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Leipzig ist die erste Heimatstadt
von Hermann Schmitz.
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Bonn ist die zweite Heimatstadt
von Hermann Schmitz.
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Kiel ist die dritte Heimatstadt von Hermann Schmitz.
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Die
Vorgeschichte der Welt
Die Welt, die ich in diesem Kapitel behandle, ist das
singulare tantum, die Welt, die es nur einmal gibt. Was gehört zu
ihr ? Die übliche Antwort lautet: »alles« (mit Ausnahme
eventuell des Transzendenten, das manche Gläubige »über«
der Welt annehmen). Markus Gabriel nennt sie in seinem Buch Warum es
die Welt nicht gibt (Berlin 2013) »den Bereich aller Bereiche«.
Im Historischen Wörterbuch der Philosophie lese ich am Anfang des
Artikels Welt: »Von jeweils einer Welt als sinnvoller Ganzheit kann
die Welt als Totalität alles Seienden unterschieden werden.«
(Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter, K. Gründer,
G. Gabriel, Band 12, 2004, S. 407 [Formulierung vom Th. Rentsch]). Der
Sinn des Wortes »alles« ist dieser: Etwas ist alle x, wenn
etwas, falls es ein x ist, dazu gehört, und, falls es nicht ein x
ist, nicht dazu gehört. Nach der Formulierung von Rentsch könnte
also nur Seiendes zur Welt gehören. Das ist nicht haltbar. In der
Welt mischen sich unzertrennlich Seiendes und Nichtseiendes. Sonst könnte
es in ihr z.B. kein Entstehen und Vergehen geben, denn Entstehen ist Übergang
dessen, was noch nicht ist, ins Sein und Vergehen Übergang dessen,
was ist, in etwas, das nicht mehr ist. Die schmale Scheibe dessen, was
dazwischen ist, wäre ein winziger, nicht abtrennbarer Ausschnitt
der Welt ohne die Dynamik des Entstehens und Vergehens. Nun wird dieses
von Metaphysikern und (neuerdings) von Physikern für Schein erklärt,
aber davon ist wenig zu halten, wie sich noch zeigen wird. Außerdem
gehört aber noch viel anderes Nichtseiendes zur Welt, z.B., was die
Menschen träumen und nachher als nicht seiend durchschauen, was übrig
bleibt, wenn sich Hoffnungen und Befürchtungen als Illusion erweisen,
fiktive Phantasieinhalte. Dem Eingeständnis, daß auch dieses
zur Welt gehört, pflegen Anhänger der These von Rentsch mit
der Behauptung auszuweichen, in solchen Fällen gehöre nicht
der Inhalt der Täuschung oder Fiktion, sondern nur die entsprechende
Bewußthabe zur Welt. Diese Reservation kann so lange gelten, wie
man die Bewußthaben im Zuge der Weltspaltung in einem Bewußtsein
oder einer Seele ablagert, gleichsam verdickt zu Zuständen dieses
Mediums. Das ist aber ganz überflüssig und wird widerlegt durch
das Beispiel des affektiven Betroffenseins, das nicht in einem Inneren
- einem Geist nach Art eines Theaters, wie Hume meinte - abgelagert wird,
wozu der Bewußthaber, dessen Stellung zu seinem Inneren bei Philosophen
unklar und umstritten ist, erst noch einen Zugang finden müßte;
viel mehr wird der Bewußthaber selbst, dem etwas nahegeht, unmittelbar
affektiv betroffen. Und was kann nicht alles affektiv betroffen machen?
Sogar nüchternste Sachzusammenhänge, in den Augen eines mathematischen
oder naturwissenschaftlichen Entdeckers. Wenn aber die Bewußthaben
(vulgo Vorstellungen) keine Ablagen in einer Innenwelt sind, sondern bloß
Beziehungen des Bewußthabers auf das, was ihm bewußt ist,
dann ist die Bewußthabe leer ohne diesen Inhalt seines Bewußtseins
(d.h. Bewußtgehabtwerdens) oder höchstens noch eine persönliche
Stellungnahme dazu, die ohne ihren Inhalt eine Stellungnahme zu nichts
wäre. Dieser bewußte Inhalt, auch wenn er, wie bei Illusionen,
nicht ist, gehört also mit den Bewußthaben unzertrennlich zur
Welt. Die Welt ist eine Mischung von Seiendem und Nichtseiendem. Die These,
sie sei »die Totalität alles Seienden«, ist also unhaltbar.
Sie scheitert auch daran, daß die Welt nicht nur einen Stoff, sondern
auch eine Form hat, und daß der Stoff - und sei er auch alles Seiende
- auch in anderer Form als in der Form der Welt vorliegen könnte.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 245-246).
Was alles ist aber die Welt? Die nächste Antwort lautet:
Sie ist die Totalität alles Einzelnen. Das wäre die passende
Antwort für alle Singularisten, die der Überzeugung sind, alles
sei ohne Weiteres einzeln, auch das Nichtseiende, wie Leibniz voraussetzt,
wenn er behauptet, Gott habe aus allen möglichen Welten die beste
als die wirkliche ausgesucht. (Zum Vergleich müßte er alles
einzeln vor sich haben.) Der Singularismus ist eine Selbsttäuschung
durch Auslassen nötiger begrifflicher Unterscheidungen. Selbst wenn
man annimmt (was nicht zutrifft), daß alles absolut identisch ist,
folgt nicht, daß alles einzeln ist. Absolut identisch ist, was,
wenn vieles ist, von etwas verschieden ist; damit wird nichts über
die 1 gesagt, während Einzelheit die und damit die Zahl (und Gattungen
mit ihren Umfängen und Fällen) voraussetzt (3.2). Unter den
Singularisten stechen besonders die Nominalisten hervor, nach deren Meinung
erst einmal einzelne Sachen da sind, aus denen die Menschen durch vergleichende
Analyse oder Quasi-Analyse, die Carnap in Der logische Aufbau der Welt
so exakt wie möglich logisch zu rekonstruieren unternimmt, einzelne
Abstrakta herausfischen, die sie dann zu Abstraktiora kombinieren. Der
Grundfehler dieses Versuchs besteht in der Umkehr der Reihenfolge, Gattungen
als Abstraktions- und Kombinationsprodukte den einzelnen Fällen nachzuschicken,
obwohl Einzelheit nur dadurch möglich ist, daß etwas absolut
identisch und zugleich Fall einer Gattung ist (3.2). Da aus der Widerlegung
des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung folgt, daß jeder
einzelne Gegenstand Bestimmungen hat, die nicht einzeln sind (3.3), würde
man mit der These des Singularismus für jeden Gegenstand gewisse
Bestimmungen von ihm aus der Welt herauskomplimentieren, was nicht statthaft
ist. Schon dadurch erledigt sich der Vorschlag. (Hermann F.-H.
Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 246-247).
Die nächste etwas weniger anspruchsvolle Bestimmung des Weltinhaltes
könnte lauten: Zur Welt gehört alles Seiende, das Fall einer
Gattung ist, einschließlich des Nichtseienden, das vom Seienden
nicht abgelöst werden kann. Dieser Vorschlag ist der Aufgabe schon
sehr viel besser angepaßt, denn er läßt auch das nicht-numerische
Mannigfaltige zu, sogar das konfuse, dessen Inhalte nicht einmal absolut
identisch sind. Ferner kann etwas unter Gattungen fallen, wenn es zwar
absolut identisch, aber nicht einzeln ist, weil die Gattung nicht auf
es als dieses absolut Identische zutrifft, sondern nur auf es unter vielen,
so daß universell nicht streuend (für jedes x), sondern nur
summarisch (für alle x) quantifiziert werden kann. Der Vorschlag
wäre gut, nur läßt er die Frage offen, woher denn die
Gattungen kommen. Es hat sich herausgestellt, daß den Menschen ein
Bewußtsein einzelner Fälle, wenigstens mit stabiler und zusammenhängender
Einzelheit, nur durch Bewußthabe einzelner Gattungen und ihrer Kombination
zu Konstellationen möglich ist, und ein Bewußthaben einzelner
Gattungen nur, wenn diese aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen
entbunden und dann zu weiteren Gattungen zusammengestellt werden (2.5).
Mit dem Nominalismus ist also auch der Platonismus zu verwerfen, der die
Gattungen einfach hinnimmt, als seien sie in einem Ideenhimmel von selbst
da. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum
wirklichen Leben, 2016, S. 247-248).
Der dritte Vorschlag hat dieselbe Schwäche wie der zweite,
dazu zu verführen, die Ebene der Betrachtung von vornherein zu hoch
anzusetzen, auf einem Niveau, wo schon Gattungen für die je nach
dem streuende oder summarische Subsumtion von einzelnen oder noch nicht
einzelnen Fällen verfügbar sind. Diesen Fehler machen z. B.
Naturwissenschaftler - meist naive Singularisten - , die uns als physikalische
Kosmologen oder biologische Evolutionstheoretiker darüber belehren,
was vor uralten Zeiten geschehen sei, z. B. in den ersten drei Sekunden
des Universums nach dem Urknall, als ob es immer so viele einzelne Sekunden
und eine in kleinere Abschnitte zerlegbare (extensive) Zeit gegeben haben
müßte. Vielmehr ist zu berücksichtigen, daß die
einzelnen Fälle, die Gattungen und die Bedeutungen (Sachverhalte,
Programme, Probleme), eine Vorgeschichte haben, in der sie aus tieferen
Stufen mit andersartiger Ordnungsform im nicht numerischen Mannigfaltigen
hervorgehen. Wir können freilich, als Wissenschaftler, nur vom heute
erreichten Standpunkt der Vereinzelung aus sprechen, und nur das tue auch
ich, indem ich Gattungen bereitstelle, die spezifisch auf die tieferen
Schichten der Voraussetzung des von uns erreichten höheren Standpunktes
zutreffen, so gut, wie ich mit Feststellung objektiver Tatsachen über
für jemanden subjektive Tatsachen spreche, ohne er zu sein (1.1). In
dieser Weise werde ich an die Welt von ihrer Vorgeschichte her herantreten,
indem ich mir den dritten Vorschlag - Welt als Inbegriff aller Fälle
von Gattungen des Seienden und des ihm anhängenden Nichtseienden
zu denken - im Prinzip zu eigen mache, aber abgesehen von der Einschränkung
der Welt auf die Perspektive eines Beobachters, der von vornherein über
Gattungen verfügt, als wären sie ihm geschenkt, wie vom platonischen
Ideenhimmel gefallen, und nicht geschichtlich entbunden. (Hermann
F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 248-249).
Die ursprüngliche Voraussetzung der Welt ist die
primitive Gegenwart, die nach 3.4 den Akzent im absolut konfus chaotischen
Mannigfaltigen (2.4.1) setzt, der absolute Identität einführt.
Das Urkontinuum, das auf diese Weise unterbrochen wird, kann man sich
am Besten am Beispiel der intensiven Steigerung klar machen, wenn etwa
etwas Leises lauter, etwas Warmes wärmer wird. Dann kommt viel Lautstärke,
viel Wärme hinzu und macht sich als mehr laut, mehr warm bemerkbar,
aber dieses Viele ist durch ein absolut unspaltbares Verhältnis so
sehr zu einer Masse verschmolzen, daß es aussichtslos wäre,
darin nach Verschiedenem zu suchen oder sich gar gegen Verwechslung des
einen mit dem anderen schützen zu wollen. Erst mit der primitiven
Gegenwart setzt die Verschiedenheitsfähigkeit ein, lange vor der
Unterscheidbarkeit, denn Unterschiede gibt es erst, wenn etwas sich »in«
etwas - nämlich in den Gattungen, dessen Fall es ist - von etwas
unterscheidet, und das ist erst beim Einzelnen der Fall, während
bloße Verschiedenheit nicht darauf angewiesen ist, »in«
etwas von etwas verschieden zu sein. Die primitive Gegenwart, die die
Verschiedenheitsfähigkeit in das Mannigfaltige einführt, ist
die Gegenwart, die der plötzliche Andrang des Neuen aus dem absolut
konfusen Mannigfaltigen abreißt, indem er Dauer zerreißt und
die zerrissene Dauer ins Vorbeisein, ins Nichtmehrsein, verabschiedet.
Genau besehen, wird erst durch diesen Riß das Urkontinuum zur Dauer,
die aber nicht total zerrissen wird, sondern, wie sich noch zeigen wird,
zum Teil als unzerrissene Dauer der zerrissenen anhaftet und mit dem Riß
zusammen die reine Modalzeit, die Zeit des Entstehens und Vergehens noch
vor der Gliederung in Früheres und Späteres, ausmacht.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 249-250).
Die primitive Gegenwart hat fünf Seiten, deren Zahl
aber eine Zutat aus dem Rückblick nach der Vereinzelung ist und in
der Verschmelzung der fünf Seiten oder Momente durch absolut unspaltbares
Verhältnis untereinander keine Rolle spielt. Ich habe diese fünf
Seiten durch die Formel charakterisiert: Hier-jetzt-sein-dieses-ich. Diese
fünf Seiten will ich nun erläutern. (Hermann F.-H. Schmitz,
Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 250).
Das Hier der primitiven Gegenwart ist die Enge,
in die durch den plötzlichen Andrang der Betroffene (die fünfte
Seite, das Ich-Moment) getrieben wird, in der Terminologie der leiblichen
Dynamik: das Extrem privativer Engung, das der Betroffene im Zusammenzucken
spürt. Dies ist ein streng absoluter Ort, der nicht nur ohne Lagen
und Abstände, wodurch sich die relativen Orte, die zu sagen gestatten,
wo etwas ist, unterscheiden, auskommt, sondern auch ohne das andere, urtümlichere
System räumlicher Orientierung, das unter 3.3 als das motorische
Körperschema beschrieben wurde, in dem absolute Orte durch unumkehrbare
Richtungen verbunden sind. Das Hier der primitiven Gegenwart nimmt am
Abriß der Gegenwart aus dem Urkontinuum teil, das ihm gegenüber
zur Weite wird, aber nicht am Abschied ins Vorbeisein und damit nicht
an der verwandlung des Urkontinuums in zerrissene und unzerrissene Dauer.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 250).
Das Jetzt der primitiven Gegenwart ist das Plötzliche
im Andrang des Neuen, der Gegenwart aus dem Urkontinuum abreißt,
indem er plötzlich ist, d. h. Dauer zerreißt und die zerrissene
Dauer ins Vorbeisein, ins Nichtmehrsein verabschiedet. Durch das Plötzliche
wird das Urkontinuum der konfusen Mannigfaltigkeit zur Dauer und erhält
eine zeitliche Seite. Das spezifisch Zeitliche, das dem Raum fehlt, ist
der Abschied ins Nichtmehrsein, das Plötzliche. Dadurch wird die
Perspektive in die Vergangenheit geöffnet. Wittgenstein weist einmal
auf den Zirkel hin, der entsteht, wenn man den Zugang zur Vergangenheit
der Erinnerung anvertraut: » Weiß er, daß es Erinnern
ist, weil es durch Vergangenes hervorgerufen wurde ? Und wie weiß
er, daß es Vergangenes ist? Den Begriff der Vergangenheit lernt
ja der Mensch, indem er sich erinnert.« (Ludwig Wittgenstein, Philosophische
Untersuchungen, Tei 2, Kaiptel 13, S, 579). Der Fehler, der den vermeintlichen
Zirkel verschuldet, steht im letzten Satz. Die Erinnerung findet die Vergangenheit
schon vor und füllt sie; eröffnet wird die Perspektive in die
Vergangenheit vom Jetzt der primitiven Gegenwart. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 250-251).
Von der Vergangenheit wird die primitive Gegenwart durch den Riß
des Abschieds getrennt; desto inniger hängt sie mit der Zukunft zusammen,
in der Gestalt des in sie eindringenden Neuen. Diese Zukunft ist von anderer
Art als die unseres gewöhnlichen Umgangs mit der Zeit. Die Zukunft
im gewöhnlichen Sinn ist das Bevorstehende, das noch nicht ist, auf
das wir uns aber in der Haltung des Erwartens beziehen, weil wir es vereinzeln.
Beziehungen erfordern einzelne Glieder, im Gegensatz zu unspaltbaren Verhältnissen
(2.4.2). In der primitiven Gegenwart ist nichts einzeln. Ihre Zukunft
ist das Neue, das entsteht, indem es in unspaltbarem Verhältnis in
sie eindringt und durch Abreißen und Exponieren Gegenwart erzeugt.
Ich bezeichne diese beziehungslose Zukunft als Appräsenz und
deren Zusammenhang mit der durch sie hervorgerufenen Gegenwart als Präsenz-Appräsenz.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 251).
Das Jetzt der primitiven Gegenwart ist der absolute Augenblick
ohne Beziehung zum Früheren oder Späteren, zum Vergangenen oder
Zukünftigen. Der absolute Augenblick unterliegt keiner Metrik, ist
weder lang noch kurz, kein Zeitpunkt. Seit der Antike hat man sich mit
dem Paradox beschäftigt, das die Wirklichkeit der Zeit bestreitet,
weil das Seiende in ihr nur ein dauerloser Punkt zwischen Vergangenheit
und Zukunft sei. Dieses Scheinproblem hat mit dem absoluten Augenblick
nichts zu tun. (Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit,
2014, S. 168-173). Die Verwandtschaft zwischen beiden besteht nur in der
Dauerlosigkeit, die dem Zeitpunkt durch Verkürzung der Dauer bis
zum Verschwinden zukommt, dem absoluten Augenblick der primitiven Gegenwart
aber durch Zerreißen und Verabschieden der Dauer. (Hermann
F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 251-252).
Das Sein der primitiven Gegenwart (die Wirklichkeit,
die Existenz, das Dasein) ist wie jedes Existenz-Inductivum (wie auch
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) kein Attribut, also belanglos für
die absolute Identität einer Sache, daß sie diese und keine
andere ist; daher kann dieselbe Sache sowohl (ohne Widerspruch) sein als
auch nicht sein, wofür ich das Vergangene, an das man sich erinnert,
als Beispiel angegeben habe (2.1). Daraus folgt, daß es kein Kriterium
des Seins geben kann, kein Unterscheidungsmerkmal, das, zirkelfrei formulierbar,
das Seiende vom Nichtseienden schiede. Ein solches Kennzeichen müßte
trennscharf sein; solche Trennschärfe ist unmöglich, wenn etwas,
wie das, woran sich jemand erinnert, auf beiden Seiten Platz hat. Man
kann die Wirklichkeit nicht in einen zur Unterscheidung genügenden
Begriff fassen, sondern nur von ihr gepackt werden. Das Gepacktwerden
von der Wirklichkeit in der primitiven Gegenwart hat die Eigenart, daß
es ohne Spielraum ist. Die Begegnung mit der Wirklichkeit hat den Spielraum,
mehr oder weniger aufdringlich zu sein, und zwar im Allgemeinen je nach
dem Maß der leiblichen Engung: Je beengter einer ist, desto näher
ist ihm die Wirklichkeit. Die primitive Gegenwart ist das Extrem leiblicher
Enge, und deswegen ist die Wirklichkeit unausweichlich nahe: Man wird
von ihr gestellt, wie das Wild auf der Jagd von den Hunden. (Hermann
F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 252-253).
Das Dieses der primitiven Gegenwart ist das absolut
Identische, das durch die Enge (das Hier) und das Plötzliche (das
Jetzt) dem Urkontinuum abgewonnen wird. Es ist die Urform absoluter Identität,
wie eine durch Abreißen der Gegenwart aus der zerrissenen Dauer
exponierte Spitze, gleichsam die verkörperte Negation des Andersseins.
Seinen Inhalt gewinnt es an dem fünften, dem Ich-Moment der primitiven
Gegenwart mit dem es, wie mit deren anderen Momenten in unspaltbarem Verhältnis
zusammenhängt. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 253).
Das Ich der primitiven Gegenwart ist das, was
jemand im affektiven Betroffensein als sich selbst spürt, indem ihm
etwas so nahe kommt, daß er unweigerlich merkt, daß er selbst
der davon Betroffene ist. In der primitiven Gegenwart hat diese Selbstgegebenheit
die besonders reine Form, die durch die Exposition des Dieses im Abriß
der Gegenwart, im Hier, Jetzt und spielraumlosen Sein, bereitet wird.
