffsverwirrungen, wie die von asymmetrischen (Subsumtion)
und symmetrischen (Identität) Beziehungen und Fehlschlüsse,
die sich aus der Abwesenheit des unbestimmten Artikels im Lateinischen
ergeben. (Etwa so: Socrates est homo, homo est universale, ergo Socrates
est universale. Diese Logik soll nur durch Elimination der Universalien
zu heilen sien. Hätte man Deutsch gesprochen und gesagt, Sokrates
ist ein Mensch, ein Mensch ist ein Universale, hätte man den
Fehler sofort gemerkt. Siger von Brabant und Thomas von Aquino merken
ihn nicht.). Thomas von Aquino formuliert den nicht formal fehlerhaften
Kerngedanken so: »Wenn dem Menschen seinem Begriff nach Gemeinsamkeit
zukäme, dann würde in jeder Sache, in der Menschheit angetroffen
wird, auch Gemeinsamkeit angetroffen, und das ist falsch, weil in Sokrates
überhaupt keine Gemeinsamkeit angetroffen wird, sondern, was auch
immer in ihm ist, individuiert ist.« Das ist derselbe Gedanke wie
bei Abaelard, dieselbe axiomatische Absage an den Neuplatonismus, nach
dessen Lehre etwas nur dadurch selbst ist, daß es zugleich gemeinsam
ist. Thomas weicht demgemäß vor der Wirklichkeit der Gattungen
und Arten in eine Repräsentationstheorie aus, wonach ein Bild (similitudo)
in der Seele, ein individueller Gegenstand, viele untereinander ähnliche
individuelle Gegenstände repräsentiert. So in De ente et
essentia, wo er das Universalienproblem thematisch behandelt; in anderen
Schriften stellt er die Art über das Individuum. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 341-342).
Unter den großen Scholastikern ist Johannes Duns
Scotus der einzige, der Verständnis für die nicht-numerischen
Formen der Mannigfaltigkeit aufbringt. (Vgl. Hermann Schmitz, Der Weg
der europäischen Philosophie, Band II, 2007, S. 113-118.)
Damit ist es vorbei, seit Wilhelm von Ockham den bis dahin eher latenten
Singularismus und Konstellationismus der scholastischen Denkweise mit
unerhörter Rigorosität hervorkehrt. (Vgl. Hermann Schmitz, Der
Weg der europäischen Philosophie, Band II, 2007, S. 79-83 und
133-154.) Er bestreitet nicht nur die Universalien (Gattungen und
Arten), sondern auch die Beziehungen, um die Welt in lauter einzelne Gegenstände
aufzulösen. Seine zentrale Botschaft faßt er in dem Satz zusammen:
»Jede Sache, die von jeder anderen Sache wirklich verschieden ist,
ist wahrhaft eine Sache von sich, weil abgezogen ihrer Washeit und ihrem
Wesen nach von jeder anderen Sache; daher gibt es in der Wirklichkeit
nichts außer absoluten Sachen.« Das geht so weit, daß
er auch die Akzidentien, von denen er wenigstens die Qualität noch
gelten läßt, so verabsolutiert, daß sie auch ohne tragende
Substanz (wenn Gott es will) bestehen können, bis zu dem Extrem,
daß Denken und Wollen auch ohne jemanden, der denkt und will, möglich
wären. (Ordinatio, IV, Opera theologica, VII, 155,
15-18.) Wilhelm nimmt hier Lichtenberg (und dessen positivistische Gefolgsleute)
vorweg, der das »cogito« des Descartes verbesserte in: »Es
denkt, so wie man sagt: Es blitzt.« Diese radikale Streichung hat
Konsequenzen, die Wilhelm mit mehr oder weniger Geschick auf vielen Gebieten
durchführt: für die Kausalität, die Bewegung, das Verhältnis
zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, die Weltordnung, das technische
Machen, die Quantität einschließlich der Zahl, das Kontinuum.
Zugleich ist Wilhelm der erste Projektionist, der den nackten einzelnen
Sachen Bestimmungen oder Bedeutungen erst von der Seele oder dem Verstand
durch Benennungen verleihen läßt, sozusagen als Sinngebungen
für das Sinnlose. Der singularistisch - konstellationistische Rigorismus
Wilhelms hat die im späten Mittelalter mächtige Bewegung der
Nominalisten angefacht und der modernen Naturwissenschaft einen tragenden
Pfeiler ihrer naiv vorausgesetzten Ontologie geliefert. Es ist kein Zufall,
daß gleichzeitig mit Wilhelm die ontologisch - logische Kombinatorik,
die den Konstellationismus nur auszuschöpfen sucht, einsetzt, von
Raimundus Lullus bis zur Hochblüte bei Leibniz. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 342-343).
Die Neuzeit
Eine große, nicht enden wollende Diskussion und Literatur
gibt es seit langer Zeit über das Verhältnis von Mittelalter
und Neuzeit, teils über die Epochengrenze, teils über die Abhängigkeit
oder Selbständigkeit des Neuen, ob es sich etwa um eine Säkularisierung
religiöser Formationen oder einen legitimen Neuansatz gehandelt habe.
Ich halte diese Auseinandersetzungen für überflüssiges
Bereden eines Scheinproblems. Es gibt gar keinen Epochenwandel und keinen
Gegensatz zwischen Mittelalter und Neuzeit, sondern verschiedene neuartige
Strömungen oder Bewegungen der Denk- und Lebensweise, die sich überkreuzen.
Mit dem Sturz des Papstes Bonifatius VIII. geht die unbedingte transzendente
Autorität des Christentums zu Ende. Philipp der Schöne von Frankreich
und sein Kreis nehmen sie nicht mehr ernst und unterwerfen sich den Papst
im Exil in Avignon. Meister Eckhart dreht die Ohnmacht der Christen vor
dem allmächtigen Gott um. Wilhelm von Ockham überträgt
das Von-sich-sein (a se), die Auszeichnung Gottes des Vaters in der göttlichen
Trinität, auf alles Seiende einschließlich der Akzidentien
und liefert es in dieser Gleichgültigkeit einem technischen Machen
aus, das nicht mehr wie bei Aristoteles als Handeln nach Leitbildern,
sondern als bloße Umlagerung im Raum, also als Einladung zu beliebigem
Probieren, verstanden wird. (Vgl. Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen
Philosophie, Band II, 2007, S. 144.) Das Triumvirat der drei
Zeitgenossen Philipp - Eckhart - Wilhelm öffnet eine Perspektive,
die sich erst ganz allmählich durchsetzt, besiegelt erst fast fünf
Jahrhunderte später mit der Ablösung des Christentums durch
die Aufklärung in der Führerschaft der öffentlichen Meinung.
Von Anfang an aber tastet sich das Abendland in dieser neuen Perspektive
vor. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 343-344).
Bis zum entscheidenden, alles umwälzenden Neuansatz
in der Neuzeit, dem Beginn des naturwissenschaftlich-technischen, »baconischen«
Zeitalters, vergehen seit dem Sturz Bonifaz VIII. drei Jahrhunderte, die
ich nicht einheitlich zu charakterisieren vermag. Die auffallendsten Neuerungen
in dieser Zeit sind die maritime erdumspannende Expansion, die protestantische
Reformation, die Kultur der Renaissance in Italien und die Wiederkehr
des alten Denkens in typisierten vielsagenden Eindrücken (magia naturalis).
Die maritime Expansion, nahegelegt durch Abschätzungen des Aristoteles
und Eratosthenes, kompensierte die Sperrung der Wege nach dem Osten durch
die Türken. Die protestantische Reformation ist bruchlose Fortsetzung
der Auseinandersetzung mit der Allmacht Gottes, dem zentralen Thema mittelalterlicher
Religiosität; ihr Eigentümliches, die Betonung des individuellen
Weges zu Gott, ist schon in Meister Eckhart ausgeprägt und keineswegs
dessen Privatsache, sondern, wie der große Erfolg seiner Predigten
vor den Beginen zeigt, der Religiosität schon um 1300 angemessen.
Die Kultur der Renaissance in Italien, dem Mittelalter allmählich
entwachsend bis zur kurzen Hochblüte um 1500, ist ein einmaliges,
lokal und zeitlich abgekapseltes Ereignis; Alfred v. Martin hat darauf
hingewiesen, daß bei ihrem Übergang in die gegenreformatorische
Kultur des Barock gesellschaftliche Ideale auftauchen, in denen der Geist
des mittelalterlichen Rittertums wieder durchzubrechen scheint. Die Wiederkehr
der archaischen Abstraktionsbasis des Denkens in typisierten vielsagenden
Eindrücken (statt auf der Grundlage leicht ablesbarer Merkmale),
die ich an Paracelsus studiert habe (*),
setzt eine Unterströmung im Mittelalter fort (**)und
durchbricht den Bogen einer ernüchterten Denkweise, die über
drei Jahrhunderte hinweg Wilhelm von Ockham und Hobbes verbindet. (*
Vgl. Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie,
Band II, 2007, S. 190-210; ** vgl.
Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1990, S.
22 f., Anmerkung 6.) (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf
das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 344-345).
Der Anbruch des baconischen Zeitalters mit dem Ziel der
Naturbeherrschung durch mathematisch-naturwissenschaftliche Kenntnisse
und Maschinentechnik ist keine Neuschöpfung, sondern greift auf antike
und mittelalterliche Vorgaben zurück. Von der Antike erbt er die
psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung.
Der Reduktionismus - die Reinigung der empirischen Außenwelt von
potentiell ergreifenden Mächten mit Ersatz durch privilegierte Merkmalsorten,
die für Experiment und Statistik günstig sind - liefert der
Naturwissenschaft die für sie brauchbare Abstraktionsbasis, während
die Introjektion in die vom Psychologismus bereitgestellten Innenwelten
das für die Naturwissenschaft nicht brauchbare Material in für
sie unwichtigen Nebenschauplätzen unterbringt. Vom christlichen Jahrtausend
übernimmt die Intention auf Naturbeherrschung den Machtinstinkt,
der durch die Bindung des affektiven Betroffenseins an die Macht Gottes
als zentrales Thema ausgebildet wurde. Dazu gehört freilich die Übernahme
der auf Gott projizierten Macht in die eigenen Hände des Menschen,
aber auch sie ist schon mittelalterlich, wie die Figur des Meisters Eckhart
erweist und auch der Mißbrauch nahelegt, den die Verwalter göttlicher
Macht mit der ihnen verliehenen Autorität getrieben hatten, den transzendenten
Machtanspruch ins Menschlich-Allzumenschliche herabziehend. Hätte
Bonifaz VIII. seinen Hochmut und sein Privatinteresse nicht so übertrieben,
würde Philipp der Schöne nicht so leichtes Spiel mit ihm gehabt
haben, und die Beispiele ließen sich häufen. Eine unentbehrliche
mittelalterliche Voraussetzung des baconischen Zeitalters ist ferner der
von Wilhelm von Ockham ausstrahlende Nominalismus mit entschlossener Durchsetzung
eines singularistischen Konstellationismus. Die Welt stellt sich dieser
Deutung wie ein riesiges Netz einzelner Knoten dar, das im Zuge der Naturbeherrschung
dazu bestimmt wird, von den Menschen nach deren Belieben umgeknüpft
zu werden. Daß die Form der Einzelheit nur durch Situationen mit
binnendiffuser Bedeutsamkeit möglich ist, aus denen Bedeutungen (Sachverhalte,
Programme, Probleme) geschöpft werden müssen, damit Gattungen
zur Verfügung stehen, um deren Fall, etwas absolut Identisches, mit
Einzelheit zu bekleiden, fällt dann nicht ins Gewicht und kommt nicht
in den Gesichtskreis. Der Naturwissenschaftler geht mit Konstellationen
um, als könnten sie sich selbständig machen. Allerdings ist
diese in der Relativitätstheorie gipfelnde Denkweise in der Quantenphysik
an ihre Grenze gestoßen. Diese neuartige Disziplin überschreitet
mit ihren theoretischen Konzepten das numerische Mannigfaltige und trifft
auf chaotische Mannigfaltigkeit (Bose-Einstein-Statistik), zwiespältige
Mannigfaltigkeit (Überlagerung von Zuständen) und unspaltbare
Verhältnisse (Verschränkung). Das erregt aber nur Staunen und
Verständnislosigkeit, weil man die verfügbaren Begriffe, die
für widerspruchsfreie Interpretation ausreichten, nicht zur Kenntnis
nimmt. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 345-347).
Eine Schlüsselstellung für die Rezeption der
psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung
im baconischen Zeitalter nimmt Descartes ein. Diese Rezeption setzte,
weil es ihr um die neue Abstraktionsbasis ging, beim Reduktionismus an
und gewann dadurch materialistische Züge (Gassendi, Hobbes). So wäre
sie damals nicht haltbar gewesen, auch schon nicht wegen des fortbestehenden
Einflusses der christlichen Religion. Descartes baute dem Denken eine
Brücke vom bloßen Reduktionismus zum Ganzen der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen
Vergegenständlichung, so daß auch diejenigen, denen es auf
die Seele und deren Beziehung zu Gott ankam, in dem neuen Weltbild auf
ihre Kosten kommen konnten. Das ist seine Leistung für die Integration
der Weltanschauung im baconischen Zeitalter. Sein schroffer Dualismus,
der als philosophische These heute (mit Recht) verschrien ist, war damals
sinnvoll. Schon bei ihm und erst recht in der Folgezeit steigern sich
die Philosophen mit ihrem Innenweltglauben in ein Immanenzdogma hinein,
wonach der Bewußthaber mit den Vertretern von Gegenständen
seiner Außenwelt in seiner Innenwelt allein gelassen und der Verlegenheit
ausgesetzt ist, wie er zu den vertretenen Gegenständen, die er dann
nicht mehr besuchen kann, die Brücke schlagen soll. (Stelelnangaben
zu entsprechenden Zeugnissen von Leibniz, Locke, Hume, Kant und Fichte
bei Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, 1996, S. 91.) Ein Beispiel
von Kant: »Wenn wir äußere Gegenstände für
Dinge an sich gelten lassen, so ist schlechterdings unmöglich zu
begreifen, wie wir zur Erkenntnis ihrer Wirklichkeit außer uns kommen
sollten, indem wir uns bloß auf die Vorstellung stützen, die
in uns ist. Denn man kann doch außer sich nicht empfinden, sondern
nur in sich selbst, und das ganze Selbstbewußtsein liefert daher
nichts, als lediglich unsere eigenen Bestimmungen.« (Immanuel Kant,
Kritik der reinen Vernunft, 1781, A, 378). (Hermann F.-H. Schmitz,
Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 347-348).
Die Verschärfung des Innenweltkonzepts zum Immanenzdogma
wirkt sich in etwas verwickelter Weise in einer Verschärfung des
Konstellationismus aus. Man kann das schon bei Locke beobachten. Der Bewußthaber
wird von den Dingen der Außenwelt zwar mit Ideen gefüttert,
mit diesen im Kabinett seines Geistes aber allein gelassen, so daß
er keine anderen unmittelbaren Gegenstände mehr hat. Dadurch geraten
diese Ideen in eine zweideutige Zwischenstellung: Einerseits sind sie
Ideen von etwas, das erkannt werden sollte, andererseits aber die einzigen
faktisch verfügbaren Gegenstände der Erkenntnis. Die Aufgabe
inhaltlicher Bestimmung des Gegenstandes der Erkenntnis verschiebt sich
daher in die Aufgabe einer dem Zustand des Geistes entsprechenden Zusammensetzung
der Ideen. Das gilt besonders, wenn es sich um Substanzen handelt, die
den Geist mit Ideen beliefern. Die Substanz ist für Locke eine Illusion
aus Unaufmerksamkeit (inadvertency) des Geistes, die dazu verführt,
an die Stelle vieler zu einer Sache verbundener Ideen eine einfache Sache
als deren vermeintlichen Träger zu setzen. So verschiebt sich die
ursprüngliche Aufgabe inhaltlicher Bestimmung eines Gegenstandes
in die Aufgabe, eine Konstellation von Ideen zu finden, die eine Illusion
korrigiert. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 348).
Kant erhebt diese Verschiebung zum Prinzip der Verstandestätigkeit.
Er ersetzt die Bestimmtheit als Fall von etwas, wodurch Einzelheit ermöglicht
wird, durch die Verknüpfung (Synthesis) vieler von vornherein einzelner
Gegenstände, an deren selbstverständlicher Gegebenheit er als
Singularist keinen Zweifel hat: Jede einzelne Vorstellung wäre »der
anderen ganz fremd, gleichsam isoliert, und von dieser getrennt«
ohne Spontaneität der Synthesis (*)
des Verstandes, dessen Denken aber nicht selbst im Erkennen besteht, sondern
das Verbinden und Ordnen des gegebenen Stoffes ist (**).
(* Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen
Vernunft, 1781, A, 97; ** vgl. Immanuel
Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781, B, 145). Die Anschauung
bietet das Mannigfaltige, das ihr gegeben ist, der Einbildungskraft an;
diese setzt es zusammen, und der Verstand bringt den Begriff - so nennt
Kant, was ich »Gattung« nenne - als Vorstellung der Einheit
des Zusammenhangs bei. (Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft,
1790, a.a.O., S. 145). »Alsdann sagen wir, wir erkennen den Gegenstand,
wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt
haben.« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781,
A, 104). Anwendbar für die Erkenntnis werden die Begriffe also durch
Konstruktion eines Zusammenhangs. Dieser Ersatz inhaltlicher Bestimmung
durch eine Konstruktionsregel für Konstellationen leitet Kants Verfahren
auch außerhalb der Erkenntnistheorie. In der Moralphilosophie ersetzt
er alle materialen praktischen Prinzipien durch die bloße Form eines
allgemeinen Gesetzes der Tauglichkeit von Maximen (praktischen Grundsätzen)
zum allgemeinen Naturgesetz. Das Recht bestimmt er als Lösung einer
Konstruktionsaufgabe ohne inhaltliche Vorgaben bezüglich auf ein
Maximum kompossibler Spielräume für die Willkür der Rechtsgenossen,
das Schöne als Zweckmäßigkeit für ein Zusammenpassen
von Verstand und Einbildungskraft im freien Spiel miteinander (gleichsam
einer Gemütsgymnastik). Die Rigorosität dieses Formalismus scheint
ihm allerdings manchmal unheimlich zu werden. So ergänzt er den bloß
formalen kategorischen Imperativ durch die inhaltliche Vorschrift, vernünftige
Wesen nie nur als Mittel zu einem Zweck zu behandeln, und das freie Spiel
im Wohlgefallen am Schönen stützt er, damit es nicht fade wird,
durch Anleihe bei der Moral. (Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft,
1790, a.a.O., S. 214; vgl. Kants Bief an Reichardt vom 15.10.1790).
(Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 348-349).
Die großen metaphysischen Systeme der Neuzeit -
von Spinoza, von Leibniz und noch von Kant - sind »Begriffsdichtungen«
(Friedrich Albert Lange), die die weltanschaulichen Optionen ihrer Autoren
begrifflich ausarbeiten. (Vgl. von mir: Der Weg der europäischen
Philosophie, Band II, 2007, S. 249-296 und 316-421 sowie: Was wollte
Kant, 1989.) Dabei wird nichts grundsätzlich Neues entdeckt;
vielmehr werden gleichsam die Denkfiguren der von Platon und Aristoteles
eingefädelten Tradition auf dem Schachbrett der Systematik verschoben
und tauschen die Plätze. Ein wesentlich neues Motiv taucht erst gleich
nach Kants Hervortreten mit seinen drei Kritiken in Gestalt der Ich-Intuition
Fichtes auf, mit der dieser in geschichtlich folgenreicher Weise begrifflich
nicht zur Klarheit kommt. Es handelt sich darum, daß Fichte der
erste Philosoph ist, der merkt, daß, wenn von ihm die Rede ist,
es sich tatsächlich um ihn selber handelt. Was ist daran so besonderes?
Warum bedarf es dazu eines Neueinsatzes der Philosophie? Die Geschichte
des europäischen Denkens, Dichtens und religiösen Fühlens
ist auf Schritt und Tritt von Selbstreflexion durchzogen. Dabei stellt
der Mensch sich in den Zusammenhang des Alls des Seienden (einschließlich
der Transzendenz) und bestimmt sich reflektierend seine Position darin.
Die Subjektivität, die sich dadurch ergibt, ist positional.
Das Bezugssystem, in dem ihr Platz bestimmt ist, wird einer Gesamtschau
(Weltanschauung) vorgelegt, die sich passiv zur besinnlichen Betrachtung
und Erwägung darbietet: Es wird in dieser Weise vorgefunden. Darin
kommt auch der Inhaber des durch positionale Subjektivität ausgezeichneten
Platzes vor, aber nicht mehr, daß er es selber - der mit der Gesamtschau
- ist, wenn er das nicht schon weiß und von vornherein in das große
Gemälde eingetragen hat. Das ist aber nicht selbstverständlich,
wie die Tradition bis zu Fichte noch angenommen hatte; vielmehr ist die
betreffende Notiz in dem passiv der Vorfindung Dargebotenen nicht mehr
enthalten. Woher weiß ich, daß der da ich ist? Es muß
doch zu dem objektiv Gegebenen noch etwas hinzukommen, das mir sagt, daß
es sich um mich handelt. Descartes ist von diesem Problem gänzlich
unberührt. Er sagt zwar »cogito«, aber wenn er dem Ding
nachforscht, das hier in der ersten Person des Singulars vorgeführt
wird, findet er nur eine Seele unter anderen in einer Position gegenüber
dem Ausgedehnten und unter Gott. Nach Descartes findet unter dem Einfluß
der versachlichenden Sichtweise der Naturwissenschaft eine Entsubjektivierung
statt, in der die naive Sicherheit, im Gegebenen sich selbst vorzufinden,
verlorengeht, mit Höhepunkt bei Hume, Lichtenberg (siehe oben) und
noch bei Wittgenstein. Bei Kant verdünnt sich das cartesische »cogito«
(»Ich denke«, transzendentale Apperzeption) zu einem »Bewußtsein
überhaupt« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft,
1781, B, 143 [§ 20]), das niemand mehr ist, sondern nur noch die
Perspektive der Gesamtschau, die sich vom Inhaber des Platzes der positionalen
Subjektivität in der Welt gelöst hat. Deshalb ist es irreführend,
wenn Heidegger von einem »Aufstand der neuzeitlichen Subjektivität«
seit Descartes spricht. Vielmehr ist das Subjekt in einem Prozeß
des Denkens von Descartes bis Kant gleichsam verdampft. (Hermann
F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 350-351).
Das alles habe ich unter 1.1 schon genauer ausgeführt, und
dabei habe ich die Fragestellung durch die Unterscheidung der subjektiven
Tatsachen des affektiven Betroffenseins mit ihrer reicheren Tatsächlichkeit
von den objektiven (neutralen) Tatsachen beantwortet. Hier geht es um
den Anteil Fichtes. Er ringt darum, die positionale Subjektivität
zu einer strikten Subjektivität (in meiner Terminologie) zu
ergänzen, die darüber Auskunft gibt, was zu einem Menschen,
den ich in der Welt vorfinde, dadurch hinzukommt, daß er ich ist.
Bei diesem Ringen zeigt ihn folgende Nachlaßnotiz: »Das Schlimmste
ist, daß es sich gar nicht objektiv denken, sondern nur innerlich
fühlen läßt. Mein Ich, nicht das deinige.
Wo ist der Unterschied? Freilich habe ich nur äußere Kennzeichen
angegeben. Es scheint, man kann nicht recht fixieren. - Das beste ist:
es ist durchaus kein erzeugtes, sondern ein unmittelbar immanentes
Wissen. Wie ist die Vorstellung meines Schmerzes, u. des Schmerzes
eines andern verschieden? Wer dieses sagt, findet es.« (Fichte-Gesamtausgabe,
Abteilung II, Band 6, S. 94, Z. 16-27 [Materalien zur Wissenschaftslehre,
1801/02]). Einmal scheint er der Lösung in Gestalt der subjektiven
Tatsachen ganz nahezukommen, als er in § 9 der Zweiten Einleitung
in die Wissenschaftslehre die Bestreiter der strikten Subjektivität,
die sich mit der positionalen (dem Menschen an einem Platz in der objektiven
Welt) zufrieden geben wollen, den Unterschied am »gemeinen Sprachgebrauch«
durch zwei Verwendungsarten des Wortes »ich« klar zu machen
sucht: Wenn Peter Schulze bei Bekannten überraschend zu Besuch kommt
und im Vertrauen, man werde ihn an seiner Stimme erkennen, auf die Frage,
wer da sei, mit »Ich bin es« antwortet, fungiert das Wort
als bloßes Pronomen, nicht aber, wenn der Kunde, den ein Schneider
beim ungeschickten Hantieren mit einer Nadel sticht, mit dem Schrei protestiert:
»Das bin ich, Sie stechen mich.« Nun zeigt das Wort eine für
den Kunden subjektive Tatsache seines affektiven Betroffenseins an, wie
bei der von der Frau vermißten Verwendung in der mißglückten
Liebeserklärung und den übrigen Mißlichkeiten des Peter
Schulze nach 1.1. Ebenso liegt es nahe, an eine Stelle aus der frühen
Rezension des Aenesidemus - dem ersten Zeugnis der Ich-Intuition
Fichtes - zu denken: »Freilich, A. will einen objektiven Beweis
für die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Was mag
er sich dabei denken? Oder ob ihm die objektive Gewißheit etwa ungleich
vorzüglicher scheint als die - nur - subjektive? Das: Ich denke hat
nur subjektive Gewißheit, und so viel wir uns das Selbstbewußtsein
Gottes denken können, ist Gott selbst für Gott subjektiv.«
(Fichte-Gesamtausgabe, Abteilung I, Band 6, S. 65 f.). Die subjektive
bzw. objektive Gewißheit kann ich mir nur als Evidenz subjektiver
bzw. objektiver Tatsachen zurechtlegen, das subjektive Sein Gottes nur
als für diesen subjektive Tatsache. Aber Fichte will sich nicht auf
das affektive Betroffensein stützen und beruft sich daher zur Rechtfertigung
der strikten Subjektivität nur auf unmittelbares Wissen, etwa eine
intellektuelle Anschauung als »das unmittelbare Bewußtsein,
daß ich handle«, »wodurch ich weiß, »daß
ich es tue«, ohne die ich »weder Hand noch Fuß
bewegen« könne. (Vgl. die 2. Einleitung in die Wissenschaftslehre,
§ 5, Fichte-Gesamtausgabe, Abteilung I, Band 4, S. 216 f.).
