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Leipzig ist die erste Heimatstadt
von Hermann Schmitz.
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Bonn ist die zweite Heimatstadt
von Hermann Schmitz.
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Kiel ist die dritte Heimatstadt von Hermann Schmitz.
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Die unwillkürliche Lebenserfahrung kann nur freigelegt werden, wenn
ihre Verstellungen und Verzerrungen durch geschichtliche Prägungen,
die im Normalbewußtsein der heutigen Menschen zu Selbstverständlichkeiten
verkrustet sind, auf- und abgearbeitet werden. (Hermann F.-H. Schmitz,
Die geschichtlichen Prägungen des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses
in Europa, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 19).
Diesen Prägungen geht das Selbstverständnis der Figuren
in Hollers Ilias voraus. Der heutige Mensch versteht sein Erleben
als in einer privaten Innenwelt zentriert - mit der Vernunft als zur Herrschaft
über die unwillkürlichen Regungen berufenem Zentrum - und nach
außen abgeschlossen. Die Ilias-Figuren verstehen wie der Dichter,
der sie zeichnet, ihr Erleben anders: Sie stehen ohne Hausmacht einer
privaten Innenwelt (einer Seele) in einem Konzert halbautonomer Regungsherde,
die teils treiben, teils hemmen und kontrollieren, wie uns das Gewissen,
ein uns verbliebener Regungsherd vergleichbarer (nur nicht leiblich lokalisierter)
Art. Sie sind der Besessenheit durch Götter und Affekte ausgesetzt:
Ares taucht in Hektor ein wie Zorn in Achilleus. Sie sind daher schwer
beherrschbaren Wallungen ausgesetzt. Dagegen setzt in der Odyssee
eine Tendenz zur Selbstbeherrschung ein, die sich an Odysseus in drei
Neuerungen gegenüber der Ilias zeigt: Erstens distanziert er sich
von seinen leiblichen Regungen und Regungsherden, indem er sich über
seinen Hunger beschwert, der ihn zu essen treibt, während er lieber
über seine Trennung von der Heimat trauern würde, und sein aufbegehrendes
Herz durch gütliches Zureden zähmt wie ein Herr den Hund; zweitens
tritt er den Göttern ohne Besessenheit als kalkulablen Mit- und Gegenspielern
gegenüber; drittens vermag er seinen Gesichtsausdruck voll zu beherrschen.
(Hermann F.-H. Schmitz, Die geschichtlichen Prägungen des menschlichen
Welt- und Selbstverständnisses in Europa, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 19-20).
Im Zuge dieser Tendenz zur selbstbemächtigung entwickelt
sich nach Homer die Psyché, eigentlich (und teilweise noch viele
Jahrhunderte nach Homer) das Leben als Qualität (nicht als Lebenszeit),
zur Seele als privater Innenwelt, in die das Erleben des Bewußthabers
eingeschlossen wird. Bei Heraklit, im frühen 5. Jahrhundert vor Christus,
fehlt noch diese Abgeschlossenheit; einer seiner Sprüche lautet:
»Grenzen der Seele wirst du wandernd niemals finden, wenn du auch
jede Straße abschrittest.« In der archaischen Lyrik (7. und
6. Jahrhundert v. Chr.) und bei dem Tragiker Aischylos (1. Hälfte
des 5. Jahrhunderts v. Chr.) dominiert wie in der Ilias die Passivität
des leiblichen Ergriffenseins von Göttern und Affekten, wenn auch
in der Lyrik sich das Subjekt gelegentlich mit »ich aber«
kontrastierend abhebt. Anders gestaltet der Tragiker Sophokles (2. Hälfte
des 5. Jahrhunderts v. Chr.) das Erleben seiner Figuren: Der Mensch des
Sophokles kann seine Gefühle manipulieren, z.B. seinen Zorn anhalten,
sich in Trauer hineinsteigern, das Ergötzende und das Bekümmernde
wachsen lassen. Die Seele wird ihm zur abgeschlossenen Innenwelt mit einem
Tor, das auch geöffnet werden kann; daneben ist sie aber auch noch
wie ein Regungsherd Partner der Person, der zu dieser spricht. Neu ist
bei ihm (und dem gleichzeitigen Herodot) die Wendung »aus sich herausgeraten«,
»außer sich sein«. Sie verrät, daß die Person
mit einer Innenwelt identifiziert wird, als ob sie aus sich selbst herausspränge,
wenn sie diese verläßt. Bis in diese Zeit war die Erotik die
goldene Aphrodite, eine Atmosphäre, in der allein der Lyriker Mimnermos
(7. Jahrhundert v. Chr. ) leben wollte wie im Licht der Sonne, mit Abscheu
vor dem Alter, wenn das Gold der Aphrodite nicht mehr strahlt; noch Pindar
(1. Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr.) spricht davon, daß
ein junges Mädchen bei der Verführung durch Apollon zuerst an
die süße Aphrodite rührte. Nach dem Bruch im menschlichen
Selbstverständnis ab 450 wird die Erotik aus einer Atmosphäre
zum privaten Vergnügen: Die Lysistrate des Komödiendichters
Aristophanes beschwichtigt den Einwand, die Männer würden den
von ihr zur Beendigung des peloponnesischen Krieges angeregten Sexualstreik
mit Gewalt brechen, durch das Argument: »Da ist keine Lust drin.«
(Hermann F.-H. Schmitz, Die geschichtlichen Prägungen des menschlichen
Welt- und Selbstverständnisses in Europa, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 20-21).