Zur Exposition (Aussetzung) des Dieses kommt es, indem etwas aus dem Urkontinuum
heraustritt, statt in verschwommenem Gleichmaß des Urkontinuums
mitzuschwimmen, und das ist das Ich-Moment, die Subjektivität der
primitiven Gegenwart in Gestalt der aktiven Seite des affektiven Betroffenseins,
die unter 1.2 als Gesinnung aufgedeckt wurde, als das zum Betroffenwerden,
damit es affektiv wird, gehörige, ursprünglich unbeliebige Eingehen
auf das, was betroffen macht. Dieses aktiv-passive Doppelgesicht des affektiven
Betroffenseins ist also unentbehrlich, um dem absolut Identischen einen
Inhalt zu geben, so wie dieses dem Bewußthaber durch sein unspaltbares
Verhältnis mit ihm die Mühe erspart, sich selbst zu finden,
indem er im regressus ad infinitum immer neuer Identifizierungen hinter
sich herläuft. So gehören das Dieses und das Ich der primitiven
Gegenwart, absolute Identität und Subjektivität, an der Wurzel
unzertrennlich zusammen. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 253).
Das Hier, das Jetzt, das Dieses und das Ich entspringen, wie aus
der Analyse ersichtlich ist, erst in der primitiven Gegenwart, während
das Sein nur in sie eintritt und in ihr das Gesicht der Spielraumlosigkeit
annimmt, wodurch es unverkennbar wird. Es hat insofern eine Sonderstellung
unter den fünf Momenten. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 254).
Die primitive Gegenwart ist eine extreme Engung aus der Weite
des Urkontinuums. Ihr antwortet, gleichsam als Rückstoß, eine
entsprechende Weitung auf drei Schienen: Leib, Raum und Zeit. In der Schiene
des Leibes bildet sich der vitale Antrieb aus Engung und Weitung sowie
der Gegensatz epikritischer Tendenz zur absoluten Identität und protopathischer
Tendenz zum konfusen Mannigfaltigen des Urkontinuums; so entsteht die
leibliche Dynamik. In der Schiene des Raumes stehen sich der absolute
Ort und die Weite, zu der das Urkontinuum im Verhältnis zum Hier
der primitiven Gegenwart geworden ist, gegenüber; der Rückstoß
erfolgt in Gestalt unumkehrbarer leiblicher Richtungen, die von der Enge
des absoluten Ortes aus in die Weite eindringen, etwa als Blick und motorisches
Körperschema. Wie weit dessen Bahnen gespannt sein können, kann
man den Bahnen der Zugvögel, die deren motorischem Körperschema
eingeprägt sind, entnehmen; zusätzliche Hilfen ihrer Orientierung
unterstützen die habituelle Führung durch das motorische Körperschema.
In der Schiene der Zeit gelingt der Rückstoß mit Hilfe der
unzerrissenen Dauer, die beim Abriß der Gegenwart durch den Andrang
des Neuen gleichsam mitgerissen und damit zur Dauer geworden, aber nicht
selbst zerrissen, sondern der zerrissenen und ins Vorbeisein verabschiedeten
Dauer angeheftet (assoziiert) ist. Aus dem Zusammenwirken des mit der
primitiven Gegenwart eingetretenen Bruches und Abschieds mit dem Fortbestand
unzerrissener Dauer ergibt sich die Zeit als Konkurrenz von Vergehen und
Fortwähren im Wechsel des Entstehens und Vergehens, noch ohne Reihenfolge
des Früheren und Späteren und ohne zeitliche Abstände,
weilohne Vereinzelung, die erst beim Übergang zur Welt möglich
wird. So etwas wie ein Kompromiß von Vergehen und Verweilen ist
die zeitliche Gegenwart, die vom Jetzt der primitiven Gegenwart (dem absoluten
Augenblick) unterschieden werden muß. Die zeitliche Gegenwart kann
vom Zerreißen der Dauer eng zusammengedrückt oder von unzerrissener
Dauer gedehnt werden (z. B. in Langeweile), also mehr oder weniger lang
sein, wobei Länge nicht metrisch, sondern als mehr oder weniger weit
ohne bestimmtes Maß zu verstehen ist; nie aber wird die zeitliche
Gegenwart zum bloßen Zeitpunkt, der nur als Gedankending einer Limes-Konstruktion
der Verkürzung von Zeitlängen in einer schon bis ins Einzelne
gegliederten Zeit höherer Stufe möglich ist. (Hermann
F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 254-255).
Raum, Zeit und Leib sind demnach Gestaltungen desselben Gegensatzes
von Enge und Weite, zur absoluten Identität oder zum konfusen Mannigfaltigen
hin. Miteinander beruhen sie auf dem plötzlichen Andrang des Neuen
in primitive Gegenwart. Die Zeit beruht auf dem Extrem privativer Engung,
wodurch das zur Dauer gewandelte Urkontinuum bis an den Rand des Nichtseins
und über eisen Rand hinaus ins Vorbeisein verfolgt wird. Dem Raum
entspricht dagegen der vitale Antrieb, in dem Enge und Weite als Engung
und Weitung ohne Abschied verbunden und durch Richtung vermittelt sind.
So gehören Raum, Zeit und Leib zusammen und dürften ein gemeinsames
Schicksal haben. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 255).
Auf dieser Grundlage bildet sich eine sehr fruchtbare
und stabile Lebensform, die mit dem Urkontinuum (z. B. in Gestalt des
Dösens), der primitiven Gegenwart (z. B. in Gestalt des Aufschreckens),
der leiblichen Dynamik und der leiblichen Kommunikation auskommt und im wesentlichen das Leben der Tiere umfaßt, auch das der Säuglinge
umfassen würde, wenn diese als Frühgeburten nicht so unselbständig
wären. Der Mannigfaltigkeitstyp dieses Lebens ist die diffus chaotische
Mannigfaltigkeit mit absoluter Identität und Verschiedenheit, aber
höchstens schwachen Spuren von Einzelheit, und statt mit Beziehungen
als Form des Zusammenhangs mit unspaltbaren Verhältnissen. die an
Ordnungsfähigkeit den Beziehungen nicht sehr nachstehen, aber allerdings
weniger wendig in Zerlegung und Zusammensetzung neu er Zusammenhänge
sind. Ich nenne dies das Leben aus primitiver Gegenwart. Für
Bedeutungen (d.h. Sachverhalte, Programme, Probleme) ist in diesem Leben
reichlich gesorgt, sowohl durch das leiblich-affektive Betroffensein als
auch durch die Reibungen in der antagonistischen Konkurrenz von Spannung
und Schwellung im vitalen Antrieb und in der antagonistischen Einleibung.
Diese Bedeutungen werden im Leben aus primitiver Gegenwart aber nicht
oder nur wenig und selten vereinzelt; zu Gestalten treten sie zusammen
in Form von Situationen, sowohl aktuellen als auch zuständlichen,
die dem tierischen Leben Ordnung und Orientierung geben. Tiere sind in
Situationen gefangen; sie werden von ihnen ebenso geführt wie wir
Menschen beim flüssigen Sprechen von der Sprache, die wir gerade
sprechen, geführt werden, ohne Besinnung und Reflexion, eventuell
sogar ohne zu merken, daß es diese Sprache ist. An diesem Modell
kann man sich die Art des tierischen Bewußthabens recht gut klarmachen.
Die tierische Aktivität besteht darin, daß der vitalei Antrieb
des Tieres dem Programmgehalt (Nomos) der jeweils maßgebenden Situationen
(einschließlich des Zusammenwirkens aktueller und zuständlicher
Situationen) zugewendet wird. Der gewaltige Unterschied von Menschen besteht
nur darin, daß der Mensch den Gehorsam gegen die Sprache, die er
spricht, zur Darstellung und Kombination einzelner Bedeutungen im Interesse
der Verfolgung seiner wechselnden Zwecke benützt, während der
Gehorsam gegen Situationen im tierischen Leben sozusagen Selbstzweck ist.
Besonders große Bedeutung besitzt in diesem Leben die solidarische
Einleibung, da die Tiere durch den gemeinsamen Antrieb der Einleibung
in gemeinsame Situationen eingehen und nicht eigenwillig aus ihnen ausscheren
können. Aktuelle Situationen halten in solidarischer Einleibung Vogelschwärme
zusammen, zuständliche Situationen in Insektenstaaten die Bienen
und Ameisen. Zur Vereinzelung einzelner Sachen kann es im Leben aus primitiver
Gegenwart kommen, nicht ebenso zur Vereinzelung und Kombination von Gattungen,
die durch Konstellationen die sporadischen Vereinzelungen auffangen und
in stabile Zusammenhänge einordnen könnten. Dies ist freilich
nur ein Idealtypus tierischen Lebens, der irgend welche Abweichungen,
wenn sie beobachtet werden, nicht ausschließen soll. (Hermann
F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 255-257).
Ich spreche noch kurz die Entwicklung der fünf Momente
der primitiven Gegenwart im Leben aus primitiver Gegenwart durch. Der
tierische Raum ist ein Richtungsraum, in dem sich die unumkehrbaren,
leiblichen Regungen des Blickes und des motorischen Körperschemas
mit den ebenso unumkehrbaren Richtungen der Bewegungssuggestionen begegnender
Reize kreuzen, beide eingehüllt in Situationen. Die Auseinandersetzung
erfolgt durch Einleibung als leibliche Verarbeitung vielsagender Eindrücke,
etwa so, wie ich es am motorischen Körperschema des Menschen beim
geschickten Ausweichen vor einer in drohender Näherung gesehenen
wuchtigen Masse und auf bevölkerten Gehwegen gezeigt habe. Auch abgründige
Richtungen, wie der Wind und die reißende Schwere, spielen in den
tierischen Richtungsraum hinein; ob Tiere auch von Gefühlen ergriffen
werden können, lasse ich offen. Die Zeit des Tieres ist die
schon beschriebene, reine Modalzeit mit Entstehen und Vergehen, aber ohne
frühere und spätere Daten und Abstände zwischen ihnen.
Einen Zukunftshorizont hat das Tier in Gestalt der Programme im Nomos
von Situationen, wodurch es auf etwas aus ist, z. B. in Hunger, Durst
und Paarungsverlangen; vom menschlichen Erwarten unterscheiden sich diese
Programme dadurch, daß sie keine Beziehungen zu einzelnen Gegenständen
(oder Bedeutungen) sind, sondern Anweisungen zu antagonistischer Einleibung
(z. B. in das zu fressende Beutetier), die mit absoluter Identität
ohne Einzelheit auskommt. Das Sein ist im unbegriffenen Gepacktwerden
von ihm dem Tier ebenso gegenwärtig wie dem Menschen, aber ohne den
weiten Horizont, den diesem die Gegenüberstellung von Sein und Nichtsein
zu voller Breite gibt; daher kennen die Tiere keine Phantasie, Planung,
Hoffnung und Furcht mit Export der Einzelheit ins Nichtseiende. Das Dieses
der primitiven Gegenwart, die absolute Identität, ist den Tieren
vertraut und schützt sie vor Verwechslungen in allen Leistungen flüssiger
Motorik ebenso wie den Menschen; dies ist der Bereich, in dem der Mensch,
auch der personale, am meisten präpersonal, am meisten Tier ist.
Das Ich der primitiven Gegenwart, der affektiv betroffene Bewußthaber,
ist bei den Tieren gleichsam nackt, da nicht eingehüllt in eine sich
lebenslang entwickelnde persönliche Situation und persönliche
Eigenwelt, aus der das Fremde durch Neutralisierung subjektiver Bedeutungen
ausgeschieden ist. Solche Neutralisierung ist dem Tier fremd; wenn es
etwas Eigenes wie sein Territorium gegen Eindringlinge verteidigt, schützt
es seinen Lebensraum, der durch eine es leitende zuständliche Situation
seiner Lebensführung zugewiesen ist, in antagonistischer Einleibung
gegen Feinde, denen es in gemeinsamem vitalen Antrieb verbunden ist. Tiere
haben keine persönlichen Erinnerungen, wohl aber Gedächtnisse,
die bei ihnen als spezielle Situationen nicht einer persönlichen
Situation, sondern der leiblichen Disposition angeschlossen sind. (Vgl
Hermann Schmitz, Bewußsein, 2010, S. 132-136: Erinnerung
und Gedächtnis). (Hermann F.-H. Schmitz, Welt,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 257-258).
Übergang zur Welt
Das Leben aus primitiver Gegenwart, mein Idealtypus vom Leben
der Tiere, ist eine sehr stabile und erfolgreiche Lebensform, die keiner
Ergänzung bedarf. Man wende nicht ein, zusätzlich zu den Situationen
mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, in denen die Tiere gefangen sind, müßten
weitere Umstände aus der Welt herbeigeschafft werden, um dieses Leben
möglich zu machen, etwa Sonne, Erde und Meer und alles, was die Naturwissenschaft
mit Hilfe allgemeiner Naturgesetze an zusätzlichen Voraussetzungen
bereithält. Damit macht man die Perspektive des vernünftig denkenden
und sprechenden Menschen ohne Rechtfertigung zum allgemeingültigen
Kanon. In dieser Perspektive gibt es lauter Einzelnes in numerischer Mannigfaltigkeit,
das durch Beziehungen verknüpft ist, z. B. einzelne relative Orte,
wo etwas ist, einzelne relative Augenblicke, wann etwas ist, einzelne
Menschen, Bäume, Gattungen, Zahlen usw.. Das gehört zur Weltform;
der Stoff der Welt, der so geformt ist, kann ebensogut in anderer Form
vorliegen, so daß z. B. das, was wir »Sonne, Erde, Meer«
nennen, nicht so abgeteilt wie für uns in einem einzigen Ganzen (der
Welt) zusammensteht, durch Beziehungen verknüpft, sondern aufgeteilt
in Situationen eingefangen ist, die durch integrierende binnendiffuse
Bedeutsamkeit dem Leben Orientierung geben. Das ist keine Phantasie und
auch keine bloße Interpretation des Lebens der Tiere, denn es hat
sich schon herausgestellt (2.5), daß einzelne Gattungen, ohne deren
Anwendung die breitgestreute Einzelheit in der Welt den Menschen nicht
aufgehen könnte, ihnen nicht zu Bewußtsein kämen, wenn
solche Gattungen nicht aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen,
ursprünglich also aus dem Leben aus primitiver Gegenwart, geschöpft
werden könnten. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 258-259).
Die Bibel und die Stoiker haben das Nachsehen: Das Leben der Tiere,
das Leben bloß in Situationen, ist nicht auf den Menschen angelegt.
Daß dieser sich der Führung durch den Nomos von Situationen
entledigen und eigene Konzepte in Form von Konstellationen dagegensetzen
kann, ist ein unvorbereitetes Ereignis, das durch sein satzförmiges
Sprechen ausgelöst wird. Nur auf diese Weise können Bedeutungen
(Sachverhalte, Programme, Probleme) aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit
von Situationen herausgelöst und einzeln identifiziert werden. Dafür
bedarf der Mensch einer Sprache, die ihm Sätze zur Verfügung
stellt, d. h. Regeln, nach denen handelnd der sprechende Mensch einzelne
Bedeutungen explizieren und durch Beziehungen zu Konstellationen vernetzen
kann. Ein sehr altes und weit verbreitetes Vorurteil besagt, die Sprache
sei in erster Linie zur Verständigung (speziell zur Mitteilung von
Gedanken) da. »Der soziale Charakter der Rede und die Übermittlung
von Gedanken durch das Wort« behaupten nach Ammann heute »die
grundlegende Stellung in der Betrachtung sprachlicher Erscheinungen«.
Herrmann Ammann, Die menschliche Rede, 1928, S. 128). So macht
man einen Nebeneffekt des menschlichen Sprechens zur Hauptsache. Was dieses
zur tierischen Rede hinzubringt, ist nicht die Verständigung, denn
dazu bringen es die Tiere mit ihren Rufen und Schreien auch, wenngleich
anders, nämlich durch Umgang mit unzerlegten Situationen. Das Neue
an der menschlichen Rede ist ihre explikative Leistung, die Entbindung
und Vernetzung einzelner Bedeutungen. Dazu gelangt der Mensch aber nicht
durch eigene Erfindung, sondern, indem er den Regeln, d. h. den Sätzen,
einer Sprache folgt. Dadurch (nicht durch grammatische Gliederung, die
üblich, aber prinzipiell entbehrlich ist) wird die menschliche Rede
satzförmig. Eine Sprache ist eine Situation, die nur aus ihrer
Bedeutsamkeit in Form eines Nomos besteht, nämlich aus Regeln - d.
h. Normen (Programmen für möglichen Gehorsam) mit beliebiger
Wiederholbarkeit des Gehorsams - für die Darstellung und Kombination
einzelner Sachverhalte, Programme und/oder Probleme in der Rede. In diesem
Sinn haben die Tiere keine Sprache, wenn auch eine Rede aus unterschiedlichen
Lauten mit spezifischer Auslösewirkung. (Hermann F.-H. Schmitz,
Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 259-260).
Wie kommen die Menschen an die Sprache, den Schlüssel
zum Aufschließen der Tür des Gefängnisses der Situationen,
in dem die Tiere steckenbleiben, von innen? Das ist das übel beleumdete
und schon längst als unlösbar abgetane Problem vom Ursprung
der Sprache, ein echtes Problem, da Sprache dem Menschen offenbar nicht
angewachsen und auch nicht durch Sprechen, wie Gang durch Gehen, erworben
worden ist, weil die Sprache als zuständliche Situation schon da
sein muß, damit ihr sprechend gehorcht werden kann. Von dem Ursprung
der Sprache zu sprechen, ist freilich unangemessen; es kann mehr als einen
Ursprung gegeben haben, vor allem für rudimentäre Sprachen,
die nur einen schmalen Bestand einzelner Gattungen freisetzen, und vielleicht
auch nur unreifer, erst auf dem Weg zur Vereinzelung befindlicher Gattungen,
die trotzdem, wie das »Ich-weiß-nicht-was« der Franzosen
(vg. Erich Köhler, a.a.O., 1953/54, S. 21-59), zur Steuerung
des Blickes und des Verhaltens ausreichen können. Vielleicht ist
die von Karl v. Frisch entdeckte » Tanzsprache« der Bienen
von dieser Art. Hier interessiert nur ein solcher Ursprung der Sprache,
der auf so breiter Front einzelne Bedeutungen und unter ihnen einzelne
Gattungen freisetzt, daß mit ihrer Hilfe weit ausgreifende und beliebiger
Verlängerung fähige Netze von Konstellationen über die
Welt geworfen werden können. Über die Gestalt eines solchen,
gewissermaßen definitiven, Ursprungs der Sprache konkurrieren zwei
gegensätzliche theoretische Ansätze: »Der Hauptunterschied
zwischen denjenigen Theorien, die heute als sinnvoll angesehen und diskutiert
werden, ist daher das Kriterium, ob Sprache als etwas angesehen wird,
was sich langsam und kontinuierlich aus tierischer Kommunikation entwickelt
hat (dies vertritt die sogenannte gradualistische Sichtweise), oder ob
es sich um eine sprunghafte, saltotorische Folge von Genmutationen
oder sogar, wie Bickerton vermutet, einen einzigen massiven Mutationsschritt
handelt, der mit dem Auftreten der Spezies homo sapiens sapiens einhergeht.«
(Andrea Schulz, Sprache aus dem Nichts?, 2000, S. 298). Die erste
Hypothese, die von Evolutionsbiologen (wie heute Tomasello) bevorzugt
wird, halte ich für unwahrscheinlich, weil sie nicht erklärt,
wie es zur Sprache als abgerundeter Situation kommt, die der kompetente
Sprecher trotz ihres unerschöpflichen binnendiffusen Reichtums an
Sätzen mit einem Schlage inne hat - nicht etwa nach Art eines Kalküls
das Sprachverständnis rekonstruierend, wie Chomsky meint. Wahrscheinlicher
ist mir die zweite Ansicht, aber ohne die biologische Deutung auf Mutationen,
die mir überflüssig zu sein scheint. (Hermann F.-H.
Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 260-261).
Welcher Vorzug vor den Tieren mag es dem Menschen stattet
haben, die Gefangenschaft in Situationen zu verlassen und in die Welt
als das Feld beliebiger Vereinzelung überzutreten? Natürlich
darf man sich nicht auf das Denken oder vergleichbare Vorzüge berufen,
die ihrerseits die satzförmige Rede voraussetzen. Der gesuchte Vorzug
muß vor dieser Schwelle liegen, in einem Bereich, der seiner Struktur
nach grundsätzlich auch den Tieren zugänglich wäre, ihnen
aber verschlossen geblieben ist. Ich finde einen solchen Bereich in der
leiblichen Dynamik. Mit dem Menschen teilen die Tiere den vitalen Antrieb
und dessen Abspaltung zur Enge hin (privative Engung), denn sie können
stutzen und erschrecken. Dagegen fehlt es ihnen, vielleicht bis auf kümmerliche
Reste, an privativer Weitung; auch ihre Freuden, wie das Hochgefühl
des Hundes bei der Erwartung und Ankunft eines geliebten menschlichen
Herren (beiderlei Geschlechts), hat mehr von Schwellung als von Erleichterung.
Ludwig Klages sieht den Nachteil des Tieres im Verlust der Ferneempfänglichkeit,
die der Mensch mit der Pflanze teile. (Vgl. Ludwig Klages, Der Geist
als Widersacher der Seele, 3 Bände, 1929-1932, 35. Kapitel und
anderen Stellen, von mir referiert in: Der Weg der europäischen
Philosophie, Band 2, 2007, S. 657). Dabei handelt es sich nicht um
eine Ferne großer Abstände, sondern um eine Qualität des
Entrückten und Unberührbaren, die sogar dem Raubvogel unzugänglich
ist, wenn er aus großer Höhe auf seine Beute blickt, da er
auf diese als sein nächstes Ziel in antagonistischer Einleibung fixiert
ist. Der Mensch dagegen kann sich in das Unberührbare vertiefen,
z. B. in eine Landschaft. Ihm ist, anders als den Tieren, die Ausleibung
in die Tiefe des Raumes möglich, oder der Blick nach innen, »das
starrende Auge, das nach Art eines Tauchers in die Tiefe geht« nach
Aischylos (Hiketiden, Verse 407-409: »Not tut tiefes, Rettung bringendes
Nachdenken, das starrende Auge, das nach Art eines Tauchers in die Tife
geht«). Daran zeigt sich die Überlegenheit des Menschen über
das Tier in privativer Weitung. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 261-262).
Ich nehme an, daß zur Zeit des Sprachursprungs ein mächtiger
Schub privativer Weitung über Menschen kam und sie vom Druck der
aktuellen Situationen ständiger Herausforderung in antagonistischer
Einleibung entlastete, wozu auch die nachher zu besprechende Begegnung
mit der Fläche beigetragen haben dürfte. Außer in aktuellen
Situationen lebten die Menschen damals schon in zuständlichen Situationen,
die wegen der Entlastung durch privative Weitung mit den aktuellen Situationen
nicht mehr so dicht verzahnt waren, daß sie von diesen übertönt
wurden. Es kann sich um zuständliche Situationen der Lebensordnung,
des Brauchtums, der religiösen oder anderen Feste oder Rituale gehandelt
haben. Diese zuständlichen Situationen konnten nun an sich selbst
besser zum Vorschein kommen und auf die aktuellen Situationen, von denen
sie sich zurückgezogen hatten, in anderer Weise angewendet werden,
nämlich zur Analyse, um sie durchsichtig zu machen. Jemand kann dann
die Erfindung gemacht haben, eine solche zuständliche Situation als
Regelwerk zu benützen, um aktuelle Situationen durch Explikation
von Bedeutungen aus ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit zu klären.
Damit wäre die erste Sprache, gleich als ganze Situation dem Mensch
in die Hand, um nicht zu sagen: in den Mund, gefallen. Daß sie mundgerecht
würde, d. h. ein Lautkleid ihrer Sätze erhielt, verdankt sie
ihrer Anwendung auf die aktuellen Situationen, wobei die Herausforderungen
antagonistischer Einleibung durch stimmliche Reaktionen des vitalen Antriebs
in solidarischer Einleibung der Beteiligten erwidert wurden, mit der Folge,
daß die Gemeinsamkeit solidarischer Einleibung ein gemeinsames Lautbild
der Sprache zustande brachte. Eine allmähliche Sprachentwicklung
wäre dann nur der Ausbau und die Verfeinerung einer Sprache, die
von Anfang an als ganze als zuständliche Situation, als Nomos - da
war. (Vgl. Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, 2012, S. 235-249).
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 262-263).
Die Sprache, einmal da, erwies sich als ein ungeheuer mächtiges
Instrument zur redenden Darstellung und Identifizierung von Sachverhalten,
Programmen und Problemen, die als einzelne aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit
von Situationen freigelegt wurden, und zur Kombination solcher Bedeutungen
zu Konstellationen, mit denen die ausgebeuteten Situationen rekonstruiert
und überholt werden konnten. Dieser Prozeß hätte irgendwo
steckenbleiben können; ihm kam aber ein anderer Prozeß zu Hilfe,
der über das selbständig gewordene Umgehen mit allerlei Einzelnem
weit hinausführte und diesem Umgehen einen Rahmen schuf, die Struktur
eines Feldes, in dem alle mögliche Vereinzelung unterkommen konnte.
Dieser zweite Prozeß lag nicht mehr in der Hand der Menschen, sondern
nahm sie mit. Es handelt sich um die Entfaltung der primitiven Gegenwart,
anknüpfend bei jedem ihrer fünf Momente, denen die Chance der
Vereinzelung zuteil wurde, um Fortsetzungen aus sich hervorwachsen zu
lassen, in denen, statt bloß absolut identischer Gegenstände
mit unspaltbaren Verhältnissen im Leben aus primitiver Gegenwart,
einzelne Gegenstände in Beziehungen zusammenhängen. Das Ergebnis
war die Welt, in der ein unabsehbarer, beliebig erweiterbarer Vorrat von
Gattungen Gelegenheit gibt, sich an allem mit Vereinzelung zu versuchen,
selbst wenn diese nicht zu Ende geführt werden kann, sondern sich
- wie beim absolut konfusen Mannigfaltigen, in dem es nicht einmal absolute
Identität gibt - mit ganzen Massen begnügen muß, über
die nur summarisch quantifiziert werden kann. Die Welt ist für die
Menschen also einerseits das fünffach strukturierte Feld der ihnen
zugänglichen Einzelheit und andererseits der Vorrat alles dessen,
was, weil es unter Gattungen steht, Gelegenheit gibt, sich im Seienden
(dem Wirklichen) und dem damit unlöslich verbundenen Nichtseienden
daran zu versuchen, wie weit die Vereinzelung sich treiben läßt.
Mit dem affektiven Betroffensein (der Subjektivität) und der leiblichen
Kommunikation wird die absolute Identität in die Welt übertragen
und für die Vereinzelung bereitgestellt. Die Welt ist entfaltete
Gegenwart. Mit den fünf Seiten dieser Entfaltung will ich mich nun
beschäftigen. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 263-264).
Die Welt als entfaltete Gegenwart
Der Raum
Die primitive Gegenwart zeichnet nur einen streng absoluten
Ort aus, inmitten der Weite, in die dann im anschließenden Leben
aus primitiver Gegenwart unumkehrbare leibliche Richtungen führen,
die Weite in Gegenden gliedernd. Die Vereinzelung durch Entbindung von
Gattungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen macht es
möglich, dem absoluten Ort des Leibes (sowie den absoluten Orten
von Leibesinseln) einzelne relative Orte anzuschließen, die zu sagen
gestatten, wo etwas ist, und sich gegenseitig durch Lagen und Abstände
bestimmen (identifizierbar machen). Lagen und Abstände können
nur an umkehrbaren Verbindungen abgelesen werden, wobei der Abstand sogar
in beiden Richtungen, vor und nach der Umkehrung, derselbe ist. Die leiblichen
Richtungen sind aber unumkehrbar. Um zu umkehrbaren Verbindungen übergehen
zu können, bedarf es eines leibfremden Mediums. Dieses Medium ist
die Fläche, die als unverhofftes, unableitbares Geschenk dem Menschen
zuteil wird. Mit der Fläche beginnt die Entfremdung des Raumes vom
Leib. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, während
man sie als glatte Oberfläche des eigenen Körpers besehen und
betasten kann. Der leibliche Raum, der Raum des Lebens aus primitiver
Gegenwart, ist flächenlos wie der Raum des Schalls oder des Wassers
für den Schwimmer. In diesen Räumen gibt es keine umkehrbaren
Verbindungen, namentlich keine Strecken und Punkte. Solche werden erst
im Abstieg von der Fläche, durch Eintragung in diese oder an Bruchstellen
(Kanten bzw. Ecken) möglich. Die Fläche ist dagegen unmittelbar
zugänglich, wenn auch nicht ganz ohne Schwierigkeit, da sie dem Sehen
durch Glanz und Schatten, dem Tasten durch unglatte Beschaffenheit von
Oberflächen verdeckt wird. Erst von der Fläche her erschließt
sich der Unterschied der Dimensionen des Raumes. Das gilt auch für
dreidimensionale Körper. Wir glauben, sie unmittelbar zu sehen, aber
wir sehen eigentlich nur ihre Oberflächen oder die Schnittflächen,
wenn sie aufgeschnitten werden, wohinter die dreidimensionale Masse sich
weiter unsichtbar verbirgt. Diese Zerlegung des Körpers in eine Fassade
(die Oberfläche) und ein ewig unzugängliches Innen hat etwas
Paradoxes. Das wird anschaulich an der Abendmahlstheorie von Descartes.
Es handelt sich um die mysteriöse Verwandlung von Brot und Wein in
Fleisch und Blut Christi, ein Dogma der katholischen Kirche. Descartes
erklärt sie sich so: Bei der Konsekration durch den Priester in der
Messe verwandelt Gott das Brot in Fleisch, den Wein in Blut, beläßt
aber die Oberfläche des Brotes und des Weines, so daß für
die sinnliche Wahrnehmung, der das massive Innere entzogen ist, alles
beim Alten bleibt. So unzugänglich ist das massive Innere fester
Körper, daß sich ein Wunder darin verstecken kann: Das Rätsel
verschwindet, wenn man das Volumen der Körper nicht mehr als dreidimensional
auffaßt, sondern als dynamisch, wie das Wasser dem sich gegen es
vorkämpfenden Schwimmer begegnet. So, ohne Zerlegung in Oberflächen
und Inneres, bietet sich das Volumen im Leben aus primitiver Gegenwart
dar, und ich zweifle sehr, ob Tiere jemals mit Flächen zu tun haben.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 265-266).
Das Geschenk der Fläche ist von großem Wert
für die personale Emanzipation, die Erhebung des Menschen als Person
aus dem Leben aus primitiver Gegenwart. Die sich quer dem Blick und dem
Vordringen des berührenden und tastenden Körpers in den Weg
stellende Fläche fängt den Druck der Herausforderungen antagonistischer
Einleibung mehr oder weniger ab und entlastet so den Menschen von der
Befangenheit in aktuellen Situationen der Auseinandersetzung; er gewinnt
Spielraum für privative Weitung und mögliche Besinnung, womit
ich eben den Ursprung der Sprache in Verbindung gebracht habe. In der
begegnenden Fläche gewinnt der Mensch einen Spielraum für das
Eintragen umkehrbarer Verbindungen, zwischen den Zielen seines Blickens
und Berührens; er lernt, spielerisch zu zeichnen, figürlich
oder unfigürlich. So lernt er den Umgang mit umkehrbaren Verbindungen,
darunter solchen, die den unumkehrbaren Zug der leiblichen Richtungen
in die Weite umkehren, um zum eigenen Körper, wo auch sein Leib zu
finden ist, zurückzukehren. Er lernt im buchstäblichen und im
übertragenen Sinn, auf sich zu reflektieren, sich als Objekt unter
Objekten zu finden und den eigenen Körper wie die Umgebung nach Lagen
und Abständen aufzugliedern. Daraus erwächst das perzeptive
Körperschema. Ich vermute, daß der Weg dahin dem Menschen durch
die Parasiten an seiner Haut gebahnt wurde, die seinen Händen den
Weg zur abwehrenden Selbstbetastung wiesen. (Hermann F.-H. Schmitz,
Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 266-267).
Für die Raumform bietet das Geschenk der Fläche mit
der Möglichkeit, Netze umkehrbarer paarender Verbindungen zwischen
den Zielen der Richtungen leiblicher Zuwendung zu probieren, die Chance
der Ergänzung des leiblichen Richtungsraumes aus dem Leben aus primitiver
Gegenwart zum Ortsraum aus relativen Orten, die gestatten, zu sagen, wo
etwas ist, wo es geblieben ist, wohin es sich bewegt hat. Die einzelnen
Richtungsziele können vom Zusammenhang in unspaltbaren Verhältnissen
befreit und durch Lagen und Abstände über umkehrbaren Verbindungen
zwischen ihnen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Mit Hilfe von Punkten
und Strecken, die sinnfällig aus Kanten und Ecken dargestellt werden
können, kann von den Flächen zur dritten, voluminösen Dimension
aufgestiegen werden, und durch Ansetzen von Flächen an Flächen
mit Winkeln lassen sich dreidimensionale Volumina umranden, so daß
die geometrische Auffassung der Körper als dreidimensionale Gebilde,
statt der dynamischen nach Art des Schall - und Atemvolumens, möglich
wird. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 267).
Die Einführung des Ortsraumes als System relativer
Orte muß eine begriffliche Schwierigkeit überwinden, die mit
der unerläßlichen Voraussetzung von Ruhe verbunden ist. Innerhalb
des Ortsraumes ist Ruhe als Beharren am Ort, Bewegung als Wechsel des
Ortes definiert. Das läßt sich nur halten, wenn der Ort durch
Lage und Abstand an ihm befindlicher Objekte zu ruhenden Bezugsobjekten
identifiziert wird. Wenn diese Bezugsobjekte sich nämlich bewegten,
ohne daß die Objekte an dem zu identifizierenden Ort gleichförmig
mitliefen, hätten sich deren Lagen und Abstände zu den Bezugsobjekten
geändert, ohne daß sie die Stelle gewechselt hätten; sie
hätten sich also sowohl bewegt (durch Wechsel des Ortes) als auch
geruht (durch Verharren am Ort). Ruhe und Bewegung wären nicht mehr
unterscheidbar. So weit darf es nicht kommen, wenn der Ortsraum seine
Orientierungsleistung behalten soll. Ruhe der Bezugsobjekte ist also Voraussetzung
für die Einführung relativer Orte; andererseits sind relative
Orte Voraussetzung für die Einführung der Ruhe, sofern diese
als Beharren am Ort verstanden wird. Der Ort setzt Ruhe, Ruhe setzt den
Ort voraus; das ist ein Zirkel, der die begriffliche Einführung eines
Ortsraumes verhindert, wenn nicht auf ein vorgängiges Ruheverständnis
zurückgegriffen wird. Ein solches kann nur den Ortsraum fundierenden
Schichten flächenloser räumlicher Organisation abgewonnen werden,
dem leiblichen Raum und dem Gefühlsraum. Es gibt ruhige Abendstimmung,
ruhige Gelassenheit, ruhiges Wasser, das den Schwimmer in Rückenlage
trägt. Aus solchen Erfahrungen weiß man, was Ruhe ist und kann
im Raum Gegenstände finden, die einen ruhigen Eindruck machen. An
solche Gegenstände kann man bei der Einführung eines Ortsraumes
- eines Systems relativer Orte - anknüpfen. Die Feinjustierung, was
sich für den planenden und prüfenden Umgang als ruhend bewährt,
kann man dann weiteren Erfahrungen und Erprobungen überlassen. Dieses
Verfahren ähnelt dem nachher zu besprechenden bei der Einführung
von Uhren mit Voraussetzung gleichförmiger Bewegung. Man muß
sich zunächst auf den bloßen Eindruck der Gleichförmigkeit
verlassen, den man anschließend nach praktischen und wissenschaftlichen
Bedürfnissen zurechtrücken kann. (Hermann F.-H. Schmitz,
Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 267-269).
Das vorgebrachte Argument für die Unselbständigkeit
des Ortsraumes, der für zirkelfreie begriffliche Einführung
tiefere Schichten der räumlichen Organisation voraussetzt, wird nicht
berührt durch das Relativitätsprinzip (von Galilei), wonach
die Entscheidung über Ruhe oder Bewegung von dem gewählten Bezugssystem
abhängig ist: In einem geschlossenen Raum ruhen Objekte, die beim
Blick aus dem Fenster oder von außen als bewegt imponieren. Diese
Relativität erfordert höchstens den Wechsel des Ortsraumes,
der ja keineswegs für immer derselbe sein muß, oder vielmehr
die Verschachtelung von Ortsräumen ineinander, betrifft aber nicht
die notwendige Voraussetzung von Ruhe der Bezugsobjekte bei dessen Einführung.
Die noch weitergehende Relativierung in der Einstein'schen Relativitätstheorie
braucht hier nicht berücksichtigt zu werden. Sie betrifft lediglich
die Anpassung sogenannter Naturgesetze an die Zwecke physikalischer Prognose
und der dadurch ermöglichten technischen Anwendungen und setzt einen
etablierten Ortsraum allein schon für die Zeitmessung - nach Extensivierung
der Dauer zur Zeitstrecke - längst voraus. Hier handelt es sich um
die Bedingungen für die Einführung von Ortsräumen.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 269).
Der genaue Begriff eines relativen Ortes kann nach dieser Vorbereitung
etwa so gefaßt werden: »Wenn F Frist ist und A ein Gegenstand
aus der Menge G der Gegenstände, die sich während einer Teilfrist
von F (sie kann auch F sein) in Beziehungen der Lage und des Abstandes
zu allen während der gesamten Frist F ruhenden Objekten befinden,
dann ist der relative Ort von A während einer Teilfrist f von F die
Menge aller geordneten Paare, bestehend aus einem Element g von G als
erstem und einer Teilfrist von F als zweitem Glied, sofern diese g während
der betreffenden Teilfrist zu allen während der gesamten Frist F
ruhenden Objekten gleiche Lagen und Abstände haben, wie A während
f.« (Die Frist Fist die Zeit der Dauer des betreffenden Ortsraumes,
der aus den geordneten Paaren der angegebenen Art besteht.) (Hermann
F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 269).
Die Zeit
Die Entfaltung der Gegenwart im Raum gelingt so gut,
daß ihre eben als unerläßlich nachgewiesenen Vorstufen
vergessen werden können. Im Raum achten die Menschen fast nur noch
darauf, wo etwas ist, wohin und wovon weg etwas ( einschließlich
ihrer selbst) sich bewegen muß, um etwas zu erreichen; daß
sie mit jeder flüssigen Bewegung in den Richtungsraum des Lebens
aus primitiver Gegenwart zurückfallen (4.1), kommt ihnen kaum je
zu Bewußtsein. Ähnlich gut gelingt die Verdrängung der
Abkunft der Welt aus der Entfaltung der primitiven Gegenwart an deren
anderen nicht - zeitlichen Momenten, dem Sein, der Identität, der
Subjektivität. Die Unterscheidung des Wirklichen vom Unwirklichen
gelingt im Alltag selbstverständlich; niemand fragt, woher er den
Maßstab nimmt, da doch eine zirkelfrei fürmulierbare Unterscheidung
(ein Kriterium der Wirklichkeit) ausgeschlossen ist. Darüber, daß
die Identität, in entfalteter Gestalt als relative Identität,
für selbstverständlich gehalten wird, habe ich im Vorstehenden
genug geklagt. Die Subjektivität wird fast nur im Zusammenhang mit
personaler Selbstzuschreibung beachtet; deren Voraussetzungen hängen
vom Leib ab, den ich gerade erst aus der Gletscherspalte jahrtausendelanger
Vergessenheit hervorgezogen habe. So gut gelingt nach vier Seiten die
Entfaltung der Gegenwart. Mit ihrer zeitlichen Seite steht es anders.