In einem Brief an seinen Nachfolger Reinhold erklärt er sich über
seinen Grundsatz vom Ich: »Zum Beispiel die Seele meines Systems
ist der Satz: Das Ich setzt schlechthin sich selbst. Diese Worte haben
keinen Sinn, und keinen Wert ohne die innere Anschauung des Ich durch
sich selbst, die ich sehr oft im Diskurs aus Menschen entwickelt habe,
die mich gar nicht begreifen konnten, und sodann vollkommen begriffen:
es wird gesagt: daß ein Ich, und etwas ihm entgegengesetztes, ein
Nicht-Ich sei, geht schlechthin allen Operationen des Gemüts voraus;
und dadurch werden sie erst möglich. Es ist gar kein Grund, warum
das Ich Ich, und das Ding nicht Ich sei, sondern diese Entgegensetzung
geschieht absolut.« (Fichte an Reinhold, 2. Juli 1795, Fichte-Gesamtausgabe,
Abteilung III, Band 2, S. 344). Diese Vorgängigkeit einer absoluten
Unterscheidung kann ich nur so verstehen, daß der Unterschied subjektiver
und neutraler Tatsächlichkeit für jede Sammlung von Tatsachen
schon vorausgesetzt ist. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick
auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 351-353).
Das Unvermögen Fichtes, seiner Ich-Intuition eine
klare Begründung zu geben, hat böse Folgen für seine philosophische
Entwicklung und die großen geschichtlichen Weiterungen der Fichte-Rezeption
ergeben. Zunächst versucht es Fichte mit dem Rückzug der Subjektivität
von allen als vermeintlich nur objektiven Tatsachen in die Tathandlung
eines absoluten Ichs, das nur sich selbst tut und weiter nichts. Als diese
Abgelöstheit sich wegen der Begrenzung des Ichs durch ein Nicht-Ich
als unhaltbar erweist, ersetzt Fichte sie durch das Schweben der Einbildungskraft
zwischen den unvereinbaren Gegensätzen von Endlichkeit und Unendlichkeit,
Begrenztheit und Unbegrenztheit, also - in der Sprache meiner Mannigfaltigkeitslehre
- durch zwiespältiges Mannigfaltiges. Zunächst sucht er den
Zwiespalt durch eine »Wechselwirkung des Ich mit sich selbst«
abzufangen, widerruft aber diese Lösung in der Schlußbemerkung
des folgenden, der praktischen Philosophie gewidmeten § 5 von Grundlage
der gesamten Wissenschaftslehre, abermals im Namen der produktiven
Einbildungskraft, durch einen unauflöslichen Zirkel, der nun »der
Grundstein des ganzen Gebäudes« der Wissenschaftslehre sein
soll: »Dies, daß der endliche Geist notwendig etwas Absolutes
außer sich setzen muß (ein Ding an sich) und dennoch von der
anderen Seite anerkennen muß, daß dasselbe nur für ihn
da sei (ein notwendiges Noumen sei), ist derjenige Zirkel, den er ins
Unendliche erweitern, aus welchem er aber nie herausgehen kann.«
(Fichte-Gesamtausgabe, Abteilung I, Band 2, S. 4127, 20-24). Diese
Schraube ohne Ende garantiert nach Fichte zwar die Sicherheit und Überlegenheit
seines Gedankengebäudes, besteht aber eigentlich in einem unablässigen
gegenseitigen Dementi zweier gegensätzlicher Ansichten, das Fichte
wenige Jahre später als Quelle des Nihilismus verworfen hat, um sich
aus dem Schwindel der Reflexion in die Dogmatik einer »Mystik mit
dem Holzhammer« zu retten. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick
auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 353-354).
Unmittelbar nach Fichtes Auftreten mit seiner Wissenschaftslehre
haben Friedrich Schlegel und Friedrich v. Hardenberg (Novalis) dessen
Anregung in gemeinsamem »Fichtisieren« ebenso begeistert wie
verständnisvoll aufgegriffen und weitergeführt. Novalis überwand
das Dilemma des transzendentalen Zirkels, der Schraube ohne Ende von Abhängigkeit
und Unabhängigkeit des Ichs, indem er aus dem Problem die zwischen
Unvereinbaren schwebende Seinsweise als Ich selber machte. Friedrich Schlegel
entdeckte die Möglichkeit, aus der Not des Zirkels eine Tugend schrankenloser
Wendigkeit zu machen, in Gestalt der romantischen Ironie, jeden Standpunkt
aufgeben und eben deshalb auch jeden Standpunkt einnehmen zu können;
Fichte hatte diese Haltung als das absolute Abstraktionsvermögen
vorgezeichnet. Ironie im gewöhnlichen Sinn besteht darin, hinter
einer Stellungnahme zu etwas eine andere durchsichtig zu verstecken; die
romantische Ironie verallgemeinert diese Technik durch die Beliebigkeit
der Standpunkte. Sie hat zwei Seiten: rezessive Ironie als unbeschränkte
Rückzugsmöglichkeit und produktive Ironie als unbeschränkte
Möglichkeit des Eingehens auf etwas. Dafür zwei Belege von Friedrich
Schlegel: Rezessive Ironie: »Wir müssen uns über unsere
eigene Liebe erheben, und was wir anbeten, in Gedanken vernichten können;
sonst fehlt uns, was wir auch für andere Fähigkeiten haben,
der Sinn für das Weltall« (Friedrich-Schlegel-Ausgabe,
Band II, S, 131 [Über Goethes Meister]). Produktive Ironie:
»Ein recht freier und gebildeter Mensch müßte sich selbst
nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch,
historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz
willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit und in
jedem Grade.« (Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Band II, S, 160
[Lyceums-Fragment 108]). Diese Initiative hatte ungeheure geschichtliche
Folgen. Sie läutete das ironistische Zeitalter ein, das sich mit
immer größerer Mächtigkeit bis heute und in die Zukunft
hinein über das Abendland ausbreitet. Im 19. Jahrhundert hatte es
zunächst die aristokratische Gestalt des weltschmerzlichen Dandytums
(*); seither ist die rezessive Ironie zur
Coolneß (zur Haltung, cool zu sein) vulgarisiert, und die produktive
zum »Zappen«, zur beliebigen flüchtigen Selbstbedienung
aus dem unerschöpflichen Angebot der (heute meist elektronischen)
Maschinentechnik, z. B. mit Fernsehen, Computer, Reisen. (*
Vgl. Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2020, S. 111-126: Der
Dandy als ironische Existenz.) Diese Wendigkeit bricht den Menschen
das Rückgrat eines konsequenten eigenen Wollens zu Gunsten des Wählens
aus vorfabrizierten Angeboten für kurze Lebensstrecken; die Dichte
dieser Angebote verdeckt die Möglichkeiten eigenen Gestaltens durch
Eingreifen in noch ungeformte Möglichkeiten (binnendiffuser Bedeutsamkeit
von Situationen), die unter dem Schienennetz der Angebote kaum noch sichtbar
sind. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 354-356).