Gleichzeitig mit dem menschlichen Selbstverständnis ändert
sich das Weltverständnis; die Wasserscheide dafür liegt in der
2. Hälfte des 5. vorchrisdichen Jahrhunderts zwischen Empedokles
und Demokrit. Bis dahin wird das Weltverständnis der Philosophen
von vielsagenden Eindrücken bestimmt, die an leiblich gespürten
polaren Kräftepaaren abgelesen werden. Bei Anaximenes ist es das
Straffe und Schlaffe, bei Parmenides das schwerfällig Sperrige im
Gegensatz zum Leichten und flinken, assoziiert mit dem Männlichen
bzw. Weiblichen und entsprechend dem Gegensatz der beiden Weltmächte
Streit (Groll) und Liebe nach Empedokles; weniger günstig für
das Weibliche ist die polare Reihung bei Pythagoreern, die auf die eine
Seite die Grenze, das Eine, Rechte, Männliche, Ruhige, Gerade, Gute,
Quadratische und das Licht stellen, gegenüber das Endlose, Viele,
Linke, Weibliche, Bewegliche, Krumme, Schlechte, das Dunkel und das ungleichseitige
Rechteck. Aus der Dynamik dieser Kräfte, deren Zusammenspiel Heraklit
an der gegenspännigen Fügung bei Bogen und Leier veranschaulicht,
wird seit Leukipp und Demokrit bloße Kinetik als Wirbeln der Atome;
Heraklits Kompensationsgesetz der gegenspännigen Fügung verflacht
im Lauf des 5. Jahrhunderts v. Chr. zu dem pseudoheraklitischen Schlagwort:
»Alles fließt.« Diesem Fluß verworrener Kinetik
werden zum Ausgleich stabile Invarianten gegenübergestellt: Demokrits
Atome (die er »Ideen« nannte), platonisch-aristotelische Ideen,
in der Neuzeit die Naturgesetze. Die Invarianten bestimmen die form für
den sinnlichen Stoff. Das Stoff-Form-Denken setzt schon bei Demokrit (mit
dem Leitbild der Menschenformung) ein und wird bei Platon und Aristoteles
zum Leitfaden, der eine Technik-Orientierung vorzeichnet. Diesem Schema
gemäß wird der Mensch in Körper und Seele zerlegt, wobei
der Körper als Stoff und Diener, die Seele als dessen formende Kraft
und Steuerung fungiert. Die Seele wird zur abgeschlossenen Innenwelt,
mit eingeschlossenem Verstand, zu dem nur noch durch die fünf Sinne
von außen Zugang möglich ist. Die Außenwelt wird bis
auf wenige standardisierte Merkmalsorten, die unspezifischen Sinnesqualitäten
(Größe, Gestalt, Zahl, Ruhe, Bewegung, Lage, Anordnung) und
deren hinzugedachte Träger (Atome) abgeschält. Der Abfall der
Abschälung wird förmlich in den Seelen abgelegt (spezifische
Sinnesqualitäten) oder übersehen und dann unter der Hand in
veränderter Gestalt in die Seelen mitgenommen. (Hermann F.-H.
Schmitz, Die geschichtlichen Prägungen des menschlichen Welt-
und Selbstverständnisses in Europa, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 21-22).