Die Entfaltung des Jetzt der primitiven Gegenwart ist auf halber Strecke
liegen geblieben. Dadurch werden die Menschen, wenn auch meist ohne Besinnung
darauf, an die Abhängigkeit der Welt von ihrem Ursprung, dem Geschehen
der primitiven Gegenwart im plötzlichen Andrang des Neuen, erinnert.
Sie erfahren unablässig das Vergehen der unter dem Druck dieses Andrangs
zerrissenen Dauer. Die Tragödie des unablässigen Abschieds von
dem, was nicht mehr ist, wird durch die damit verbundenen anderen tragischen
Züge der Zeit - die Flüchtigkeit der Gegenwart, die Auslieferung
an eine undurchsichtige Zukunft - zum Zittern des Lebens ausgebaut. Diese
Unvollkommenheit der zeitlichen Entfaltung der Gegenwart, die sich auch
in theoretischen Aporien bemerkbar macht (*),
dürfte damit zusammenhängen, daß es in der Zeit kein Analogon
der Fläche gibt, eines leibfremden Geschenks an die Entfaltung, das
dieser die Gelegenheit gibt, sich über ihren Ursprung hinwegzusetzen.
(* Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie
der Zeit, 2014, S. 168-181). (Hermann F.-H. Schmitz, Welt,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 270-271).
Der Fluß der Zeit, daß die Vergangenheit
wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt, verstrickt
die Menschen aber nicht nur in die Grausamkeit des Abschieds von dem,
was nicht mehr ist, sondern leistet ihnen auch unentbehrliche Hilfe beim
Ernten der Früchte der Entfaltung der Gegenwart zur Welt. Es geht
um die Hilfe beim Spalten der Verhältnisse in Beziehungen. Wenn das
nicht gelänge, hätte der Mensch nicht viel von seiner satzförmigen
Rede, die ihm die Konstruktion von Netzen aus Bedeutungen zur Vereinzelung
beliebiger absolut identischer Gegenstände als Fälle von Gattungen
gestattet. Er könnte dann zwar besser die Situationen, aus denen
er bei der Vereinzelung schöpft, durchschauen, sich davon Rechenschaft
geben, aber er könnte nicht beweglich mit ihnen umgehen; er müßte
sich an die gegebenen Verhältnisse halten, statt sie in Beziehungen
zu zerlegen und durch Umknüpfen der Beziehungen andere Verhältnisse
auszuprobieren. Er wäre in der Lage des Besitzers einer Landkarte,
der die darin enthaltenen Informationen über Lagen und Abstände
zwar ablesen, aber nie dazu benützen kann, sich auf den Weg zu machen.
Beziehungen unterscheiden sich von Verhältnissen dadurch, daß
sie gerichtet sind, von etwas (Referens) auf etwas (Relat), eventuell
durch etwas (Zwischenglieder). Wie findet man aus Verhältnissen die
Richtung, die man zu ihrer Spaltung einschlagen muß? Das ist nicht
so leicht, wie man denken mag. Der Spaltung wird vom Verhältnis kein
Ansatzpunkt geboten; alles ist mit allem gleichmäßig verknüpft.
Die Wahl einer Richtung zum Eindringen in das Verhältnis setzt voraus,
daß schon mehrere Richtungen zur Auswahl vorliegen. Der Spaltende
kann aber nicht anders in das Verhältnis eindringen, als indem er
eine von mehreren möglichen Richtungen einschlägt. Von sich
aus hat er keine Gelegenheit, das vorausgesetzte Angebot dieser Möglichkeiten
bereitzustellen. Sein Wählen müßte die Richtung erst finden
und schon gefunden haben. In dieser Verlegenheit kommt ihm die Richtung
des Flusses der Zeit zu Hilfe. Indem sein Blick - der optische oder der
Blick bloßer Vergegenwärtigung - über das Verhältnis
gleitet, wächst die Vergangenheit und schrumpft die Zukunft, nicht
umgekehrt. Damit hat er schon die Richtung gefunden; der Fluß der
Zeit, der seinen Blick in eine Richtung führt, hat sie ihm geschenkt,
durch das Wachsen der Vergangenheit, die Spur des Zerreißens der
Dauer mit Abschied ins Vorbeisein. Die Tragik der Zeit, die den Menschen
in die Rolle des Verlierers gegen das Schicksal bringt, erhebt ihn auch
zum Gewinner, indem sie ihm durch das Spalten der Verhältnisse in
Beziehungen die Chance gibt, sich vor diesem Schicksal frei zu bewegen.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 271-272).
Die Zeit in der Welt wird von drei Komponenten gebildet:
Dauer, Modalzeit, Lagezeit. Die Dauer ist so etwas wie der Stoff der Zeit,
der von der Modalzeit und anschließend von der Lagezeit geformt
wird. Sie zerfällt, wie schon gesagt wurde, in die im Vergehen (ins
Vorbeisein, Nichtmehrsein) zerrissene und die dieser assoziierte unzerrissene
Dauer, die hauptsächlich in Gestalt zuständlicher Situationen
vorliegt, in kleinteiligen »Paradestücken« auch als Zeitgestalt,
musikalisch (z. B. Melodien) oder leiblich (Gang, Atmung). Die Modalzeit
ist eine Einteilung von Zeitinhalten in vergangene, gegenwärtige
und zukünftige mit dem Fluß der Zeit, daß die Vergangenheit
wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt. (Mit den
Wörtern »Vergangenheit«, »Gegenwart«, »Zukunft«
bezeichne ich im folgenden Massen von Zeitinhalten, die entsprecheneden
Eigenschaften, einer solchen Masse anzugehören, dagegen das als Vergangensein
bzw. Gegenwärigt bzw. Zukünfigkeit). Vergangen ist, was nicht
mehr ist; gegenwärtig ist, was ist in der Weise, nicht mehr noch
nicht und noch nicht nicht mehr zu sein; das Wort »Zukunft«
ist dagegen doppeldeutig: Es bezeichnet einerseits das, was noch nicht
ist (aber einmal sein wird), andererseits das, was noch möglich ist.
Wie sich beides zueinander verhält, wird gleich erörtert. Die
Lagezeit besteht in der Beziehung des Früheren zum Späteren
oder Gleichzeitigen. Als Beziehung setzt sie, anders als die Modalzeit,
Vereinzelung voraus, ist also erst in der Welt möglich. Sie kommt
als modale Lagezeit in der Verbindung mit der Modalzeit vor und ist als
reine Lagezeit, abstrahiert von der Modalzeit, die Zeit der theoretischen
Physik (nicht der physikalischen, namentlich experimentellen Praxis),
ein Abstraktionsprodukt ohne Stütze in der Erfahrung, das die Beziehungen
wieder in ein spaltbares Verhältnis zusammenzieht (wie eine Landkarte
die Abstände). (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 272-273).
Ich beginne die Erörterung mit der Dauer. Was die
Menschen denken, liegt oft weit ab von dem, was sie erleben. Das trifft
besonders auf die Dauer zu. Die Menschen erleben sie im Wechsel entspannten
Verweilens unzerrissener Dauer mit dem Druck des bis zum Zerreißen
gespannten Geschehens unter dem Andrang des Neuen; sie denken sich die
Dauer als gleichmäßiges, vom Pulsieren des Spannungsgrades
unberührtes Verfließen wie Newton: »Die absolute Zeit
fließt gleichmäßig, und mit einem anderen Namen heißt
sie Dauer.« (Isaac Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica,
Definition VIII, Scholium) ). Die so verstandene Dauer ist eine extensive
Größe, eine solche, die durch Schnitte in Teile zerlegt und
aus diesen wieder unversehrt zusammengesetzt werden kann. Sie dient dazu,
Veränderungen in der Dimension der Geschwindigkeit, d. h. nach Graden
der Schnelligkeit oder Langsamkeit, zu messen. Veränderung hat zwei
Dimensionen. Eine davon ist die Phasenfolge. Sie stimmt bei stetiger Veränderung
von A nach B (z. B. einer Bewegung auf festgelegter Bahn) für schnellere
und langsamere Veränderung überein. Die andere Dimension ist
die Dauer. Sie ist bei schnellerer Bewegung kürzer, bei langsamerer
länger. Geschwindigkeit ist also die Gestalt der Dauer einer Veränderung.
Um diese Dauer so zurechtzumachen, daß sie als extensive Größe
zur Bemessung der Geschwindigkeit taugt, ist ihre Projektion in den Raum
vermöge der gleichförmigen Bewegung einer Uhr erforderlich.
Man versteht dann die Zeit räumlich, nach Art einer Strecke, deren
Länge man mit der geraden oder gebogenen Bahn vergleicht, die von
der Bewegung der (natürlichen oder künstlichen) Uhr überstrichen
wird. Geschwindigkeit ist dann Weg durch Zeit, genauer der Quotient der
Division des Maßes der durchlaufenen Strecke durch das Maß
der Zeitstrecke; je kürzer diese, je größer also der Quotient
(bei gegebener Bahn) ist, desto schneller ist die Bewegung. Das Entsprechende
gilt für intensive Veränderungen, die durch räumliche Bewegungen
an Meßapparaten gemessen zu werden pflegen. Der Haken in dieser
Auffassung der Geschwindigkeit besteht in ihrer Angewiesenheit auf die
gleichmäßige Bewegung einer Uhr. Wann ist eine Veränderung
gleichmäßig oder gleichförmig? Genau dann, wenn sie weder
schneller noch langsamer wird. Anders kann man Gleichförmigkeit nicht
bestimmen. Dann aber kann man Geschwindigkeit, also Schnelligkeit oder
Langsamkeit, nicht ohne Zirkel mit Hilfe der Gleichförmigkeit einführen.
Die Auffassung der Dauer als extensive Größe (Zeitstrecke)
ist also ungeeignet, begrifflich zu bestimmen, was als Geschwindigkeit
einer Veränderung gemessen werden soll. Um darüber klar zu werden,
muß man nach einem von der Verräumlichung zur extensiven Größe
unabhängigen Verständnis der Dauer suchen. Wenn dieses gefunden
ist, kann sich die Extensivierung als nützlich erweisen, ja als unentbehrlich,
um die Geschwindigkeit zu messen. Mit der Dauer verhält es sich wie
mit der Wärme. Wärme ist intensiv, aber zwecks Messung wird
sie auf eine für gleichförmig gehaltene räumliche Bewegung
(des Quecksilbers im Thermometer) abgebildet, in der Hoffnung, daß
beide Veränderungen im Ausmaß einander entsprechen. Das ist
offensichtlich nicht der Fall, weil die Bewegung laut Voraussetzung gleichförmig
variiert, die Wärme aber sprunghaft. Man begnügt sich mit ungefährer
Anpassung. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 273-275).
Die Länge und Kürze der Dauer bei schnellerer
oder langsamerer Veränderung ist demnach nicht als extensive, skalierbare
Länge und Kürze zu verstehen, sondern als Qualität, die
intensiver Mehrung und Minderung fähig ist. Dabei handelt es sich
um den schon besprochenen Gegensatz von Vergänglichkeit und Fortwähren,
zerrissener oder zerreißender und ins Vorbeisein verabschiedeter
Dauer, und unzerrissener Dauer, die den Abschied übersteht. Mit zunehmender
Schnelligkeit wird die Veränderung flüchtiger, vergänglicher,
hastiger, enger, gepreßter, dichter zusammengezogen; umgekehrt ist
die langsamere Veränderung offener zur Weite hin, lockerer, entspannter;
sie läßt sich gleichsam mehr Zeit. Hierbei handelt es sich
um synästhetische Massencharaktere, die ebenso wie an der Dauer am
Schall vorkommen, im Gegensatz heller, hoher Töne und Geräusche
zu dunklen und dumpfen, sowie am gespürten, eigenen Leib im Gegensatz
von Frische und Müdigkeit. Der dunkle Schall klingt locker, weich,
schwerfällig, weit ausladend, dumpf und dröhnend im Gegensatz
zum beweglichen, spitzen, festen, kompakten, dabei zarteren Wesen des
hellen, hohen Schalls. Ähnlich verhalten sich die Masseneigenschaften
einprägsamer Stille, z. B. drückender Mittagsstille gegen zarte
Morgenstille. Auf diese Weise sind Länge und Kürze der Dauer
einer Veränderung Variationen einer intensiven Größe,
eingespannt in den Gegensatz epikritischer Engung in Richtung auf primitive
Gegenwart und protopathischer Weitung in Richtung auf das unerschöpfte
Urkontinuum. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 275).
Nun will ich die These von der intensiven Natur der Dauer durch
Beispiele bekräftigen. Zunächst wähle ich die Dauer der
Töne und Klänge. Eine langgezogene Phrase eines gregorianischen
Chorals läßt sich nicht in Teile zerlegen und aus diesen wieder
zusammensetzen. Eine Lachsalve Ha-Ha-Ha klingt bei gleicher Uhrdauer ganz
anders als die gregorianische Phrase. Zwar mißt man die Länge
der Töne mit kurzen Tönen aus, etwa einen Ganzton mit zwei halben
Tönen. Dabei muß man sich, wenn man nicht Uhren zu Hilfe nimmt,
auf die intuitive Abschätzung zweier sukzessiv gehörter Töne
als halb so lang verlassen und prüfen, ob sie zum seIben Zeitpunkt
wie der Ganzton begonnen und zum selben späteren Zeitpunkt aufgehört
haben. Damit hat man bereits eine extensivierende Umdeutung des Schalls
vorgenommen, denn in dessen flächenlosem Raum kommen weder Punkte
noch Strecken vor. Nach dieser Umdeutung kann man über extensive
oder intensive Größe der Dauer nicht mehr urteilen. (Hermann
F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 275-276).
Ebenso intensiv wie die Dauer der Töne ist die Dauer der
Bewegung im Raum. Ich denke zunächst an die ungleichförmige
Bewegung, die stetig schneller oder langsamer wird. Wäre ihre Dauer
eine extensive Größe, so könnte sie in Teile zerlegt werden,
von denen jeder eine Geschwindigkeit hätte, da das Ganze, als extensive
Größe aufgefaßt, sie als Quotient von Weg durch Zeit
meßbar besitzt. Tatsächlich könnte aber kein Teil eine
solche Geschwindigkeit haben, weil diese sich beständig ändert.
Die Differentialrechnung ersetzt diesen Mangel durch die Momentangeschwindigkeit,
die aber keine Geschwindigkeit ist, sondern der Limes konvergenter Geschwindigkeitsänderungen.
Die Geschwindigkeit als Dauer einer ungleichförmigen Bewegung kann
also keine extensive Größe sein, wohl aber in eine solche umgedeutet
werden. Für die Dauer einer gleichförmigen Bewegung besteht
dieses Hindernis der Extensivierung nicht, aber sie kann nur begrifflich
bestimmt und beobachtet werden, wenn man sie in Teile zerlegt und unter
diesen einen Wechsel der Geschwindigkeit ausschließt, und solche
Zerlegung in Teile bedarf wieder der Anlehnung an eine räumliche
Strecke, wie bei der Uhr. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 276).
Man kann als weiteren Beleg für die intensive Natur der Dauer
diesen Beispielen die erlebte Zeitraffung an die Seite stellen. Manchmal
vergeht die Zeit wie im Fluge, manchmal dehnt sie sich uferlos, beglückend
als verweilende Gegenwart, quälend als Langeweile. Diese Beispiele
zeigen, wie wenig homogen die Dauer ist. Newtons Vorstellung von ihrem
gleichförmigen Fluß stammt aus ihrer Umdeutung ins Räumliche
und Extensive mit Hilfe der Uhr. Aus derselben Quelle stammt das Vorurteil,
die Zeit könne nicht schneller oder langsamer verlaufen, sondern
nur im unerbittlichen Gleichtakt. Dieser Gleichtakt ist eine Folge ihrer
Egalisierung mit Hilfe der angeblich gleichförmigen Bewegung einer
Uhr. Die Zeit, von der dann die Rede ist, ist eine extensivierende Überformung
der Dauer, und diese ist als intensive Größe breit gestreut
und vieler Tempi fähig; erst das Bedürfnis der Menschen nach
einer überall übereinstimmenden Zeitordnung prägt ihr das
Gleichmaß auf. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 276-277).
Näher betrachtet, hat nach dem Gesagten die intensive
Dauer nicht nur eine einzige Dimension ihrer Vermehrung oder Verminderung,
sondern zwei solche Dimensionen, die aber ineinander verschränkt
sind: intensive Länge und intensive Dichte. Sie stehen in umgekehrt
proportionalem Verhältnis: Je kürzer, desto dichter, enger und
gepreßter ist die Dauer (als intensive, nicht als mit der Uhr gemessene),
und je länger und weiter, desto lockerer und entspannter, sei es
gelassen oder in schlaffer Passivität wie bei Langeweile, die dann
wieder als Frustration bedrängen kann. Diese Polarität wird
übergangen und weggewischt, wenn die Menschen daran gehen, die Zeit
zwecks Messung zu egalisieren. Sie sind dazu genötigt, weil sie nicht
mehr wie die Tiere vom Nomos der Situationen, in denen sie leben, geführt
werden, sondern vermöge ihrer satzförmigen Rede aus Situationen
ausbrechen, diese in den Griff nehmen und umgestalten können. Dafür
brauchen sie eine Orientierung, die sie sich selbst geben können,
indem sie das Gegebene geeignet umdeuten. Eines der wichtigsten Einsatzgebiete
solcher Umdeutung ist die Dauer. Um überleben zu können, benötigen
die Menschen Zeitmessung und Zeiteinteilung und zu diesem Zweck die Egalisierung
der Dauer durch Projektion in den Raum mit Hilfe der gleichförmigen
Bewegung einer Uhr. Die Natur ist so freundlich, ihnen eine Gelegenheit
dazu in Gestalt der als gleichförmig imponierenden Bewegung himmlischer
Signale zur Verfügung zu stellen. Die Menschen haben die dadurch
ermöglichte Kunst des Umgangs mit der Dauer so perfektioniert, daß
sie deren Intensität kaum noch bemerken, gleich als ob sie von der
Wärme nur noch dadurch Notiz nähmen, daß sie das Thermometer
ablesen. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 277-278).
Ich beschließe nun die Untersuchung der Dauer und
wende mich zur Modalzeit und anschließend zur Lagezeit. Die Wirklichkeit
der Modalzeit, die ich 1964 (System der Philosophie Band I) wegen ihrer
Bestimmung durch die Unterschiede von Sein und Nichtsein so genannt habe,
wird von verschiedenen Seiten bestritten: von Metaphysikern, die - im
Christentum mit Rücksicht auf Gott - alles sub specie aeternitatis
betrachten, neuerdings von Physikern, die im Gefolge der Relativitätstheorie
und ihrer Anwendung auf die Quantenphysik aus der Zeit im Rahmen einer
Raum - Zeit - Union so etwas wie eine vierte Dimension des Raumes und
eine statische Blockzeit machen wollen, und von analytischen Philosophen
(wie Mellor), denen Subjektivität zuwider ist und damit die Modalzeit,
in der sie eine »bloß subjektive« Abspiegelung der Lagezeit
sehen. Gegen solche Einwände setze ich meine Gründe zur Rehabilitation
einer voll wirklichen Modalzeit. Diese sind teils ad hominem, teils ad
rem gerichtet. Ad hominem gehen die Gründe, die Wissenschaftlern
nachweisen, daß ihre eigenen Ansprüche auf wissenschaftliche
Tätigkeit mit einer Leugnung der Modalzeit unverträglich sind.
Dabei wende ich mich besonders an die Naturwissenschaftler. Für ihre
Theorien mag die Leugnung der Modalzeit bequem sein, aber die Theorien
sind keine Wissenschaft, wenn es keine Bestätigung für sie gibt,
und dazu ist ganz besonders in der Physik - das Experiment erforderlich.