Schelling hat Fichte gar nicht verstanden, Hegel diesen nur oberflächlich,
indem er nicht auf das Potential der Einbildungskraft, des absoluten Abstraktionsvermögens
und des transzendentalen Zirkels achtete. Dafür aber hat Hegel reiches
Verständnis für die Gefahren der romantischen Ironie, die aus
einem - virtuos gewendeten - Mißverständnis der strikten Subjektivität
hervorging. Er greift sie als die »Spitze der sich als das Letzte
erfassenden Subjektivität« an, als »die Eitelkeit alles
sittlichen Inhalts der Rechte, Pflichten, Gesetze, - das Böse - und
zwar das in sich ganz allgemeine Böse«, dem die Ironie obendrein
»die subjektive Eitelkeit, (...) sich selbst als die Eitelkeit alles
Inhalts zu wissen, und in diesem Wissen sich selbst als das Absolute zu
wissen«, verleihe. (Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinie
der Philosophie des Rechts, 1821, § 140 f.). Dieser Gefahr sucht
Hegel zu steuern, indem er die Subjektivität zwar anerkennt, aber
nur, sofern sie sich einer objektiven Institution unterordnet und diesen
Dienst zu ihrer eigenen, höchst persönlichen Sache macht. Bezüglich
der Religion nimmt sich das so aus: »Religion ist meine Angelegenheit,
ich bin persönlich dieser darin, aber ich soll darin sein, - eben
nach meinem Wesen, nicht meine Partikularität darin geltend machen,
sondern vielmehr mich über sie stellen, über sie hinaus sein,
- abstrahieren, - ich soll als objektiv mich darin verhalten; es ist gerade
mein OBJEKTIVES Sein. (...) Diese Objektivität - die ebenso sehr
Subjektivität - macht allein die Religion aus.« (Hegel-Akademieausgabe,
Band 18, S. 23, Z. 12-38 [aus dem Entwurf einer Antrittsrede als Professor
in Berlin 1818]). (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf
das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 356).
Im Zuge dieser Vermittlung zwischen dem subjektiven Einzelnen
und dem objektiv Allgemeinen, im Kampf gegen die Ausschweifung der strikten
Subjektivität in die Souveränität ironischer Wendigkeit
- einer schon früh von Hegel übernommenen Aufgabe - entwickelt
Hegel seine eigentümliche dialektische Denkform der Vermittlung im
Gegensatz unvereinbarer Seiten. In der Sprache meiner Mannigfaltigkeitslehre
läßt sich diese Denkform so charakterisieren, daß Hegel
die numerische Mannigfaltigkeit ablehnt - teils verachtet, wie an der
Artenvielfalt der Natur, teils als Schein zu entlarven sucht -, aber auch
von chaotischer Mannigfaltigkeit nichts wissen will, so daß ihm
nur die zwiespältige Mannigfaltigkeit bleibt, in die er unvereinbare
Gegenteile, die er gegeneinander ausspielt, zusammenführen will,
und zwar mit dem Treibmittel des logischen Widerspruchs. Schon Trendelenburg
hat richtig bemerkt, daß dieser nicht weiter führt als bis
zum Unmöglichen oder Sinnlosen, aber anders verhält sich der
widerspruchsfreie Zwiespalt, der vorliegt, wenn zwei logisch unvereinbare
(einander widersprechende) Behauptungen Sachverhalte darstellen, die durch
ein unspaltbares Verhältnis so innig zusammenhängen, daß
sie nicht in die Beziehung des Widerspruchs treten können. Das bequemste
Beispiel ist die Husserlsche Puppe. Die verwirrende Erscheinung,
die Husserl in den Augenblicken der Entlarvung der vermeintlichen Frau
als Puppe vor Augen stand, war selbstverständlich nicht sowohl eine
Frau als eine Puppe; vielmehr war dieses Ganze, ein wirklich begegnender
Gegenstand so gut wie jeder andere, dynamisch unentschieden, ob es eine
Frau oder eine Puppe sei. Ich bestimme diese dynamische Unentschiedenheit,
im Gegensatz zu der trägen oder statischen Unentschiedenheit, etwa
im Kontinuum (durchdöste Frist, Wasser für den Schwimmer), gern
durch die Formulierung, daß zwei Gegenstände - hier Frau und
Puppe - um Identität mit demselben Gegenstand konkurrieren; die einander
widersprechenden Behauptungen lauten dann: »Das da ist eine Frau«,
»Das da ist eine Puppe«. Hegel freilich kennt den Unterschied
zwischen Widerspruch (der Behauptungen) und Zwiespalt (der behaupteten
Sachverhalte) so wenig, wie er sonst benützt wird, aber sein Ziel
ist die lawinenartig wechselnde Integration (Konkretisierung) von Gegenteilen
in einem Zwiespalt, in dem sie so »aufgehoben« (zugleich vereitelt
und bewahrt) sind, wie Frau und Puppe in der Husserlschen Puppe.
Seine Rezepte dafür sind ziemlich einfach, z. B. die vermeintliche
Unvereinbarkeit von Ansichsein (absolute oder relative Identität)
und Sein für anderes (z. B. Verschiedenheit). Logisch besteht keine
Schwierigkeit, geschweige denn ein Widerspruch; Hegel erzeugt dessen Anschein
aber, indem er die Gegenteile dynamisiert, so daß das Ansichsein
die Züge einer Sperrung, eines Verschlusses, erhält, das Sein
für anderes aber Züge von Offnung oder Hingabe. Hegel anthropomorphisiert
also logische Verhältnisse, als seien sie Kräfteverhältnisse
unter Menschen. Empirisch fruchtbar wird dieses Verfahren in der Dialektik
der Standpunkte, die durch Aufdeckung der von der binnendiffusen Bedeutsamkeit
einer Situation verdeckten Widersprüche den Standpunkt, der diese
Situation ist, zerbricht und vorwärts treibt; Hegel übt dieses
Verfahren besonders in der Phänomenologie des Geistes (und
vorher an Judentum und Christentum in den theologischen Jugendschriften)
aus. Es ermöglicht ein besseres Verständnis der geschichtlichen
Dynamik als bei Aristoteles (5.1). (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick
auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 356-358).
In der unbeabsichtigten Nachfolge Fichtes teilt sich die philosophische
Behandlung der strikten Subjektivität in die beiden kontradiktorischen
Stränge der Existenzphilosophen und der Positivisten. Die Positivisten
(von Comte ist nicht die Rede) machen reinen Tisch. Der rote Faden durch
ihre Bestrebungen und Entwicklungen ist die Entsubjektivierung. Die beginnt
mit der Leugnung des Subjekts bei Mach und Avenarius (*),
der nur Vorfindungen ohne Vorfindenden und Vorgefundenes (ohne Subjekt
und Objekt) festzustellen vermag, weil er sich auf ein dem Vorfinden passiv
dargebotenes Material beschränkt. (*
Vgl. neine Einleitung zum Nachdruck von: Richard Avenarius: Der menscliche
Weltbegriff.) Als nächste Entwicklungsschicht folgt der logische
Positivismus, der einer am Vorbild der Physik orientierten Einheitswissenschaft
(eventuell auch auf psychologischer Grundlage) nachhängt, gegen Metaphysik
polemisiert und (mit Carnap) Lichtenbergs impersonale Umdeutung des cogito
(Es denkt statt Ich denke, Elimination des Subjekts) vertritt. Danach
folgt die Schicht der Philosophie der normalen Sprache (ordinary language
philosophy), die sich von der mathematischen Logik wieder distanziert
und im Anschluß an Wittgenstein auf die (sprachlichen) Konventionen
pocht, die angeblich den »ganz normalen Menschen« vom Philosophen
unterscheiden und z. B. mir verbieten würden, mich, wenn ich angesprochen
werde oder von mir spreche, darauf zu besinnen, daß es sich tatsächlich
um mich selber handelt und nicht um den Menschen, der meinen Namen trägt,
als ob dem irgendwie anzumerken wäre, daß ich er bin, obwohl
ich in der Tat er bin. (Das damit angesprochene, unter 1.1 gelöste
Rätsel ist ein hübsches Beispiel der angeblichen Scheinprobleme,
von denen die ordinary language philosophy die Philosophen therapeutisch
befreien will.) Nachdem sich aber die sogenannte Normalsprache als Phantom
erwiesen hatte, ging dem Positivismus die Methode der Entsubjektivierung
aus, aber er rettete sich, indem er sich dem naturwissenschaftlichen Weltbild
und einer diesem aufgeladenem materialistischen Metaphysik (O Carnap!)
mit waghalsigen Behauptungen über die Leistungsfähigkeit des
Gehirns in die Arme warf. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick
auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 358-359).