Diese psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische
Vergegenständlichung bietet auf der Positivseite enorme Chancen
für Selbst- und Weltbemächtigung. Der Mensch erhält in
der Seele ein Haus seines Erlebens, in dem er Herr über die unwillkürlichen
Regungen sein kann und soll; damit ist das Wallungsproblem der lliasmenschen
gelöst. Die in der Außenwelt von Demokrit (und Platon im Timaios)
belassenen Qualitätensorten eignen sich durch intermomentane und
intersubjektive Identifizierbarkeit, Meßbarkeit und selektive Variierbarkeit
vorzüglich für Statistik und Experiment; daher bilden sie noch
heute den gesamten Datenvorrat, an dem die Physik im Experiment die aus
Theorien abgeleiteten Hypothesen auf Stichhaltigkeit bei der Vorhersage
prüft und danach die Theorien selbst bewertet. Dieser Positivseite
gegenüber steht die Negativseite, daß die wichtigsten Inhalte
der unwillkürlichen Lebenserfahrung verdrängt oder vergessen
werden: der spürbare Leib - zwischen Körper und Seele wie in
eine Gletscherspalte gefallen - und die leibliche Kommunikation (beim
Blickwechsel und unzähligen anderen Anlässen im täglichen
Leben), die Gefühle als Atmosphären, die bedeutsamen Situationen
und unter ihnen die vielsagenden Eindrücke, die flächenlosen
(vom Leitbild der griechischen Geometrie übergangenen) Räume
des Wetters, des Schalls, der Stille, der Gebärde, der leiblichen
Regungen, der Gefühle usw., ferner die Halbdinge wie die Stimme,
der Wind, die reißende Schwere, der Schmerz als zudringlicher Widersacher
und nicht bloß Seelenzustand, die Gefühle als leiblich ergreifende
Halbdinge. (Hermann F.-H. Schmitz, Die geschichtlichen Prägungen
des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses in Europa, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009,
S. 22-23).
Im Gefolge der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen
Vergegenständlichung werden die Philosophen zu Fürsprechern
und Betreibern der Selbst- und Weltbemächtigung, in der Antike aber
erst der Selbstbemächtigung durch Herrschaft über die unwillkürlichen
Regungen, dem Hauptthema der postdemokritischen Philosophenschulen mit
Ausnahme des spätantiken heidnischen Neuplatonismus. Die Weltbemächtigung
bleibt seit der Herrschaft des Christentums dem allmächtigen Gott
überlassen, dessen Aufsicht über ewiges Heil oder Unheil zugleich
durch Sündenangst die Selbstbemächtigung zur volkstümlichen
Disziplin verschärft. Die wichtigste Erziehung der Menschheit durch
das Christentum besteht in der Bindung des affektiven Betroffenseins an
das Thema der Macht. Alle anderen Themen des affektiven Betroffenseins,
wie Ehre und Ansehen, Familie und Freundschaft, Liebe, Lust und Leid,
Alter, Krankheit und Tod werden dem Thema Macht, nämlich der Macht
Gottes in der Verfügung über künftiges Glück oder
Unglück des Individuums, untergeordnet. Dadurch entsteht ein gewaltiger
Modernisierungsschub. Der wichtigste spätantike Kirchenvater Augustinus
ist ein weitgehend schon moderner Mensch, weil er die rein technische
Einstellung des lieblosen Benützers aller irdischen Dinge mit Orientierung
des Lebens am einzigen Ziel des eigenen Glücks verbindet und den
eigenen Körper als bloße Maschine versteht, die ihm das Geschlechtsleben
dadurch verleidet, daß sie sich nicht völlig der Macht des
Willens unterordnet. Das Unmoderne an Augustinus besteht nur darin, daß
er das Glück als ewige Seligkeit durch Unterwerfung unter Gott und
Uniformierung im Verband der Kirche (sowie, im Erfolgsfall, der Seligen
im Himmel) sucht. (Hermann F.-H. Schmitz, Die geschichtlichen
Prägungen des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses in Europa, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 23).
Das passive Verhältnis zur Macht als dem dominanten Thema
des affektiven Betroffenseins nimmt im mittelalterlichen Christentum bald
aktive Züge an, weil Menschen (Papst, Klerus) der Zeitanschauung
nach von Gott delegierte Macht haben und im Auftrag dieser Machthaber
auch selbst militärische Macht ausüben können (Kreuzfahrer).