Der Experimentator stellt sich aber notwendig auf den Boden der Modalzeit,
deren Wirklichkeit er damit anerkennt, denn das Experiment ist nur sinnvoll,
wenn er beim Anfang noch nicht weiß, was herauskommen wird,
so daß sein Kenntnisstand dann nicht mehr der vorige ist;
das aber sind Ausdrücke, die nur im Rahmen einer Modalzeit Sinn haben.
Aber auch der Wissenschaftler, der die Bestätigung seiner Aufstellungen
nicht erst von einem Experiment erwartet, muß sich zur Modalzeit
bekennen, wenn er seiner wissenschaftlichen Haltung treu bleiben will.
Zu dieser gehört nämlich die Bereitschaft, seine Aufstellungen
kritisch prüfen zu lassen, statt sich von vornherein für unfehlbar
zu halten. Damit bekennt er sich zu der Bereitschaft, von der Kritik etwas
zu lernen, das er bei der ersten Aufstellung seines Ergebnisses noch nicht
weiß, und sei es nur dessen von kompetenten Kritikern bestätigte
Stichhaltigkeit, so daß sein Kenntnisstand dann gleichfalls nicht
mehr der vorige ist. Auch das impliziert, wie im Fall des experimentellen
Naturwissenschaftlers, ein Bekenntnis zur Modalzeit. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 278-279).
Das wichtigste Argument ad rem, also ohne speziell disponierte
Adressaten, geht davon aus, daß ohne Modalzeit nichts jetzt ist;
es fehlt dann die ausgezeichnete Gegenwart, die z. B. das dritte Jahrtausend
christlicher Zeitrechnung vorläufig allen anderen Jahrtausenden dadurch
voraus hat, daß es die Gegenwart beherbergt. Wenn aber nichts jetzt
ist, hat auch der einzelne Mensch keinen ihm mit unweigerlicher Einschränkung
angewiesenen zeitlichen Standpunkt in seinem Leben, auf den er mit Heideggers
Ausdruck - »geworfen« ist. Sein Leben durchläuft zwar
frühere und spätere Zustände, die jeweils anders bestimmt
sind, aber sie sind gleichmäßig Zustände seiner eigenen
Lebensgeschichte, von denen ihm zeitlich keiner nähersteht als ein
anderer. Auf seinen Kenntnisstand bezüglich besagt das z. B., daß
er als Kind nicht so viel weiß wie der erfahrene Gelehrte, zu dem
er später geworden sein mag, aber er hat keinen Anlaß, sich
eher für den Gelehrten als für das Kind oder umgekehrt zu halten.
Der Unterschied im Kenntnisstand gleicht dem zwischen seinem Kopf und
seinen Füßen, wenn ihm im Kopf warm und in den Füßen
kalt ist, und beide Körperteile mit ihren Zuständen sind ihm
in gleicher Weise zugänglich. Diese Vorstellungsweise kommt mir so
wirklichkeitsfremd vor, daß sie mir zu genügen scheint, die
Leugnung einer Modalzeit zu widerlegen. Man kann noch das Argument anschließen,
daß bei Einebnung des Unterschiedes zwischen Schonsein des Gegenwärtigen
und Nochnichtsein des Zukünftigen zwar das Zukünftige so gut
wirklich wäre wie das Gegenwärtige, aber doch nicht alles Offenbarsein
dieses Zukünftigen, so daß wenigstens ein Rest des Nochnichtseins
bliebe. Dieses Argument wird allerdings den nicht überzeugen, der
bestreitet, daß er, wenn er weiterlebt, noch irgendetwas lernen
kann. Ich glaube nicht, daß ein Vernünftiger so denken wird.
Schließlich bezeugen zwei schon gewonnene grundsätzliche Ergebnisse
die Wirklichkeit der Modalzeit: der Ursprung der absoluten Identität
in der primitiven Gegenwart (3.4), deren Spur in die Weltzeit die Modalzeit
ist, und die vorhin nachgewiesene Unentbehrlichkeit des Flusses der Zeit
für das Spalten der Verhältnisse in Beziehungen. (Hermann
F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 279-280).
Mit der Entfaltung der Gegenwart zur Welt kann der Modalzeit
eine Lagezeit aufgeladen werden, weil die Möglichkeit beliebiger
Vereinzelung Gelegenheit gibt, den Fluß der Zeit durch einzelne
Daten zu gliedern. Ein Datum ist eine Menge gleichzeitiger, d.
h. gemeinsam gegenwärtiger Ereignisse, die entlang dem Wachsen der
Vergangenheit und entsprechender Verminderung der Zukunft nach Anzeichen
der Erinnerung, Berichten und Übereinkunft zu einer Reihenfolge des
Früheren und Späteren verbunden werden, wobei sie sich überschneiden.
Damit die Überschneidung nicht überhandnimmt, greift man aus
der Menge ein charakteristisches Ereignis heraus und beschränkt das
Datum als Datum dieses Ereignisses auf die Menge der mit ihm gleichzeitigen
Ereignisse. Die Überschneidung wäre nur vermeidbar, wenn man
die Daten bis zur Dauerlosigkeit verkürzte; das ist aber eine gedankliche
Fiktion. Da die Zukunft durch die Möglichkeit projizierender Vereinzelung
für das beziehende Erwarten geöffnet ist, kann die lagezeitliche
Reihenfolge in sie hinein, fortgesetzt werden. So ergibt sich eine Reihe
vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Gegenwarten in Gestalt
von Daten, in der die echte, unmittelbare zeitliche Gegenwart zu einem
Datum unter Daten nivelliert ist, mit der Folge, daß die Rede von
Gegenwart äquivok wird: Entweder ist die echte, unmittelbare Gegenwart
gemeint, die gegenwärtige Gegenwart, wie man tautologisch sagen muß,
oder irgendeine Gegenwart, ein Datum, das auch vergangen oder zukünftig
sein kann. Diese Doppeldeutigkeit und Tautologie ist ein Zeugnis für
die Abkunft der Lagezeit aus der Modalzeit; ohne Orientierung am Fluß
der Zeit, am Wechsel der Gegenwart beim Wachsen der Vergangenheit und
Schrumpfen der Zukunft, wüßte man gar nicht, welche Zeitinhalte
(Dinge, Ereignisse, Zustände usw.) zu einem Datum zusammengestellt
werden sollten. Von der Bindung an die (echte ) Gegenwart kann die Lagezeit
befreit werden, indem man nach ihrer Aufstellung unter allen Daten ein
Datum als die Mitte auszeichnet, von dem die Reihe nach beiden Seiten
geordnet wird; es kann sich z. B. um das vermeintliche Datum der Geburt
Christi oder der Flucht Mohameds handeln. (Hermann F.-H. Schmitz,
Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 280-281).
Über das begriffliche Verhältnis von Modalzeit und Lagezeit,
die Frage, ob eine durch die andere definiert werden kann und gegebenenfalls
welche durch welche, ist in der analytischen Philosophie viel diskutiert
worden; das noch lesenswerte Buch von Bieri gibt darüber Aufschluß
(vgl. Peter Bieri, Zeit und Zeiterfahrung, 1973). Die Bevorzugung
der Lagezeit führte zu dem Versuch, die Gegenwart und damit die Modalzeit
durch die sogenannte Reflexive-token-Analyse lagezeitlich zu definieren,
nämlich »gegenwärtig« als »gleichzeitig mit
dieser Äußerung«. Obwohl man in England merkwürdig
lange diesen (von Reichenbach ausgehenden) Vorschlag gepflegt hat, ist
er ersichtlich unlogisch. Das zeigt sich schon bei der Selbstanwendung:
Die Äußerung »Diese Äußerung ist gegenwärtig«
hätte nach der Token-reflexive Analyse den Sinn von: »Diese
Äußerung ist gleichzeitig mit dieser Äußerung«,
also mit sich selbst, aber jede Äußerung ist gleichzeitig mit
sich selbst, und doch ist nicht jede Äußerung gegenwärtig.
Außerdem ist die Analyse zirkelhaft, denn sie setzt voraus, daß
diese Äußerung gegenwärtig ist, was nicht selbstverständlich
ist, da die Gegenwartsgewißheit trügen kann (wofür Goethe
viele Beispiele gibt [vgl. Hermann Schmitz, Goethes Altersdenken im
problemgeschichtlichen Zusammenhang, 1959, S. 212-216; Hermann Schmitz,
System der Philosophie, Band II Teil1: Der Leib, 1965, S.
270; Hermann Schmitz, Das Ganz-Andere - Goethe und das Ungeheure,
in: Goethe und die Verzeitlichung der Natur, hg. v. Peter Matussek,
1998, S. 414-435]). Darüber hinaus ist jede begriffliche Reduktion
der Modalzeit auf die Lagezeit unmöglich, weil Vergangensein, Gegenwärtigkeit
und Zukünftigkeit (in Sinne von Nochnichtsein) Existenz-Inductiva
(2.1) sind, die lagezeitlichen Grundbegriffe des Früheren und Späteren
dagegen Attribute; jede Umdeutung von Existenz-Inductiva in Attribute
ist unzulässig. Aussichtsreich ist dagegen das umgekehrte Verfahren,
die lagezeitlichen Attribute modalzeitlich zu umschreiben, ohne sie in
Existenz-Inductiva umzudeuten. Die modalzeitliche Definition des Früherseins
kann so lauten: A ist früher als B, wenn A vergangen ist,
wenn B gegenwärtig ist. Dieses »wenn« ist zweifach zu
verstehen, gemäß einer Fallunterscheidung: Bist wirklich gegenwärtig,
dann ist A vergangen, oder B ist nicht gegenwärtig, aber, wenn B
gegenwärtig wäre, wäre A vergangen. Dieser grammatische
Irrealis hat folgenden Sinn: In jeder möglichen Welt, die sich von
der wirklichen Welt nur durch Verschiebung der Gegenwart auf ein anderes
Datum und die damit verbundenen Verschiebungen des Vergangenseins und
der Zukünftigkeit unterscheidet und in der B gegenwärtig ist,
ist A vergangen. Wegen des Irrealis wird durch diese Begriffserklärung
das Frühersein nicht zum Existenz-Inductivum gemacht. Die Definitionen
von »später« und »gleichzeitig« folgen demselben
Schema. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 281-282).
Aus der Lagezeit filtert die theoretische Physik durch
Vernachlässigung des modalzeitlichen Hintergrundes eine reine Lagezeit
ab, in der es nichts gibt, das jetzt ist, d. h. keine vor allen anderen
Daten (vergangenen und künftigen Gegenwarten) ausgezeichnete zeitliche
Gegenwart eines jeweils einzigen, aber wechselnden Datums. Beim Nachweis
der Wirklichkeit einer Modalzeit habe ich gezeigt, daß der Physiker
zur wissenschaftlichen Bestätigung seiner Theorie in die Modalzeit
hinabsteigen muß, wo etwas jetzt im Gegensatz zu noch-nicht (nicht
etwa nur zu später) ist. In der Theorie kann es zweckmäßig
sein, davon zu abstrahieren. Dann fragt sich aber, woher die Maßgabe
für die Anordnung der früheren und späteren Zeitinhalte
zu nehmen ist, wenn die Orientierung am Fluß der Zeit ausfällt.
Die Relativitätstheorie wählt statt dessen die Richtung der
Signalübertragung durch Licht. In der reinen Lagezeit gibt es zwar
unterscheidbare Richtungen, aber keine Möglichkeit, eine davon auszuzeichnen.
Die reine Lagezeit ist mit allen ihren Inhalten wie eine Landkarte, eine
Sammlung spaltbarer Verhältnisse, aus denen Richtungen hervorgehen,
von denen keine vor den anderen ausgezeichnet ist. Die Physiker bilden
sich zwar ein, mit irreversiblen Prozessen wie dem Wachsen der Entropie
der Zeit eine Richtung geben zu können, aber das ist ein Mißverständnis.
Jeder in der reinen Lagezeit beschreibbare Ablauf kann durch bloße
Umkehr der Reihenfolge in die Gegenrichtung umgewendet werden, ohne daß
ein Grund zu finden wäre, eine Richtung vor der anderen zu bevorzugen.
Um bei der Entropie zu bleiben: In einer reinen Lagezeit kann man nicht
entscheiden, ob Glassplitter aufsteigen und sich zu einem Wasserglas vereinigen,
ob Filme rückwärts laufen, Menschen rückwärts gehen
und ihre Sprüche von hinten nach vorne sprechen, oder ob das Gegenteil
der Fall ist. Für dieses kann sich nur der Physiker als lebender
Mensch entscheiden, indem er in die Modalzeit herabsteigt. Die sogenannten
irreversiblen Prozesse sind vom Standpunkt einer Theorie, die nur mit
der reinen Lagezeit operiert, in Wirklichkeit bloß monotone Funktionen,
in denen der Wert der abhängigen Variablen bei Steigerung der unabhängigen
niemals absinkt, ohne daß eine Richtung ausgezeichnet würde.
Es verhält sich wie bei der Potenzfunktion natürlicher Zahlen,
in der trotz der Monotonie die Richtung von der Wurzel zur Potenz so wenig
ausgezeichnet ist wie die umgekehrte Richtung. Vorhin wurde darüber
hinaus gezeigt, daß sogar die bloße Spaltung eines Verhältnisses,
in diesem Fall des Verhältnisses des Früheren und Späteren
in einer reinen Lagezeit, des Beistandes der Modalzeit bedarf. (Hermann
F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 282-284).
Die Beschränkung auf eine reine Lagezeit als Zeitform
ist also schon deshalb für die Bestimmung des Inhalts der Welt nicht
geeignet, weil sich die Richtung des Ablaufs von Prozessen mit ihr nicht
fassen läßt. Es handelt sich um ein Kunstprodukt der Abstraktion
für spezielle Zwecke theoretischer Prognose. Die Lagezeit ist nicht
wirklich von der Modalzeit ablösbar. Im Gegensatz dazu ist eine Modalzeit
ohne Lagezeit nicht nur denkbar, sondern wirklich. Ich spreche dann von
reiner Modalzeit. Bei personalen Menschen kommt sie wohl nur in hyperkinetischen
oder (seltener) hypokinetischen Ausnahmezuständen vor, wie in Wut,
Panik, Ekstasen, sowohl in kollektiven als auch in individuellen wie dem
»flow« des Motorradfahrers. Sie dürfte aber für
Tiere und Säuglinge die normale Zeit sein, in der sie leben. In der
reinen Modalzeit taucht die Einzelheit noch nicht oder höchstens
labil und sporadisch auf, und statt der Beziehung gibt es unspaltbare
Verhältnisse, aber zu Vergangenheit und Zukunft auf verschiedene
Weise: Die Perspektive in die Vergangenheit ist durch die Erfahrung des
Vorbeiseins im Zerreißen der Dauer geöffnet, aber der Abschied
ist gedämpft durch die von Husserl entdeckte, wenn auch singularistisch
mißverstandene Retention (*), das intensive
Absinken der Gegenwart, und überwölbt durch zuständliche
Situationen, die der Abschied nicht angreift. (*
Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, 2014, S. 70-74,
241-248). Die Zukunft dringt dagegen im Andrang des Neuen als Appräsenz
so unmittelbar in Gegenwart ein, daß sie sich nicht als Spielraum
für Erwartungen öffnet, wohl aber in Situationen für Programme
und Protentionen zugänglich ist. Protentionen im hier gemeinten Sinn
sind Sachverhalte, auf die man unwillkürlich gefaßt ist, in
der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen, aus der sie für
Personen bei Überraschung und Enttäuschung einzeln hervortreten,
während für das Tier die Situation, mindestens die aktuelle,
einfach abreißt. Weder die Programme noch die Protentionen beziehen
sich in reiner Modalzeit auf Einzelnes, wenn auch schon auf absolut Identisches,
das vom Nomos einer Situation zum Zugriff freigegeben wird. Die reine
Modalzeit, eine Zeit des Entstehens und Vergehens, bleibt hinter der Lagezeit
nur dadurch zurück, daß sie nicht durch einzelne Daten gegliedert
ist. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum
wirklichen Leben, 2016, S. 284-285).
Die Gliederung durch in Früher-Später-Ordnung gereihte
Daten, das Spezifikum der Lagezeit, braucht nicht durch Abstände
metrisiert zu sein. Das Bedürfnis zusätzlicher Metrisierung
wurde von prominenten Zeitdenkern verkannt, so von Leibniz und in seiner
Abhandlung über die Zeit bis fast zum Schluß von Aristoteles.
(Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, 2014, S. 276-279,
301-310). Eine prämetrische Lagezeit kommt in der Erfahrung allerdings
selten vor. Ein packendes Beispiel ist der Bericht eines Flüchtlings
von seinem Abstieg in dem durch einen terroristischen Flugzeugangriff
zum Einsturz gebrachten World Trade Center am 11. September 2001: »1
couldn't tell how long we'd been in there. Time has vanished. There was
no time. There was only descent. There was only counting and walking and
counting, circling around again and again.« Was der Berichterstatter
beschreibt, ist eine prämetrische Lagezeit, gegliedert nach Daten
im beständig sich wiederholenden Abstieg von Stockwerk zu Stockwerk,
aber ohne zeitliche Abstände, die von der auf das Entkommen gerichteten
Angst übergangen werden. Die Metrisierung der Zeit durch Abstände
zwischen den Daten ist dem Berichterstatter so selbstverständlich,
daß er ihren Ausfall als Zeitlosigkeit interpretiert. (Hermann
F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 285).
Die Metrisierung der Zeit wird möglich durch die für
gleichförmig gehaltene Bewegung einer Uhr, die es gestattet, einer
Strecke im Raum eine entsprechende Zeitstrecke zuzuordnen. Das räumliche
Nebeneinander gestattet den Vergleich verschiedener Zeitstrecken, der
sonst nur in der Erinnerung an sukzessive Darbietungen möglich wird.
Die Dauer, eigentlich eine intensive und ohne Ordnung gestreute Größe,
wird auf diese Weise extensiv und gleichförmig, indem ein Maß
für die Länge der Abschnitte zwischen den Daten festgelegt werden
kann. Die am Sonnenstrand oder am Fixsternhimmel als Uhr abgelesene Zeit
wird z. B. in Jahre, Tage, Minuten, Sekunden gegliedert. Mit Hilfe solcher
Abstände können die Daten in der metrisierten - anders als in
der prämetrischen - Lagezeit ohne Überschneidungen abgegrenzt
werden. Die zur Zeitmessung benötigte Raumstrecke kann gerade sein,
wie bei Sand- und Wasseruhren, oder eine geschlossene Kurve, am besten
ein Kreis. Diese Lösung hat den Vorteil, mit der Längengleichheit
der durchlaufenen Einheitsstrecken vom und bis zum Ausgangspunkt, gleichförmige
Bewegung vorausgesetzt, die Gleichheit der Dauer der Durchlaufungen zu
sichern, während die Längengleichheit der in gerader Bewegung
durchlaufenen Teilstrecken mit zusätzlichem Vergleich und Messung
gesichert werden muß. Zugleich liefert die periodische Bewegung
eine natürliche Skalierung der Zeit. In beiden Fällen wird aber
die Konstanz eines zum Start der Bewegung gewählten relativen Ortes
vorausgesetzt, so daß die unter 4.3.1 erörterte Problematik
der Ruhe bei Einführung eines Ortsraumes auch auf die Zeitmessung
abfärbt. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 285-286).