Der Positivismus ist eine negative oder umgekehrte Fichte-Rezeption
durch Verweigerung der strikten Subjektivität. Sein Antipode, die
Existenzphilosophie, hält an der strikten Subjektivität fest,
aber nur in der von Fichte hinterlassenen Schwebelage als rezessiventfremdete
Subjektivität, die in den objektiven als vermeintlich allen Tatsachen
keinen Ort mehr hat und zwiespältig im Gegensatz von Beschränktheit
und Unbeschränktheit schwebt. Die Ausgestaltung dieser »exzentrischen
Position« beginnt bei Kierkegaard, der das Schweben als die Angst
interpretiert, mit der der Geist, schwindlig durch die im Schweben gewonnene
Freiheit, nach Art des bekannten Höhenschwindels in die eigenen Möglichkeiten
(statt der ihm entzogenen objektiven Tatsachen seines Seins) hinabschaut
und sodann die Endlichkeit packt, um sich daran zu halten. Das ist eine
treffende Charakteristik der Reaktion vieler Denker, die sich aus dem
Erschrecken vor der rezessiventfremdeten strikten Subjektivität in
ein »Gehäuse« (Jaspers) flüchten (*),
wie schließlich auch die vier prominenten Vorkämpfer dieser
Subjektivität: Fichte, Friedrich Schlegel, Heidegger und Sartre.
(* Vgl. Michael Großheim, Politischer
Existenzialismus, 2002). Die breite Kierkegaard-Rezeption beginnt
erst nach 1900 in Deutschland; ihr Vormann ist zunächst Jaspers.
Noch aber fehlt eine Theorie, die dem existenzphilosophischen Anliegen
eine begrifflich gefaßte Gestalt gibt. (Hermann F.-H. Schmitz,
Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 359-360).
Eine solche Theorie liefert erst Heidegger, wenigstens
für den Leser, der die rhetorisch aufgerauten Fragmente seiner Darstellung
in Sein und Zeit passend zusammenstellt. Husserl war hinter die
strikte Subjektivität in die positionale zurückgefallen, indem
er ein reines Ich in die Region eines reinen Bewußtseins versetzte,
von wo aus dieses Ich die Welt konstituieren sollte; darüber nachzudenken,
daß dieses Ich nicht irgend jemand, sondem er selber war, fiel ihm
nicht ein, da er sich in die Position des bloßen Vorfindens eines
passiv gegebenen Materials nach Wittgenstein zurückgezogen hatte,
wo nur ein metaphysisch verdünntes, weltloses Subjekt übrigbleibt.
Gegen diese Banalisierung wollte Heidegger die strikte Subjektivität
wenigstens als rezessiventfremdete wieder zur Geltung bringen. Dieses
Ziel benennt er treffend, aber noch tastend in der frühen Besprechung
der Psychologie der Weltanschauungen von Jaspers (1919) als »die
spezifische Regions- und Sachgebietsfremdheit des ich, daß
jede versuchte regionale Bestimmung - eine solche also, die einem Vorgriff
entspringt auf so etwas wie Bewußtseinsstrom, Erlebniszusammenhang
- den Sinn des bin verlöscht und das ich
zu einem vorstellungsmäßig feststellbaren und einzuordnenden
Objekt macht.« (Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Band 9;
Wegmarken, S. 29 f. **).
Um dieses Ziel, den Rückfall von der rezessiventfremdeten strikten
Subjektivität in eine bloß positionale zu korrigieren, zu erreichen,
kombiniert Heidegger das Erbe Kierkegaards mit einer ganz anderen Schultradition,
der aristotelisch-thomistischen. Thomas von Aquino hatte die Realdistinktion
von Sein (esse) und Wesen (essentia) in den Geschöpfen gelehrt, daß
also beide Bestandteile, außer in Gott, wirklich verschieden und
im Seienden enthalten seien. Die spätmittelalterlichen Thomisten
hatten daraus den Unterschied zweier Formen des Seins gemacht, das Sein
als Existenz und das Sein als Essenz. Heidegger kommt mehrfach darauf
zurück. Sein origineller Beitrag besteht darin, diesen Existenzbegriff
zum Verständnis der Existenz im Sinne von Kierkegaard, der strikten
Subjektivität, heranzuziehen. Die Thomisten hielten Existenz und
Essenz für zwar verschieden (außer bei Gott), aber unzertrennlich
verbunden. Heidegger läßt das nur noch für das Vorhandene
(in einer Bedeutung des von ihm mehrsinnig verwendeten Wortes) gelten,
nicht aber für die menschliche Person, die er, seltsam genug, in
»das Dasein« umbenannte. In diesem Dasein ist nach seiner
Lehre die Essenz von der Existenz abgespreizt, so daß es zwar ist,
aber ohne festen Bestand dessen, was es ist; sein Wesen (das, was es ist)
besteht in seinen Möglichkeiten, die es erst noch zu sein hat, so
daß es ist, was es wird beziehungsweise nicht wird, und damit ebenso
sich vorweg ist wie hinter sich zurückbleibt (d. h. sich sich selbst
immer noch schuldet). Diese Entrückung des Was des Daseins von seinem
(»nackten«) Daß in bloße Möglichkeit mit
Beladung durch die Aufgabe, diese Möglichkeiten, die das Dasein von
sich aus nicht einmal thematisch erfassen kann, erst noch zu übernehmen,
bezeichnet Heidegger als die Geworfenheit des Daseins. Damit ist die Aufgabe
gelöst, die positionale Verankerung des »ich« in einer
Region des Seienden zu kappen und die strikte Subjektivität als rezessiventfremdete
freizulegen; denn die Verankerung würde eine feststellbare essentia
erfordern, aber diese wird durch die Entrückung in bloße Möglichkeit
vereitelt. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 360-361).
Die Unbestimmtheit des eigenen Was als noch ausstehende Möglichkeit
erfüllt das Dasein mit Angst, ganz im Sinne des Kierkegaardschen
Höhenschwindels im Herabblicken auf die eigenen Möglichkeiten;
vor dieser Angst flüchtet sich das Dasein im Verfallen an das begegnende
vorhandene Seiende, das ihm mit fest zum Daß gehörigem Was
Aufgaben des Besorgens stellt, durch die seine Möglichkeiten konkrete
Gestalt annehmen, es aber auch dazu verführt, sich selbst nach Art
des Vorhandenen (mit bloß noch positionaler Besonderheit) mißzuverstehen.
Dann bricht die Angst aus, die das Dasein als »nacktes Daß
im Nichts der Welt« zurückläßt und ihm zeigt, was
es eigentlich ist, ihm zugleich aber seine als feste Aufgaben des Besorgens
konkret gewordenen Möglichkeiten wieder entzieht. Das Dasein kann
sich dann zwar noch entschlossen auf seine ihm durch die Angst erschlossene
Eigentlichkeit, seine eigentümliche Unbestimmtheit, konzentrieren,
aber ohne zu wissen, was es mit ihr anfangen soll; es müßte
in entschlossener Ratlosigkeit verharren. Um einen Ausweg aus dieser Sackgasse
eigentlicher Existenz zu finden, dreht Heidegger sein Konzept der Geworfenheit
um; diese ist nun nicht mehr die Ausgesetztheit, etwas (als Möglichkeit)
erst noch sein zu müssen, um überhaupt etwas zu sein, das man
aber noch nicht erfassen kann, sondern Geworfenheit ist nunmehr die Kontingenz,
schon in einer Welt zu sein, in der man auf die gegebenen Umstände
zurückgreifen kann, namentlich auf eine Tradition, die nun nicht
mehr Anlaß ist, sich im Verfallen mißzuverstehen, sondern
als eigene Möglichkeit in neuer Form wiederholt werden kann. Mit
dieser Wiederholungsaufgabe versorgt Heidegger das eigentlich existierende
Dasein und erspart ihm damit die entschlossene Ratlosigkeit. Freilich
hat er damit sein ursprüngliches Anliegen, die strikte Subjektivität
gegen die bloß positionale wieder zur Geltung zu bringen, preisgegeben;
das ist der Grund dafür, daß die Konzeption von Sein und
Zeit für ihn nur eine Zwischenlösung ist, hinter die er
bald in eine dualistische Anthropologie nach Art der Plessnerschen
(mit Identifizierung von Geworfenheit und Verfallen) zurückfällt,
sowie in andere Ansätze. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick
auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 361-362).