Der Mißbrauch zu weltlichen Zwecken - z.B. durch den Papst als weltlichen
Fürsten, durch den als Beutezug nach Konstantinopel umgeleiteten
4. Kreuzzug - nimmt dieser Macht den transzendenten Nimbus und bringt
sie auf Augenhöhe mit weltlicher Macht. Dieser Prozeß ist um
1300 vollendet. Philipp der Schöne, König von Frankreich, ist
der erste weltliche Fürst, der den transzendenten Nimbus des Papsttums
nicht mehr ernst nimmt und sich damit gegen den Papst durchsetzt, der,
verschüchtert, in den Machtbereich des Königs nach Avignon umsiedelt,
mit der Folge einer langen Kirchenspaltung, da bald ein zweiter Papst
in Rom auftaucht. Von da ab können die Menschen die Macht als das
beherrschende Thema ihres affektiven Betroffenseins in die eigenen Hände
nehmen. (Hermann F.-H. Schmitz, Die geschichtlichen Prägungen
des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses in Europa, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009,
S. 24).
Gleichzeitig wird dafür eine wichtige weitere Voraussetzung
geschaffen. Der die Scholastik längst latent leitende Singularismus
- die Überzeugung, daß alles ohne Weiteres einzeln ist, d.
h. eine Anzahl um 1 vermehrt - wird um 1300 von Wilhelm von Ockham radikal
und geschichtsmächtig ausformuliert: Jede Sache, sogar jedes Akzidens,
jede Eigenschaft, ist absolut, als ein Wesen von sich aus (ens a se),
das gleichsam auf eigenen Füßen steht, abgelöst von allem
anderen; es gibt keine Beziehungen, auch keine alles Einzelne umfassende
Weltordnung. Darauf stützt sich der Konstellationismus, die Auffassung
der Welt als Netzwerk einzelner Faktoren. Ein Netzwerk kann man umknüpfen;
daher beginnt ab 1300 mit Raymundus Lullus die Leidenschaft des Entwerfens
kombinatorischer Systeme, gipfelnd bei Leibniz im Projekt einer Characteristica
universalis, die durch Universalkombinatorik alle Problemlösungen
berechenbar machen sollte, und in der unüberbietbaren Maximierung
der Kombinierbarkeit durch die Konzeption aller möglichen Welten.
Umknüpfen von Netzwerken ist aber der allgemeine Typus des Arbeitens
der modernen Technik; sie ist schon im Singularismus Wilhelms angelegt,
wie seine Neubestimmung des technischen Machens zeigt, das von Aristoteles
als Realisierung eines dem Techniker vorschwebenden, ihm eingegebenen
Programms bestimmt worden war: Für Wilhelm ist es bloßes Verschieben
von stücken im Raum, womit dem Ausprobieren, dem Basteln, dem Umknüpfen
von Netzen freie Bahn gegeben ist. (Hermann F.-H. Schmitz, Die
geschichtlichen Prägungen des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses
in Europa, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 24-25).
Schon um 1300 wäre die Zeit für Bacon und Hobbes reif
gewesen; zu diesem ist von Wilhelm nur ein kleiner Schritt. Statt dessen
dauert es drei Jahrhunderte, bis der Mensch sich dazu ermächtigt,
die Macht in die Hände des eigenen technischen Könnens zu nehmen.
Das liegt zum Teil am Wiedererstarken des vordemokritischen archaischen
Eindrucksdenkens als magia naturalis in der Abenddämmerung des mittelalterlichen
Christentums (15./16. Jahrhundert). Dabei handelt es sich um die zweite
Renaissance archaischer Sinnesart nach dem Urchristentum. Die urchristliche
Mentalität im Zeichen des heiligen Geistes - eines in der Situation
der Naherwartung des wiederkehrenden Christus ausgebreiteten Gefühls
von Liebe, Freude und Freimut (Parrhesia), in dem die Urchristen miteinander
lebten - stellt sie im menschlichen Selbstverständnis auf eine Stufe
mit Aischylos und Empedokles. Der Mensch des Paulus steht als Leib im
Bann der ihn ergreifenden, untereinander unverträglichen atmosphärischen
Mächte Geist und Fleisch, die sich etwa so verhalten wie Liebe und
Streit nach Empedokles, also nicht im platonischen Sinn eines Gegensatzes
des Geistigen und Sinnlichen. Nach dem 1. Johannesbrief treibt vollkommene
Liebe die Furcht aus; das ist wörtlich zu verstehen. Das spätere
Christentum hat die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische
Vergegenständlichung übernommen und an die Stelle dieser archaischen
Denkweise gesetzt, wobei wegen der weltflüchtigen Einstellung der
Reduktionismus der Außenwelt lange zurücktrat, ohne zu verschwinden.