Ob es die egalisierte und extensivierte Dauer als metrisierte
Lagezeit »gibt«, ist eine müßige Frage. Es gibt
sie so sehr und so wenig wie die Luft und den elektrischen Strom, d. h.
die Auffüllung von Halbdingen zu Volldingen im Interesse kausaler
Durchordnung und Übersichtlichkeit der Welt. Anders könnten
die Menschen nicht überleben, da sie nach Ausbruch aus dem Gefängnis
der Situationen nicht mehr instinktiv von Programmen aus der binnendiffusen
Bedeutsamkeit aktueller und zuständlicher Situationen gesteuert werden,
sondern sich selbst zurechtfinden müssen. Dazu benötigen sie
zwecks Zeitmessung und Zeiteinteilung eine extensivierte und egalisierte
Dauer. Diese ist zwar von ihnen gemacht, aber nicht willkürlich,
sondern in spontaner und danach planmäßig ausgebauter Reaktion
auf unabweisbaren Bedarf. Wenn dieser Bedarf befriedigt ist, reizt es
die Menschen, die zu seiner Befriedigung erworbene und erprobte Kunst
dem Luxus des Wechsels ihrer Bedürfnisse dienstbar zu machen. Den
Volldingen als konstanten Ursachen potentieller, absehbarer Einwirkungen
werden als weitere Konstanten allgemeine Naturgesetze übergestülpt,
die in weit dichterem Zusammenhang voraussehen lassen, was man bei Eingriffen
in den Gang des Geschehens zu erwarten hat und wovor man sich hüten
sollte. Die Zeitmessung paßt sich diesen aus im Experiment bewährten
Regeln der Prognose verallgemeinerten vermeintlichen Naturgesetzen an.
Ein Beispiel ist die spezielle Relativitätstheorie, eine Reaktion
auf die experimentell erforderlich gewordene Umstellung von Prognosen
für die Messung der Geschwindigkeit von Lichtstrahlen. Wenn durch
solche Neuerungen die Prognosefähigkeit breiter und sicherer wird,
gibt es keinen Grund zum Einhalten auf dem eingeschlagenen Weg naturwissenschaftlich-technischen
Fortschritts. Die Phänomenologie befindet sich im besten Einvernehmen
mit der Relativitätstheorie, da es gar keine Reibungsflächen
gibt. Die Relativierung durch die Relativitätstheorie betrifft nur
die Metrik der extensivierten und egalisierten Lagezeit. Diese läuft
nicht mehr einfach parallel zum Fluß der Zeit, sondern muß
von diesem aus durch komplizerte Umrechnung gefunden werden, um sie den
revidierten Naturgesetzen anzupassen. Von den Hintergründen, für
die die Phänomenologie sich interessiert - die intensive Dauer, die
Modalzeit, den Fluß der Zeit, das Geschehen der primitiven Gegenwart
- nimmt die Physik und mit ihr die Relativitätstheorie keine Notiz.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 286-287).
Die Modalzeit vereinigt sich mit der extensivierten und
metrisierten Lagezeit zur modalen Lagezeit, der Zeit, die die Menschen
kennen als die Zeit, in der sie gewöhnlich leben. Dabei gewinnt die
Lagezeit von der Modalzeit die Richtung des Wachstums aus dem Wachsen
der Vergangenheit dessen, was vorbei ist, die Modalzeit von der extensivierten
Lagezeit die Gliederung in Teilstrecken zwischen Daten. Die modale Lagezeit
umfaßt das Entstehen und Vergehen, d. h. den Übergang - in
nicht bloß zeitlichem Sinn spricht man doch auch von ineinander
übergehenden Farben - von Nochnichtsein in Sein und von Sein in Nichtmehrsein,
und gibt ihren Inhalten einen zeitlichen Ort, der die Frage wann?
zu beantworten erlaubt, wie der räumliche Ort die Frage wo?
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 287-288).
Die modale Lagezeit kann nicht leer sein: als Modalzeit nicht,
weil Entstehen und Vergehen etwas voraussetzen, das entsteht und vergeht;
als prämetrische Lagezeit nicht, weil deren Daten Mengen von Zeitinhalten
sind; als Dauer nicht, weil diese eine intensive Größe ist
wie die Wärme; als metrisierte Lagezeit nicht, weil diese zur intensiven
Dauer nur deren Verräumlichung mittels gleichförmiger Bewegung
hinzubringt. Die modale Lagezeit ist nicht ein Rahmen, der bloß
umfaßt, was sich in ihr abspielt und auch ohne solchen Rahmen auskommt,
sondern sie ist ihr eigener Inhalt in der Form der modalen Lagezeit: zuerst
das Entstehen und Vergehen, das Zerreißen der Dauer durch den Gegenwart
exponierenden Andrang des Neuen, der unzerrissene Dauer übrig läßt,
in die das Neue Seiendes nachschiebt, so daß sich Vergehen und Entstehen
die Waage halten; sodann die von der Entfaltung der primitiven Gegenwart
in die Welt gebrachte Lagezeit mit einzelnen Daten und gegen den Andrang
des Neuen der Erwartung geöffneter Zukunft; schließlich die
Einführung meßbarer Zeitabstände durch Extensivierung
der Dauer. Alles, was diese Ereignisse und Zustände durchmacht, ist
in der modalen Lagezeit, und sie ist nichts als das, was sich auf diese
Weise abspielt. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 288).
Ein brennendes und für das menschliche Selbstverständnis
zentrales Problem betrifft die Zukunft der modalen Lagezeit. Es handelt
sich um die Frage, ob und in welchem Maße die Zukunft geschlossen
(als Inbegriff dessen, was noch nicht ist, aber sein wird) oder offen
(als Inbegriff dessen, was noch möglich ist) ist, insbesondere, ob
die offene Zukunft einen Überschuß über die geschlossene
hat und, wenn ja, welchen. Wenn die Zukunft nur die geschlossene ist,
steht für alles im voraus fest, was sein wird; alles Gegenwärtige
ist dann aus der Zukunft determiniert. Man kann nichts mehr daran ändern.
Dann lohnt es sich nicht mehr, sich Mühe zu geben, wie Amiel einmal
eine Stimmung beschreibt, die ihn ergriffen hat. (Hermann F.-H.
Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016,
S. 288-289).
Das Gegenteil, daß die offene Zukunft einen Überschuß
über die geschlossene hat, ergibt sich aus dem unter 2.3 bewiesenen
Satz, daß der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung für
jeden beliebigen Gegenstand falsch ist. Das gilt auch für jeden zukünftigen
Gegenstand. Ein solcher ist also immer nur unvollständig bestimmt.
Von einem unvollständig bestimmten Gegenstand kann es aber keine
genaue, d. h. bezüglich jeder möglichen Bestimmtheit als etwas
zutreffende Kopie geben. Eine solche Kopie des Zukünftigen müßte
aber das Gegenwärtige sein, wenn sich die Zukunft auf das beschränkte,
was (nur) noch nicht ist. Im Gegenteil eröffnet jede unvollständige
Bestimmtheit verschiedene Möglichkeiten der Bestimmung. Diese Möglichkeiten
sind ein Überschuß der offenen Zukunft über die geschlossene.
Es fragt sich nun, wie weit dieser Überschuß geht. Möglich
ist alles, was sich ohne Widerspruch denken läßt, genauer gesagt:
Jeder Sachverhalt kann eine Tatsache sein, und jeder Spruch einer Behauptung,
der keinen Widerspruch zur logischen Folge hat, stellt einen Sachverhalt
dar. Demnach ist in der Zukunft alles möglich, denn aus ihr kann
man alles wegdenken, ohne daß ein Widerspruch entsteht, wenn auch
ein Umräumen ihres Inhalts nötig wird. Der Überschuß
der offenen Zukunft über die geschlossene ist also unbeschränkt,
abgesehen von trivialen analytischen Tatsachen, die bei Strafe eines Widerspruchs
logisch notwendig sind. Die geschlossene Zukunft setzt der offenen keine
Schranke; sie ist in dieser enthalten, wird aber erst durch das Entstehen
aus dieser ausgesondert. Die geschlossene Zukunft ist insofern eine nachträgliche
Zukunft dessen, was vor dem Entstehen noch nicht gewesen ist; was in ihr
einzeln ist, läßt sich zwar schon vorher ansprechen, aber erst
durch das Entstehen kommt es dazu, daß es vorher zu dem gehört
hat, was noch nicht war, aber einmal sein würde. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 289-290).
Ein altes Argument für den Fatalismus, das von Aristoteles
und Cicero überliefert (vielleicht von Aristoteles ausgedacht) ist
und bis heute umstritten wird, ist so gebaut: Das Bevorstehen irgendeines
zukünftigen Zeitinhaltes kann im voraus, gegenwärtig sowohl
als auch in der Vergangenheit, sowohl behauptet als auch bestritten werden,
sei es von derselben Person oder von mehreren, die miteinander diskutieren.
Dann ist nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten mindestens eine der
beiden zueinander kontradiktorischen Behauptungen wahr. Aus der Wahrheit
einer Behauptung folgt aber die Tatsächlichkeit des behaupteten Sachverhalts.
Mit dem wahren Spruch ist also jetzt schon die Tatsächlichkeit des
Bevorstehens des behaupteten Sachverhalts besiegelt, auch wenn noch niemand
wissen kann, welcher von beiden Sprüchen wahr ist. Daraus kann man
wegen der Beliebigkeit des ausgewählten Falles schließen, daß
für gar keinen Inhalt der Zukunft offen ist, ob er entstehen wird
oder nicht. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 290).
Der Fehler des Argumentes besteht darin, nur von der geschlossenen
Zukunft Notiz zu nehmen, also von dem, was sich durch wirkliches Entstehen
als etwas bewährt, das zuvor noch nicht war, aber einmal sein wird.
Man vergleiche die beiden Sätze: »Eine zutreffende Vorhersage
dessen, was noch nicht ist, aber sein wird, ist jetzt schon wahr«,
» Eine zutreffende Vorhersage dessen, was sein wird oder nicht sein
wird, ist jetzt schon wahr.« Der erste Satz ist wahr, und darauf
beruft sich das Argument; er betrifft aber nur die geschlossene Zukunft.
Der zweite Satz betrifft die offene Zukunft, ist aber sinnlos, weil es
eine Voraussage dessen, was sein wird oder nicht sein wird, nicht geben
kann; sie müßte je offen lassen, ob es sein wird oder nicht
sein wird, und wäre dann keine Voraussage. Das Argument rechnet aber
nur mit der erst nachträglich, in der anschließenden Gegenwart
und Vergangenheit, ausgesonderten geschlossenen Zukunft, die nachträglich
allerdings feststeht, und beweist ganz richtig, daß in dieser geschlossenen
Zukunft nichts mehr offen ist. Die nachträgliche Entscheidung darüber,
was zu ihr gehört, die erst durch das Entstehen fällt, wird
ignoriert und die daraus nachträglich resultierende Zukunft auf die
ganze Zukunft projiziert, so daß für die offene Zukunft von
vornherein kein Platz mehr bleibt. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 290-291).
Die Offenheit der Zukunft hat eine Folge in der Frage
nach einer Strömung des Flusses der modalen Lagezeit. Der Fluß
der Zeit hat seine Richtung vom Wachsen der Vergangenheit und Schrumpfen
der Zukunft, und dabei bleibt es, gleich ob man ihm eine regressive oder
eine progressive Strömung zuschreibt. Regressiv ist der Andrang des
Neuen, der Dauer zerreißt und in die Vergangenheit des Nichtmehrseins
verabschiedet; daher paßt zur primitiven Gegenwart und zur reinen
Modalzeit die regressive Strömung. Progressiv wäre ein Druck
von der Vergangenheit her mit der Gegenwart an der Spitze, die sich in
die Zukunft hineinfrißt, doch ist dies vielleicht ein Mythos eines
naiven Kausaldenkens, das hinter jedem Geschehen einen Motor vermutet,
während es sich darum handelt, daß das Fortwähren unzerrissener
Dauer dem Andrang des Neuen immer wieder Angriffspunkte für aktuelle
Situationen bietet. Jedoch kommt die Offenheit der Zukunft der Vorstellung
einer progressiven Strömung entgegen, unter der Voraussetzung, daß
die modale Lagezeit ihre eigenen Inhalte ist. Eine Zukunft, die als geschlossene
noch nicht ist und sich im Entstehen regressiv in die Gegenwart stürzen
könnte, steht in der offenen Zukunft vor dem Entstehen nicht fest;
sie wächst mit dem Entstehen im Fluß der Zeit in die Zukunft
hinein. Das ist ein Grund, diesem Fluß eine progressive Strömung
zuzuschreiben. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 291-292).
Das Sein
Das Sein ist im Geschehen der primitiven Gegenwart und manchmal
in der reinen Modalzeit sehr packend gegenwärtig, in leiblicher Enge
am Rande des Vorbeiseins deutlich bis zum Gestelltsein von ihm ohne Spielraum.
Das Nichtsein steht ihm dann aber nur mit einem schmalen Abschnitt gegenüber,
als Nichtmehrsein der zerrissenen Dauer. In der Welt entfaltet das Sein
sich zum Gegenteil des Nichtseins in der vollen Breite des Nichtseienden,
verliert dabei aber an Eindringlichkeit, so daß es meist nur noch
als Klassifikationsmerkmal des Seienden benützt wird, wenn man sich
vor Illusionen hüten will. Mit dieser Lockerung der Eindringlichkeit
mag es zusammenhängen, daß es der Einzelheit gelingt, in der
Welt die Grenze vom Seienden zum Nichtseienden zu überspringen. Das
ist die Voraussetzung für die spezifisch personalen Fähigkeiten
des Menschen, sich zu erinnern, zu erwarten, zu hoffen und zu fürchten,
zu phantasieren, zu planen und zu wagen. Alles das vermögen die Tiere
nicht, da sie nicht zur Emanzipation des Seins in der Welt gelangen und
schon gar nicht zur Projektion von Einzelnem ins Nichtseiende. (Hermann
F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 292).
Der Umgang mit Einzelnem im Nichtseienden stößt aber
an die Schwierigkeit, daß es sich in den meisten Fällen nicht
eindeutig kennzeichnen läßt. Eine Ausnahme macht das Erinnern,
da die Vergangenheit mit allem Nichtmehrseienden zur wirklichen Welt gehört.
An ein vergangenes Ereignis kann man sich genau so eindeutig erinnern,
wie man seine Aufmerksamkeit auf ein gegenwärtiges richten kann.
Bei fiktiven Gegenständen und solchen der Zukunft ist das unmöglich.
Sie können allerdings im Netz der phantasierten Geschichte oder der
auf die Zukunft gerichteten Erwartung eine Stelle haben, an der sie durch
eine in diesem Rahmen eindeutig bezeichnende Eigenschaft oder Beziehung
eingebunden sind, aber an diese Stelle passen immer unendlich viele Fälle
von Gattungen aus möglichen Welten, ohne daß man wissen kann,
in welche mögliche Welt der betreffende Gegenstand gehört. Für
eine poetische Figur gibt es immer unendlich viele Kandidaten, die nur
die Bedingung erfüllen müssen, alle Merkmale zu besitzen, die
der Dichter ihnen zuschreibt oder offensichtlich unterstellt. Man kann
zwar auch nicht alle Attribute eines gegenwärtigen oder vergangenen
Gegenstandes kennen, aber man kann sie eindeutig kennzeichnen, als diejenigen,
die er in der wirklichen Welt besitzt; das Entsprechende ist für
fiktive Gegenstände nicht möglich, weil man nicht sagen kann,
in welche mögliche Welt sie gehören. Gleiches gilt für
die Inhalte der offenen Zukunft. Auch sie gehören noch nicht zur
wirklichen Welt, weil nicht feststeht, welche von ihnen noch nicht sind,
aber einmal entstehen werden. Sie haben unendlich viele Attribute, von
denen die wenigsten bekannt sind, während die übrigen, je nachdem,
wie sie ausfallen, für unendlich viele verschiedene Gegenstände
reichen. Das ist der Grund dafür, daß die Erwartung sich im
Gegensatz zur Erinnerung gewöhnlich und legitimerweise auf Sachverhalte
und nicht auf Individuen richtet, also z. B. darauf, daß ein Kind
mit gewissen Eigenschaften und Beziehungen geboren werden wird, aber nicht
auf dieses Kind, das zwar im Netz der Erwartungen seinen festen, eindeutig
bestimmten Platz hat, ohne daß man aber wüßte, welches
Kind es sein wird. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 292-293).
Die Identität
Die Entfaltung der absoluten Identität in der Welt besteht
darin, daß sich die absolute Identität zur relativen Identität
von etwas mit etwas ergänzt, indem ein absolut identischer Gegenstand
verschiedene Gattungen als ihr gemeinsamer Fall bündelt. Nachdem
der erste, entscheidende Schritt zum Übergang in die Welt, die Explikation
einzelner Gattungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen
mit anschließender Kombination zu Konstellationen, getan ist, bietet
schon die Subsumtion (das Fallen) unter eine einzige Gattung der dadurch
einzelnen absolut identischen Sache die Gewähr, in einem konsolidierten,
nach Unterschieden geordneten Netz von Gattungen aufgefangen und stabilisiert
zu werden. Die relative Identität, wodurch sie nicht nur einmal in
einem solchen Netz befestigt ist, macht die Sache vielseitig; welcher
gewaltige Gewinn für diese daraus abfallen kann, hat sich unter 3.5
daran gezeigt, daß die Selbstzuschreibung und Selbstbestimmung der
Person nur auf diese Weise möglich ist. Eine noch höhere Stufe
der Wendigkeit und Beweglichkeit wird durch relative Identität erreicht,
wenn dieselbe Sache durch ihr Fallsein nicht nur an verschiedene Stellen
eines Netzes von Bedeutungen andockt, sondern auch an verschiedene, eventuell
gegensätzliche Netze, wodurch sie auf verschiedene Weisen, die gegeneinander
ausgespielt werden können, beleuchtet wird. Diese Möglichkeit
zu erkennen und auszuarbeiten, war die Leistung der vorplatonischen Sophisten,
die von Platon zu Unrecht denunziert worden sind, besonders des Protagoras,
der in diesem Sinn »die schwächere Rede zur stärkeren
machen«, »über jede Angelegenheit entgegengesetzte Reden
führen« wollte und dazu zwei Bücher Antilogien
verfaßte. (Vgl. Hermann Schmitz, Der Weg zur europäischen
Philosophie, Band I, 2007, S. 135). Es handelt sich um die Entdeckung
der Nuance, die keineswegs einer böswilligen Verdrehungskunst zu
dienen braucht, sondern im Gegenteil dazu verhelfen kann, einer von Vorurteilen
herabgesetzten Sache eine bessere Würdigung in einer anders konzipierten
Sichtweise zu verschaffen. Diese Kunst ist unentbehrlich, wenn es gilt,
unverträglich scheinende Überzeugungen und Programme, je aus
dem Nomos eigenständiger Situationen der Kultur oder Tradition stammend,
aufeinander abzustimmen. Wer die Kunst der Nuance beherrscht, hat einen
weiteren Horizont und ist potentiell klüger als der Dogmatiker, der
immer gleich die richtige Antwort oder wenigstens die Methode, diese zu
finden, zur Hand hat. Zu solcher gehobenen Intelligenz befähigt die
relative Identität den Menschen. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 293-295).
Die Subjektivität
Der zuvor bloß absolut identische Bewußthaber wird
in der Welt zum einzelnen Subjekt und zur Person, indem er sich durch
Selbstzuschreibung als Fall verschiedener Gattungen versteht; ob er sich
dabei vergreift, z. B. in wahnhafte Selbstverkennung, darauf kommt es
nicht an. Die präpersonalen Voraussetzungen dieser Personwerdung
sind aus den Abschnitten 1.1 und 3.5 bekannt. Selbstzuschreibung ist nur
möglich durch Vorbekanntschaft mit sich in einem identifizierungsfreien
Sichfinden, das im affektiven Betroffensein stattfindet, wobei dieses
für die Freiheit von Identifizierung auf die primitive Gegenwart
angewiesen ist, in der das identifizierende Sichfinden durch unspaltbares
Verhältnis zwischen dem affektiv betroffenen Bewußthaber und
einem absolut identischen Etwas ersetzt wird. Wer der Bewußthaber
ist, darüber geben die objektiven Tatsachen, wie die Polizei sie
ermitteln kann, keine Auskunft, wohl aber führt von den subjektiven
Tatsachen zu den objektiven ein Weg durch Abschälung der Subjektivität,
durch Neutralisierung. Dies sei ins Gedächtnis gerufen. (Hermann
F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 295).