Nach Heidegger hat Sartre mit seinem Buch L'etre et fe neant
das Verständnis der strikten Subjektivität gefördert. Seine
Beiträge sind oft abwegig, wenn auch immer präzise und kontrollierbar
formuliert, enthalten aber manche originelle und weiterführende Anregungen
zur strikten Subjektivität. Diese betreffen hauptsächlich die
Zwiespältigkeit des personalen Menschseins, die Sartre allgemein
als Anwesenheit bei sich als Abstand von sich (présence à
soi comme distance de soi) charakterisiert und an Beispielen wie der Unredlichkeit
(mauvaise foi) oder dem unauffälligen Begleitbewußtsein eigenen
Tuns (cogito prereflexif) belegt, in beiden Fällen über das
Ziel hinausschießend, da er die Fassung (4.3.5) zu Unrecht als unredlich
denunziert und das Begleitbewußtsein (2.4.2) keinen Zwiespalt zu
enthalten braucht; aber als Hinweis auf Zwiespältigkeit der Person
sind seine Hinweise dennoch lehrreich. Ebenso abgewogen muß man
über seine Lehre vom Blick sprechen, die darin völlig schief
ist, daß er das Zurückblicken, den Blickwechsel, nicht gelten
läßt, aber die Auffassung der Du-Evidenz gründlich von
dem Vorurteil reinigt, diese käme durch ein Hineinlegen in ein Objekt
zustande, und die Überlegenheit des Blickenden beim Erfassen der
Persönlichkeit des Erblickten in einer Weise hervorhebt, die ich
unter 4.3.5 als Herausforderung zur Kompensation durch die Fassung des
Erblickten näher bestimmt habe. Überhaupt ist Sartres Buch mit
Anregungen gespickt, wenn man das, was er sagt, nicht wörtlich übernimmt,
sondern das Beste daraus macht; seine Bemerkungen über le mal (aus
Anlaß seines Augenleidens) waren für mich der Anstoß
zur Entwicklung meines Konzepts der Halbdinge. Nachsicht muß man
mit Sartre haben, wenn er mit der Figur des logischen Widerspruchs umgeht,
als sei das die natürlichste Sache von der Welt. Es ist eine Unart
der Existenzphilosophen, sich vor der Logik als wilde Männer zu gebärden,
wie schon Heidegger, wenn er in Was ist Metaphysik? behauptet,
die Logik werde hinweggespült vom Wirbel eines ursprünglicheren
Fragens. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 362-363).
Bilanz
In diesem kursorischen Rückblick auf das Abendland habe
ich mich an Philosophie und Religion gehalten, nicht nur, weil ich dafür
noch am ehesten kompetent bin und die Analyse hier mehr als auf anderen
Gebieten zugleich im Detail getrieben und im Zusammenhang gehalten werden
kann, sondern auch, weil dies die zentralen Kulturzweige sind, die in
alle anderen prägend einwirken. Dies bedeutet aber nicht, daß
es sich um die größten Meisterleistungen und Glanzstücke
der abendländischen Kultur handelte. Diese Kultur übertrifft
im Reichtum, erreichtem Niveau und Ausstrahlungskraft auf vielen Zweigen
alles, was andere Kulturen zu bieten haben, auch wenn diese ihr in mancher
Hinsicht überlegen sind. Europäische Musik, Dichtung, bildende
und Baukunst, Mathematik, Naturwissenschaft, Technik und Medizin haben
Höchstleistungen vollbracht; die Hauptfiguren des Zivilrechts und
der strafrechtlichen Zurechnung sind schon im Altertum ausgearbeitet und
in der Neuzeit systematisch geschliffen worden; die Politik hat in einem
langen Entwicklungsprozeß gelernt, dem launischen Schwanken des
Staatswillens durch Sonderung der Institutionen für Bildung und Ausführung
des Staatszweckes im modernen Parteienstaat vorzubeugen. (Vgl. Hermann
Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 287-314). Die zentralen
Kultursysteme, Philosophie und Religion, sind dahinter zurückgeblieben.
Sie haben es an derjenigen Besonnenheit fehlen lassen (Aristoteles und
zum Teil Locke ausgenommen), zu der die Philosophen, die auch auf die
Religion bestimmend eingewirkt haben, mehr als andere berufen gewesen
wären. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 364).
Der Talisman der europäischen Kultur, der Schlüssel
zu ihrem Erfolg ist die Kultur der freien, öffentlich zugänglichen
Diskussion mit kritischer Prüfung aller Ansprüche auf Glauben
und Gehorsam an Erfahrung und Logik. Dieses Instrument wurde ihr gesichert
durch die Geburtsstunde des Abendlandes in der Schlacht bei Salamis und
zeitweilig aus der Hand genommen durch die orientalische Priesterkultur
der römischen Kirche von 529 n. Chr. (Schließung der neuplatonischen
Akademie) bis ins 12. Jahrhundert (Wiederkehr des Aristoteles). Jetzt
droht eine Wiederkehr dieses Entzugs durch die »Islamisierung des
Abendlandes« (ein zu Unrecht von den herrschenden Sprachreglern
verpöntes Schlagwort). Wenn aber der Geist der freien Diskussion
im Abendland gerettet werden kann, ist es wohl noch möglich, alle
geschichtlichen Verfehlungen wettzumachen. (Hermann F.-H. Schmitz,
Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 364-365).
In einer Diskussionskultur gibt die Philosophie, das
Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung, den
Rahmen der Themenstellung vor. Die abendländische Philosophie hat
sich überwiegend durch das Interesse an Macht bestimmen lassen. Bei
ihrer grundlegenden Paradigmenwahl, der Welt- und Menschspaltung durch
die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung
(3.1), ging es um die Selbstermächtigung der Person im Verhältnis
mit ihren unwillkürlichen Regungen. Dieses Interesse ist den Philosophen
von Platon bis zu Husserl (mit Ausnahme des heidnischen Neuplatonismus)
eingeprägt geblieben. Dazu kam später der Dienst der Philosophie
als Magd der christlichen Theologie der Allmacht Gottes, wobei freilich
die Magd ihre Herrin umgarnte, und noch später der von Descartes
bis zu Kant, Fichte und Marx/Engels proklamierte philosophische Aufbruch
zur Naturbeherrschung als Ansporn für Naturwissenschaft und Technik.
Die Unterwerfung der Natur unter den Geist war auch das leitende Prinzip
der Metaphysik Hegels. Diese herrschende Tendenz warf mit der Energie
einer Zentrifuge die unmittelbar nächsten Wurzeln und Bereiche menschlicher
Lebenserfahrung aus dem Wege an den unscheinbaren Rand: den spürbaren
Leib mit seiner Dynamik und der leiblichen Kommunikation, die Atmosphären
des Gefühls, die Subjektivität des affektiven Betroffenseins,
die Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, unter diesen die vielsagenden
Eindrücke. Die Typen der Mannigfaltigkeit und des Zusammenhangs wurden
übersehen mit Ausnahme der numerischen, durch Beziehungen zusammenhängenden
Mannigfaltigkeit, aus der sich das Konstruieren und Planen, mit geschickter
Anpassung an das in diesem Rahmen Gegebene, Konstellationen zurecht machen
konnte. Besonders auffällig ist das Hinweggehen über den Leib.
Er ist nicht nur jedem als das Nächste alltäglich vertraut,
etwa in Hunger und Durst, Frische und Müdigkeit, sondern auch dafür
entscheidend, daß über das absolut konfuse Mannigfaltige des
Kontinuums und der steigenden und fallenden Intensitäten hinaus etwas
( absolut Identisches) da ist (3.4), für jeden Bewußthaber,
daß er es selbst ist (1.1; 4.1), für jede Person, daß
sie durch Selbstzuschreibung Person sein kann (3.5). Trotzdem ist er den
Menschen so aus dem Blick ihrer begreifenden Aufmerksamkeit gekommen,
daß keine abendländische Sprache außer der deutschen
ein einfaches Wort für ihn zu haben scheint, so daß die Franzosen,
Engländer, Italiener, Spanier usw. sich mit mühsamen Umschreibungen
für eine am Tage liegende, leicht bestimmbare Sache behelfen müssen.
Dafür, daß ich die spezifische Räumlichkeit und Dynamik
des Leibes aufgedeckt habe, strafen mich die Fachkollegen mit Nichtbeachtung.