Es hat die in dieser Vergegenständlichung enthaltenen Potentiale
der Bemächtigung ausgebaut: Die Selbstbemächtigung wurde vorangetrieben
zur Isolierung der Individuen (verbunden mit Uniformierung in der Kirche)
durch die Sorge um das je eigene Seelenheil mit wachsamer Beherrschung
der unwillkürlichen Regungen im Gehorsam gegen Gott; die Weltbemächtigung
wurde vorbereitet durch Bindung des affektiven Betroffenseins an das Thema
der Macht. In der Neuzeit wird die Herrschaft des Christentums abgelöst
durch die Aufklärung. Diese übernimmt den christlichen Eudämonismus,
wendet ihn ins Irdische und verbindet ihn mit der technischen Weltbemächtigung:
Jeder darf für sein Glück die gewaltigen Machtmittel der modernen
Technik nützen. Dadurch ergibt sich das Bündnis der modernen
Aufklärung mit dem Privatkapitalismus, verwirklicht schon in der
Person Voltaires. Es ist der Standpunkt des Augustinus, nur daß
das Jenseits keine Rolle mehr spielt. (Hermann F.-H. Schmitz, Die
geschichtlichen Prägungen des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses
in Europa, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 25-26).
Das naturwissenschaftlich-technische und singularistische Denken
objektiviert und vereinzelt alles Erfahrbare, auch in der Erfahrung des
Menschen von sich. Hume findet sich nur noch als ein Bündel von Perzeptionen.
Ihnen ist nicht anzumerken, daß es sich um mich handelt. Wo bleibe
ich in einer solchen Welt neutraler Elemente? Diese Frage stellt als Philosoph
Johann Gottlieb Fichte. Er gelangt damit dicht in die Nähe der Entdeckung
der subjektiven Tatsachen (III), versäumt sie aber und mauert das
Ich in eine Tathandlung ein, die nur sich selber tut. Da er diese Isolierung
nicht halten kann, opfert er sie dem Kompromiß der Einbildungskraft,
die zwischen und über allen Tatsachen im Zwiespalt von Abhängigkeit
und Unabhängigkeit schwebt. Daraus macht Friedrich Schlegel die romantische
Ironie als das Vermögen, sich von jedem Standpunkt zurückziehen
und deshalb auch jeden einnehmen zu können. Damit eröffnete
er das ironistische Zeitalter, das bis heute anhält. Kehrseite der
Ironie ist die Angst als Höhenschwindel des Schwebens über den
eigenen Möglichkeiten (Kierkegaard). Im 19. Jahrhundert bedurfte
das ironische Schweben noch aktiver Leistung; dadurch entwickelte sich
der (gelebte und literarische) Typ des Dandys, verbunden mit dem Weltschmerz
der Heimatlosigkeit. Der Dandy trägt Masken, unter denen er sich
nicht finden läßt; er verharrt mit apathischer Starrheit und
gekonnt vorgeführter Gleichgültigkeit am Rande des Treibens
der Menschen, nicht mit der Festigkeit des Stoikers, sondern zur Absicherung
gegen ein Verfallen, das ihn binden würde. Aus dieser Randlage stößt
er in unvermittelter Provokation zu einer Stellungnahme vor, aus der er
sich unberechenbar wieder zurückzieht. Diese Anstrengung des Durchhaltens
der ironischen Schwebelage hat der Ironist des 20. Jahrhunderts und der
Folgezeit nicht mehr nötig. Seine ironische Haltung ist passiv und
volkstümlich geworden. Er ist cool. Während das Streben des
Christen durch sein Glücksund Heilsideal straff geschient war ( erst
recht als Kriegsdienst für Christus im Calvinismus) und diese Führung
noch in der Aufklärung nachwirkte, steht der Mensch des ironistischen
Zeitalters inzwischen ohne vorgezeichnete Bahn vor dem Angebot unzähliger
technischer Möglichkeiten, die ihn vereinnahmen, wenn er sich auf
sie einläßt. Sie sind untereinander konstellationistisch vernetzt,
für sein Belieben aber isoliert und ausgestreut. Er bringt zur Steuerung
durch das ausgestreute Angebot kein Rückgrat, keine Linie mit, da
er ironistisch darauf eingestellt ist, sich von allem abwenden und allem
zuwenden zu können. Sein Ironismus ist erschlafft zur Passivität
der Selbstverstrickung in die Führung durch vernetzte Angebote mit
der Scheinsouveränität beliebigen Wählens aus ihnen.
(Hermann F.-H. Schmitz, Die geschichtlichen Prägungen des menschlichen
Welt- und Selbstverständnisses in Europa, in: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, 2009, S. 26-27).


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