Um sich in der Welt zurechtzufinden, benötigt der personale
Bewußthaber außer den bisher erörterten Errungenschaften
des Fallseins unter einem System einzelner Gattungen, der Spaltung von
Verhältnissen in Beziehungen, der Projektion von Einzelheit ins Nichtseiende
- eine weitere Voraussetzung: die Neutralisierung subjektiver Bedeutungen
(Tatsachen, untatsächliche Sachverhalte, Programme, Probleme) durch
Abfallen der Subjektivität für ihn. Man sieht das an schweren
Träumen, wenn sich der Träumer vor Not und Verlegenheit nicht
zu helfen weiß und froh ist, wenn er, erwachend, merkt, daß
es nichts gewesen ist. In einem solchen Traum sind jene Voraussetzungen
erfüllt; er kann sogar hoffen und fürchten, also Einzelnes ins
Nichtsein projizieren; und doch ist er gelähmt, weil er sich nicht
in Sachlichkeit distanzieren, Möglichkeiten nicht kühl und kritisch
abwägen kann, sondern in seiner bedrängten Subjektivität
befangen bleibt. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 295-296).
Im Leben aus primitiver Gegenwart sind alle Bedeutungen
für jemanden subjektiv, so auch im Leben des Säuglings; noch vor
Ablauf des ersten Lebensjahres pflegt beim normalen Menschen das Erwachsen
zu beginnen, die Entfremdung auf Grund der Entlassung gewisser Tatsachen
in Neutralität. Das Kind fühlt sich vom Fremden gestört.
Am Gegensatz zu diesem bildet sich allmählich das Eigene heraus,
auf der Grundlage der subjektiv gebliebenen Bedeutungen. Das Eigene, das
sich lebenslang entwickelt und verschiebt, hat zwei Gestalten; die persönliche
Eigenwelt (im Gegensatz zur persönlichen Fremdwelt) und die persönliche
Situation. Zur persönlichen Eigenwelt gehören alle für
die Person subjektiven Bedeutungen und solche Sachen, für die der
(tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, daß sie
existieren, für die Person subjektiv ist; es können auch viele
Illusionen und Phantasiegebilde dazu gehören, so daß auch untatsächliche
Sachverhalte berücksichtigt werden müssen. Volkstümlicher
gesagt: Zur persönlichen Eigenwelt gehört alles, woran die Person
in Zuneigung oder Abneigung (Abwehr) »hängt«. Zur persönlichen
Fremdwelt gehören alle Bedeutungen, die aus der persönlichen
Eigenwelt durch Neutralisierung ausgeschieden sind, und alle Sachen, für
die der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, daß
sie existieren, von dieser Art ist. Zur persönlichen (zuständlichen)
Situation gehört, was die Person innerhalb ihrer persönlichen
Eigenwelt sich selbst zurechnet, insbesondere also die für sie subjektiven
Bedeutungen. In der persönlichen Situation treiben und reiben sich,
gleitend wie zähflüssige Massen, viele partielle Situationen,
teils retrospektive wie Kristallisationskerne der Erinnerung, die wie
Halbdinge vergessen werden und (auch mit Modifikationen) wieder auftauchen,
teils präsentische Situationen wie Standpunkte, habituelle Interessen,
der Sprachschatz, die Gesinnung, die Fassung, die Lebenstechnik, und prospektive
Situationen, die (oft schwer faßbar) andeuten, worauf die Person
hinaus oder wovon sie weg will; diese können auch im Streit liegen.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 296-297).
Die Herausschälung des Eigenen am Gegensatz zu dem
durch Neutralisierung und Entfremdung in die persönliche Fremdwelt
Verwiesenen ist personale Emanzipation. Da aber die Person ohne
die Verankerung in der leiblichen Dynamik (vitaler Antrieb, primitive
Gegenwart) nicht einmal zur Selbstzuschreibung käme, bedarf sie einer
zur personalen Emanzipation gegenläufigen personalen Regression,
die die Neutralisierung und Verfremdung resubjektivierend zurückfährt
und sich dem Leben aus primitiver Gegenwart wieder annähert. Bloße
personale Regression würde zur Fassungslosigkeit mit Verlust der
Selbstbestimmung führen, personale Emanzipation ohne das Gegengewicht
personaler Regression dagegen zur Verflüchtigung der Selbstgewißheit,
weil das Eigene am Gegensatz zum Fremden festgemacht bliebe, statt an
der Unmittelbarkeit des Sichspürens im leiblich - affektiven Betroffensein.
Tatsächlich gehen beide Tendenzen im allgemeinen - mit exzentrischen
Ausnahmen - Kompromisse ein. Deswegen verläuft die personale Emanzipation
nicht gleichmäßig, sondern in Stufen. Ich spreche von Niveaus
der personalen Emanzipation. Ein Niveau ist höher als das andere,
wenn es auf Grund von mehr Neutralisierung eine deutlichere Abhebung des
Eigenen vom Fremden (Entfremdeten) ermöglicht. Von jedem höheren
Niveau der personalen Emanzipation aus ist jedes niedrigere ein Niveau
personaler Regression. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in:
Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 297).
Der Nachweis von Niveaus der personalen Emanzipation gelingt besonders
klar am Beispiel der zuerst von Aristoteles und heute wieder in der analytischen
Philosophie diskutierten Akrasie. Ein Musterbeispiel ist der faule Bettgenießer,
der morgens mit der Einsicht, wegen einer wichtigen Erledigung sofort
aufstehen zu sollen, erwacht, es aber so schön wohlig und warm im
Bett findet, daß er dennoch liegen bleibt. Das ist keine »Willensschwäche«,
wie die analytischen Philosophen meinen. Sein Wille wäre schwach,
wenn er entweder keine Absicht bildete oder dieser nicht seinen vitalen
Antrieb zuwendete. Tatsächlich bildet er sogar zwei entgegengesetzte
Absichten, von denen die eine, der Subjektivität des affektiven Betroffenseins
nähere, den Zuschlag des vitalen Antriebs erhält. Er steht auf
zwei Niveaus personaler Emanzipation, von denen das niedere, als Niveau
personaler Regression, sich durchsetzt. Der Übergang zu einem höheren
Niveau findet im umgekehrten Fall statt, wenn jemand mit einem Ruck seines
vitalen Antriebs eine Hemmung, Bequemlichkeit oder Widerwärtigkeit
überwindet. Zwei Niveaus personaler Emanzipation vereinigt ein Mensch,
der sich selbst Mut zuspricht, seine Scham oder seinen Zorn belächelt
oder beschämt oder einer lustigen Laune ein bemessenes Stück
weit die Zügel schießen läßt. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 297-298).
Die Person hat von sich aus keinen festen Stand zwischen personaler
Emanzipation und personaler Regression. Für die Selbstzuschreibung
bedarf sie der Vereinzelung und Neutralisierung, zu der dafür vorausgesetzten
identifizierungsfreien Kenntnis von sich aber der Resubjektivierung mit
mehr oder weniger weit getriebener Einschmelzung der Gegenüberstellung
des Eigenen und Fremden. Sie bedarf der Integration beider Tendenzen.
Diese gelingt gelegentlich durch zwei darauf angelegte Abläufe einer
natürlichen Technik, durch Lachen und Weinen. (Vgl. Hermann Schmitz,
System der Philosophie, Band IV, 1980, S. 114-131; Hermann Schmitz,
Der unerschöpfliche Gegenstand, 1990, S. 159-166; Hermann
Schmitz, Selbst sein, 2015, S. 138-155). Das reicht aber nicht
aus. Um sich im Zwiespalt von personaler Emanzipation und personaler Regression
dauerhaft zu stabilisieren, gibt sich die Person eine Fassung. Fassung
ist das, was man verliert, wenn man die Fassung verliert. Sie ist spielerische
Identifizierung der Person durch sich selbst mit etwas, das eindeutiger
ist als sie. Spielerische Identifizierung besteht darin, etwas
ohne Verwechslung und ohne Fiktion als etwas anderes zu nehmen. Das einfachste
Beispiel ist die Bildnahme. Wenn man nicht auf das Bild als Bild reflektiert,
sieht man es nicht als Bild, sondern als das Abgebildete, etwa als Landschaft
oder, wenn es sich um ein gelungenes Porträt handelt, als das fesselnde
Gesicht eines Menschen. Ebenso nimmt man den Schauspieler als die gespielte
Figur, sowohl auf der Bühne als auch besonders im Film, wo nicht
einmal der Schauspieler als Mensch zugegen ist. Daß in solchen Fällen
keine Verwechslung vorliegt, sollte klar sein. Kein Kinobesucher wird
in einem Hitlerfilm den Schauspieler mit Hitler verwechseln, als triebe
dieser in nächster Nähe sein Unwesen. Daß aber auch keine
Fiktion vorliegt, ergibt sich aus einer Abnormität spielerischer
Identifizierung. Echte Identifizierungen sind umkehrbar, und das gilt
auch für fiktive. Wenn ich sage, als Kaiser Wilhelm II hätte
ich eine andere Flottenpolitik gemacht, fingiere ich mich als den Kaiser
und den Kaiser als mich. Die Identität spielerischer Identifizierung
ist dagegen unumkehrbar. Der Schauspieler in der Rolle Hitlers wird als
Hitler gesehen, aber Hitler doch nicht als dieser Schauspieler, sondern
als die bekanntlich verstorbene geschichtliche Persönlichkeit. Niemand
wird der Meinung sein, die im Bild gesehene Landschaft mit weitem Horizont
habe auf der schmalen Bildtafel Platz. Jesus, ein Stück Brot brechend,
sagt beim Abendmahl: »Das ist mein Leib.« Er hütet sich
vor der Umkehrung, zu sagen: »Mein Leib ist das.« Dann läge
nämlich die Frage allzu nah: »Weiter nichts?«.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 298-299).
Die Fassung ist von dieser Art. Ein Mensch, der sich nicht nur
mit seiner Fassung identifizierte, sondern auch umgekehrt diese mit sich
verwechselte, wäre eine unflexible Karikatur wie aus den Komödien
von Moliere. Zur Fiktion wird die Fassung, wenn sie bloß aufgesetzt
ist; so etwas ist aber nur ein Zusatz zu einer unwillkürlichen Fassung,
die der Kenner unter dem Spiel entdecken kann. Die volllebendige Person
schöpft aus einer Fülle von Möglichkeiten mit unwillkürlichem
Einsatz ihrer Fassung und behält bei dieser Schöpfung eine Wendigkeit,
die sich den Umständen nicht verschließt. Die Fassung kann
auch wechseln. Jugendliche identifizieren sich schwärmerisch mit
wechselnden Vorbildern, aber nur spielerisch, denn der würde für
verrückt gehalten, der auch umgekehrt glaubte, das Vorbild sei er.
Oft besteht der Wechsel der Fassung in einem Wechsel des Niveaus personaler
Emanzipation bzw. Regression. Der sogenannte Soldatenkönig Friedrich
Wilhelm I., der Vater Friedrichs des Großen, vereinigte auf solche
Weise Pflichteifer und Verantwortungsgefühl mit brutaler Rücksichtslosigkeit,
Herrschsucht und Jähzorn, Verzagtheit und Tatenscheu in der Außenpolitik
mit expansiver Triebhaftigkeit als Familientyrann und derber Gemütlichkeit
ohne Schroffheiten im Kreis seiner Kameraden im Tabakskollegium. (Vgl.
Hermann Hoffmann, Das Problem des Charakteraufbaus, 1926, S. 130-135).
Oft ist solcher Wechsel des Niveaus der Fassung und personaler Regression
an das soziale Umfeld gebunden und bleibt dann abgestimmt auf die persönliche
Situation, wie programmiert. Wenn er sich ganz unvorhersehbar verselbständigt,
entsteht das Krankheitsbild der Hysterie (eventuell bis zum Anschein der
Persönlichkeitsspaltung). Etwas anderes als dieser ruckartige Wechsel
der Fassung ist ihre geschmeidige Anpassung, die ihrer stabilisierenden
Leistung nicht im Wege steht. Dadurch entwickelt sie sich dem Mitmenschen
gegenüber zu einem intelligenten Fingerspitzengefühl des Eingehens.
Sie ist immer auch leiblich, da sie zwischen personaler Emanzipation und
leiblicher Dynamik vermittelt. Durch ihre Anpassungsfähigkeit wird
sie zum feinsten Fühler der Einleibung. Ihr Schwingen macht es möglich,
den Anderen am eigenen Leib zu spüren und dadurch einen vielsagenden
Eindruck zu empfangen. Man sagt dann, man habe sich eigentümlich
berührt gefühlt. Wer auf den Anderen eingeht, muß seiner
Fassung Spiel lassen, ohne sie aufzugeben; wer sie starr festhält,
sieht am Mitmenschen vorbei. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 299-301).
Die Fassung stabilisiert nicht nur zwischen personaler
Emanzipation und personaler Regression, sondern auch im Verhältnis
von persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt. Zwischen
beiden Teilwelten gibt es breite Grauzonen, in denen die Subjektivität
in Neutralität gleichsam ausläuft, so daß die Grenze zwischen
dem Bekenntnis des Nahegehens und der sachlichen, distanzierten Feststellung
verschwimmt. Um sich in diesen Grauzonen zu behaupten, benötigt die
Person eine Projektion ihrer Fassung, die von den für sie subjektiven
Bedeutungen hinlänglich gelöst ist, um auch noch in ihrer persönlichen
Fremdwelt Aufnahme zu finden. Sie gibt sich eine objektivierbare, neutralisierbare
Form. Insbesondere stabilisiert sie sich nach dem Vorbild etablierter
Menschentypen, z. B. als preußischer Offizier, Gentleman, Kavalier,
kokette Verführerin, treusorgende Mutter usw.. Der Mensch gibt sich
eine Form, indem er sich behauptet und zugleich in die Objektivität
entläßt. Auch das ist ein Gelingen seiner Fassung, kein falsches
Spiel. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 301).
Eine weitere stabilisierende Leistung vollbringt die Fassung im
Verhältnis zum Mitmenschen. Dieser gewinnt von der Person, die er
erblickt, oft schon bei der ersten Begegnung einen vielsagenden Eindruck,
in dem sich die ganze Persönlichkeit des Anderen wie in einem Plakat
zusammenzuziehen scheint. Dieser erste Eindruck kann täuschen, aber
er gewährt dem Mitmenschen einen analytischen Zugang zur persönlichen
Situation des Anderen, vom Ganzen zum Detail weiterer Erfahrungen, mit
denen er den ersten Eindruck abklärt, ergänzt, korrigiert oder
bestätigt. Durch diesen analytischen Zugang hat der Mitmensch einen
uneinholbaren Vorzug vor der erblickten Person. Diese kann von sich selbst
keinen vielsagenden Eindruck haben, im Sinn einer impressiven Situation,
die die ganze binnendiffuse Bedeutsamkeit ihrer persönlichen, segmentierten
Situation mit einem Schlage zum Vorschein bringt. Sie kann einem solchen
vielsagenden Eindruck nur synthetisch näher kommen, indem sie aus
einzelnen Erfahrungen mit sich lernt. Der Vorteil des Mitmenschen vor
ihr zeigt sich daran, daß er eher als sie zu pauschalen Urteilen
über sie befähigt ist, indem er sie z. B. als zuverlässigen
Menschen oder als Leichtfuß, als Streber, kurzentschlossen, kühn,
Feigling, edelgesinnt, vornehm tuend usw. charakterisiert. Wer sich selbst
solche pauschalen Urteile über sich herausnimmt, überzieht seine
Kompetenz. Um diese Überlegenheit des Mitmenschen zu kompensieren,
hält ihm die Person ihre Fassung als ein Ganzes von sich entgegen.
Da sie aber ebenso den Mitmenschen erblickt wie er sie, entwickelt sich
in der Begegnung ein nach beiden Seiten prinzipiell ausgewogener Konflikt
von Blick und Fassung, der aber für Dominanz einer Seite offen ist.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 301-302).
Diese vierte Funktion der Fassung, die Stabilisierung im Verhältnis
zum Mitmenschen, gibt noch am Ehesten Anlaß zu Angeberei und Auftrumpfen,
aber sie ist im Kern so urwüchsig und so wenig aufgesetzt wie die
drei anderen Funktionen, die Vermittlung zwischen Emanzipation und Regression,
die Formfindung und die elastische Aufgeschlossenheit. Man darf in den
Ausdruck »spielerische Identifizierung« nichts Verspieltes
hineinhören. Spielerische Identifizierung kann tödlicher Ernst
sein. Ich habe den Ausdruck im Hinblick auf den Schauspieler gewählt,
der eine Figur spielt und dabei im Allgemeinen ganz bei der Sache ist.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 302).
Der Inhalt der Fassung wird teilweise von der Berufs- und Familienrolle
bestimmt. Wichtiger noch ist, was der Psychiater Jürg Zutt als innere
Haltung herausgearbeitet hat. (Vgl. Jürg Zutt, Auf dem Wege zu
einer anthropologischen Psychiatrie, 1983, S. 1-81: Die innere
Haltung). Sie ist gleichsam die Geste, womit die Person entgegennimmt,
was auf sie zukommt. Zutt gibt folgendes Beispiel: »Manche Haltungen,
die aus bestimmten Wesenszügen hervorgehen, können fast dauernd
die innere Haltung und damit das Handeln eines Menschen bestimmen, so
Aufrichtigkeit, Stolz, Liebenswürdigkeit, Bedächtigkeit. Aus
diesen Grundhaltungen heraus entwickeln sich die Nuancen von Einzelhaltungen,
wie z. B. Entgegenkommen, Abweisen, Begrüßen, Verabschieden.«
(Ebd., S. 14). Andere Beispiele sind mißtrauische Vorsicht, sanfte
Bestimmtheit, Jovialität oder Komplexe wie Freuds analer Charakter
(ordentlich, sparsam, eigensinnig) oder der von Tellenbach beschriebene
Typus melancholicus von Menschen, die vitale Unsicherheit durch ein Übermaß
von Gewissenhaftigkeit, Fürsorge, Dienstbarkeit und Einordnung kompensieren,
dabei aber der Mutlosigkeit und Selbstvorwürfen ausgesetzt sind.
(Vgl. Hubert Tellenbach, Melancholie, 1961). (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 302-303).
Mit ihrer Fassung steht die Person an verschiedenen Fronten der
Auseinandersetzung im Bemühen um Stabilisierung und Selbstbehauptung.