Die Philosophen hassen den Leib, weil er ihr dominantes Interesse an abgehobener
personaler Souveränität stört. Von Kant ist der Ausspruch
überliefert: »Viel Organ - und wenig Vitalsinn ist der glücklichste
Zustand, in dem ein Mensch sein kann.« (Immanuel Kants
Menschenkunde, oder philosophische Anthropologie, nach handschriftlichen
Vorlesungen, hg. v. Friedrich Christian Starke, 1831, a.a.O., S. 69,)
Mit »Vitalsinn« meint Kant den Leib, mit »Organsinn«
den Sinn der Werkzeuge (Organe) des Körpers, deren sich die Seele
(oder die Person, die Vernunft) beim Umgang mit der Außenwelt bedient.
Die Philosophen haben den Leib verdrängt und den Menschen aus Körper
und Seele (oder Geist) zusammengesetzt. Der sicht- und tastbare Menschenkörper
ist ohne Zweifel da, die Seele mit ihren Derivaten (Geist, mind, Bewußtsein
usw.) aber eine Pufferzone, eingeschoben zwischen ergreifende Mächte
und den Bewußthaber, als müsse dieser, statt unmittelbar angegangen
zu werden, erst einmal in seinem Inneren nachsehen, was da eigentlich
los ist, das ihn bedrängt. So haben die Philosophen den Menschen
gründlich verzerrt, und die Welt nicht weniger, indem sie die Naturwissenschaft
dazu verführten, ihr höchst verdienstvolles Vorhersagesystem
zu einem naturwissenschaftlichen Weltbild aus allgemeinen Naturgesetzen
auszubauen, das zwar sehr interessant, suggestiv und plausibel ist, aber
dazu verführt, über all die aufgezählten Tatsachenmassen,
die schon die Philosophen vernachlässigt hatten, mit noch mehr kecker
Selbstgewißheit hinwegzugehen, weil die reduktionistische Abstraktionsbasis
dafür nicht zureicht. Die Hilfe, mit der manche Philosophen solche
Einseitigkeit durch Ausflüge in Transzendenz (wie Kants übersinnliche
Welt) zu kompensieren versuchen, führt zu einer Entwertung des Gegebenen
durch Gedankenspiele und Kartenhäuser. (Hermann F.-H. Schmitz,
Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 365-367).
Die abendländische Kultur, mit Philosophie und Religion
als traditionellen Wegweisern, gleicht einem herrlich entwickelten Organismus
mit krankem Kopf; ohne diesen wäre sie ein Körper ohne Kopf.
Was soll man dazu sagen? Die abendländische Kultur hat zu einseitig
das berechtigte Interesse des Individuums in den Vordergrund gestellt.
Das beginnt mit ihrer Prägung durch die Welt- und Menschspaltung
zur Selbstermächtigung der Person, die zur Herrschaft über ihre
unwillkürlichen Regungen mit einer privaten Innenwelt ausgestattet
wird. Die Einseitigkeit steigert sich durch die Verankerung der christlichen
Religion im privaten Glücksinteresse des Einzelnen (Erlösung
oder Verdammung nach dem Tode). Sie erneuert sich, als die Aufklärung
vom Christentum die Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema
Macht erbt, diese Macht aber von der Projektion auf Gott in die
eigenen Hände des Menschen übernimmt, durch das Bündnis
der Aufklärung mit dem Kapitalismus, der jedem Individuum die Lizenz
beschert, die ungeheuren Machtmittel der modernen Maschinentechnik in
den Dienst seines von Reichtum gestützten Beliebens zu stellen, wenn
es nur einige formale Regeln einhält. Der jüngste Gipfel dieses
Individualismus ist das Zusammentreffen des dynamistischen Konstellationismus
der modernen Maschinentechnik mit der ironistischen Verfehlung rezessiv-produktiver
Wendigkeit, wodurch dem Individuum die scheinbare Souveränität
kurzfristigen Wählens aus einem überreichen Angebot technisch
bereitgestellter Möglichkeiten zufällt, die eigene Gestaltungskraft
aber durch Verstrickung in ein immer mehr verdichtetes Schienennetz abgenommen
wird. Es wäre aber falsch, diesen abendländischen Individualismus
nur negativ zu bewerten. Er hat nach manchen Ansätzen (Stoa, Christentum)
den von der Aufklärung inspirierten, in der amerikanischen und französischen
Revolution besiegelten Respekt von der Würde jedes einzelnen Menschen
eingeführt, der eine großartige Errungenschaft ist, wenn man
das inzwischen viel mißbrauchte Wort »Würde« richtig
versteht: als die passive Würde, nicht allzu brutal und verächtlich
behandelt, aber auch nicht ganz gleichgültig liegen gelassen zu werden,
nicht als die aktive Würde, allerlei Ansprüche lautstark zu
erheben und an einem Konzert anspruchsvoller Konkurrenten teilzunehmen.
Außerdem kann der Individualismus produktive Kräfte freilegen,
die aus der Originalität unbehindert sich entfaltender Individuen
hervorgehen. (Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das
Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S.
367-368).
Der einseitig akzentuierte Individualismus sollte aber von Gegengewichten
eingeholt werden. Der Mensch, mit dem höchst labilen Aufbau seiner
Personalität über dem Leben aus primitiver Gegenwart (*),
ist viel zu schwach, um den Kult seiner Individualität als höchsten
Wert mit Aussicht auf Erfolg zu pflegen. (*
Vgl. Hermann Schmitz, Selbst sein - Über Identität, Subjektivität
und Personalität, 2015, S. 73-137, davon S. 119-137 unter dem
Titel: Die Labilität der Person.) Er scheitert damit schon
am Tod, der für solche Ansprüche ein unüberwindliches Schreckbild
ist. Ich bewundere den Ausspruch des Kaisers Augustus auf dem Totenbett,
mit dem er aus einer Komödie Menanders zitierte: »Klatscht
Beifall, Freunde, das Schauspiel ist zu Ende.« Der Kaiser verstand
sich als Mensch im Sinne eines Schauspielers, der eine ihm vom Schicksal
zugedachte Rolle mit vielen Improvisationen zu spielen hat und, wenn er
gut improvisiert hat, zufrieden abtreten kann; warum soll er seine Erwartungen
darüber hinaus projizieren? Die Schwäche der labilen Person
ist ihre Stärke, anders als Pascal meinte, der den Menschen einem
schwankenden, aber denkenden Schilfrohr verglich; das Rohr ist fähig
zur Resonanz, zum Auffangen des Impulses ergreifender Mächte, wozu
ein robuster Stamm oder Fels, weil zu starr, nicht in der Lage wäre,
und aus der Resonanz erwächst eigene Gestaltung, die sich auch des
Denkens bedient, mehr noch aber der Phantasie. Das menschliche Leben ist
dazu da, Antwort zu geben, in der etwas Gehaltloses Gestalt annimmt. Dazu
muß es sich öffnen und darf nicht in der verspannten Enge des
einseitigen Individualismus verharren. (Hermann F.-H. Schmitz,
Rüchblick auf das Abendland, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 368-369).
Die Entdeckung oder Wiederentdeckung des Leibes, der leiblichen
Kommunikation, der Gefühle als Atmosphären, der vielsagenden
Eindrücke, der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situationen könnte
einen Weg zu solcher Öffnung weisen. Mehr aus dem Leibe zu leben,
Sonne, Wind, Sand und Wasser an der nackten Haut zu spüren und sich
den Elementen hinzugeben, zu wandern wie die Jugend der Jugendbewegung
nach 1900, könnte neben vielen anderen, auch weniger expansiven Übungen
dabei helfen, den Spielraum der Gegenwart zwischen primitiver und entfalteter
Gegenwart intensiver als durch technischen Fortschritt zu durchmessen.
(Vgl. Hermann Schmitz, Der Spielraum der Gegenwart, 1999, besonders
S. 175-180). Die Öffnung müßte aber auch politisch, nicht
nur individuell sein. Ich habe vorgeschlagen, die Parole der französischen
Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« zu
ergänzen durch die Parole des Proklos: »Alles in allen, aber
eigentümlich in einem jeden.« Damit meine ich, die auf dem
Boden des weströmischen Reiches mit dem Christentum und seinen Erben
gewachsene Tradition zu verbinden mit der oströmischen Tradition,
in der der Geist der johanneisch-neuplatonischen Vieleinigkeit weitergetragen
(wenn auch inzwischen in sehr degenerierter Form) und durch Chomjakow
angemessen säkularisiert worden ist. Dafür habe ich die Metapher
der Wiedervereinigung des römischen Reiches eingesetzt. (Vgl. Hermann
Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, 1999, S. 396-405).
(Hermann F.-H. Schmitz, Rüchblick auf das Abendland, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 369-370).


|

|