Die Fassung gehört zur persönlichen Situation, die sich in den
aktuellen Situationen solcher Auseinandersetzung lebenslang in Bewegung
befindet und Verschiebungen durchmacht. Daran sind die Prozesse der personalen
Emanzipation und personalen Regression, der Explikation aus der binnendiffusen
Bedeutsamkeit der persönlichen Situation und der Implikation in diese
beteiligt. Sie können sich überschneiden. Die personale Emanzipation
pointiert das Eigene und das Fremde und übergeht dabei Nuancen des
affektiven Betroffenseins, die in die binnendiffuse Bedeutsamkeit zurücksinken;
die personale Regression verwischt die Konturen des Eigenen und Fremden,
wirkt aber explizierend durch starke Eindrücke, auf die der Mensch
im leiblich-affektiven Betroffensein gestoßen wird. Darüber
hinaus, und hauptsächlich, geschieht die Implikation durch Einheilen
des Einzelnen in das Ganze der persönlichen Situation im Wege des
Vergessens, das ein Wechsel des Mannigfaltigkeitstyps vom numerischen
zum chaotischen Mannigfaltigen ist, mit der Chance für das Einzelne,
aus dieser Verschwommenheit wie ein Halbding mit unterbrechbarer Dauer
in derselben oder einer gewandelten Gestalt wieder aufzutauchen. Dazu
kommt eine weitere Front der Auseinandersetzung, an der die persönliche
Situation, nicht unmittelbar, aber die Fassung beteiligt ist: die Auseinandersetzung
der Person mit ihrer eigenen persönlichen Situation. Sie beherrscht
die erste Phase des WoIlens, die Absichtbildung. Es ist ein großes
Verdienst von Hans Thomae, mit guten empirischen Gründen die alte
und in der älteren Phänomenologie seit Husserl erneuerte Mißdeutung
des Willens als zwischen Motiven eigenmächtig entscheidende Instanz
widerlegt zu haben.199 Viel eher ist das Wollen in seiner ersten Phase,
der Absichtbildung angesichts einer Herausforderung, ein intelligenter
Umgang der Person mit ihrer eigenen persönlichen Situation, um dieser
ein einstimmiges Programm abzugtlwinnen, manchmal in der Rolle eines diplomatischen
Vermittlers zwischen divergierenden Stimmen, manchmal (im Fall der Willensleichtigkeit
nach Klages [vgl. Ludwig Klages, Grundlagen der Charkterkunde,
1926, S. 29]) durch einfaches Ablesen. Hier zeigt sich besonders deutlich
der Unterschied zwischen der persönlichen Situation und der Seele
(oder dem Bewußtsein) im alten Sinne, die (das) als Wohnsitz oder
Zubehör des Subjektes gedacht wurde, nicht in Gegenstellung. Nach
diesem ersten Schritt des Wollens, den ich sowohl für wichtige Lebensentscheidungen
wie auch für banale Entschlüsse wie das Wählen von der
Speisekarte nachgewiesen habe (vgl. Hermann Schmitz, Bewußtsein,
2010, S. 99-107)), muß noch der vitale Antrieb zur Zuwendung zu
der gebildeten Absicht gewonnen werden, damit aus der Absicht Wollen wird;
so steht die wollende Person in der Mitte zwischen ihrer persönlichen
Situation und ihrer leiblichen Disposition (3.5). Sie wird ihre persönliche
Situation niemals los, taucht aber beständig unter sie ab ins Leben
aus primitiver Gegenwart, schon in allen routinierten Verrichtungen wie
dem Sprechen als Sprach- und Mundgebrauch und der gesamten flüssigen
Motorik, z. B. beim Gehen, Greifen, Kauen und Tanzen. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 303-305).
Anfang und Ende der Welt
Die Welt ist kein Komplex, der von sich aus bestünde,
sondern ein Gesicht, das mit Nichtseiendem vermischtes Seiendes dem Menschen
zeigt, wenn er es mit satzförmiger Rede anspricht. Dadurch werden
einzelne Gattungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen
herausgeholt und zu Netzen ausgestaltet, von denen beliebige absolut identische
Gegenstände als Fälle von Gattungen eine stabile und zusammenhängende
Einzelheit erlangen können. Diese kann ins Nichtseiende verlängert
werden, und Verhältnisse können so in Beziehungen gespalten
werden, daß das Denken sich unter dem Einzelnen mit veränderlichen
Konstellationen frei bewegen kann. Wenn aber die Fähigkeit satzförmiger
Rede erlischt, ist auch die Welt nicht mehr da, weil sie nichts als eine
Erscheinung ist, die auf diese Rede eingeht. Da aber die Menschen hoffen
können, daß ihnen ihr Vermögen nicht abhanden kommt, macht
es für sie keinen Unterschied, ob die Welt immer da ist oder nur,
wenn sie auf ihre Art reden können. Wenn dies nicht mehr der Fall
sein sollte, wären zwar Raum und Zeit, einzelne Sachen und Personen
in ihnen, mit etwas identische Gegenstände nicht mehr da, aber nichts
spricht dagegen, daß es noch Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit
und Leben aus primitiver Gegenwart geben könnte, auch mit rudimentären
Formen von Raum und Zeit wie Richtungsraum und reine Modalzeit. Viel drastischer
wäre das Verschwinden, wenn auch noch der Andrang des Neuen ausfiele
und mit ihm das Geschehen der primitiven Gegenwart. Dann wäre nicht
einmal mehr absolute Identität möglich und alles, mit Ausnahme
absolut konfus chaotischer Mannigfaltigkeit, wäre mit einem Schlage
weg. Es braucht ja nicht immer etwas Neues zu passieren, aber die Dimension
des Betroffenwerdens vom plötzlichen Andrang des Neuen muß
offen bleiben, um mit der primitiven Gegenwart den Urakzent zu setzen,
aus dem absolute Identität herstammt. Entstehen muß möglich
bleiben. Die leibliche Dynamik, in der als vitaler Antrieb nach der Seite
der Engung das Geschehen der primitiven Gegenwart sich fortsetzt, dürfte
die Gewähr dafür geben. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 305-306).
Unter denselben Bedingungen wie das Ende der Welt steht
ihr Anfang. Deswegen ist es naiv, einfach vorauszusetzen, sie habe immer
bestanden, soweit man zurückrechnen kann, und es gelte nur noch,
ihren früheren Zustand zu ermitteln. Es ist naiv, das Geschehen in
den ersten Sekunden nach dem Urknall untersuchen zu wollen, wenn man nicht
sicher ist, daß jemand mit satzförmiger Rede dabei gewesen
ist. Die Einzelheit dürfte knapp werden und versiegen, ehe so viele
einzelne Sekunden beisammen sind, wie man bis zum Urknall braucht. Die
Zeit, wie wir sie kennen, die modale Lagezeit, überhaupt eine Lagezeit
mit der Dimension des Früheren und Späteren, kann es so wenig
wie einen Ortsraum gegeben haben, ehe der Mensch satzförmig reden
lernte; und selbst dann wird es noch gedauert haben, bis er die Uhr und
damit die Möglichkeit metrischer Extensivierung der intensiven Dauer
entdeckte. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen
zum wirklichen Leben, 2016, S. 306).
Vielleicht hat ihm die Begegnung mit der Fläche (4.3.1) dabei
geholfen; das könnte geschehen sein, als er anfing, in der Fläche
zu zeichnen. Dann wäre die Zeit vielleicht etwas mehr als 30000 Jahre
alt. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum
wirklichen Leben, 2016, S. 306).
Das naturwissenschaftliche Weltbild
Seit etwa 1600 wird das seit der Spätantike herrschende
christliche Weltbild auf dem Boden des durch die germanischen völker
erweiterten weströmischen Reiches vom naturwissenschaftlichen Weltbild
abgelöst, zunächst mit dem Begriffsapparat des Mechanismus,
dem sich im 19. Jahrhundert die Elektrooptik und auf deren Basis im frühen
20. Jahrhundert die Revolution durch die auseinanderstrebenden Systeme
der Relativitätstheorie und Quantenphysik anschließen. Das
naturwissenschaftliche Weltbild beruht auf der Weltspaltung durch die
psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung.
Der Psychologismus dient ihm dazu, naturwissenschaftlich nicht beherrschbare
Erfahrungsmassen in die abschließbaren Gefängnisse der Seelen
abzuschieben. Der Reduktionismus erlaubt den für den Erfolg der Naturwissenschaft
an der Wurzel entscheidenden Kunstgriff: die Reduktion der aus der Außenwelt
aufzusammelnden Daten auf solche Sorten, die für statistische und
experimentelle Zwecke durch intermomentane und intersubjektive Identifizierbarkeit,
Meßbarkeit und selektive Variierbarkeit optimal geeignet sind, nämlich
die unspezifischen Sinnesqualitäten. Damit greift die Naturwissenschaft
(um 1600 über Epikur, Lukrez und Gassendi, von dem Locke abhängt)
auf Demokrit zurück, der nach Aristoteles (Metaphysik, 1042b,
11-15) nur Gestalt, Anordnung und Lage im Raum zuließ; man (vielleicht
er selbst) hat die Liste noch etwas verlängert, aber die Reduktionsidee
blieb dieselbe. Die Introjektion verhilft dazu, den Abfall der reduktionistischen
Abschleifung, der aber zum größten Teil vergessen und übersehen
wurde (3.1), in den Seelen abzuladen. Auf dieser stark verkürzten
Abstraktionsbasis errichtet die Naturwissenschaft, geführt von der
Physik als Leitwissenschaft, ihr zum Lohn für großen Scharfsinn
und gewissenhafte Sorgfalt unerhört erfolgreiches Lehrgebäude
bewährter Vorhersagen, die der Menschheit durch die Maschinentechnik
die seit Jahrtausenden vergeblich gesuchte Kunst geregelten Zauberns ermöglichen.
Die Naturwissenschaft erreicht das teils mit Beobachtung (z. B. der Himmelskörper),
hauptsächlich aber durch gezielte Versuche mit selektiver Variation
von Variablen (Experimenten), die durch Auswertung der Ergebnisse immer
breitere und feinere Vorhersagen gestatten. Mit Zusatz von Gedankendingen,
die aus anschaulichen Modellvorstellungen (Partikeln, Strömen usw.)
gewonnen sind, und mathematischer Kalküle gewinnen die Physik und
die ihr durch Gebrauch ihrer Untersuchungsinstrumente zur Begründung
sich anschließenden Naturwissenschaften einen Kanon bewährter,
aber stets der Revision und Verbesserung ausgesetzter Regeln für
die Prognose des von den natürlichen Abläufen und nach Eingriff
in diese vernünftig Erwartbaren. Die Güte der Prognose entscheidet
über den Erfolg der Naturwissenschaft. Deshalb sind die im Unrecht,
die durch die Entdeckung von Kuhn, daß die Physik ihre großen
Fortschritte durch sprunghaften Wechsel des Paradigmas macht, an der Idee
eines stetigen Fortschritts der Naturwissenschaft irre geworden sind.
Auf die theoretischen Ansätze kommt es dafür nicht an, sondern
nur darauf, daß die Prognosen besser werden. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben,
2016, S. 306-308).
So weit ist die Arbeit der Naturwissenschaft theoretisch sauber
legitimiert. Das wird anders, sobald die bislang bewährten Regeln
der Prognose in allgemeine Naturgesetze umgedeutet werden. Das hat den
Vorteil, daß die Prognose durch eine Retrospektive ergänzt
werden kann, da allgemeine Naturgesetze auch für die Vergangenheit
gelten, sowohl über lange Zeitabstände (Millionen oder Milliarden
Jahre) als auch über ganz kurze (Milli- oder Femtosekunden). Auf
diese Weise kann man die menschliche Neugierde durch Belehrung darüber,
wie es zu dem gekommen ist, was die Menschen gegenwärtig erfahren,
befriedigen, und die Naturwissenschaft gewinnt eine zweite, historische
Kompetenz über die Belehrung über das Erwartbare hinaus. Sie
wird zum naturwissenschaftlichen Weltbild. (Hermann F.-H. Schmitz,
Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 308).
Der Überstieg von bislang bewährten Regeln
der Prognose zu allgemeinen Naturgesetzen ist illegitim. Es kann keine
allgemeinen Naturgesetze geben, wenn die Zukunft, wie unter 4.3.2 nachgewiesen
wurde, unbeschränkt offen ist. Durch allgemeine Naturgesetze würde
aus der offenen Zukunft die geschlossene zum Teil abgelöst werden,
obwohl die ganze geschlossene Zukunft zwar in der offenen enthalten ist,
aber sich erst nach dem Entstehen ablöst, als das, was dann nachträglich
noch nicht gewesen sein wird. Aber auch abgesehen von dieser (außer
logischen Trivialitäten) grenzenlosen Offenheit der Zukunft entbehrt
jedes allgemeine Naturgesetz insofern der empirischen Grundlage, als es
höchstens bis zur Gegenwart bestätigt werden kann, so daß
diese Bestätigung ebenso wie für das aufgestellte Gesetz für
jedes andere verwendet werden kann, das von einem beliebigen Zeitpunkt
an, der frühestens der gegenwärtige ist, irgend etwas anderes
vorhersagt. Diese beliebige Vorhersagbarkeit bei gleichem empirischem
Fundament zeigt, was allgemeine Naturgesetze eigentlich sind: Regeln der
Vorhersage, die sich bisher bewährt haben und an denen man bis auf
weiteres festhält, weil man sich nicht planlos einer ungewissen Zukunft
überlassen will und für die Vernünftigkeit von Plänen
keine andere Grundlage hat als die Erwartung nach den bisher bewährten
Regeln. Ob und ab wann diese nicht mehr gelten, kann man nur abwarten.
Die retrospektive Verwendung der Regeln als allgemeine Naturgesetze hat
wegen des großen Aufwands an Scharfsinn und Sorgfalt und der Übereinstimmung
der Ergebnisse verschiedener Zugänge der Erforschung hohe Plausibilität,
aber auf einer brüchigen Grundlage in Logik und Erkenntnistheorie.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 308-309).
Vor allem zwei Schwachstellen sind es, die eine zureichende Begründung
eines naturwissenschaftlichen Weltbildes vereiteln. Die erste ist der
Singularismus. Ihn hat die Naturwissenschaft aus dem spätmittelalterlichen
Nominalismus (Wilhelm von Ockham) geerbt, wie die Weltspaltung aus der
Antike. Die Naturwissenschaft geht wie selbstverständlich von einzelnen
Gegebenheiten aus, von Meßdaten, die an einzelnen Befunden aus den
privilegierten Merkmalsorten erhoben werden, und abstrahiert daraus unter
Zusatz theoretischer Terme ihre Begriffe (Gattungen) und Theorien, während
doch das Einzelne nur unter Voraussetzung einzelner Gattungen, von denen
es Fall ist, den Halt hat, der für theoretische Bearbeitung nötig
ist. Die Naturwissenschaftler müssen also, um zu Einzelnem (wie einzelnen
Meßwerten) zu kommen, von vorausgesetzten Gattungen ausgehen, die
ihrerseits wieder aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen
geschöpft werden müssen. Sie müßten also von Situationen
ausgehen, wie der Historiker, der eine vergangene Zeit im Licht ihrer
eigenen Denkweise statt der heute gewohnten darstellt. Damit würde
die Naturwissenschaft aber den Trick Demokrits preisgeben, auf dem ihre
Exaktheit beruht: die Beschränkung auf die Stützung der Theorie
durch einzelne Exemplare aus besonders handlichen Merkmalsorten, deren
Vereinzelung zu solchen Exemplaren ganz naiv als ursprüngliche Gegebenheit
vorausgesetzt wird. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 308-309).
Die zweite Schwachstelle ist noch leichter evident zu
machen. Es handelt sich um die Zeit. Die Naturwissenschaft hat keinen
Begriff von Modalzeit. Sie kann nicht sagen, was es bedeutet, daß
etwas jetzt ist, also nicht nur an einem datierten Zeitpunkt in der Früher-Später-Ordnung,
sondern an dem, der gerade jetzt ist. Andererseits ist sie, um überhaupt
eine wissenschaftlich ansehnliche Begründung ihrer Aufstellungen
zu erhalten, genötigt, in die Modalzeit hinabzusteigen und sich mit
dem Unterschied dessen, was jetzt, nicht mehr und noch nicht ist, zu befassen.
Das gilt besonders für das Experiment, aber allgemeiner für
jedes Lernen. Lernen ist nur in der Modalzeit möglich, nicht in der
bloß lagezeitlichen Ordnung des Früheren und Späteren,
weil diese keinen zeitlichen Standpunkt zur Unterscheidung des Anfängers,
der den Kursus noch vor sich hat, vor dem danach geprüften bereithält.
Zwar gibt es in der bloßen Lagezeit einen Zeitpunkt vor dem Lernerfolg
und einen Zeitpunkt danach, aber unter diesen Zeitpunkten keinen, auf
den der Lernende eher als auf einem anderen angesiedelt wäre, weil
keiner derjenige ist, auf dem er gerade jetzt (in seiner modalzeitlichen
Geworfenheit) steht. Der Naturwissenschaftler will aber über die
Richtigkeit seiner Annahmen etwas lernen. Deshalb muß er in die
Modalzeit hinab- oder herabsteigen, obwohl er für sie keinen Begriff
hat. Die Modalzeit aber gehört zur Welt. Dann kann aber der Naturwissenschaftler
die Welt nicht erklären. Er muß ja, um als Wissenschaftler
bestehen zu können, etwas in der Welt sich zu eigen machen, wovon
er mit den Mitteln seiner Theorie keinen Begriff hat. Er müßte
also erstens etwas erklären, was er als Teil des zu Erklärenden
schon voraussetzen muß, um seiner Erklärung Gewicht zu geben,
und zweitens eben dies voraussetzen, ohne sagen zu können, worum
es sich handelt, wenn er nicht aus seiner Theorie herabsteigt und als
lebendiger Mensch von seiner Vertrautheit mit dem Leben Gebrauch macht.
(Hermann F.-H. Schmitz, Welt, in: Ausgrabungen zum wirklichen
Leben, 2016, S. 310-312).
Das naturwissenschaftliche Weltbild taugt also nicht
zur Erklärung der Welt. Darüber hinaus scheint es an mindestens
einer Stelle inkonsistent zu sein. Es handelt sich um die Konservierung
von Information bei ihrer Übertragung in der sinnlichen Wahrnehmung.
Ein Mensch sieht z. B. einen Baum auf einer Wiese. In der physikalischen
Erklärung dieses Vorgangs kommt weder der Baum noch das Sehen vor,
sondern ein Transport von Lichtwellen oder Photonen, die etwa von Quantenfeldern
abgestrahlt werden und nach Auftreffen auf ein Sinnesorgan (die Netzhaut)
durch elektrische Ströme ersetzt werden, die zum Gehirn wandern und
dort Nervenzellen anregen. Wie die nach allen Richtungen strahlenden Photonen
in so starker Konzentration auf die winzigen Netzhäute treffen können,
daß sie die für den Baum auf der Wiese nötige Information
vermitteln, ist schon kaum einzusehen. Aber danach wird es noch rätselhafter.
Johannes v. Müller hat im 19. Jahrhundert das Gesetz der spezifischen
Sinnesenergien aufgestellt, wonach die Sinnesempfindung nicht von der
Art des ursprünglichen Reizes, sondern von dem davon getroffenen
Sinnesorgan bestimmt wird. Der Hirnforscher Gerhard Roth hat dieses Gesetz
auf die Übertragung von den Sinnesorganen ins Gehirn ausgedehnt.
Für den wahrgenommenen Inhalt kommt es demnach nicht mehr spezifisch
auf das beteiligte Sinnesorgan und die Art der Übermittlung zum Gehirn
an, denn die sei in allen Fällen gleichartig elektrisch, wobei die
Differenzierungen, die noch beim Auftreffen des Reizes auf das Sinnesorgan
und die erste Verarbeitung dort vorhanden seien, verloren gingen. Entscheidend
sei vielmehr die Stelle der Verarbeitung im Gehirn, wie nach v. Müller
das Sinnesorgan. (vgl. Gerhard Roth, Erkenntnis und Gehirn, 1994,
S. 229-255, hier 234). Wenn das zutrifft, enthält das naturwissenschaftliche
Weltbild drei Axiome, die miteinander eine Erklärung der Wahrnehmung
vereiteln: 1. Informationen aus der Umwelt kommen zum Wahrnehmen nur auf
dem Weg über Rezeptoren (Sinnesorgane), deren Informationsertrag
über Nerven zum Gehirn geleitet wird. 2. Bei dieser Leistung werden
die betreffenden Botschaften ihrer Differenzierung beraubt. 3. Wahrnehmen
entsteht nur im Gehirn oder auf dem Weg über das Gehirn. Wenn es
sich so verhält, fehlt im Gehirn für die Wahrnehmung eines Baumes
auf einer Wiese diejenige Information, die der Wahrnehmende braucht, um
mit dem, was er wahrnimmt - sei dieses nur ein Baum oder etwas physikalisch
definiertes anderes - so gedeihlich umzugehen, wie es im Leben zu gelingen
pflegt. Vor allem aber verliert dann das Vertrauen der Naturforscher auf
ihre eigenen Beobachtungen seine Berechtigung. Der Gehirnforscher z. B.
muß doch an Apparaten einigermaßen zuverlässig Zahlen
für Meßdaten ablesen. Wenn aber auf dem Weg ins Gehirn die
dafür erforderliche Information verlorengeht, wie soll er dann noch
sicher sein, richtig abgelesen zu haben? So macht durch die drei Axiome
die Naturwissenschaft sich selbst unmöglich. Das ist die Inkonsistenz,
auf die ich hinweisen wollte. (Hermann F.-H. Schmitz, Welt,
in: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, 2016, S. 310-312).


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